Volume 7, No. 2, Art. 15 – März 2006
Rezension:
Anne Klein
Walburga Freitag (2005). Contergan. Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen (Internationale Hochschulschriften Bd. 444). Münster: Waxmann, 454 Seiten, ISBN 3-8309-1503-9, EUR 34,90
Zusammenfassung: In dieser genealogisch ausgerichteten Studie von Walburga FREITAG geht es um die Frage der Subjektkonstitution im Spannungsfeld medizinischer Diskurse über Contergan. Ausgehend von der FOUCAULTschen Diskurstheorie arbeitet die Untersuchung mit folgenden Schlüsselbegriffen: Diskurs, Wissen, Macht und Körper. Ziel ist die Beschreibung des Transformationsprozesses vom "Wissen – Objekt" zum "Wissen – Subjekt". Im Sinne der grounded theory wird in zwei Schritten vorgegangen: zunächst geht es um die Rekonstruktion der wissenschaftlichen Fundierung der Bezeichnungs- und Habilitationspraktiken, dann werden auf der Grundlage von sieben Interviews Diskriminierungs- und Emanzipationserfahrungen herausgearbeitet. Durch die Gegenüberstellung von medizinischem Dispositiv und biographisch "wahrem" Wissen gelingt Walburga FREITAG eine Annäherung an die moralische Grammatik und die historisch-politische Bedeutsamkeit dieses sozialen Konflikts. Die Verknüpfung von Diskursanalyse und Biographieforschung ist also nicht nur in methodischer Hinsicht gelungen, sondern fördert auch, was positiv hervorgehoben werden sollte, neue Erkenntnisse über das Verhältnis von Subjekt, Gesellschaft und Wissenschaft zu Tage.
Keywords: Diskursanalyse, Zeitgeschichte, Körpergeschichte, Biografieforschung, disability studies, grounded theory, soziale Bewegungen
Inhaltsverzeichnis
1. FOUCAULT und SCHÜTZE – geht das zusammen?
2. Spezialdiskurse
2.1 Wissenschaft
2.2 Körper
3. Normalisierungspraktiken vs. Erfahrung?
4. Biographische Verarbeitungsmuster
5. "Wahres Wissen", Begehren und Macht
6. Nachtrag: Fallstricke der Geschichte
7. Resümee
1. FOUCAULT und SCHÜTZE – geht das zusammen?
Während die zentrale Bedeutung des Falles Contergan für das Arzneimittelrecht wissenschaftlich kritisch reflektiert worden ist (KIRK 1999), handelt es sich bei dem erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Umgang mit dem Thema um Desiderata der Forschung. Walburga FREITAGs genealogisch ausgerichtete Studie über den Zusammenhang zwischen den biographischen Erfahrungen von Contergan-Geschädigten und den medizinisch-psychologisch-heilpädagogischen Spezialdiskursen nimmt hier ihren Ausgangspunkt. Das über 450 Seiten starke Buch ist in drei Teile gegliedert, die mit den methodischen Schwerpunktsetzungen korrespondieren. Während es in Teil I auf knapp 160 Seiten um die diskursanalytische Rekonstruktion der wissenschaftlichen Debatten um Contergan geht, bildet Teil II mit der inhaltsanalytischen Auswertung der biographischen Erzählungen von Betroffenen auf fast 250 Seiten den Hauptteil des Buches. In Teil III wird – auf 14 Seiten – der Versuch einer methodisch-inhaltlichen Integration unternommen. Es werden Thesen formuliert, die Aufschluss darüber geben, wie sich das Subjekt im Spannungsfeld von wissenschaftlichen Debatten über Contergan und eigenem Erleben konstituiert und in einer gewissen Eigenwilligkeit die Macht-Wissen-Dispositive des Spezialdiskurses verändert. [1]
Im Grunde basiert das Forschungsprojekt auf zwei Teilstudien, nämlich einer diskurskritischen Analyse der wissenschaftlichen Disziplinen und einer qualitativ-hermeneutischen Untersuchung der Lebenserzählungen von Betroffenen. Die beiden Studien werden durch zwei Klammern zusammengehalten: zum einen durch das Thema "Contergan", zum anderen durch die FOUCAULTsche Diskurstheorie. Die beiden Teilstudien (I und II) werden mit einem Kapitel zur jeweiligen Methodologie eingeleitet. Während im ersten Teil diskursanalytisch vorgegangen wird und somit eine enge Orientierung an FOUCAULT bestehen bleibt, wird im zweiten Teil auf die verstehende Soziologie Fritz SCHÜTZEs und die daran anknüpfende, von Gabriele ROSENTHAL (1995) entwickelte Auswertung biographischer Interviews rekurriert. Der Forschungsprozess ist bewusst transparent gehalten. Über die systematische Erfassung der Regelhaftigkeit diskursiver Praktiken soll die diskursive Tiefenstruktur (Sozio-Episteme) freigelegt werden. Die diskursanalytischen Fragestellungen zielen darauf ab, den Entstehungszusammenhang von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken freizulegen. [2]
Der erste Teil über die wissenschaftlichen Diskurse, die für die Habilitation1) so genannter Contergan-Kinder entwickelt wurden, beginnt mit einer methodologischen Reflektion der FOUCAULTschen Konzeption einer interpretativen Analytik, seiner Konzeption von "Bio-Macht" und den Technologien des Selbst (S.17). Der Körper bezeichnet nach Walburga FREITAG den Ort, an dem sich im Sinne einer "Mikrophysik der Macht" Selbstpraktiken mit den Praktiken der Institutionen verbinden. Insbesondere in seinen Untersuchungen über Sexualität hat FOUCAULT das Geständnis2) als Ausdruck und Ausgangspunkt einer sich ständig verfeinernden Sozialtechnologie herausgearbeitet. Das auf diese Art und Weise diskursivierte Individuum wird sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen zum Wissensobjekt. Zwischen Subjekt und kommentierender Institution entsteht eine gegenseitige Funktionalisierung: zum einen der Glaube, man könne mit Hilfe von Fachleuten die Wahrheit über sich selbst herausfinden, zum anderen der Zugriff auf das subjektiv Ungeregelte durch wissenschaftliche Spezialdiskurse. [3]
Das zu untersuchende Material sortiert sich in vier Bereiche, die von Walburga FREITAG folgendermaßen nachgezeichnet werden: zunächst die beiden medizinischen Felder der Begriffsbildung und der Normalisierungspraktiken, dann die psychosozialen Habilitationspraktiken und ein spezifischer, die Disziplinen übergreifender Berufsbildungsdiskurs. Der Wandel in der "Konstruktion des Dysmelie-Kindes" seit den 1960er Jahren bis in die Gegenwart, ein in sich spannendes Untersuchungsfeld, wird von der Autorin nur kurz angerissen. Die "Verwissenschaftlichung" erfüllte verschiedene Funktionen, die von mir nur kurz resümierend dargestellt werden sollen:
den schwelenden politischen Konflikt um dieses Thema beruhigen,
eine präzise medizinische Nomenklatur entwickeln, die den gesellschaftspolitischen Aspekt verschleiert, auch um mögliche Entschädigungsforderungen bereits im Vorfeld abzuwehren,
grundlegende Kritik an einer "technischen Zivilisation" verhindern,
die Professionalisierung des wissenschaftlichen Feldes befördern und
den Blick auf den Körper lenken und innere Organprobleme bewusst oder unbewusst auszublenden, auch um den Kreis der Geschädigten möglichst gering zu halten. [4]
Diskursive Verschiebungen sind in der Thematisierung der Beziehungen zu anderen festzustellen, wie FREITAG aufzeigt: Wurden die Eltern zunächst eher als Handlager der Ärzte betrachtet, so wandelte sich insbesondere das Bild der Mutter zur "besten Therapeutin" mit der damit verbundenen Verantwortungszuweisung. Hauptmerkmal dieser wissenschaftlichen Forschungen, die fast nur auf quantitativen Untersuchungen beruhen und Einzelfallstudien völlig außer Acht lassen, war ein Kleinkrieg zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen über die Konstruktion des "Dysmelie-Kindes". Anfang der 1970er Jahre wurde eine "Untersuchungsverweigerung" der Betroffenen festgestellt (S.132), was nicht verwundern mag, da man sich jahrelang um deren Belange wenig gekümmert und deren Wünsche kaum thematisiert hatte. [5]
Die körperorientierte Sichtweise führte nach FREITAG zu einer starken Verankerung der Contergan-Debatte im orthopädischen Spezialdiskurs, dessen Meinungsführer es als positive Herausforderung betrachteten, dass ihre aus den Kriegen resultierenden mechanistischen Behandlungsmethoden nun auch in "normalen" Zeiten an Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt werden können (S.58). Als neues Behandlungsdispositiv entstand die "Frühprothetisierung" einschließlich der dafür notwendigen Operationen mit dem Ziel der "Ertüchtigung" der Betroffenen "zu möglichst vollwertigen Mitgliedern unserer Gesellschaft" (S.83). Die andere Seite der Normalisierungspraktiken stellt die "Frühredression" dar, also ein gezieltes Antrainieren sozial unauffälliger Verhaltensweisen. Für diesen Bereich wurden Familie und Schule in besonderem Maße für zuständig erklärt. Forschungen im psychosozialen Bereich wurden jedoch wegen der weiterhin dominierenden These "angeborener Missbildungen" (S.88ff.) kaum mit öffentlichen Geldern gefördert; Untersuchungsergebnisse in diesem Bereich sind daher kaum vorhanden. [6]
Während in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen selbst der Körper ignoriert wurde, organisierten, wie FREITAG darstellt, disziplinspezifische Bezeichnungspraxen die Wahrnehmung des Körpers und der körperlichern Differenz. Insbesondere im Berufsbildungsdiskurs der 1970er Jahre standen Arme und Hände im Mittelpunkt. Die im Rahmen der "objektiven Eignungsdiagnostik" entwickelten Standardisierungen (S.143) orientierten sich an "Normalitätsvorstellungen" und an den Wettbewerbs- und Nützlichkeitserwägungen der Arbeitswelt. Dabei wurden Geschlechterstereotype aktiviert, ein Thema, das zu untersuchen ebenfalls lohnenswert erscheint, dem in der vorliegenden Arbeit jedoch keine besondere Aufmerksamkeit beigemessen wird. Sozialpädagogische Maßnahmen, die die Integration am Arbeitsplatz sichern sollen, sind nach Walburga FREITAG Ausdruck einer Ausweitung des Pathologisierungs-Dispositivs in die Gesellschaft hinein. [7]
3. Normalisierungspraktiken vs. Erfahrung?
Überträgt man – wie von FREITAG vorgenommen – diese Ergebnisse auf die wissenschaftstheoretische Achse FOUCAULTs wird deutlich, dass die wissenschaftlichen Diskurse keine Auskunft darüber geben, durch welche "Technologien des Selbst" sich die contergangeschädigten Kinder, Frauen und Männer als Subjekte "wahren" Wissens anerkennen bzw. Widerstand gegen dieses Wissen leisten. An dieser Stelle bringt Walburga FREITAG die im späteren Werk FOUCAULTs thematisierte Ethik ins Spiel, die sich, untersucht am Beispiel der Sexualität, um die Frage rankt, wie sich eine "Erfahrung" konstituiert und was Individuen dazu bringt, sich als Subjekte dieser Erfahrung anzuerkennen. FOUCAULT (1986, S.10) versteht unter "Erfahrung die Korrelation [...], die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht". Der Erfahrungsbegriff FOUCAULTs unterscheidet sich also, wie Walburga FREITAG feststellt, gravierend vom phänomenologischen oder handlungstheoretischen Erfahrungsbegriff. Ziel des sekundären Subjektivierungsprozesses ist ein "Erkenne dich selbst" und eine "Sorge um sich" (S.164). Um die Formen, Abläufe und Inhalte dieses Prozesses näher bestimmen zu können, nutzt FREITAG das Verfahren der biographischen Analyse, orientiert am interpretativen Paradigma Fritz SCHÜTZEs (u.a. 1981), der handlungs-, interaktions- und sinnorientierte Konstitutionsprozesse sozialer Wirklichkeit zum Ausgangspunkt seiner Theoriebildung über biographische Identität machte. Die methodische Rekonstruktion erstellt ein Bild des im Alltag nicht sichtbaren Relationensystems, das das Soziale zwar vorstrukturiert, den Akteuren selbst aber meist nicht bewusst ist. Dadurch wird der aus den gender-Studien und ethnomethodologischen Verfahren bekannte andere Blick auf das Soziale ermöglicht. [8]
4. Biographische Verarbeitungsmuster
Die nachfolgenden sieben, auf der Grundlage von narrativ biographischen Interviews erstellten "Geschichten der biographischen Auseinandersetzung mit 'wahrem' Wissen" (Kapitel 8, S.179ff.) werden nach einem klar strukturierten Schema vorgestellt. Nach der Präsentation der Kurzbiographie und einem kurzen Überblick über Struktur und Themen des Interviews folgt eine strukturelle Analyse der Erzählung. So genannte "Suprasegmente" bilden den ersten Gliederungsschritt, durch den spezifische Elemente der jeweiligen Lebensgeschichte markiert werden (z.B. Berufsberatung, Medizin, erste Beziehung, Misstrauen und Orientierungslosigkeit, Verwirklichung der Interessen durch Hundezucht, etc.). Unter aussagekräftigen Unterüberschriften ("Umerziehung zur Rechtshändigkeit", "Verlust des geschützten Rahmens durch Umzug", etc.) werden transkribierte Interviewpassagen vorgestellt und mit einer kurzen Interpretation versehen. Am Ende folgt eine Darstellung der Handlungskapazitäten (die von den Erzählern thematisierten Widerstände, eigene Bezeichnungen, eigene Praktiken und Erkenntnisse), die in konzentrierter und kreativer Form "auf den Begriff" gebracht werden, z.B. "Pfeffer ans Leben geben" oder "Die Feldenkrais-Methode als Weg zur Selbstwahrnehmung und Selbstsorge". [9]
Ganz im Sinne der grounded theory nach GLASER und STRAUSS (1967) werden von FREITAG auf induktivem Weg nach und nach zentrale Themen des Erzählens herausgefiltert. Es entstehen biographiegestützte Bedeutungsfelder, die nun zu den Ergebnissen der Auswertung der wissenschaftlichen Diskurse in Beziehung gesetzt werden können. Auf der Grundlage dieses im Spannungsfeld von Wissenschaftsdiskursen und persönlichen Erfahrungen entwickelten diskursanalytischen Gerüsts werden im letzten Kapitel Antworten auf folgende Fragen versucht:
Wissen die Erzählenden um das "wahre" Wissen?
Erkennen sie es an?
Warum und in welcher Weise verändern sie das "wahre Wissen" für sich selbst und in welcher Weise konstituieren sie sich dabei selbst?
In welcher Form kann sich eine "Sorge um sich" entwickeln? [10]
5. "Wahres Wissen", Begehren und Macht
Fazit der Analyse ist, dass biographisch entwickeltes "wahres" Wissen die Ablehnung und Anerkennung wissenschaftlich "wahren" Wissens steuert. Die relevanten Kriterien der Beurteilung sind subjektiver Natur: die eigenen Gefühle und die eigene Wahrnehmung, das Bedürfnis nach Anerkennung durch andere und die Zuschreibung von Sinn. Subjekte "wahren Wissens" entstehen auf der Grundlage von Begehren und dieses Begehren wiederum ist Ergebnis einer regelgeleiteten Ethik und Moral. Auch wenn der Begriff "Diskurs" im Text allgegenwärtig ist und fast inflationär gebraucht wird, entsteht erst gegen Ende des Buches ein Verständnis von "Diskurs" im eigentlich FOUCAULTschen Sinne. Demnach lässt sich Diskurs als ein System von Aussagen in einem Feld beschreiben, in dem die Sachverhalte, von denen die Rede ist, erst als Wissenselemente hervorgebracht werden. Diese Sachverhalte werden nicht nur als "Dinge" verhandelt, sondern mit Wertungen verknüpft, also klassifiziert und in Beziehung gesetzt, sie erhalten dadurch Sinn und werden zu gewussten "Dingen", die die Diskursgemeinschaft als gegeben erlebt, die es aber nicht unbedingt sind (dazu auch DIAZ-BONE 2005). Die in dem Buch von Walburga FREITAG herausgearbeiteten Wissensordnungen beschreiben ein gesellschaftliches Spannungsfeld, in dem sich die Subjekte eigenwillig gegenüber wissenschaftlich-institutionellen Ansprüchen behaupten. Um diesen Selbstwerdungsprozess einer "Minderheit" und dessen mögliche Rückwirkung auf die Gesellschaft bzw. die Wissenschaft begrifflich fassen zu können, ergänzt FREITAG am Ende ihres Buches (S.425ff.) die FOUCAULTsche Diskurstheorie um zwei Thesen von Axel HONNETH (1992), der die Erfahrung von gesellschaftlicher Missachtung als Ausgangspunkt für die moralisch motivierten Kämpfe sozialer Gruppen formuliert und damit die konflikthafte Seite eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses betont. Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat Walburga FREITAG bereits zu Beginn ihrer Studie mit der etwas unvermittelt erscheinenden, jedoch zentralen These einen genealogischen Wendepunkt markiert:
"Die Geburt der durch Contergan geschädigten Kinder [...] kann als 'Moment in unserer Geschichte' verstanden werden, in dem Wahrheit, Macht und Ethik umgebildet wurden und sich eine Rationalität auszubilden begann, die sich von der während des Nationalsozialismus gültigen Wahrheit, Macht und Ethik deutlich unterschied" (S.26f.). [11]
6. Nachtrag: Fallstricke der Geschichte
Da Walburga FREITAG den historischen Bezug auf den Nationalsozialismus nicht weiter ausführt, sollen an dieser Stelle einige Hintergrundinformationen ergänzt werden. Den historischer Stellenwert, der den Auseinandersetzungen um Contergan tatsächlich beigemessen werden muss, kann man besser einschätzen, wenn man einen kurzen Blick auf die berufliche Laufbahn von Dr. Heinrich MÜCKTER wirft, der als medizinischer Leiter des pharmazeutischen Unternehmens Grünenthal verantwortlich für die Entwicklung von Contergan war. Während des so genannten Contergan-Prozesses Ende der 1960er Jahre gab er zu Protokoll, er sei Stabsarzt und Leiter des Instituts für Fleckfieber- und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres in Krakau gewesen. In den 1960er Jahren zog dies keine weiteren Erkundungen nach sich. Erst nach Ende des Kalten Krieges gaben die nun zugänglichen Akten der Warschauer "Untersuchungskommission für Verbrechen am polnischen Volk" Aufschluss über die historischen Verflechtungen. Als "frischgebackener" Doktor der Medizin hatte MÜCKTER in dem Krakauer Universitätsinstitut für bakteriologische Forschungen gearbeitet, dessen Leiter von den Nazis verhaftet und später in Auschwitz umgebracht worden war. Die in Krakau unter MÜCKTER entwickelten Impfstoffe wurden an Zwangsarbeitern und im KZ Buchenwald erprobt. Ein 1946 erlassener Haftbefehl der Krakauer Staatsanwaltschaft blieb folgenlos. MÜCKTER hatte sich längst in die westliche Besatzungszone abgesetzt und war in die Dienste der Firma Grünenthal eingetreten. – Verweist dieses Fallbeispiel neben der personellen auch auf diskursive Kontinuitäten? Mit der Begründung, Menschen helfen und Leben retten zu wollen, werden grundlegende ethische Maßstäbe über Bord geworfen: Noch in den 1990er Jahren gab die Firma Grünenthal (aus, wie es hieß, humanitären Gründen und umsonst) Contergan zur Behandlung von Lepra in Länder der "Dritten Welt", u.a. nach Brasilien, ab, ohne die Patienten über die Risiken und Nebenwirkungen der Medikamenteneinnahme aufzuklären. [12]
Einzelne Theoriebezüge der Studie irritieren wie die plötzliche Bezugnahme auf Donna HARAWAY (S.48), andere Passagen erscheinen unvermittelt wie die Warnung "Vorsicht!" bezogen auf die in den Interviews festzustellende Bereitschaft, eine öffentliche Verantwortungsübernahme für die Folgeschäden von Contergan einzufordern (S.426), und einige Passagen erscheinen kryptisch wie die Bezugnahme auf "Inklusionsregeln" (S.26, Fn. 26). Diese Kritikpunkte müssen jedoch marginal erscheinen gegenüber einer grundlegend positiven Bewertung dieser Studie. Allein das Bemühen um eine Verbindung von qualitativ-hermeneutisch subjektbezogenen Verfahren mit der Diskurstheorie FOUCAULTs kann nicht hoch genug bewertet werden. Auch das Bemühen der Autorin um Nachvollziehbarkeit und methodische Transparenz ebenso wie um eine tatsächlich empirisch begründete Thesenbildung muss positiv hervorgehoben werden. Indem Walburga FREITAG die Subjekte als biographische Akteure sichtbar macht und sie auf diesem Wege in die FOUCAULTsche Diskurstheorie "zurückholt", gelingt es ihr, richtungsweisende Fragen für eine zukünftige Erforschung des Macht-Wissen-Komplexes aufzuwerfen. Möglicherweise liegt die methodische Schnittstelle in der Verbindung der frühen und der späten Werke FOUCAULTs. Möglicherweise aber muss man auch, wie Walburga FREITAG dies tut, methodisch und theoretisch zwar mit FOUCAULT, aber doch über FOUCAULT hinaus denken. [13]
1) Walburga FREITAG gebraucht den Begriff "Habilitation" im Unterschied zu dem in der Umgangssprache gebräuchlichen Begriff "Rehabilitation". <zurück>
2) Wie Anne WALDSCHMIDT in ihrer Dissertation "Das Subjekt in der Humangenetik“ (1996) herausgearbeitet hat, spielt das Geständnis bei der Konstitution von Expertendiskursen eine zentrale Rolle. <zurück>
Diaz-Bone, Rainer (2005). Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 7(1) Art. 6. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-06/06-1-6-d.htm [Zugriff: 12.01.2006].
Foucault, Michel (1986). Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm (1967). The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. New York: Aldine de Gruyter.
Honneth, Axel (1994). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Kirk, Beate (1999). Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid (Greifswalder Schriften zur Pharmazie und Sozialpharmazie, Bd. 1). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Rosenthal, Gabriele (1995). Erzählte und erlebte Lebensgeschichte: Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M.: Campus.
Schütze, Fritz (1981). Prozessstrukturen des Lebensablaufs. In Joachim Matthes, Arno Pfeifenberger & Manfred Stosberg (Hrsg.), Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive (S.67-156). Nürnberg: Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum der Universität Erlangen-Nürnberg.
Waldschmidt, Anne (1996). Das Subjekt in der Humangenetik. Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945-1990. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Anne KLEIN, Erziehungswissenschaftlerin und Historikerin, Dr. phil., arbeitet zur Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "1000 Fragen zur Bioethik".
Forschungsschwerpunkte: Zeitgeschichte, Holocaust- und Genozidforschung, Bioethik, qualitative Methoden, Diskurstheorie
Kontakt:
Dr. Anne Klein
Universität zu Köln
Soziologie in der Heilpädagogik, Sozialpolitik und Sozialmanagement
Forschungsprojekt "1000 Fragen zur Bioethik"
Frangenheimstr. 4
D-50931 Köln
Tel: 0221-470-6618
Fax: 0221-470-7794
E-Mail: anne.klein@uni-koeln.de
Klein, Anne (2006). Rezension: Walburga Freitag (2005). Contergan. Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(2), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0602150.