Volume 9, No. 3, Art. 23 – September 2008

Kontrollierte Offenheit

Andreas Wenninger

Review Essay:

Niklas Luhmann (2005). Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Heidelberg: Carl-Auer Verlag, 336 Seiten, ISBN 3-89670-477-X, EUR 29,95

Zusammenfassung: Das hier besprochene Buch enthält die schriftliche Variante von Niklas LUHMANNs letzter Vorlesung im Wintersemester 1992/1993 an der Universität Bielefeld, wo er von 1968 bis 1993 Professor für Soziologie war. Eine weitaus umfassendere und systematisierte Publikation seiner Gesellschaftstheorie mit dem Titel "Die Gesellschaft der Gesellschaft" erfolgte erst 1997. Gegenüber dieser und anderen Publikationen gewährt die hier vorliegende vor allem interessante Einblicke in die Art und Weise der Theoriearbeit von LUHMANN.

An diesem Punkt schließt mein Review Essay an, der in Erinnerung ruft, dass LUHMANN seine Gesellschaftstheorie im Hinblick auf ein von ihm konzipiertes Problem der Soziologie ausgearbeitet hat. Dieser lastet er an, dass sie eine unübersichtliche Vermehrung von Erkenntnissen durch empirische Forschung erzeuge. Sein Unterfangen soll demgegenüber dazu dienen, im Rahmen eines einheitlichen theoretischen Paradigmas Forschung zu betreiben, und dabei dennoch offen zu sein für expansive Forschungen. Diese Einheitlichkeit versucht LUHMANN durch die wechselseitige Abgestimmtheit seiner Begriffe und Theoriekomponenten zu erreichen, die Problemkonstruktionen für gesellschaftsweite Vergleiche möglich machen soll. Dieser Ansatz bleibt dabei gegenüber einer erst noch zu erkundenden empirischen Wirklichkeit offen, da die Gesellschaftstheorie gerade keine Begriffe liefert, die dazu dienen, die empirische Wirklichkeit zu kategorisieren. Vielmehr sind Begriffe als Unterscheidungen konzipiert, mit der Funktion, Problemkonstruktionen zu generieren, die Beobachtungen anleiten und theorieintern kontrollierbar halten sollen.

Keywords: Soziologie; Systemtheorie; Gesellschaftstheorie; Methodologie; qualitative Sozialforschung

Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkungen

2. Einleitung: Die Lücke der Soziologie oder wozu eine Theorie der Gesellschaft?

3. Rezension zur Vorlesung "Einführung in die Theorie der Gesellschaft"

3.1 Voraussetzung: Systemtheorie und Kommunikationstheorie

3.2 Die Kernstücke: Medientheorie, Evolutionstheorie, Differenzierungstheorie

3.2.1 Theorie der Kommunikationsmedien

3.2.2 Differenzierungstheorie

3.2.3 Evolutionstheorie

3.3 Lauter Selbstbeschreibungen?

4. Kontrollierte Offenheit?

4.1 Reflexion des Ausgeschlossenen

4.2 Bezugsprobleme: Reflexion des Eingeschlossen-Seins

4.3 Schluss: Bezüge zu qualitativer Sozialforschung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Vorbemerkungen

Das vorliegende Buch, das hier im Fokus steht, kann schwerlich einem klar umrissenen Forschungsfeld zugeordnet werden. Es sei denn, man akzeptiert die Entwicklung einer Theorie der Gesellschaft als ein eigenständiges Forschungsfeld. Niklas LUHMANN selbst ging es vor allem um die Entwicklung einer Theorie der Gesellschaft, in die er im Rahmen seiner letzten Vorlesung an der Universität Bielefeld im Wintersemester 1992/1993 einführte. Längere Zeit war nur eine Audio-Version erhältlich. Seit 2005 liegt nun die verschriftlichte Form dieser Vorlesung vor, die im Carl-Auer Verlag unter dem Titel "Einführung in die Theorie der Gesellschaft"1) erschienen ist. [1]

Eine Einführung setzt – könnte man meinen – etwas Fertiges oder bereits Existierendes voraus. Zu Beginn seiner Vorlesung bemerkt LUHMANN allerdings, "dass man eine Theorie der modernen Gesellschaft haben müsste, und die Vorlesung ist ein Versuch, so etwas in Gang zu setzen" (S.11). Es geht also nicht um etwas Fertiges, in das eingeführt werden soll, sondern um etwas, das es herbeizuführen gilt. Insofern gleicht die Vorlesung, im Vergleich zu sonstigen wissenschaftlichen Publikationen von LUHMANN, eher einem Werkstattbericht. So schreibt auch der Herausgeber Dirk BAECKER im Vorwort, dass LUHMANN wusste, "dass die hochgradige Beweglichkeit und Änderungsbereitschaft, mit der er an seine eigene Theorie heranging, sie nicht gerade für Zwecke einer schulischen und universitären Lehre auszeichnete" (S.8). [2]

Dafür bietet meines Erachtens solch eine Form von Publikation andere Chancen. Zum einen macht sie es möglich, besser in den Blick zu bekommen, dass LUHMANN bei seiner Begriffsarbeit pragmatischer vorging, als andere Texte von ihm suggerieren mögen. Es ist an dieser Vorlesung sehr schön zu sehen, dass es LUHMANN zwar um begriffliche Reflexion, um transparente theoriearchitektonische Überlegungen und um eine gewisse Konsistenz beim Umgehen mit Begriffen geht. Dennoch stehen für LUHMANN in dieser Vorlesung Probleme im Vordergrund, die er im Rahmen seiner Theorie entfaltet, und nicht begriffliche Definitionen. In anderen Textsorten von LUHMANN ist das nicht so deutlich bemerkbar. Darüber hinaus macht diese Publikationsform die Methodik seines Vorgehens eher sichtbar, die in explizierter und systematisierter Form vielleicht auch Anreize und Gewinne für eine empirische Sozialforschung liefern könnte. Zudem kann eine solche, etwas leichter verdauliche Publikation, dazu beitragen, Hemmschwellen und Vorurteile gegenüber schwierigen "Großtheorien" abzubauen. Die systemtheoretische Gesellschaftstheorie sollte also nicht mit bloßer definitorischer Arbeit verwechselt werden, die sich vor einer Auseinandersetzung mit Empirie scheut, was die Vorlesung sehr schön vorführt. Anders als sonst oft in der Soziologie üblich stellt sie sich aber das Verhältnis von Theorie und Empirie nicht so vor, dass Theorien einfach nur an der Empirie geprüft werden können. Vielmehr muss auch "geprüft" werden können, von welchem theoretischen Blick aus welche Empirie entworfen wird. [3]

2. Einleitung: Die Lücke der Soziologie oder wozu eine Theorie der Gesellschaft?

Die Auseinandersetzung mit dieser Art von Theoriearbeit kann dazu beitragen, die Sensibilität dafür zu erhöhen, dass die Gegenstandsbereiche von Wissenschaft als auch deren Beobachtungsinstrumente nichts problemlos Gegebenes darstellen. Weder sind die Gegenstände einfach da, noch geben sie von sich aus Daten oder Informationen preis. In diesem Zusammenhang wird die oft benutzte Metapher des Werkzeugkastens voller Forschungsmethoden fragwürdig, aus dem nur "richtig", also zweckgerichtet oder gegenstandsangemessen, auswählt werden müsse, um zu (vorläufig) sicheren Erkenntnissen zu gelangen.2) [4]

In seinem grundlegenden Buch "Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie", das ursprünglich als Einleitungskapitel zu seiner Gesellschaftstheorie gedacht war (vgl. LUHMANN 1997, S.11), spricht LUHMANN davon, dass die Soziologie in einer Theoriekrise stecke (vgl. LUHMANN 1984, S.7). Aus dieser Diagnose heraus begründet er sein langfristig angelegtes Projekt der Ausarbeitung einer Theorie der Gesellschaft. Mit Theorie meint LUHMANN nicht einfach das systematische Zusammenfügen von verschiedenen empirischen Fakten. Für ihn zeichnet sich eine Theorie dadurch aus, dass in einem besonderen Maße Begriffsarbeit geleistet wird mit dem Zweck, Komplexität zu reduzieren. Vor allem aber die wechselseitige Einschränkung und Kontrolle der Begriffe untereinander steht für ihn im Vordergrund: "Jede Begriffsbestimmung muß dann als Einschränkung der Möglichkeit weiterer Begriffsbestimmungen gelesen werden" (ebd., S.12). Der damaligen Selbstbeschreibung zufolge sollte die Theorie allgemeiner Systeme zur Entwicklung einer "facheinheitlichen Theorie" (ebd.) verhelfen und somit einen Paradigmenwechsel in der Soziologie herbeiführen. Der "fachüblichen" Soziologie unterstellte LUHMANN, dass sie wegen der zunehmenden internen Differenzierung vor der Entwicklung einer fachuniversellen Theorie zurückschrecke und deshalb "ohne klaren Duktus Komplexität ansammelt" (ebd.). Da eine soziologische Theorie laut LUHMANN "sehr viel komplexer werden [muss] im Vergleich zu dem, was die Klassiker des Fachs [...] sich zugemutet hatten" (ebd., S.11), soll die Systemtheorie dazu beitragen, so kann daraus gefolgert werden, mit klarerem Duktus Komplexität anzusammeln. [5]

Die Frage, die im Anschluss daran gestellt werden muss, ist freilich, ob dieser Anspruch sinnvoll vertretbar ist. Fügt die Systemtheorie – entgegen ihrem damaligen Anspruch – nicht einfach nur der disziplinären Vielfalt einen weiteren Kandidaten hinzu? Kann plausibel behauptet werden, dass die LUHMANNsche Gesellschaftstheorie der "chaotischen" Vielfalt des Faches Soziologie Ordnung und Struktur gibt? Auf diese grundlegenden Fragen, was das Fach Soziologie anbelangt, werde ich im Folgenden nicht näher eingehen.3) Statt das Ziel zu verfolgen, eine facheinheitliche Theorie zu entwickeln, halte ich es für sinnvoller davon auszugehen, dass diese Art von Gesellschaftstheorie einerseits ein eigenes Forschungsfeld eröffnen könnte und andererseits auf eine Lücke aufmerksam machen kann, die der empirischen Sozialforschung innewohnt und sich in stark überspitzter Weise folgendermaßen formulieren lässt: Entweder wird ein Forschungsgegenstand mit den Kategorien der Forschenden bzw. einer Theorie überzogen (Theoriegeleitetheit), oder es wird versucht, möglichst ohne feststehende Kategorien ins Feld zu gehen (explorative Sozialforschung). Meine Vermutung ist, dass systemtheoretische Gesellschaftstheorie eine eigene Art des Vorgehens betreibt, die versucht diesem "Dilemma" zu entgehen. Sie stellt ein heuristisches Instrument dar, um beides gleichermaßen zu leisten: auf begrifflich kohärente Weise Probleme zu formulieren, anhand derer empirische Forschung angeleitet werden kann, ohne vorwegzunehmen, wie etwas empirisch funktioniert. [6]

Von dieser Annahme geleitet wird es mir darum gehen, kursorisch aufzuzeigen, wie LUHMANN die verschiedenen Komponenten seiner Theorie in Bezug zueinander entwirft. Wie sieht es aus, wenn LUHMANN gesellschaftstheoretisch Soziologie betreibt? Die nachfolgende Rezension (Abschnitt 3) findet vor dem Hintergrund dieser Fragestellung statt. Sie kann damit nicht als Nacherzählung des Buches verstanden werden. Auch kommen wichtige Begriffe und Aspekte für ein adäquates Verständnis der LUHMANNschen Gesellschaftstheorie nicht oder zumindest unzureichend zur Sprache. Weitere interessante Einblicke bleiben somit der Lektüre des Buches durch die Lesenden überlassen. In dem auf die eigentliche Rezension folgenden Abschnitt möchte ich nochmals auf die erwähnte Lücke eingehen (Abschnitte 4.1 und 4.2) und in aller Kürze der Empiriefrage der Systemtheorie nachgehen (4.3). [7]

3. Rezension zur Vorlesung "Einführung in die Theorie der Gesellschaft"

3.1 Voraussetzung: Systemtheorie und Kommunikationstheorie

Das vorliegende Buch ist in fünf Kapitel untergliedert. Kapitel I, mit der Überschrift "Die Gesellschaft als soziales System", befasst sich mit der allgemeinen Systemtheorie als Grundlage für das gesamte theoretische Werk LUHMANNs. Kapitel II handelt von "Kommunikationsmedien". In Kapitel III geht es um sozialen Wandel unter dem Titel "Evolution", in Kapitel IV behandelt LUHMANN die Frage sozialer "Differenzierung", und das Buch schließt mit einem Kapitel über die "Selbstbeschreibung" der Gesellschaft (V). Diesen Kapiteln liegen verschiedene, aufeinander bezogene und ineinander verwobene Theorien zugrunde, aus denen sich LUHMANNs Gesellschaftstheorie zusammensetzt. Die Rezension in diesem Abschnitt geht hauptsächlich auf die Teile ein, in denen LUHMANN erläutert, wie diese verschiedenen Theorien ineinander verwoben sind und welche Problemstellungen dadurch jeweils in den Blick kommen sollen. Gerahmt wird die Rezension durch die von mir aufgeworfene Frage, inwiefern dieser Theorietechnik ein besonderes Vorgehen zugrundeliegt, das eventuell auch für eine qualitative Sozialforschung als Heuristik interessant sein könnte. [8]

LUHMANN plädiert dafür, bei soziologischen Analysen, statt mit Methodik und/oder Erkenntnistheorie zu beginnen, "Gesellschaft als das Ausgangssystem einer Untersuchung" (S.53) anzusetzen. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass LUHMANNs Ziel darin liegt, eine abstrakte Theorie zu entwerfen, deren Grundbegrifflichkeiten (wie z.B. "System", "Gesellschaft" und "Kommunikation") kompatibel mit verschiedenen Problemstellungen und verschiedenen empirischen Realitäten sein sollen. Es geht darum, mit diesen Grundbegriffen der Theorie so wenig wie möglich Entscheidungen darüber zu treffen, wie etwas empirisch funktioniert. So sagt LUHMANN: "Wenn wir also mit Gesellschaft anfangen, ist uns das Objekt noch gar nicht klar, noch gar nicht gegeben" (S.54). Anstatt also, wie sonst meist üblich in der Soziologie, mit konkreten empirischen Problemen zu beginnen, geht es bei LUHMANN darum, mit einer Theorie zu beginnen, aus der heraus Probleme konstruiert werden können und mit der dann die Empirie konfrontiert werden soll. [9]

Die Systemtheorie und der aus ihr entwickelte Systembegriff stellen die abstrakte Grundlage für die LUHMANNsche Gesellschaftstheorie dar. Mit der Annahme von Systemen ist zunächst nur ausgesagt, dass es prozessuale Einheiten gibt, die sich durch Operationen eines bestimmten Typs konstituieren und sich dadurch von einer Umwelt unterscheiden, also eine Grenze erzeugen. Systeme stellen Einheiten dar, die nicht ontisch gegeben sind, sondern sich evolutiv-prozesshaft bilden, deren Elemente sich operativ vernetzen und sich gegen eine Umwelt abgrenzen. Diese allgemeine Begriffsbestimmung lässt sich auf biologische, auf psychische und auf soziale Einheiten anwenden. Hier wird also ein Unterscheidungskriterium angegeben, inwiefern Einheiten in der Welt je nach Operationstyp unterschieden werden können. LUHMANN schreibt:

"[I]ch stelle mir Systeme als durch Operationen produziert und reproduziert vor, nicht einfach nur als Elemente, die miteinander in Beziehung stehen, vielleicht intern dichter als im Verhältnis zur Umwelt. Der entscheidende Vorgang, der zur Systembildung führt und der eine Unterscheidung zwischen System und Umwelt ermöglicht, ist die Operationsweise des Systems" (S.17). [10]

Da LUHMANNs Hauptinteresse aber einer Gesellschafts-Theorie gilt, versucht er zu bestimmen, durch welchen Operationstyp sich soziale Systeme bzw. Gesellschaften bilden, eine Frage, die er im ersten Kapitel des Buches behandelt. Dieses Problem löst er mit einer Kommunikationstheorie, die er der Systemtheorie beiseite stellt. Soziale Einheiten, also soziale Systeme, bilden sich durch kommunikative Operationen und z.B. nicht durch Gedanken oder Handlungen von Menschen. Eine kommunikative Operation kommt stattdessen – so LUHMANN – immer dann zustande, wenn zwischen Information und Mitteilung unterschieden wird.4) Das Unterscheiden zwischen Information und Mitteilung nennt LUHMANN kommunikatives Verstehen (in Abgrenzung zu psychischem Verstehen). Kommunikative Operationen "bestehen" also aus der Synthese dreier Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Durch das Verketten solcher Operationen bestimmten Typs kommen soziale Systeme zustande. Der Kommunikationsprozess ist somit "eine Operation, die an frühere Operationen desselben Typs anschließt und weitere Operationen desselben Typs ermöglicht" (S.63; Hervorhebungen A.W.). [11]

Eine besondere Wichtigkeit kommt allerdings dem Verstehen zu, weil erst durch dieses eine Kommunikation ihren Abschluss findet. "Kommunikation findet nur statt, wenn ein Verstehender – und das ist eigentlich der Anfang des ganzen Prozesses – sieht, dass irgendwo eine Differenz zwischen Mitteilung und Information stattfindet" (S.63). Obwohl immer alle drei Selektionen zu einer Synthese gebracht werden müssen, kommt dem Verstehen laut LUHMANN eine besondere Bedeutung zu. [12]

Im Verstehen wird einem Verhalten oder einer Äußerung ein Informationsgehalt zugeschrieben, und zugleich wird im Verstehen ein Verhalten oder eine Äußerung einer mitteilenden Instanz – z.B. einem Individuum – zugeschrieben. Gesprochene Sätze "haben" also nicht einfach einen Informationsgehalt, und Äußerungen/Verhaltensweisen sind nicht automatisch Mitteilungen, sondern nur dann, wenn Verstehende (und das sind für LUHMANN nicht Menschen, sondern Systeme) entsprechende Zuschreibungen vollziehen. Das weitere Prozessieren eines Kommunikationsgeschehens wird durch das Wie des Verstehens in bestimmte Bahnen gelenkt, gibt sich dadurch also selbst – und nicht durch eine äußere Realität – Struktur.5) Ich möchte das kurz an einem alltäglichen Beispiel demonstrieren: Ob ein Augenzwinkern als Flirt oder als nervöse Zuckung in der Kommunikation behandelt wird, entscheiden die kommunikativen Anschlüsse und nicht ein einzelner Mensch und dessen Körperbewegungen. Kommunikationssystemen ist somit schon auf der Ebene ihres operativen Aufbaus gegenüber den Verhaltensweisen einzelner Akteure Kontingenz eingeschrieben. Die Akteure aus Fleisch und Blut und deren bewusst entworfenen Pläne sind von der Kommunikation aus gesehen also Umwelt. Hier geht es um sinnhafte Grenzen, die sich anhand der Typik des Operierens gegen eine Umwelt ergeben. Auch die Gesellschaft im Ganzen gesehen besteht aus nichts anderem als aus kommunikativen Operationen, und demnach sind die Grenzen der Gesellschaft laut LUHMANN nicht räumlich-territorial festzumachen, sondern fallen mit den Grenzen der Kommunikation zusammen:

"Wir haben nicht das Problem, ob die Grenze zwischen Uruguay und Paraguay, wenn es eine solche gibt, eine Gesellschaft abgrenzt und was es bedeutet, wenn man darüber hinwegfliegt. Stattdessen ist es ganz klar: Etwas ist Kommunikation, oder es ist nicht Kommunikation" (S.60). [13]

Um aber beschreiben zu können, wie sich Gesellschaft als komplexes System erhalten, differenzieren und verändern kann, benötigt LUHMANN weitere Theorien. [14]

3.2 Die Kernstücke: Medientheorie, Evolutionstheorie, Differenzierungstheorie

3.2.1 Theorie der Kommunikationsmedien

Zusätzlich zu den beiden Theoriekomponenten Systemtheorie und Kommunikationstheorie benötigt LUHMANN noch eine Medientheorie, die im zweiten Kapitel des Buches eingeführt wird. Auch die Medientheorie ist eng verflochten mit der Kommunikationstheorie und der Systemtheorie. Zudem – und das ist für dieses Kapitel wichtig – ist die Medientheorie aber auch eng verknüpft mit der Differenzierungstheorie, weil die Medien Systemdifferenzierungsprozesse begünstigen. Betrachtet man die operative Seite der Gesellschaftstheorie, dann hat die Einführung von Kommunikationsmedien die Funktion, erklärbar zu machen, wie aus instabilen, zeitpunktgebundenen Ereignissen (Kommunikationen) komplexe Systeme gebildet werden können, die sich dann zunehmend ausdifferenzieren. Ich bin der Meinung, dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Medien bei LUHMANN besser verständlich wird, wenn sie im Hinblick auf Systemdifferenzierungsprozesse beschrieben werden. Deshalb werde ich auf die Differenzierungstheorie bereits im nächsten Abschnitt (3.2.2) näher eingehen. Ich verändere somit geringfügig die Reihenfolge, in der LUHMANN selbst seine Vorlesung angelegt hat. Dieser behandelt nach der Medientheorie zuerst die Evolutionstheorie und dann die Differenzierungstheorie. Die Reihenfolge, die LUHMANN gewählt hat, begründet sich vermutlich dadurch, dass für ihn die historische Perspektive im Vordergrund steht und die allmähliche Ausbildung und Ausdifferenzierung von sozialen Systemen stark mit der evolutionären Ausbildung von Medien zu tun hat. Letztlich betont LUHMANN aber, dass seine Theorie so konzipiert ist, dass es keine notwendige Reihenfolge der Kapitel gibt (vgl. S.14f.). [15]

Stellt man die Operativität oder Ereignishaftigkeit in den Vordergrund, die LUHMANN in den Vorlesungen über die Kommunikationstheorie behandelt, scheint es zunächst höchst unwahrscheinlich, dass Kommunikation überhaupt dauerhaft vorkommt und dass sich daraus dann verschiedenartigste, relativ stabile Systeme herausbilden, die gleichzeitig insgesamt eine Gesellschaft bilden. Diese "Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation" – ich beziehe mich hier auf einen gleichlautenden, älteren Text von LUHMANN (2005a) – wird durch drei verschiedenartige Medien "verwahrscheinlicht": Sprache, Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (sgKm). LUHMANN teilt seine Vorlesung an dieser Stelle entsprechend in "drei Blöcke" (S.87), in denen er jeweils einen dieser Medientypen behandelt. Er spricht in der Vorlesung aber nur in Bezug auf die sgKm explizit davon, dass diese "einen Erfolg unwahrscheinlicher Kommunikation wahrscheinlich machen" (S.87; vgl. auch S.104f.). Ähnlich wie LUHMANN in seiner ganzen Vorlesung verschiedene Theorieteile (Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Medientheorie, Evolutionstheorie und Differenzierungstheorie) miteinander verknüpft, werden auch im Rahmen der Medientheorie drei Medienarten konzipiert, deren Zusammenspiel er erläutert: [16]

Sprache stellt für LUHMANN das grundlegende Kommunikationsmedium dar. Sprache ist schnell und relativ zielsicher als kommunikatives Verhalten erkennbar und sichert im Unterschied zu sonstigen Verhaltensweisen eine Art "flüssige Kontinuität" (vgl. S.89). Sie ermöglicht somit die relativ treffsichere Unterscheidung von Informationen und Mitteilungen, die er, wie bereits weiter oben erwähnt, als Verstehen konzipiert. LUHMANN spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass mit Sprache die "Autopoiesis der Gesellschaft in Gang kommt" (S.88). Das dauerhafte Zustandekommen von Operationen eines bestimmten Typs erklärt aber noch nicht, wie es zu Strukturen kommt, die den Operationen eine bestimmte Form geben. Diese Strukturen entstehen, so LUHMANN, erst durch den wiederholten Gebrauch von Sprache. Sprache ermöglicht symbolische Generalisierungen, die sich kommunikativ wiederholen lassen. Beispiele dafür können Begrüßungsrituale oder Redewendungen sein, aber auch schon basale Bezeichnungen und Begriffe. "Diese Entstehung von stabilen Strukturen hängt mit wiederholtem Gebrauch, mit der Reproduktion von Kommunikation aus Kommunikation zusammen, wie sie nur mit Hilfe von Sprache möglich ist" (S.90). [17]

Sprache sorgt als Medium einerseits für ein dauerhaftes Zustandekommen kommunikativer Operationen, aus denen ein "Netzwerk von anderen Operationen der gleichen Art" (S.90) hervorgehen kann. Zudem eignen sich sprachliche Formen zur Wiederverwendung, sodass sich dadurch stabilere Strukturen bilden können. LUHMANN spricht oft auch von "Eigenwerten" (ebd.) und meint damit "die Anwendung von Operationen auf das Resultat der Operationen", "die eine stabile Form ergibt, die im System nicht wieder variiert wird" (ebd). Ein einfaches "Hallo" z.B. kann in vielfältigen Situationen und zwischen ganz verschiedenen Personen identisch eingesetzt werden. Ein weiteres Charakteristikum der Sprache ist, dass sie "immer codiert vorhanden ist" (S.98), d.h. sie erzeugt eine "Realitätsduplikation" (S.100). Denn "obwohl es nur eine Realität gibt" (S.99), macht Sprache es möglich, sich auf diese Realität mit "zwei verschiedene[n] kommunikativen Gebrauchsweisen" (S.98) zu beziehen. Durch Sprache kann immer alles in einer Ja- oder einer Nein-Fassung zum Ausdruck gebracht werden (vgl. S.98ff.): Dem Informationsgehalt einer Aussage kann immer auch widersprochen werden. Es gibt also keine Außenwelt, die die kommunikativen Zustände festlegen könnte. Sprache stellt eine Realität eigener Art dar, die es kommunizierenden Systemen möglich macht, sich zu ihrer Umwelt relativ autonom zu verhalten:

"Die Negation ist eine sprachliche Operation. Das verweist auf die Annahme, mit der ich begonnen hatte, dass die Sprachstruktur kommunikativ ist, also systemintern benutzt wird. Duplikation muss dann einen Sinn haben, der mit der Trennung von System und Umwelt zusammenhängt. Die Duplikation einer Ja-Fassung in einer Nein-Fassung ist eine systeminterne Leistung, sie spiegelt nicht etwas, das draußen ist, in das System hinein. Sie repräsentiert nicht den Zustand der Welt, so als ob die Welt gleichsam als Ja-Welt und einmal als Nein-Welt vorhanden wäre" (S.99f.). [18]

Die Funktion dieser Realitätsduplikation liegt laut LUHMANN in einer "Anpassungselastizität der Sprache" (S.100), die "Fortsetzbarkeit in jeder Situation sicherstellt" (ebd.). Aber Sprache alleine gibt keinerlei Garantie dafür, dass es zu einem Konsens zwischen den beteiligten Personen kommt. Sprache sichert zunächst nur, dass es weitergeht, und sie gibt eine bestimmte Richtung vor. Denn wenn ein bestimmter Satz gesagt wurde, kann man "nicht irgendeinen Satz sagen" (S.101). "Man muss etwas dazu Passendes sagen" (ebd.). Sprache sichert aber nicht, dass regelmäßig ein bestimmtes "Ja" zustande kommt. [19]

Die Unwahrscheinlichkeit des Zustandekommens einer Kommunikation wird, evolutionär gedacht, mit dem Aufkommen von Verbreitungsmedien verschärft. Denn Verbreitungsmedien wie Schrift, Drucktechnik und elektronische Medien sorgen dafür, dass Kommunikationen raum- und zeitübergreifend als Operation vorkommen und somit Adressat/innen erreichen können, die sich außerhalb des Entstehungskontextes befinden (vgl. S.113ff.). Verbreitungsmedien ermöglichen somit auch Kommunikationen unter Abwesenden, indem z.B. ein Buch gelesen wird, das vor langer Zeit in einem anderen Kulturkreis entstanden ist. In LUHMANNs Theoriesprache heißt das, Schrift ermöglicht es, "dass das Verstehen von der Einheit von Mitteilung und Information abgekoppelt wird" (S.125), sodass sich kommunikative Operationen in den verschiedenartigsten Kontexten fortpflanzen können. Durch das Wegfallen von "unmittelbaren sozialen und situativen interaktiven Plausibilitätsbedingungen" (S.126) wird aber – und dieses Argument bereitet den nächsten Medientyp vor – gleichzeitig die Annahme einer Kommunikation schwieriger. [20]

Das Fehlen der "sozialen Kontrolle" bei Kommunikationen anhand von Verbreitungsmedien begünstigt zwar Systemdifferenzierungen, erhöht aber auch das Risiko des Abbruchs bzw. der Ablehnung einer Kommunikation. Um dieses Risiko abzuschwächen und die Motivation auch unter den Bedingungen von Kommunikation unter Abwesenden zu erhöhen, haben sich, so LUHMANN, die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (sgKm) gebildet:

"Ich denke also, dass das Ausgangsproblem für eine Bildung symbolisch generalisierter Medien eine evolutionäre Lage ist, in der durch Komplexitätszuwachs und durch Schrift die Wahrscheinlichkeit eines Neins zunimmt und man in gewisser Weise Gegenmittel erfinden muss, irgendetwas, was das wahrscheinliche Nein in ein Ja transformiert. Das ist der Platz, wo ich eine Theorie der symbolisch generalisierten Medien anbauen möchte" (S.151). [21]

SgKm wie Geld, Macht, Recht usw. sind semantische Einrichtungen, die gesellschaftsweit für bestimmte kommunikative Anschlüsse sorgen. LUHMANN spricht in diesem Zusammenhang auch von Erfolgsmedien, weil sie den Erfolg einer Kommunikation sicherstellen Diese Einrichtungen helfen, in historischer Hinsicht, bei dem Entstehen und Ausdifferenzieren gesellschaftlicher Teilbereiche (Funktionssysteme) wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft usw. Die sgKm stellen sicher, dass die Kommunikationen über verschiedene Kontexte hinweg einer bestimmten Logik folgen. Im Bereich der Wissenschaft z.B., die häufig mit dem Medium der "Wahrheit" operiert, können so Kommunikationen zustande kommen, die aus einer Alltagsperspektive äußerst unwahrscheinlich sind:

"Wenn methodisch korrekt geforscht worden ist, ist das Ergebnis anzuerkennen, auch wenn es noch so überraschend, unglaubwürdig und, sagen wir mal, vom Alltagsverständnis her unplausibel ist. 'Die Welt ist ein gekrümmter Raum.' Wie, das kann man sich nicht einmal vorstellen. Solche Vorstellungen werden aber wissenschaftlich validiert. Abweichungen vom Üblichen, Verständlichen, normal Verwendbaren, Überraschendes, phantastische Konstrukte werden trotzdem angenommen, wenn man Beweise führen kann, wenn man Daten vorzeigen kann, wenn die Experimente wiederholbar sind und so weiter" (S.155). [22]

Das Medium "Wahrheit" erzeugt, so LUHMANN, eine bestimmte Form des Kommunizierens. Auch hier ist mit Wahrheit nicht gemeint, dass eine Aussage mit einer äußeren Realität übereinstimmt, sondern dass Wahrheit ein kommunikationsinternes Konstrukt ist, das Kommunikationen strukturiert. Diese Form der Kommunikation erzeugt eine Eigenrealität, die ein bestimmtes System-Umwelt-Verhältnis zur Folge hat. Die daran beteiligten Personen werden von der Kommunikation aus als Erlebende – und nicht als Handelnde – behandelt. Nach einem "klassischen, präkonstruktivistischen Verständnis" (S.157) wird in den empirischen Wissenschaften eine Aussage nur dann als wahr behandelt, wenn potenziell alle mit denselben Beobachtungen zu denselben Ergebnissen kommen. Obwohl die meisten Ergebnisse nicht oft überprüft werden, und obwohl die Wissenschaftler/innen komplexe Forschungsvorhaben austüfteln, wird der Wahrheitsgehalt der Ergebnisse nicht den Handlungen der Wissenschaftler/innen zugeschrieben. In eingeschränkter Form gilt dies auch für den Bereich der sogenannten Geisteswissenschaften, denn auch dort gelten Untersuchungsergebnisse und Theorien nicht deshalb als wahr, weil sie bestimmte Personen verfassen, sondern weil die Argumente, die Fallauswahl und die Beispiele als nachvollziehbar ("erlebbar") kommuniziert werden und deshalb überzeugen sollen: "Ein Theorievorschlag muss so formuliert werden, dass man davon ausgeht, jeder würde dieselben Dinge sehen, wenn er dieselben Interessen hätte, dieselben Thematiken aufgreifen würde." (S.158) Diese unwahrscheinliche Kommunikation des Wissenschaftssystems ermöglicht die Funktionserfüllung, dass eine Gesellschaft neues Wissen produzieren kann, auch wenn es altem Wissen, welches oftmals über die Tradition und über Autoritäten abgesichert ist, widerspricht. Denn der Wahrheit entspricht im modernen Idealfall eine Aussage nicht deshalb, weil eine bestimmte ranghohe Person sie äußert, sondern weil potenziell Jedermann durch Argumente und der Vorführung bestimmter, reproduzierbarer Ergebnisse erleben kann, dass etwas wahr ist:

"Die Neutralisierung der Handlungskomponente ist ein klassisches methodologisches Postulat und lässt Erleben übrig [...]. Wahrheit wäre demnach durch die Konstellation bestimmt, dass Alters Erleben Egos Erleben wird, und dies auch dann, wenn es an sich unwahrscheinlich ist, mit Traditionen bricht oder mit Religion in Konflikt kommt" (ebd.). [23]

Insgesamt sorgen also Kommunikationsmedien in ihrem Zusammenspiel, d.h. im Zusammenspiel von Sprache, verschiedenen Verbreitungsmedien und verschiedenen sgKm, einerseits für die großflächige Streuung und Vernetzung kommunikativer Operationen, und sie geben ihnen andererseits bestimmte Formen. Kommunikationsmedien begünstigen somit das Entstehen von kommunikativen Systemen, deren komplexe Vernetzung zu einer Gesellschaft und das Ausdifferenzieren von Funktionssystemen, die die grundlegenden Strukturen der modernen Gesellschaft darstellen. Diese klassisch-soziologische Theoriefigur behandelt LUHMANN eigens in einer Differenzierungstheorie. [24]

3.2.2 Differenzierungstheorie

Für den strukturellen Teil der Gesellschaftstheorie (vgl. S.235) sind wiederum die bisher beschriebenen Theorieteile wichtige Grundlagen, nun aber mit dem Fokus darauf, wie sich die kommunikativ entstandenen und mithilfe von verschiedenen Medien komplexer gewordenen Systeme zu einem einheitlichen Ganzen ausbilden, das in sich selbst differenziert ist. Ging es in der Kommunikationstheorie allgemein um die Frage nach den Außengrenzen der Gesellschaft (alles was nicht Kommunikation ist, gehört hiernach zur Umwelt der Gesellschaft), geht es nun um die Frage, wie sich innerhalb der Gesellschaft Grenzen ausbilden. LUHMANN geht es aber nicht einfach nur um das Problem, wie sich verschiedene Teile zu einem Ganzen zusammensetzen. Auch hier gilt es, eine materialistisch-räumliche Vorstellung von Grenzen aufzugeben. Für LUHMANN es ist das kommunikativ gebildete Gesellschaftssystem, das sich ausdifferenziert, indem es in sich selbst die System-Umwelt-Differenz auf eine bestimmte Art und Weise wiederholt:

"Man kann die Differenzierung von Systemen als eine Wiederholung der Differenz von System und Umwelt innerhalb von Systemen beschreiben. Wenn ein System etabliert ist – und ob das ohne Differenzierung überhaupt möglich ist, ist eine Frage, die man gesondert diskutieren könnte –, das heißt ein System Grenzen nach außen hin festlegt, kann diese Differenz zwischen System und Umwelt innerhalb von Systemen wiederholt werden. Innerhalb eines globalen Systems gibt es dann kleinere Systeme, die wiederum zwischen System und Umwelt unterscheiden. Formal könnte man sagen, die Differenz von System und Umwelt wird in das System hineinkopiert" (S.238). [25]

Diese Vorstellung grenzt sich, wie bereits erwähnt, von einer älteren Vorstellung ab, die sich die Gesellschaft als ein Ganzes mit verschiedenen Teilen vorstellt – vielleicht ähnlich einer großen Maschine –, in dem jede kleine Änderung an einem der Teile unmittelbare Auswirkungen auf die weiteren Teile und somit auf das Ganze hätte. LUHMANN stellt sich die Gesellschaft vielmehr als ein komplexes System vor, das in sich selbst weitere Systeme ausbildet, die eine bestimmte Autonomie und somit bestimmte Freiheitsgrade haben. So wie Kommunikation eine Realität eigener Art darstellt, in deren Freiraum sich das kommunikative System Gesellschaft bilden kann, so schaffen Systemdifferenzierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft weitere Freiräume, die gesellschaftliche Teilbereiche möglich werden lassen. Anhand von Verbreitungsmedien und sgKm bilden sich Organisationssysteme und Funktionssysteme über die primär sprachlich gebildeten Interaktionssysteme hinaus (vgl. Abschnitt 3.2.1).6) Von diesen Einzelsystemen aus ist die Gesellschaft dann jeweils Umwelt, und nicht jede Änderung hat Ausstrahlungseffekte auf diese innergesellschaftliche Umwelt:

"Wenn man unsere Systemtheorie zugrunde legt, hat man [...] die Vorstellung, dass zunächst einmal Grenzen eines Systems etabliert und reproduziert werden müssen. Wenn man sagt, etwas geschieht in einem System, muss das in erst einmal von dem 'Außen' abgrenzbar sein. Aber dann hat man große Freiheitsgrade, sich zu überlegen, wie in diesem System kleinere Systeme oder Subsysteme entstehen können. [...] Man nimmt an, dass es nur einer mehr oder weniger zufällig oder jedenfalls evolutionär entstehenden Sonderbildung bedarf, die die Umwelt zunächst einmal unberührt lässt, also nicht gleich auf eine Umstrukturierung des gesamten Systems hinausläuft. Es entsteht irgendetwas in irgendeiner Ecke, auf freiem Feld sozusagen, und die anderen mögen das zunächst einmal gar nicht bemerken. Erst wenn es eine bestimmte Stabilität oder eine bestimmte Ausstrahlung hat, ist die Umwelt genötigt, sich daran anzupassen" (S.242). [26]

Diese Ausführungen aus dem Kapitel zu Differenzierung machen sehr schön deutlich, wie die verschiedenen Theoriekomponenten ineinandergreifen und wie LUHMANN – entgegen vielen Einordnungen seiner Theorie als reine Makrotheorie – Gesellschaft als einen beweglichen und komplexen "Bottom-up"-Prozess versteht, wenn er sagt, "dass die Gesellschaft aus zahllosen entstehenden und vergehenden Minisystemen und großen Systemen, aus allem Möglichen in einem völligen Durcheinander besteht. Wir haben dann nur Differenzierung als solche. Und die Frage ist, wie wir da wieder Ordnung hineinbekommen" (S.246). [27]

Wie aus dem Zitat hervorgeht, versucht LUHMANN also mit der Differenzierungstheorie Ordnung in das "chaotische" Operieren der kommunikativ gebildeten Systeme zu bringen. Aus dieser Perspektive beschreibt er die moderne Gesellschaft als ein evolutionär entstandenes Gebilde, das sich durch eine spezifische Gesellschaftsstruktur auszeichnet. Ihm geht es vor allem darum, sich von anderen, gegenwärtigen Modernisierungstheorien abzugrenzen, "die sich im Wesentlichen auf der Ebene der Semantik oder Beschreibung, also in einer fast literarischen Form" (S.261) bewegen. Stattdessen orientiert er sich an der "soziologische[n] Tradition" (ebd.), die anders angefangen hatte:

"Sie hatte eher strukturelle Beschreibung der Modernität über Differenzierung oder über funktionale Differenzierung vorgeschlagen, war dann aber irgendwo stecken geblieben. Meine Vorstellung ist, dass wir versuchen sollten, von der strukturellen Beschreibung auszugehen, also Modernität über funktionale Differenzierung zu fassen, und erst dann in einem zweiten Schritt eventuell zu überlegen, in welcher Art von Beschreibung die moderne Gesellschaft sich selber charakterisiert, sich selber ihrer bewusst wird" (S.261). [28]

Die Gesellschaft strukturiert sich demnach "mit der Form der Differenzierung" (S.248). In Anlehnung an die soziologische Tradition unterscheidet LUHMANN zwischen segmentären Gesellschaften, stratifizierten Gesellschaften und einer funktional differenzierten (Welt-) Gesellschaft (vgl. dazu auch SCHIMANK 2000). Segmentäre Gesellschaften bilden sich anhand gleicher Teilsysteme (Segmente), wie z.B. Stämme oder Clans. Stratifizierte Gesellschaften bilden sich aus ungleichen Teilsystemen (Schichten, Klassen), die in einem hierarchischen Verhältnis (Adel/Klerus vs. Volk) zueinanderstehen. Die moderne Gesellschaft hat ihre Besonderheit darin, dass sie ihre Primärstruktur durch formgleiche, aber dennoch verschiedenartige Teilsysteme (Funktionssysteme)7) bildet. Damit bekommt auch die klassische soziologische Frage nach sozialer Ungleichheit im Rahmen dieser Theorie ein neues Gesicht:

"Das Ganze läuft jetzt [...] auf funktionale Differenzierung zu, und die Frage ist, wie wir diesen Typus der funktionalen Differenzierung in der Terminologie von gleich und ungleich beschreiben wollen. Meine Überlegung ist, dass es sich um die Gleichheit ungleicher Systeme handeln muss, dass es also keine Rangordnung mehr in dem Sinne gibt, dass Politik wichtiger ist als Wirtschaft, Wirtschaft wichtiger als Religion, Religion wichtiger als Familie, Familie wichtiger als Recht oder andersherum, sondern eine horizontale Nebeneinanderordnung ohne gesellschaftliche Vorprägung der Verhältnisse. Alles setzt auf Ungleichheit; Politik kann nie durch Wirtschaft ersetzt werden, Wirtschaft nie durch Politik, Recht nie durch Erziehung. Wir mögen noch so gute Universitäten haben, das Recht befolgen wir trotzdem nicht – oder nur, wenn es unumgänglich ist. Das heißt, die Austauschbeziehungen zwischen den Funktionssystemen sind durch Ungleichheit unterbunden, aber andererseits sind es gleiche Systeme insofern, als keines den gesellschaftlichen Primat über andere in Anspruch nehmen kann" (S.254f.). [29]

Ein Funktionssystem bildet sich, wie im Abschnitt über Kommunikationsmedien bereits erwähnt, meist mithilfe eines sgKm aus, indem Kommunikationen eingeschränkt und in eine bestimmte Richtung geführt werden. Dabei geht es aber nicht nur um die Hinführung der Kommunikation auf ein bestimmtes Ziel, sondern vor allem um spezifische Bezugsprobleme, die kommunikativ gelöst werden. Bezugsprobleme können aber nicht beseitigt werden, sondern sie liegen den Funktionssystemen dauerhaft zugrunde. Mit diesen Bezugsproblemen ist bei LUHMANN auch die "Funktion" gemeint, die die Teilsysteme für die Gesellschaft erfüllen (vgl. S.262f.). Fraglich ist allerdings, woran man erkennen kann, dass eine Kommunikation einem bestimmten Funktionssystem zugehörig ist. Dazu benötigt LUHMANN binäre Codes: "An dieser Stelle möchte ich den Vorschlag machen, auf binäre Codierung abzustellen. Das Merkmal einer Zuordnung oder des Erkennens von Systemzugehörigkeit wäre danach die Anwendung eines binären Codes" (S.263). [30]

LUHMANN führt für verschiedene Funktionssysteme Beispiele an, wie Recht/Unrecht (Recht), Eigentum haben/Eigentum nicht haben (Wirtschaft), wahr/unwahr (Wissenschaft), Amtsmacht/Unterworfensein bzw. Regierung/Opposition (Politik) (vgl. ebd.). Immer wenn solche Unterscheidungen kommunikativ benutzt werden, handelt es sich demnach um kommunikative Elemente von Funktionssystemen. Die Funktionserfüllung anhand dieser Codes darf nicht mit einer Zielerfüllung verwechselt werden. Wissenschaftliche Kommunikation findet nach dieser Theorie nicht heraus, ob etwas "tatsächlich" wahr oder unwahr ist, sondern die Kommunikation gibt sich eine bestimmte Struktur, indem diese Unterscheidung (und keine andere) benutzt wird. Der Zusammenhang von Schichtung und den positiven und negativen Codewerten, den es in früheren, stratifizierten Gesellschaft gegeben hatte, wird unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung aufgelöst:

"Gott vertritt nur gute Werte. Der König ist sowohl reich als auch prächtig ausgestattet, und in diesem Sinne schön. Er ist tugendhaft, und er ist weise, und die negativen Werte werden fern gehalten. Es gibt eine Kopplung zwischen positiven Werten und eine Kopplung zwischen negativen Werten, zwischen Tugenden und zwischen Lastern. Die binäre Codierung, wenn sie als ein Instrument des Zuordnens im Funktionssystem gedacht ist, muss diesen Zusammenhang auflösen und muss stattdessen die Leichtigkeit des switching vom positiven zum negativen Wert innerhalb eines jeden Funktionssystems sicherstellen, beispielsweise die Leichtigkeit des Wechselns von der Regierung in die Opposition oder von der Opposition in die Regierung oder die Leichtigkeit des Übertragens von Eigentum gegen bloße Bezahlung oder bloße Gegenübertragung, unabhängig davon, um was für Objekte es sich handelt. [...] Wir haben eine Struktur, die sich semantisch von der Tradition unterscheidet, und wir können diesen Unterschied mit einer Art technischen Analyse des Verfahrens in codierten Systemen verbinden" (S.265). [31]

In den Systemen selbst löst sich allmählich die Vorstellung auf, dass an Objekten, also gegenüber der Kommunikation an einer Außenwelt, überprüft werden könnte, ob etwas den einen Wert hat oder den anderen.

"In einer Codierung, wie sie in Funktionssystemen verwendet wird, ist hingegen eine stärkere Abstraktion von jedem Belegexemplar vorgesehen und man braucht Kriterien, die es erlauben, zu entscheiden, ob der positive Wert oder der negative Wert gegeben ist. Und ich habe mir angewöhnt, diese Kriterien 'Programme' zu nennen. Das ist ursprünglich aus der ökonomischen Literatur, die ihrerseits wiederum an der Computersprache getankt hat" (S.266). [32]

Programme sind somit kommunikativ erzeugte Kriterien, die sich in den Funktionssystemen ausbilden und dort autonom gehandhabt werden. [33]

In formaler Hinsicht sind zusammenfassend alle Funktionssysteme mehr oder weniger gleich, sie haben alle ein Bezugsproblem, wodurch sich ihre Funktion für die Gesellschaft bestimmt, sie operieren alle anhand eines binären Codes, und es bilden sich intern Programme heraus, die regeln, wann welche Codewerte zu vergeben sind. Ungleich sind die Systeme aber darin, dass sie sich um ganz unterschiedlich gelagerte Bezugsprobleme ausbilden. Aufgrund dieser Ungleichheit sind die Codes und Programme zwischen den Funktionssystemen nicht austauschbar. Politische Programme (Parteiprogramme) unterscheiden sich bspw. gravierend von wissenschaftlichen Programmen (Theorien oder Methoden) (vgl. S.266f.). [34]

3.2.3 Evolutionstheorie

Die Evolutionstheorie dient einerseits als Verbindung der operativen Seite und der strukturellen Seite in LUHMANNs Gesellschaftstheorie und andererseits dazu, eine historisch-zeitliche Perspektive in seine Gesellschaftstheorie zu integrieren: "Schwerpunkt dieses Teils [...] ist die Betrachtung der Gesellschaft nicht vom Operationstyp her, sondern von einer zeitlichen oder von einer historischen Perspektive her" (S.181). Hier steht vor allem die Frage nach ungeplanten, zufallsgenerierten Strukturänderungen im historischen Verlauf (vgl. S.190) im Vordergrund. Abgegrenzt wird die Evolutionstheorie von Schöpfungstheorien, die die Erklärung für gesellschaftliche Veränderungen außerhalb der Gesellschaft anlegen und von Phasentheorien (oder Modernisierungstheorien), die eine stufenweise Entwicklung von Gesellschaft annehmen, in dem Sinne, dass eine bestimmte Entwicklung aus einer vorausgehenden quasi logisch folgt. Damit werden auch Planungstheorien ausgeschlossen, denn

"die Planung ist nicht gleichbedeutend mit evolutionärer Selektion. Das System akzeptiert, geplant zu werden, wehrt sich in gewisser Weise jedoch auf eigene Art auch dagegen, lässt die Dinge entgleisen, lässt die Leute im nächsten Moment ihre Pläne wieder umwerfen, erzeugt aus erfüllten Erwartungen Enttäuschungen und und und. Das heißt die Evolutionstheorie ist die breitere Theorie" (S.191). [35]

Die Entstehung, Weiterentwicklung und zunehmende Differenzierung von Systemen kann aus dieser Perspektive genauso wenig auf planerische Instanzen bezogen werden wie das Entstehen von Kulturtechniken wie z.B. Schrift oder Buchdruck und deren Konsequenzen:

"Die Menschen mögen in ihrem Kleinkram denken, etwas wollen und Ziele suchen, in der Großstruktur spielt das keine Rolle mehr, sondern was herauskommt, wird durch die Evolution entschieden. Ein handlungstheoretischer, subjekttheoretischer, mentalistischer Ansatz, wenn man so will, bringt das Problem nicht auf die Ebene, auf der er uns Schwierigkeiten machen würde" (S.201f.). [36]

Diese Teiltheorie ist, wie ich finde, am schwersten einzuordnen und wirkt auch etwas ungeordnet in ihrem Aufbau. Gleichwohl halte ich sie für sehr wichtig, weil LUHMANN meines Erachtens gerade anhand dieser Komponente eine gewisse Selbstrelativierung in die Theorie mit einbaut. Während den Ausführungen über Kommunikation, Kommunikationsmedien und Systeme implizit einerseits so etwas wie planerisches Handeln und andererseits eine quasi-notwendige Entwicklung von einfachen sozialen Gebilden hin zu immer komplexeren Systemen entnommen werden kann, so betont LUHMANN hier am stärksten die Zufallsabhängigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen (vgl. S.189ff.). Zufall bezeichnet bei LUHMANN alles, "was nicht durch ein System koordiniert ist" (S.190). Hier gesteht LUHMANN der Umwelt von Systemen eine tragende Rolle am Mitwirken an deren Veränderungen zu, denn das System evoluiert "nicht völlig aus Eigenem" (ebd.). Entsprechend stellen sich gesellschaftliche Entwicklungen als normalisierte Unwahrscheinlichkeit dar, wenn er sagt, "dass die Evolution zu einer zunehmenden Normalisierung oder zu einem Wahrscheinlichwerden von Unwahrscheinlichkeiten führt" (S.192). Zwar gibt es eine Tendenz zu mehr Komplexität, aber das heißt nicht, dass alles immer komplexer wird:

"Wir können uns zum Beispiel auch nicht vorstellen, dass Interaktionen unter Anwesenden immer komplexer werden. Wir bauen stattdessen andere Systeme, Organisationen zum Beispiel. Es gibt eine Simultaneität von einerseits einfacheren Sozialformen, die voraussetzungsfrei zu bilden sind: Man braucht nicht viele Grundlagen, um in Interaktion zu treten, und andererseits von hochvoraussetzungsvollen Sozialformen wie etwa Geldsystemen, Bankensystemen, Forschung, anspruchsvoller naturwissenschaftlicher Forschung, Medizin und dergleichen, die störanfälliger sind und sehr viel mehr Voraussetzungen benötigen, deren Sicherheit immer wieder erst noch gewährleistet sein muss. Wenn man den Begriff der Autopoiesis hinzuzieht, könnte man sagen, die Evolution probiert aus, wie hoch die Komplexität sein kann, ohne dass die Autopoiesis zusammenbricht" (S.193f.). [37]

Ein wichtiges Ziel dieser Teiltheorie ist es, Plötzlichkeiten bzw. Sprunghaftigkeiten in die Theorie einzubauen (vgl. S.199), um das Bild einer kontinuierlichen, geplanten und damit quasi-vernünftigen Entwicklung abzuschwächen. Dazu dient ihm der Begriff der "evolutionären Errungenschaften" (ebd.), der besagt, dass durch Reduktion von Komplexität der Aufbau höherer Komplexität möglich wird (vgl. S.215). Als Beispiele nennt LUHMANN Geld, Schrift, politische Ämter, Organisation und Technik (vgl. ebd.). Geld zum Beispiel reduziert die Möglichkeiten des wirtschaftlichen Handelns, aber gerade dadurch kann quasi alles auch in Geldwert ausgedrückt und wirtschaftliches Handeln in verschiedenartigsten Kontexten ermöglicht werden. Komplexität wird reduziert (es kann nicht mehr alles mit allem getauscht werden) und gleichzeitig erhöht (Geld kann auf alles bezogen und nahezu überall eingesetzt werden). Geld entsteht historisch gesehen relativ plötzlich und zunächst in einem bestimmten lokalen Kontext. Dass sich daraus ein globales Wirtschaftssystem entwickelt, ist nicht notwendig und war ein sehr langwieriger, verschlungener Prozess. [38]

Die Kernbegriffe der Evolutionstheorie stellen eine "dreigliedrige Unterscheidung" (S.189) dar, die LUHMANN Charles DARWINs Evolutionstheorie entnimmt und in seine Gesamttheorie auf komplizierte Weise einarbeitet. Gemeint ist die Unterscheidung von Variation, Selektion und (Re-) Stabilisierung. Diese Unterscheidung wird nicht von einem System koordiniert – wie das z.B. für die autonome Handhabung von Codes bei den Funktionssystemen der Fall ist – sondern dies passiert, so LUHMANN, "an einem System" (S.190).8) Die Architektur der LUHMANNschen Gesellschaftstheorie macht es nötig, mindestens zwei Ebenen zu unterscheiden, auf denen von Evolution gesprochen werden kann: zum einen auf der Ebene des Gesellschaftssystems, und darum geht es in dieser Vorlesung insbesondere, und zum anderen auf der Ebene von Teilsystemen (vgl. S.221ff.). Ich beschränke mich vor allem auf die Ebene des Gesellschaftssystems und darauf, in Ansätzen die Verwobenheit mit den anderen Theorieteilen zu illustrieren. [39]

Variation findet "auf der Ebene der Elemente, der Operationen, der Ereignisse" (S.202) statt. Selektion findet demgegenüber "auf der Ebene von Strukturen" (S.204) statt. Stabilisiert werden Strukturen aber erst durch und in Systemen (vgl. S.206ff.):

"Der Versuch besteht also nicht darin, mit unterschiedlichen Systemebenen zu arbeiten, sondern die Unterscheidung in der Differenz von Variation, Selektion und Restabilisierung auf die Unterscheidung von Elementen oder ereignishaften, temporalen Operationen, von Strukturen, die zur Verknüpfung dieser Ereignisse notwendig sind, und System umzusetzen" (S.203). [40]

Variation wird in Bezug gesetzt zu Sprache und zu Verbreitungsmedien (Abschnitt 3.2.1): sie findet durch "die Benutzung der negativen Seite des Codes der Sprache" statt. In archaischen Gesellschaften, die durch Interaktionen konstituiert und reproduziert werden, kommen Variationen laut LUHMANN nicht oft vor. Entsprechend langsam wandeln sich diese Gesellschaften. Das Aufkommen von Schrift löst den "Interaktionsdruck" (S.203) archaischer Kulturen auf und beschleunigt somit den Variationsmechanismus. Nun kommen Neins massenhaft vor. Auf jedes kommunikative Angebot kann eine Ablehnung folgen. Ein Nein stellt für LUHMANN "eine Variation in Bezug auf eine vorhandene Erwartungsstruktur" (S.203) dar, die im Alltag der modernen Gesellschaft massenhaft vorkommt ("Nein, ich komme nicht mit ins Kino ...") und keine großen Probleme erzeugt: "Es gibt eine Massenhaftigkeit von Variation, die im Allgemeinen keine großen Selektionsprobleme, vor allem keine Strukturänderungsprobleme aufwirft" (ebd.). Mit den evolutionären Errungenschaften von Schrift und Buchdruck wird das soziale Gedächtnis immens erweitert und es werden somit auch die kommunikativen Neins aufbewahrt. Zudem machen Verbreitungsmedien Kommunikation unter Abwesenden möglich. Das Fehlen des Interaktionsdrucks zur Zustimmung erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Neins: "Die Möglichkeit, Negation in die Kommunikation einzubauen, nimmt als Folge von Evolution zu und beschleunigt Evolution in dem Sinne, dass jetzt massenhafte Negationen auftreten können und die Strukturen, die das noch verkraften können, unter Selektionsdruck geraten" (S.204). [41]

Selektionen sind "Sache der Struktur" (S.202) und werden von LUHMANN in Bezug gesetzt zur Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (Abschnitt 3.2.1) und zur Systemtheorie (Abschnitt 3.1). Weiterreichende Strukturmuster ergeben sich durch den wiederholten Gebrauch von Operationen. SgKm dienen z.B. – genau entgegengesetzt zu den Verbreitungsmedien – dazu, bestimmte Nein-Wahrscheinlichkeiten zu verhindern und stattdessen spezifische Selektionen wahrscheinlich zu machen. Mit Geld können anhand von Unternehmen bspw. spezifische Verhaltensweisen generalisiert werden, die ansonsten nicht sehr wahrscheinlich wären; man denke nur an Fließbandarbeit und andere äußerst anstrengende und gleichzeitig sozial schlecht angesehene Berufe. Über sgKm und deren Systembereiche wird eine Überfülle von Möglichkeiten auf eine begrenzte Anzahl reduziert, also strukturiert. Die ausgeschlossenen Möglichkeiten sind aber nicht für alle Zeit ausgeschlossen. Sie laufen implizit mit und können irgendwann selbst strukturierend wirken. [42]

Mit Selektion ist aber nicht nur das Einarbeiten von Neuerungen in eine bestehende Struktur angesprochen, "denn auch eine Struktur, über die Änderungen abgelehnt worden sind, ist nicht mehr dieselbe wie vorher" (S.204). Im sozialen Gedächtnis schreiben sich auch die Ablehnungen ein, die langfristig doch noch selegiert werden können:

"Das System hat ein gewisses Gedächtnis. Was immer abgelehnt wird, wird mittransportiert, und irgendwann kommt man zu dem Resultat, dass es vielleicht doch ganz gut war. Man kann sich nicht vorstellen, dass die russische Revolution von 1917 gleichsam widerstandslos möglich war, ohne dass man schon einmal eine versucht hätte, 1905, die gescheitert war. Die Möglichkeit, dass es versucht werden konnte, war das, was in der Erinnerung blieb" (S.204f.). [43]

Historisch gesehen war der erste Umgang mit Variationen eine normative Struktur, "in der man Devianz und Konformität unterscheiden konnte" (S.205). Gemeint ist die Religion. Darauf folgen historisch die sgKm

"als Möglichkeit, Variation durchzusetzen, sei es, weil man Geld hat, sei es, weil man Macht hat, sei es, weil man Forschung betreiben kann und Mittel hat, die neuen Erkenntnisse als methodisch korrekt auszuweisen. Über diese Medien wird anders als über Religion eine nicht notwendig normativ gedeckte Änderungsmöglichkeit erzeugt" (S.206). [44]

Die sgKm ermöglichen, dass viel mehr akzeptiert werden kann als vorher. [45]

Mit der Selektion von Ereignissen und mit spezifischen Strukturen ist aber noch nichts über deren Beständigkeit ausgesagt. Sowohl selegierte Variationen als auch abgelehnte Variationen müssen immer wieder stabilisiert werden:

"Wenn man es mit variierten Strukturen zu tun bekommt, ist die Frage, inwieweit das innerhalb der Gesellschaft mit den System-Umwelt-Beziehungen noch durchgeführt werden kann oder ob Variationen sich zwar anbieten und Selektionen diesen zwar folgen, aber innerhalb der Gesellschaft nachher zu große Schwierigkeiten auftauchen" (ebd.). [46]

Für LUHMANN werden Strukturen bzw. Strukturänderungen durch Systeme stabilisiert. "Stabil wäre eine selegierte Struktur dann, wenn das System sich durch zahlreiche Modifikationen anderer Strukturen so an die Veränderung oder auch an das Unterdrücken einer Veränderung anpassen kann, dass die System-Umwelt-Verhältnisse die Autopoiesis weiterhin tolerieren" (S.203). [47]

Die Trennung der Begriffe Variation, Selektion und (Re-) Stabilisierung weist LUHMANN in der Folge selbst als Resultat von Evolution aus. Erst mit dem Aufkommen von Schrift setzt sich eine Trennung von Variation und Selektion durch (vgl. S.207). Das hängt mit der Trennung von Information/Mitteilung und Verstehen zusammen, die ebenso erst mit dem Aufkommen von Schrift ermöglicht wird. Durch das Zunehmen der dadurch möglichen Neins kommt es zu Abweichungen und bezogen auf die Evolutionstheorie zu einem Problem des Verhältnisses von Selektion und Stabilisierung (vgl. S.210). Die besondere Problematik der gegenwärtigen Gesellschaft liegt im Hinblick auf diese Evolutionstheorie darin, dass "wir heute das Problem [haben], dass plötzlich Stabilität und Variation dasselbe sind: Wir stabilisieren durch ständige Änderung" (S.208). [48]

Letztlich hinterlässt LUHMANN mit seiner Evolutionstheorie den Eindruck von Gesellschaft als dem Experimentierfeld eines vielfältigen Nebeneinanders von Systemen und Strukturen. Um dies noch kurz zu verdeutlichen, möchte ich auf die Idee des "Funktionswechsels" (S.218f.) eingehen, den LUHMANN als "Modus der Entwicklung von evolutionären Errungenschaften" (ebd.) ansieht. Am Beispiel der Schrift als evolutionäre Errungenschaft wird deutlich, wie ungeplant LUHMANN sich gesellschaftliche Entwicklung vorstellt:

"Schrift wurde als Aufzeichnungssystem in Gang gebracht und dann irgendwann, nachdem die Kapazität des Lesens und Schreibens relativ breit entwickelt war, auch für Kommunikationszwecke verwendet. Dann schritt die Verschriftlichung weiterer Kulturbereiche immer stärker fort, und die Funktion der Schrift änderte sich. Man denkt nicht mehr so sehr an das Aufzeichnen für sich selber, obwohl das noch mitläuft, sondern man denkt, wenn man heute an Schrift denkt, an etwas, das eine Mitteilung trägt. Das grundlegende Schema dieses Überganges von Anfangsphasen zu endgültigen Funktionen hat etwas mit einem Funktionswechsel zu tun. Einrichtungen laufen unter Bedingungen an, die noch nicht die endgültige Funktion voraussetzen; das System lässt sich auf diese Einrichtung noch nicht in Bezug auf die endgültige Funktion ein, sondern testet sie zunächst einmal in einer Art von Provisorium. Erst wenn eine gewisse Bewährung da ist, hängt man die dann endgültigen Funktionen an beziehungsweise – was heißt schon 'endgültig'? – diejenigen Funktionen, die wir in der Form evolutionärer Errungenschaften haben" (S.218). [49]

3.3 Lauter Selbstbeschreibungen?

Das abschließende Kapitel von LUHMANNs Vorlesung, die gleichlautend ist mit dem letzten Kapitel seines Buches "Die Gesellschaft der Gesellschaft", lautet "Selbstbeschreibungen". Mit Selbstbeschreibungen wird für LUHMANN einerseits die Zuordnung von Kommunikationen zu Systemen für die Systeme selbst möglich. Selbstbeschreibungen erzeugen eine Einheit, indem Systeme damit Kommunikationen sich selbst zuordnen und anderes in ihre Umwelt verweisen. Das Rechtssystem z.B. muss allererst wissen, ob überhaupt ein Ereignis mit dem Code und den Programmen des Rechtssystems zu behandeln ist oder nicht. Andererseits verweist der Terminus "Schreiben" auf (schriftliche) Texte, denen eine gewisse Verbreitung und Dauerhaftigkeit zukommt. Die permanente Frage, ob etwas z.B. Kunst ist oder nicht, lässt verschiedenartigste Theorien – LUHMANN sagt dazu Reflexionstheorien – entstehen, die sich mit der Frage der eigenen Identität auseinandersetzen.

"Selbstbeschreibung unterscheidet sich von Fremdbeschreibung; man muss also an einen Fall denken, in dem ein System mit eigenen Operationen eine Beschreibung von sich selber anfertigt. Unter einer 'Beschreibung' verstehe ich im Unterschied zu einer bloßen 'Beobachtung' etwas, was nicht nur im Moment geschieht, sondern was zum Beispiel in einem weiten Sinne zu einem Text wird oder eine Identität produziert, die auch in anderen Zusammenhängen wiederverwendet werden kann. Selbstbeschreibung bedeutet also, dass das System sich als etwas erklärt, beobachtet, beschreibt, was auch für andere Zusammenhänge bedeutsam werden kann, sich also dauerhaft oder relativ dauerhaft von der Umwelt unterscheidet" (S.286). [50]

LUHMANN exemplifiziert in diesem Zusammenhang nachfolgend zwei erkenntnistheoretische Probleme: Dies ist zum einen das Problem, dass eine Selbstbeschreibung sich nie einholen und somit nie zu einem "Ende" kommen kann. Denn die Beschreibung verändert den Zustand des beschreibenden Systems, der in die Beschreibung mit einfließen müsste, wenn eine vollständige Beschreibung angestrebt ist. Zum anderen benennt er das Problem, dass Interaktionssysteme, Organisationssysteme und auch Funktionssysteme zwar von außen beobachtet und beschrieben werden können, das Gesellschaftssystem allerdings nur intern. Insofern ist für LUHMANN eine Fremdbeschreibung der Gesellschaft nicht möglich, weil alle Beschreibung operativer Bestandteil der Einheit der Gesellschaft ist. Auch für eine Theorie der Gesellschaft gilt dies. Die Richtigkeit der soziologischen Gesellschaftstheorie kann also folgerichtig laut LUHMANN nicht dadurch gewährleistet werden, dass sie Gesellschaft gegenstandsadäquat beschreibt. Stattdessen stellt sich für die Wissenschaft allgemein und speziell für die Soziologie die Frage,

"wie eine Selbstbeschreibung daran gehindert werden kann, beliebig zu sein oder mal dies, mal das zu behaupten, wenn es keine externe Kontrollinstanz gibt, also kein maßgebliches Subjekt oder keinen Gott gibt, den man um Korrektur bitten kann [...]. Für eine heute geschriebene Soziologie ist das Problem [...], wie wir stattdessen, statt eines externen Kontrollagenten, eines externen Kontrollbeobachters, sicherstellen können, dass Beschreibungen nicht beliebig ausfallen, so dass nicht jeder irgendetwas behaupten kann und es sich dann nur noch beispielsweise um eine Frage der Durchsetzung auf dem Markt der Massenmedien handelt" (S.289). [51]

LUHMANNs Vorstellung einer Lösung dieses Problems, also einer Einschränkung von Beliebigkeit, liegt darin, "dass eine Selbstbeschreibung nicht unabhängig von der Struktur der Gesellschaft erfolgen kann, die in der Selbstbeschreibung berücksichtigt wird" (S.289f.). Richtigkeit ist also dann gewährleistet, wenn eine Beschreibung plausibel (d.h. anschlussfähig) ist und sich innerhalb einer Gesellschaft langfristig etablieren kann. Denn es ist "vor allem die Form der Differenzierung" (S.290), die "semantische Plausibilitäten einschränkt" (ebd.). LUHMANN führt dann vor allem aus, dass es für historisch unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen zu jeweils plausiblen Selbstbeschreibungen kommt, wenn auch oft stark zeitversetzt. Nach LUHMANN würde wohl seine gesellschaftstheoretische Beschreibung eine passende Beschreibung der modernen (!) Gesellschaft darstellen, während er andere Beschreibungen oftmals als "alteuropäisch" (S.292) abtut. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem "Survival-Komplex" (ebd.) und meint damit die "Fortdauer von Fragen und Fragestellungen [...], die eigentlich nicht mehr angemessen sind" (ebd.). Gemeint sind z.B. Ansätze, die nach den Anfängen oder Ursprüngen von etwas fragen. Genauso kann kein Zentrum bzw. keine Spitze (wie früher die Religion oder Politik) der Gesellschaft mehr ausgemacht werden, die eine legitime Beschreibung des Ganzen anfertigen könnten:

"Unter dem Regime der funktionalen Differenzierung müssen wir sagen [...], die Wissenschaft hat einen bestimmten Code, wahr / unwahr, die Politik hat einen anderen, die Erziehung wieder einen anderen, das Recht ebenso und so weiter. Wir fertigen also eine polykontexturale Beschreibung der Gesellschaft an, je nachdem, welchen Standort wir haben, welches Funktionssystem wir in Anspruch nehmen" (S.297). [52]

Aber LUHMANN behauptet nicht einfach, dass die Moderne andere gesellschaftsstrukturelle Plausibilitätsbedingungen schafft als Alteuropa. Er versucht in ausführlicheren Studien historischer Texte ("Selbstbeschreibungen") einen "Umbruch der Differenzierungsformen in der Moderne" (S.307) nachzuweisen, der sich durch "Plausibilitätsverluste in allen alten Konzepten" (ebd.) bemerkbar macht. Neuere, "moderne" Semantiken ergeben für LUHMANN "kein einheitliches Bild" (S.310) mehr. Der Bereich moderner Semantiken zerfällt "in verschiedene Teile" (ebd.). LUHMANN gibt Beispiele für eine "Bewegung in Richtung auf Reflexionstheorien" (S.318) von Funktionssystemen und führt diese zurück auf eine funktionale Differenzierungsstruktur der Gesellschaft. Seine Beispiele beziehen sich auf Erkenntnistheorie, politische Theorie, ökonomische Theorie, Liebe, Kunsttheorie, Recht und Pädagogik (S.311-318; vgl. dazu auch die Studien zu Gesellschaftsstruktur und Semantik in LUHMANN 1980, 1981, 1989, 1995). Für alle diese Beobachtungen fehlt laut LUHMANN eine Theorie, und dieses Fehlen einer Gesellschaftstheorie hat Konsequenzen (vgl. S.321ff.). Die sowohl im Alltag als auch in der Soziologie dominante Vorstellung, die Gesellschaft bestehe aus Individuen und deren sozialen Beziehungen, ist z.B. eine solche Konsequenz. Ideen von (subjektiver) Vernunft und (subjektiver) Rationalität, Vorstellungen einer linear fortschreitenden Zeit sind weitere Konsequenzen. LUHMANN bemerkt durchaus selbstkritisch, dass es fraglich sei, ob diese Auflösungserscheinungen und vielschichtigen Änderungen überhaupt sinnvoll in einer Theorie der Gesellschaft geordnet und überblickt werden können (vgl. S.328). Seine Entwürfe stellt er nicht als Ergebnis, also nicht als fertige Gesellschaftstheorie dar, sondern als Bemühungen, diese in Gang zu setzen:

"Meine Frage ist, ob man am Ende dieses 20. Jahrhunderts nicht doch Möglichkeiten finden könnte oder auch finden müsste, eine Gesellschaftstheorie zum Kernbestand einer Bestandsaufnahme der strukturellen Probleme der Moderne, insbesondere der System-Umwelt-Probleme und der semantischen Möglichkeiten, das zu beschreiben, zu machen: ob man eine solche Gesellschaftstheorie nicht doch zumindest suchen müsste, zumindest als Aufgabe sehen müsste. So habe ich diese Vorlesung angelegt. Deswegen kamen große Teile historischen Gedankenguts mit hinein. Deswegen kamen Themen hinein, die normalerweise nicht im Aufmerksamkeitsfeld der Soziologie liegen. Die Frage ist, ob die Soziologie sich damit überfordert und sich damit gleichsam zu einer Theologie säkularer Art oder zu einer Philosophie entwickelt oder ob es noch Rückhaltspunkte in der Wissenschaft selbst gibt, die zeigen, dass das ganze Unternehmen ebenso ambitiös wie limitiert ist" (S.328f.). [53]

Obwohl LUHMANN auch seine eigene Theorie als eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft auffasst, muss kritisch gefragt werden, ob der Begriff der Selbstbeschreibung unter Systemtheoretiker/innen nicht allzu oft als "Kampf- oder Entlarvungsinstrument" eingesetzt wird, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass bestimmte Theorien ja "nur" defizitäre Selbstbeschreibungen seien (während das eigene Theoretisieren dagegen eine "bessere" Sicht darstelle). Sinnvoll scheint mir, sich darauf zu besinnen, dass LUHMANN Selbstbeschreibungen begrifflich als etwas Unhintergehbares einsetzt, das immer auch in Bezug auf die eigene Beschreibung reflektiert werden muss. Insofern gibt es nur Selbstbeschreibungen. [54]

4. Kontrollierte Offenheit?

LUHMANN versucht mit seiner Gesellschaftstheorie meines Erachtens, eine originelle Mischung von Kontrolliertheit und Offenheit zu erzeugen, um somit die von mir bereits eingangs erwähnte Lücke der Soziologie (vgl. Abschnitt 2) zu schließen. Einerseits ist durch die Theorie kaum etwas über empirische Gegebenheiten ausgemacht. Jegliches als interessant erscheinendes Phänomen kann im Rahmen dieser Theorie untersucht werden (universalistischer Anspruch der Theorie). Andererseits wird durch das systemtheoretische Paradigma ein bestimmtes Vorgehen erzeugt, das dazu dienen soll, Beliebigkeit auszuschließen. Man ist durch die Theorie dazu angehalten, Systemreferenzen anzugeben: handelt es sich bei einem Phänomen überhaupt um ein soziales Ereignis, d.h. ist es als Kommunikation fassbar? Wenn es als Kommunikation fassbar ist, auf welcher Ebene des Sozialen ist es relevant? Geht es um Interaktionen, um Organisationen oder um ein bestimmtes Funktionssystem? Oder geht es gar um ein Phänomen, durch das verschiedene Systeme betroffen sind? Wie lässt sich die Typik des kommunikativen Operierens jeweils fassen? Welche Theoriebestandteile und Begriffe können zur Beantwortung bestimmter Forschungsfragen eingesetzt werden? Die Theorie gibt also den Rahmen vor, mit dem in Bezug auf konkrete Forschungsfragen Problemstellungen erarbeitet werden können. Dennoch werden dadurch noch nicht die Forschungsergebnisse vorweggenommen. [55]

4.1 Reflexion des Ausgeschlossenen

Dass die theoretischen Begriffe und Vorgaben bei LUHMANN nicht als Kategorien zu missverstehen sind, denen die Empirie lediglich nachgeordnet wird, liegt daran, dass Begriffe konsequent als Unterscheidungen gearbeitet sind. In der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie hat die Verwendung von Begriffen immer9) (eine) explizierte andere Seite(n) – die Theorie versucht immer, das Reflektieren des Ausgeschlossenen zu erreichen, indem bei systemtheoretischen Analysen Unterscheidungen gehandhabt werden: System / Umwelt, Medium / Form, Code / Programm, Inklusion / Exklusion, Kommunikation / Bewusstsein, Operation / Struktur, Operation / Beobachtung, Fremdreferenz / Selbstreferenz usw. Es geht also nicht, wie bei einem nomologisch-deduktiven Verständnis von Theoriebildung, um Hypothesengenerierung und um deren Überprüfbarkeit an einer empirischen "Wirklichkeit". Vielmehr geht es um einen heuristischen Rahmen, aus dem in explorativer Hinsicht Fragestellungen und Problemstellungen generiert werden können, die auch empirische Forschungen ermöglichen sollen, die in einer rückbezüglichen Auseinandersetzung mit der Theorie selbst Erkenntnisgewinne versprechen. Die Besonderheiten dieser gesellschaftstheoretischen Herangehensweise sollen im folgenden Abschnitt im Kontrast zu einem nomologisch-deduktiven Methodenverständnis illustriert werden. [56]

4.2 Bezugsprobleme: Reflexion des Eingeschlossen-Seins

Bei Hartmut ESSER findet sich in idealtypischer Weise die Vorstellung, dass Theorien nur dann Geltung beanspruchen können, wenn sie an der Wirklichkeit überprüft werden können.

"Jede Theorie beginnt mit einem Problem, das es zu lösen gilt [...]. Darauf erfolgen – über Versuch und Irrtum – vorläufige Lösungen dieses Problems in Form erster Erklärungen, die aber noch mit Fehlern und Anomalien behaftet sind [...]. Empirische Tests und daran anschließende Veränderungen der Theorie führen – nach und nach – zur Beseitigung der Fehler [...]. Gleichzeitig werden mit der Lösung des alten Problems ganz neue Fragen sichtbar. Gerade erst die Fehlerbeseitigung und die Lösung eines ersten Problems führt damit zur Formulierung eines neuen Problems, das vorher nicht gesehen werden konnte [...]. Und der ganze Prozeß beginnt von Neuem" (ESSER 1996, S.48). [57]

Und weiter formuliert ESSER, dass die Wirklichkeit bei der Überprüfung beteiligt sein müsse:

"Theorieentwicklung ist damit ein nie abzuschließender Prozeß der Lösung und der Neuformulierung von Problemen. Die wichtigste Rolle spielt dabei – neben der logischen Konsistenz, das heißt: der Widerspruchsfreiheit ihrer Aussagen und ihres Gehaltes – die empirische Bewährung von Theorien in experimentellen Tests. Die (immer nur: vorläufige!) Geltung von Theorien kann ja nicht einfach beschlossen oder abgelehnt werden. Die 'Wirklichkeit' muß – über empirische Daten und kontrollierte Experimente – ein gewichtiges Wort mitreden können. Theorien, die dies nicht zulassen, sind nicht widerlegbar, immer wahr und daher unbrauchbar" (ebd.). [58]

Im Mittelpunkt der systemtheoretischen Vorgehensweise stehen andere Annahmen: Gerade weil Theorien nicht an der Wirklichkeit überprüft werden können, muss die Theorie selbst Strukturen aufbauen und Plausibilitäten erzeugen, die ihre Anschlussfähigkeit in der gesellschaftlichen Realität Wissenschaft sicherstellen. Gleichwohl sind diese behaupteten Realitäten eben die von der Theorie unterstellten Realitäten. Diesen Zirkel kann auch eine systemtheoretische Gesellschaftstheorie nicht aushebeln. Die Theorie muss sich selbst im Rahmen einer gesellschaftlichen Realität behaupten können, ohne sicher zu wissen, was das für eine Realität ist. LUHMANN versucht diese und andere unlösbare Grundprobleme methodisch zu entfalten. [59]

Das methodische Hauptziel von LUHMANN ist das Vergleichen-Können von Verschiedenem anhand von Bezugsproblemen. Die begriffliche Erarbeitung solcher Bezugsprobleme als Vergleichsgesichtspunkte ist die Hauptleistung bzw. -aufgabe der Theorie: "Die eigentliche Theorieleistung, die den Einsatz funktionaler Analysen vorbereitet, liegt demnach in der Problemkonstruktion. Daraus ergibt sich der Zusammenhang von funktionaler Analyse und Systemtheorie" (LUHMANN 1984, S.86). LUHMANN bezeichnet die Form seiner Theorie als "problemorientiert und begrifflich gearbeitet [...] und damit auf Vergleiche abzielen[d]" (LUHMANN 1997, S.964; vgl. auch ebd. 1990, S.419ff.) Mit Bezugsproblemen sind aber nicht automatisch Probleme angesprochen, die aus dem Alltag oder den Massenmedien als zu lösende Probleme bekannt sind wie z.B. hohe Arbeitslosigkeit, veränderte Heiratsstatistiken, zunehmende Migration, Umweltprobleme, staatliche Sicherheitsprobleme, steigende Ölpreise usw. LUHMANNs Vorgehen unterliegt einer Umkehrung dieses üblichen Problematisierens10): Es wird von systemtheoretisch Forschenden nicht nach der Lösung eines empirisch vorliegenden Problems gesucht, sondern das empirisch Vorliegende wird so betrachtet, als ob es bereits die Lösung bestimmter Probleme darstellt, die es aufzuspüren gilt. Es wird also nicht primär nach einer (besseren) Lösung gesucht, sondern vielmehr nach zugrunde liegenden Problemen, die schon gelöst sind. Gesellschaft und deren Funktionssysteme "gibt" es für die Systemtheorie zwar, ohne dass aber damit bereits ausgemacht ist, welche Probleme durch diese gelöst sind. Die Ausformulierung einer Gesellschaftstheorie ist der Versuch, den gelösten Problemen auf die Spur zu kommen, die mit den vielfältigen Operationsweisen von Kommunikation empirisch beobachtbar sind. [60]

Diese Bezugsprobleme determinieren aber nicht die empirische Realität, sie können eher als Generatoren für Formbildungsprozesse angesehen werden. Diese Formbildungsprozesse will eine systemtheoretische Gesellschaftstheorie untersuchbar machen. Nahezu alle Vorkommnisse können bspw. wissenschaftlich behandelt werden. Die Gegebenheiten erlegen der Wissenschaft keine Grenzen auf. Die Auferlegung von Beschränkungen wird im Wissenschaftssystem selbst erzeugt. Dort findet eine permanente Einschränkung dieser Beliebigkeit durch die Anwendung des Codes wahr / unwahr11) und damit im Zusammenhang stehende Theorie- und Methodendebatten statt. Zur gesellschaftlichen Subsystembildung reicht aber Codekommunikation nicht aus. Zusätzlich muss diese Art der Kommunikation an ein Bezugsproblem – an eine gesellschaftliche Funktion – gebunden sein, denn

"wie kann die Fortsetzung der Kommunikation gegen die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Endes, gegen die Erschöpfung des Themas oder der Teilnehmer gesichert werden? Wir vermuten: durch Abstraktion des frame und durch Anschluß an eine gesellschaftliche Funktion, die ein wichtiges Problem ungelöst ließe, wenn die Kommunikation aufhören würde" (LUHMANN 1990, S.272; Hervorhebung A.W.). [61]

Die Form "Wissenschaft als Funktionssystem" ist also einem Bezugsproblem geschuldet; diese kann aber nur durch die Form "funktional differenzierte Gesellschaft" erreicht werden. Nur dadurch, dass andere Bezugsprobleme durch andere Systeme gelöst werden, entsteht die Autonomie für ein spezifisches Funktionssystem, sich alleine um ein Bezugsproblem zu kümmern. Dies verdeutlicht eine längere Passage von LUHMANN:

"Eine solche Lösung findet sich in der binären Codierung und in der Zuordnung bestimmter Codes zu bestimmten gesellschaftlichen Funktionen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um ein Produkt allmählicher gesellschaftlicher Evolution, also um eine Errungenschaft, die von vorneherein nur in der Gesellschaft möglich und nur dann möglich ist, wenn auch andere Probleme (des Rechts, der Politik, der Wirtschaft, der Erziehung, der Religion usw.) adäquat gelöst werden können. Man entschließt sich nicht irgendwann, fürderhin unter dem Code wahr/unwahr zu kommunizieren und damit Wissenschaft zu lancieren. Die Abstraktion des Code wird vielmehr allmählich historisch erreicht unter Eliminierung von Konnotationen (vor allem religiöser und politischer Konnotationen, 'precluding matters of Theology and State Affairs', wie es im Gründungsbericht der Royal Academy heißt), die durch andere Funktionssysteme versorgt werden müssen. Das ändert aber nichts daran, daß es einen empirisch feststellbaren Zusammenhang gibt zwischen gesellschaftlicher Funktion, Abstraktion des Code und Regularität der Fortsetzung von Forschung als Angelegenheit eines besonderen Systems Wissenschaft. Nun wird man zusätzlich in historischer Perspektive fragen müssen, welche besonderen gesellschaftlichen Bedingungen dazu geführt haben, daß diese Errungenschaft erreicht wurde" (ebd., S.272f.). [62]

Diese Formbildungsprozesse können nun verglichen werden mit den Mustern von Formbildungen anderer Funktionssysteme. Für diese Vergleichbarkeit konstruiert LUHMANN Gesellschaft als gemeinsamen Horizont, als grundlegendes System, in Bezug auf das sich die Bezugsprobleme stellen (vgl. Abschnitt 3.1). Mit denselben Begriffen sollen demnach verschiedenartigste Formbildungen beobachtbar und vergleichbar gemacht werden. Bei der Entwicklung der dafür notwendigen Vergleichsgesichtspunkte kann eine Gesellschaftstheorie als "Kontrollinstrument" behilflich sein. [63]

4.3 Schluss: Bezüge zu qualitativer Sozialforschung

Das Konzept einer Gesellschaftstheorie ist bis heute im Wesentlichen ein theoretisches Unterfangen, das selten Kontakt zur empirischen Sozialforschung sucht. Daraus ergibt sich ein großes Problem für den system- bzw. gesellschaftstheoretischen Ansatz, will er nicht nur als "reine" Theoriearbeit wahrgenommen werden. Diesem theoretischen Paradigma ist solch eine Selbstbeschränkung aber meines Erachtens nicht zwangsweise eingeschrieben. Aufgrund des explorativen Charakters des Konzepts einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie scheint dieses grundsätzlich vereinbar zu sein mit einigen Richtungen der qualitativen Sozialforschung. Dort geht es in vielen Fällen gerade um die Verhinderung zweier Probleme: Erstens soll verhindert werden, dass empirische Realitäten mit vorgefertigten Kategorien betrachtet werden. Zweitens sollen wissenschaftliche Theorien nicht bloß zur Hypothesengenerierung dienen, die dann an der Wirklichkeit überprüft werden. Wissenschaftliche Untersuchungen sollen offen bleiben können gegenüber einer erst noch zu erkundenden "Wirklichkeit". Ich habe zumindest ansatzweise zu zeigen versucht, dass LUHMANNs Begrifflichkeiten gerade keine "Kategorien" darstellen, unter die Empirisches bloß subsumiert wird. Meines Erachtens kann die LUHMANNsche Gesellschaftstheorie so gelesen werden, dass sie versucht, sich auf kontrollierte Weise offenzuhalten für eine erst noch zu erkundende soziale Wirklichkeit. [64]

Für die qualitative Forschung scheint es sicher ungewöhnlich, solch einen Apparat an Begrifflichkeiten laufend mitzuführen. Für einige Sozialforscherinnen und Sozialforscher mag es den Anschein haben, als ob die Systemtheorie sich in einem Begriffsgerüst gefangen nimmt, ohne jemals dazu zu kommen "soziale Wirklichkeit" zu untersuchen. Aus systemtheoretischer Sicht sorgt aber gerade dieses theoretische Arrangement für eine gewisse Kontrolle. Denn gerade wenn wir die Empirie nicht lediglich als Instrument zur Beantwortung von Kausalhypothesen ansehen, sondern Empirie als zu erkundendes Feld konzipieren, müssen wir uns selbst einschränken und für eine gewisse Kontrolle sorgen. Für eine gesellschaftstheoretische Forschung reicht es nicht aus, lediglich die Besonderheiten einzelner Bereiche oder Phänomene zu erkunden – und seien sie noch so interessant –, wenn diese nicht rückbezogen werden auf "Gesellschaft", in der und durch die diese Bereiche und Phänomene – so die zentrale Annahme dieses Ansatzes – strukturiert werden. Aus diesem "Dilemma" heraus ist es auch zu verstehen, warum die systemtheoretische Gesellschaftstheorie bisweilen ein vorrangig theoretisches Unternehmen geblieben ist. Vermutlich sind das auch die Gründe, warum ihr immer wieder die Empiriefähigkeit abgesprochen wird. Die Schwierigkeit gegenüber qualitativer Sozialforschung besteht wohl darin, wie explorative Fallstudien in Beziehung gesetzt werden können mit gesellschaftstheoretischen Problemstellungen. Dafür, dass dies prinzipiell möglich ist, sprechen vielfältige Bemühungen systemtheoretische Gesellschaftstheorie einerseits und verschiedene Strömungen qualitativer Sozialforschung andererseits einander näher zu bringen. Unter dem Sammelbegriff einer "konstruktivistischen Hermeneutik" gibt es diesbezüglich Kontakt zur Objektiven Hermeneutik und zur ethnomethodologischen Konversationsanalyse (vgl. dazu die Beiträge in SUTTER 1997 und SCHNEIDER 2004), zur Analyse narrativ-biografischer Interviews (vgl. NASSEHI 1994, 1995; WEBER et al. 2003; WOHLRAB-SAHR 1999, 2005) und zur dokumentarischen Methode (vgl. VOGD 2005). Eine wechselseitige Befruchtung zwischen einer soziologischen Systemtheorie mit verschiedenen Richtungen der qualitativen Sozialforschung ist also schon in Gang gesetzt. Statt eines Paradigmenwechsels innerhalb der soziologischen Disziplin wäre bereits mit der Schließung einer kleinen Lücke und der Etablierung eines eigenständigen Forschungsfeldes einiges erreicht. [65]

Anmerkungen

1) Bei allen Seitenangaben ohne Namensnennung handelt es sich um das hier zur Besprechung stehende Buch. <zurück>

2) Vgl. auch Dirk BAECKER im Vorwort zur Vorlesung "Einführung in die Systemtheorie", ebenfalls im Carl-Auer Verlag ein Jahr zuvor erschienen: "Eine Einführungsvorlesung zu halten bedeutete für Luhmann wesentlich stärker als in seinem Buch den Umstand zu unterstreichen, dass eine Theorie eine Konstruktionsleistung ist, die an vielen Stellen auf begriffliche Entscheidungen zurückzuführen ist, für die keine eindeutige, weder aus der Sache noch aus der Theorie abzuleitende, das heißt weder empirische noch deduktive Maßgabe existiert." (BAECKER 2004, S.8) <zurück>

3) Vgl. dazu aber die Auseinandersetzung in der DGS-Zeitschrift zwischen Vertretern eines methodologischen Individualismus und Vertretern der soziologischen Systemtheorie (ESSER 2002, 2003; BAECKER 2003; NASSEHI 2003; SUTTER 2005; GRESHOFF 2006). <zurück>

4) Mit Information ist vereinfacht gesagt der Inhalt bzw. das Thema einer Kommunikation gemeint. Sie wird bei Rückfragen der Art "Was hast du gesagt?" bemerkbar. Mit der Mitteilung einer Kommunikation ist zweierlei gemeint: zum einen der Akt des Mitteilens (Wer teilt etwas mit?) und zum anderen die Art und Weise des Mitteilens (In welcher Form wird etwas mitgeteilt?). Selektionen sind sie deshalb, weil es immer Alternativen gibt. Es könnte bspw. ein anderes Thema oder eine andere Form der Mitteilung gewählt werden. Zum Abschluss kommt eine Kommunikation aber erst durch die Unterscheidung von Information und Mitteilung, die eine weitere Person trifft. Weil Informationen und Mitteilungen somit auch interpretationsabhängig sind, verstärkt sich die Selektivität noch einmal. <zurück>

5) Insofern hat die LUHMANNsche Gesellschaftstheorie in analytischer Hinsicht zum einen eine eher operative Seite und zum anderen eine eher strukturelle Seite. Vgl. dazu auch Abschnitt 3.2. <zurück>

6) Zu dieser Ebenendifferenzierung von Interaktionen, Organisationen und Gesellschaft vgl. LUHMANN (2005b). <zurück>

7) Für einen Überblick über die wichtigsten Funktionssysteme vgl. RUNKEL und BURKART (2005). <zurück>

8) Hier fällt, nebenbei bemerkt, die formale Ähnlichkeit zum Kommunikationsbegriff auf, der auch dreigliedrig (Information, Mitteilung und Verstehen) konzipiert ist, aber immer zusammen gedacht werden muss. <zurück>

9) Auf wichtige theoriearchitektonische Ausnahmen, die den Sinn- und Weltbegriff betreffen, gehe ich hier nicht ein. <zurück>

10) Im Kritischen Rationalismus von Karl R. POPPER z.B. ist das explizite Ziel von Wissenschaft die Verbesserung und Gestaltung der sozialen Ordnung: "Wissenschaft dient nach Popper der 'Suche nach einer besseren Welt', und sie tut dies in besonderer Weise, nämlich als systematisches Verfahren der Gewinnung neuer Erkenntnisse. [...] und das heißt für ihn: Analyse der Situationsbedingungen des Handelnden. Der Zweck dieser Analyse liegt offenbar darin, Erkenntnisse über die Situationsbedingungen zu gewinnen, um diese so gestalten zu können, daß das zugrunde liegende Problem, die soziale Ordnung, besser gelöst wird. Zusammenfassend lässt sich dieses Programm charakterisieren als Erklärung – zwecks Gestaltung – der Bedingungen sozialer Ordnung" (SUCHANEK 1999, S.85). <zurück>

11) "Wenn eine bestimmte Kommunikation ihre Information als wahr bezeichnet, ist eine Einschränkung der Beliebigkeit möglicher Welten gesetzt. Aber auch wenn eine bestimmte Kommunikation eine Erwartung durchkreuzt und ihre Information als unwahr bezeichnet, ist ein Anstoß gegeben; denn man hat dann die durchkreuzte Erwartung zu transformieren und zu fragen, was statt dessen wahr sei" (LUHMANN 1990, S.271). <zurück>

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Zum Autor

Andreas WENNINGER; Dipl. Soz.; Studium der Soziologie an der LMU München von 2000-2005, von 2006-2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt "Massenmediale Inklusionsprozesse. Zur Ausdifferenzierung soziologischer Medien- und Rezeptionsanalysen" an der Universität Bielefeld, geleitet von Prof. Dr. Tilmann SUTTER und Prof. Dr. Alfons BORA; seit Oktober 2007 Koordinator im Graduiertenkolleg "Weltgesellschaft – Die Herstellung und Repräsentation von Globalität" des Instituts für Weltgesellschaft an der Universität Bielefeld.

Kontakt:

Andreas Wenninger

Institut für Weltgesellschaft
Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld
Universitätsstraße 25
D – 33615 Bielefeld

Tel.: 0521-106-2659
Fax: 0521-106-6448

E-Mail: andreas.wenninger@uni-bielefeld.de
URL: http://www.uni-bielefeld.de/soz/iw/personen/personendaten/wenninger.html

Zitation

Wenninger, Andreas (2008). Kontrollierte Offenheit. Review Essay: Niklas Luhmann (2005). Einführung in die Theorie der Gesellschaft [65 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(3), Art. 23, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0803237.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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