Volume 1, No. 3, Art. 49 – Dezember 2000
Rezension:
Günter Mey
Jürgen Straub (1999). Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften. Göttingen: Wallstein, 96 Seiten, DM 24.-, ISBN 3-89244-383-1
Inhaltsverzeichnis
1. Eine Vorbemerkung in eigener Sache
2. Zum (schwierigen) Verhältnis von Interpretation und Stellungnahme
3. Zentrale Fragen – einige Antworten
1. Eine Vorbemerkung in eigener Sache
Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, die Besprechung des kleinen Buches "Verstehen, Kritik, Anerkennung" von Jürgen STRAUB in meinen in FQS 1(2) bereits erschienenen Rezensionsaufsatz Interpretationsspielräume erkennen und nutzen – Reflexionen zum Sinnverstehen zu integrieren, in dem ich den von dem Autor im gleichen Jahr veröffentlichten Band "Handlung, Interpretation, Kritik" (STRAUB 1999) besprochen habe (MEY 2000). Für eine solche gemeinsame Rezension sprach vor allem, dass es sich bei "Verstehen, Kritik, Anerkennung" im wesentlichen um das Kapitel III aus "Handlung, Interpretation, Kritik" handelt. Ich habe mich dann jedoch für eine eigene Besprechung von "Verstehen, Kritik, Anerkennung" entschieden, um zum einen den von STRAUB hier stärker herausgehobenen Aspekt der Werthaftigkeit von Interpretationen angemessen zu gewichten, zum anderen taugt der kleinere (und deutlich preiswertere) Band wahrscheinlich eher für Leser(innen), die sich für das Verhältnis von Interpretation und Stellungnahme interessieren, ohne den in "Handlung, Interpretation, Kritik" vertieften Diskurs nachvollziehen zu wollen, den STRAUB in der Absicht vorgetragen hat, eine textwissenschaftliche Handlungs- und Kulturpsychologie zu konzeptualisieren. [1]
2. Zum (schwierigen) Verhältnis von Interpretation und Stellungnahme
"Verstehen, Kritik, Anerkennung" – ein kleiner Band mit nur knapp 80 Seiten Text – ist aus einem 1997 gehaltenen Vortrag am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen hervorgegangen und basiert im wesentlichen auf dem Kapitel III ("Kritik") von "Handlung, Interpretation, Kritik", das STRAUB nun – wie er schreibt – in einen "neuen Kontext" stellt. Jürgen STRAUB unterteilt "Verstehen, Kritik, Anerkennung" in fünf Unterkapitel, um sich der Problematik des Sinnverstehens zu nähern und der für die (interpretativen) Sozialwissenschaften zweifelsohne zentralen Frage, wie denn (und auf welcher evaluativen Grundlage) Aussagen über einen "Gegenstand" getroffen werden können. [2]
In Kapitel 1 wird – auf die PIAGETschen Begriffe Assimilation und Akkomodation rückgreifend – die Aufeinanderbezogenheit von Eigenem und Fremden beim Verstehensprozessthematisiert, dass nämlich Verstehen "assimilierende und akkomodierende Operationen im Zuge der kommunikativen Auseinandersetzung mit dem anderen [vereinigt]" (STRAUB, S.18). Damit akzentuiert STRAUB, dass im Zuge des Verstehens (Interpretierens) Eigenes und Fremdes in unmittelbarer Beziehung befindlich angesehen werden müssen. Die STRAUBschen Ausführungen in diesem Kapitel kreisen um eben dieses Geschehen zwischen dem verstehenden und zu verstehenden Subjekt und konvergieren in dem Punkt, dass Fremdverstehen ohne Selbstverstehen unmöglich ist. [3]
In Kapitel 2 kommt STRAUB dann auf "Interpretation, Vergleich, Wertung" als den "Kern des Problems" zu sprechen und darauf, dass Verstehen Vergleichen ist, dies meint im engeren Sinne "bestimmen und reflektieren" (S.24, Herv. im Orig.). Diese "Operation called 'Vergleichen'" (MATTHES 1992) impliziert jene Schwierigkeiten, die beinahe unmerklich die Interpretationsarbeit bestimmen, nämlich dass (Vergleichs-) Aussagen immer auf der Basis der eigenen (Welt- und Selbst-) Auffassungen vorgenommen werden, damit also die eigenen (präferierten) Kategorien – zumeist unreflektiert – in die Interpretationsarbeit einfließen. [4]
Die in diesem kurzen Kapitel aufgeworfene Frage, inwieweit die Interpret(inn)en, um Andere und Anderes zu verstehen, "nicht zwangsläufig zu dem, was sie verstanden zu haben meinen, Stellung nehmen" (STRAUB S.25f) müssen, durchzieht zwar die ganze Abhandlung, wird aber vor allem in den nun folgenden Kapiteln eingehender erörtert: Kapitel 3 behandelt die Frage nach der theoretischen Differenzierung zwischen Vergleichen als Prozess des Angleichens vs. Interpretation als Prozess des Fremdverstehen. Im weiteren widmet sich STRAUB dann dem zentralen Aspekt der Werthaltigkeit/Werthaftigkeit von Interpretationen, oder in seiner Terminologie, der Frage nach dem Zusammenhang von Interpretation und Kritik. Dabei bezieht sich STRAUB einerseits auf die HABERMASschen Ausführungen zu Geltungsansprüchen, mit denen HABERMAS auch eine (eindeutige) Stellungnahme des oder der Intepretierenden verbindet. Für STRAUB hingegen bedarf es nicht notwendigerweise einer solchen von Jürgen HABERMAS geforderten Stellungnahme, sondern es ließe sich wohl ganz im Sinne von STRAUB mit dem britischen Historiker Ian KERSHAW am Beispiel der von KERSHAW vorgelegten HITLER-Biographie festhalten: "Es ist auch gar keiner weiteren Erörterung bedürftig, dass ich Hitler abscheulich und das Dritte Reich schrecklich finde. Aber als Historiker bringen mich solche Werturteile keinen Schritt voran." (KERSHAW 2000, S.56) [5]
In dem letzten Kapitel fokussiert STRAUB dann die für ihn wesentliche Beziehung zwischen "Verstehen und Anerkennen" und er hebt – bezugnehmend auf Charles TAYLOR und Tzvetan TODOROV – darauf ab, wie denn eine kultur- und ethnozentrische sowie egozentrische Angleichung des Fremden ans Eigene verhindert werden kann (bzw. sich zumindest einschränken lässt). Dabei betont STRAUB, dass Verstehen allein noch keine Anerkennung des Anderen zwangsläufig mit einschließt, sondern Verstehen und Anerkennung des Anderen nur aus der Urteilskraft des Verstehenden selbst resultieren können. Hierbei ist nach STRAUB ohne Einschränkung anzuerkennen, dass Interpretieren Fremd- und Selbstverstehen "uno actu" (S.54) ist, also dass das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung gleichermaßen zur Disposition stehen muss. [6]
3. Zentrale Fragen – einige Antworten
Mit "Verstehen, Kritik, Anerkennung" gelingt es Jürgen STRAUB, einige der zentralen Fragen des Sinnverstehens in einer vergleichsweise kurzen Abhandlung zu umreißen. Die einleitenden Ausführungen und Problemsetzungen in den beiden Eröffnungskapiteln bilden dabei einen interessanten Diskussionsrahmen, weil STRAUB durch die Akzentuierung der relationalen Struktur von Verstehensprozessen konsequent verdeutlicht, dass Fremdverstehen nur als Akt des In-Beziehung-Setzens von Eigenen und Fremden möglich ist. [7]
Die Ausführungen in den drei folgenden Kapiteln zu der im Mittelpunkt des Buches stehenden Frage nach dem Verhältnis von Interpretation und Stellungnahme/Kritik verweist meiner Meinung nach auf einen wichtigen und bislang im Feld qualitativer Sozialforschung eher vernachlässigten Topos, auf Moral und Ethik und auf die Frage, was ein(e) Interpret(in) im Zuge seiner oder ihrer Interpretationsarbeit "darf". Dies wird in der Forschungspraxis – wenn überhaupt – meist unter der Hand verhandelt, zumeist wohl aber hinter dem Rücken der Interpretierenden agiert, wohl implizit gespeist aus der Hoffnung und Überzeugung, hinreichend gute (bessere) Interpretierende (wenn nicht gar die besseren Menschen) zu sein, deren Maßstab zur gültigen Richtschnur bei der Beurteilung ausreichend scheint. Insofern trägt Jürgen STRAUB mit den kleinen Band "Verstehen, Kritik, Anerkennung" zu einer notwendigen und überfälligen Debatte bei. [8]
Dass eine solche Debatte gerade erst in ihren Anfängen ist, wird auch an der Einschätzung STRAUBs deutlich, die dieser an den Anfang des Kapitels III – Kritik – in dem Buch "Handlung, Interpretation, Kritik" gestellt hat: STRAUB (S.327) schreibt: "Gegenüber den ersten beiden Hauptteilen [gemeint sind die Kapitel "Handlung" und "Interpretation"] fallen die folgenden Überlegungen sehr knapp aus. Dieser letzte Teil des Buches [gemeint ist damit das Kapitel "Kritik"] bietet eher eine vorläufige Ansicht gewisser Probleme, in die Interpreten verstrickt sind, als eine rundum zufriedene Bearbeitung der behandelten Sachfragen, von abschließenden Lösungen ganz zu schweigen". [9]
Auch wenn sich in dem kleinen Band – verglichen mit dem umfänglicheren Buch "Handlung, Interpretation, Kritik" – keine weiterführenden Überlegungen und inhaltlichen Bestimmungen finden, bietet "Verstehen, Kritik, Anerkennung" gerade aufgrund der hier vorgenommenen Stringenz der Ausführungen eine gute Einstiegsmöglichkeit bzw. einen guten Anknüpfungspunkt in einem schwierigen und eher vernachlässigten Themenfeld qualitativer Sozialforschung (siehe dazu auch meine ausführlichere Besprechung zu "Handlung, Interpretation, Kritik", MEY 2000): Denn die vorgetragenen Überlegungen sind – Vorläufigkeit hin, sehr knappe Darstellung her – brisant und bedürfen der weitergehenden Diskussion. [10]
Kershaw, Ian (2000). "Dem Führer entgegenarbeiten". Spiegel-Gespräch, Der Spiegel 34/2000, 56-63.
Matthes, Joachim (1992). The Operation Called "Vergleichen". In ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (Soziale Welt, Sonderband 8, S.75-102): Göttingen: Schwartz.
Mey, Günter (2000, Juni). Interpretationsspielräume erkennen und nutzen - Reflexionen zum Sinnverstehen. Rezensionsaufsatz zu: Jürgen Straub (1999). Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie [21 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 1(2), Art. 35. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-00/2-00review-mey-d.htm [Zugriff: 13.9.2000].
Straub, Jürgen (1999). Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Berlin/New York: Walter de Gruyter.
Günter MEY ist Wissenschaftlicher Assistent im Fachgebiet Entwicklungspsychologie an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Qualitative Methodologie und Methoden, narrative Psychologie, Identitätsforschung, ökologisch-orientierte Entwicklungspsychologie.
Kontakt:
Dr. Günter Mey
Technische Universität Berlin
Psychologie im Institut für Sozialwissenschaften
Sekr. HAD 40
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E-Mail: mey@gp.tu-berlin.de
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Mey, Günter (2000). Rezension zu: Jürgen Straub (1999). Verstehen, Kritik, Anerkennung. Das Eigene und das Fremde in der Erkenntnisbildung interpretativer Wissenschaften [10 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(3), Art. 49, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0003491.
Revised: 11/2010