Volume 1, No. 3, Art. 44 – Dezember 2000

Von der Schwierigkeit, Verstehen zu verstehen

Rudolf Schmitt

Review Essay:

Ronald Hitzler & Anne Honer (Hrsg.) (1997). Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich, UTB, DM 26.80, ISBN 3-8252-1885-6

Inhaltsverzeichnis

1. Welche Zielgruppe?

2. Warum verstehen?

3. Kurze Übersicht über die vorgestellten Ansätze

3.1 Kulturtheoretisch orientierte Verfahren

3.2 Biographieanalytisch orientierte Verfahren

3.3 Textstrukturell orientierte Verfahren

4. Schlussbemerkung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Welche Zielgruppe?

Bei einer "Einführung" lassen sich drei Perspektiven einer Rezension denken: Zunächst die Perspektive derer, die aus der Tiefe des einzuführenden Fachs heraus ihren kritischen Fokus auf inhaltliche Richtigkeit und Differenziertheit der dargestellten Positionen legen; zum zweiten die eines Dozenten, der für seine Lehrveranstaltungen in Forschungsmethoden eine dritte Perspektive berücksichtigen will: die von Studierenden, die hier gut eingeführt werden sollen und vor allem ein gut lesbares, auf wesentliche theoretische Hauptlinien beschränktes, dafür mit konkreten und sinnlichen Beispielen wie Anwendungen erweitertes Buch suchen. In dieser Rezension handelt es sich um die letzteren. Von daher wird neben einer Beschreibung des jeweiligen Blickwinkels der verschiedenen Forschungsverfahren eine Darstellung der jeweiligen Forschungspraxis erwartet, und nicht zuletzt auch rationale Kriterien, warum das eine oder andere Verfahren sich für die eine oder andere Forschungsfrage eignet. [1]

Diese durch den Untertitel "Einführung" geweckte Erwartung wird nicht erfüllt; bei den meisten Aufsätzen hat den AutorInnen nicht das Publikum einer typischen Einführung vorgeschwebt, sondern die akademische Konkurrenz, welcher der Reichtum der binnentheoretischen Ausdifferenzierung vorgeführt wird; die für eine Einführung zu erwartende Didaktik findet kaum statt. Dagegen ist der Respekt in einigen Aufsätzen vor der Scientific Community, dass nicht alle wichtigen Namen oder benachbarten Ansätze zitiert worden sind, offenbar so groß, dass z.B. ein 26seitiger Aufsatz im kleineren Taschenbuchformat nicht weniger als 151 Literaturverweise nach sich zieht – gut zum Nachschlagen für Versierte, für Studierende eine Zumutung. Die fast immer zu findenden sehr grundsätzlichen Reflexionen und extensiven programmatischen Selbstdarstellungen des jeweils eigenen Zugangs gehen einher mit einer Vernachlässigung der Darstellung des Interpretationsgangs des betreffenden Verfahrens. Unfreiwillig ironisch mutet dann bei der Skizze eines Verfahrens an, dass die Notwendigkeit von Feldforschung betont wird, damit Forschende eine "Interpretationskompetenz durch virtuelle Mitspielkompetenz erwerben" könnten: Genau diese Mitspielkompetenz können Lesende mit diesem Buch kaum erwerben, fehlen doch fast immer ausgeführte Beispiele aus der Forschungspraxis; die Verfahren selbst, wenn sie denn überhaupt geschildert sind, erscheinen stichwortartig, mögliche Konsequenzen der Forschungsansätze für praktisches Handeln fehlt konsequent. Die (manchmal frustrierenden) Erfahrungen aus praktischer sinnverstehender Forschung und ihrer Didaktik (exemplarisch: MRUCK & MEY 1996) spielen in den Ansätzen kaum eine Rolle. [2]

Wem ist das Buch zu empfehlen? Es ist eine Kundgabe an die Mitglieder der kleinen qualitativen/hermeneutisch orientierten Scientific Community über Tendenzen und Differenzierungen der eigenen Theoriebildung. Als Übersicht für diejenigen, die sich als Forschende und DozentInnen über den Entwicklungsstand möglicher Verfahren informieren wollen, ist es gut geeignet. Für Studierende sollte man zur Einführung auf Sammlungen wie von GARZ und KAIMER 1991 verweisen, in der jeder Ansatz ein praktisches Beispiel vorführt, oder auf BUCHHOLZ und STREECK 1994, in der ein einziges Transkript von VertreterInnen verschiedener Herangehensweisen interpretiert wird, was die einzelnen Ansätze erlebbar werden lässt. [3]

2. Warum verstehen?

Im Verlauf des Lesens erlebte der Rezensent, dass bei so viel ausdifferenzierter Teilrationalität einzelner Ansätze der Sinn des Ganzen zur knappen Ressource wurde; anders formuliert: Wenn die Komplexität der vorgestellten Theorien ihren Niederschlag in den Prozeduren des Verstehens findet und dieses vorzeichnet, riskieren die AutorInnen, dass ihre Interpretationen nur bei Akzeptanz der jeweils neugeschöpften Terminologien verstehbar werden. Hier ist gegenüber den vorgeblich theoriefreien quantitativen Methoden und deren auf unmittelbare (visuelle) Plausibilität zielenden Resultaten das andere Extrem zu befürchten, dass sozialwissenschaftliche Interpretationen nur noch in kleinen, begrifflich kohärenten Zirkeln von Forschenden rezipiert werden können, als akademische Artefakte in Aufsatzbänden endgelagert werden. Dass sozialwissenschaftliche Interpretationen sich auch in der Umgangssprache als "letzter Metasprache" (HABERMAS) behaupten könnten, scheint den meisten Ansätzen fremd; das einstige Kampfargument der "ökologischen Validität", dass sozialwissenschaftliches Verstehen im Sinne einer Intervention, Prävention, Diagnostik oder Prognose eine gesellschaftliche Relevanz der Ergebnisse zeitigt, scheint (wieder) auf die binnenwissenschaftliche Relevanz der Publikationslistenverlängerung eingeschrumpft zu sein. [4]

3. Kurze Übersicht über die vorgestellten Ansätze

Bei der Unmöglichkeit, sich in den jeweiligen Theorie-Galaxien gleichermaßen sicher zu bewegen, wird es im Folgenden nicht möglich sein, den begrifflichen Fettnäpfchen des jeweiligen Diskurses aus dem Weg zu gehen; der Versuch einer Übersicht soll dennoch nicht gescheut werden. [5]

HITZLER und HONER führen dicht, aber gut lesbar in die gegenwärtige Hermeneutik der deutschsprachigen Soziologie ein. Sie betonen die besondere Problematik, dass es gegenüber dem Verstehen im Alltag hier auch darum gehe, das fremde wie eigene Verstehen zu verstehen. Sie grenzen sich von "schematisch arbeitenden 'qualitativen' Analysekonzepten" ab; die hier versammelten Ansätze seien hingegen darauf aus, "methodisch kontrolliert durch den oberflächlichen Informationsgehalt des Textes hindurchzustoßen zu tieferliegenden ... Sinn- und Bedeutungsschichten" (22f). Diese kämpferische Bergbaumetaphorik der "tiefen" "Schichten" des Sinns wendet sich u.a. gegen die Inhaltsanalyse nach MAYRING – interessant wäre, wie die AutorInnen die "Grounded Theory" nach GLASER und STRAUSS einschätzen, die keinen separaten Platz im Buch gefunden hat. Sie teilen die vorgestellten Ansätze ein in kulturtheoretisch, biographieanalytisch und textstrukturell orientierte Verfahren. [6]

3.1 Kulturtheoretisch orientierte Verfahren

REICHERTZ schildert die Geschichte der Objektiven Hermeneutik (O.H.), expliziert den Strukturbegriff derselben, nennt unterschiedliche Varianten und beschreibt Feinanalyse, Sequenzanalyse und Interpretation objektiver Daten als Ausformungen der O.H. Zuletzt skizziert er die Forschungslogik derselben und schließt mit Anmerkungen zur Aktualität. Der Aufsatz, einer der am besten lesbaren, stellt mit zuweilen deutlich ironischer Distanz zum Begründer OEVERMANN die Schwierigkeiten einer hermeneutischen Kunstlehre vor, erlaubt damit einen Einstieg in die Begrifflichkeit. Konkretes Handeln ist davon nur in Ansätzen ableitbar, weil Anmerkungen zum Prozedere fehlen. [7]

LÜDERS und MEUSER beklagen eine inflationäre Verwendung des Begriffs "Deutungsmuster" und seiner Analyse, sie führen ihn auf OEVERMANN zurück und zielen damit auf kollektive Sinngehalte, die in einem funktionalen Zusammenhang zu Handlungsproblemen stehen, normative Geltungskraft haben und intern konsistent strukturiert sind. Sie seien auf einer tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und nur begrenzt reflexiv verfügbar. Die Autoren unterscheiden eine strukturtheoretische, interaktionistische und wissenssoziologische Variante der Deutungsmusteranalyse; für letztere werden aus der Frauenforschung Literaturverweise gegeben. Es existiere kein gemeinsames Vorgehen der unterschiedlichen Vorgehensweisen, allenfalls Sequenzanalysen werden erwähnt. In angenehmer Offenheit nennen sie ungeklärte Fragen vieler Deutungsmusteranalysen: Wie lässt sich die Konsistenz der gefundenen Deutungsmuster bestimmen? Kommt ihnen ein generativer Status zu? Beim praktischen Durchwursteln durch Interviewberge: Was gehört noch zum Deutungsmuster, ist individuell oder eine wichtige Abweichung? Welche Gütekriterien können diese Interpretationen beanspruchen? [8]

MÜLLER-DOOHM verweist in seinem Aufsatz über "Bildinterpretation als struktural-hermeneutische Symbolanalyse" auf die gegenwärtig zunehmende Flut der Bilder und die zunehmende Dominanz der visuellen Wahrnehmung, der die von Textanalysemethoden geprägten Sozialwissenschaften Indifferenz entgegenbringen. Es folgt ein extensiver Exkurs über den Begriff des Bildes in hermeneutischer (BÖHM) und kritischer Theorie (BENJAMIN, ADORNO, HABERMAS), er versucht Bildinhaltsforschung (Semiotik), Bildrezeptionsforschung (Rezeptionsästhetik), und Analyse der Produzenten / Produktionsbedingungen zusammenzudenken, differenziert eine Trias von Bedeutung, Sinn und Symbol, vergleicht dann Modelle der Bildanalysen von PANOFSKY, IMDAHL und BARTHES, und entwickelt zuletzt eine vierschrittige Bildanalyse, deren erste drei Schritte (mit ausdifferenzierten Zwischenschritten) der Typenbildung dienen, bevor ein sechsteiliger Leitfaden für eine Untersuchung skizziert wird. Ein Beispiel fehlt. [9]

SCHRÖER sucht in seiner "wissenssoziologischen Hermeneutik" die für bestimmte Lebenswelten geltenden "Erfahrungstypen", die eine "idealtypische Rekonstruktion des typischen subjektiv gemeinten Sinns" seien. Als Beispiele dafür nennt er die kulturhistorisch rekonstruktive Sinnauslegung von Ritualen und die pragmatisch-strukturale Analysen von institutionalisierten Handlungszwängen. Ein wichtiges Prinzip der Datenerhebung und Auswertung sei, möglichst mit nichtstandardisierten, nichtreaktiven Daten zu arbeiten, um den abduktiven Schluss, der eigene Überzeugungen auf das Spiel setze, zu ermöglichen. Feldforschung sei notwendig, um eine "Mitspielkompetenz" der Forschenden zu erreichen. Er skizziert eine fünfphasige Forschungsprozedur, die zwischen Feldarbeit und Interpretationsarbeit wechselt. Er lehnt Sequenzanalysen ab und nennt als interpretatorische Stufenfolge eine Feinanalyse des Vorwissens und der Lesartengewinnung, dann Verdichtung der Fallbesonderheiten und Lesarteneinschränkung, folgend von einer Bestimmung der "strukturalen Problemlage" und zuletzt eine Hypothesenüberprüfung bei der Bestimmung der Fallspezifik. Auch SCHROER unterlässt bei seinen Ausführungen den Rekurs auf ein anschauliches, das Verfahren/Vorgehen erläuterndes Beispiel. [10]

3.2 Biographieanalytisch orientierte Verfahren

FISCHER-ROSENTHAL und ROSENTHAL legen in "Narrationsanalyse biographischer Selbstrepräsentation" eine umfangreiche Einführung in die veränderte Rolle der Biographie als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft vor, die zu einem Boom biographischer Methoden in unterschiedlichen Feldern der sozialen Arbeit geführt habe. Ihr Ziel ist weder das Rekonstruieren von Ereignissen noch die Dechiffrierung von Deutungsmustern, sondern die "Erforschung des Biographischen als soziale Größe" und der ihr zugemuteten / zugewachsenen Funktionen in der Moderne. Sie führen in das biographisch-narrative Interview und in die biographische Fallrekonstruktion ein, versuchen SCHÜTZE und OEVERMANN zu verbinden und sequentielle Analysetechniken zu nutzen, was sie in sechs Schritten forschungspraxisnah schildern. [11]

VONDERACH interessieren "Lebensformen" als eigener Bereich der Soziologie, er will eine "Geschichtenhermeneutik", in die er nebenbei nicht weniger als die "Erkenntnisse von Psychoanalyse, Sprachphilosophie, Humanethologie und Soziobiologie" einarbeiten will. Er greift auf SCHAPPs "Lehre vom Verstricktsein der Menschen in Geschichten" zurück, in denen Geschichten "letzte, nicht mehr überschreitbare, fundamentale Gegebenheiten" darstellen (170). Die Geprägtheit durch Geschichten ergibt "Vorgriffe" (nach LIPPS), die das weitere Handeln prägen, darüber hinaus sind Geschichten Reaktionen auf "Widerfahrnisse" (KAMLAH): Jede Geschichte sei die Antwort auf einen Vorgang, der sich regelhafter Handlungsrationalität nicht fügte. Die Praxis dieser Forschungsrichtung beginnt mit einer Feldforschung zum jeweiligen Thema, in deren Rahmen sie für unterschiedliche Interviewformen offen ist. Es folgt eine vierstufige hermeneutische Rekonstruktion des Falls, um dann im Sinne des Theoretical Sampling Fallreihen zu bilden, in denen z.B. unterschiedliche Bewältigungsmuster von Arbeitslosigkeit rekonstruiert werden – damit einer der wenigen Aufsätze, der mögliche Ergebnisse der Methode vorstellt. [12]

BOHNSACK rekonstruiert die "Dokumentarische Methode" in der Folge Karl MANNHEIMs durch die Kritik von GARFINKEL hindurch: In dessen Krisenexperimenten der Kommunikation ging es gerade darum, die gemeinsam geteilte Erfahrung und damit ein unmittelbares Verstehen zu unterbinden. Die Analyse dieser geteilten Erfahrungen hingegen, die sich in (gemeinsamen) Handlungen metaphorisch und atheoretisch entfaltet, ist Gegenstand der dokumentarischen Methode. Sie will habitualisierte Orientierungen rekonstruieren, indem sie deren Äußerungen (in Gruppendiskussionen o.ä.) sequenzanalytisch analysiert sowie in komparativen Analysen Typen von Erfahrungsräumen beschreibt. Sie grenzt sich von der Hermeneutik HABERMAS', GADAMERs und OEVERMANNs ab, da diese normative Geltungsansprüche im untersuchten Phänomen in ihren Verfahrensweisen nicht suspendierten. Gegen BOURDIEU reklamiert BOHNSACK die Vernachlässigung des für die Subjekte sinnhaften Erlebens ihrer Habitusformen; die Erklärung derselben aus Kapitalkonfigurationen sei eine deterministische Sichtweise. Zur Durchführung von Erhebung und Auswertung im Rahmen der dokumentarischen Methode finden sich kaum Hinweise. [13]

KÖNIG erzählt in seiner Einführung in die "Tiefenhermeneutik" die Geschichte psychoanalytisch orientierter Sozialforschung (FROMM, ADORNO) und plädiert mit dem Verweis auf die Neuinterpretation der Psychoanalyse durch HABERMAS und LORENZER dafür, dass die Psychoanalyse als hermeneutisch verfahrende Sozialwissenschaft verstanden werden könne. Als Gegenstand der Tiefenhermeneutik entfaltet KÖNIG drei unterschiedliche Interaktionsformen: unbewusst-vorsprachliche seit der frühesten Kindheit, sinnlich-symbolische Interaktionsformen (in Spiel, kulturellen Ausdrucksformen) und zuletzt sprachsymbolische Interaktionsformen. Letztere enthielten einerseits die Möglichkeit der selbstbestimmten Autonomie durch sprachliche Erfassung eigenen Erlebens und Wünschens. Andererseits vermittelten sprachsymbolische Interaktionsformen auch unterdrückende Zumutungen einer Gesellschaft, die unangepasstes Wünschen und Handeln in den Raum sprachlos-unbewusster Interaktionsformen verdrängten, wo dieses sich als Symptom bemerkbar mache. Nach einer deutlichen Warnung, dass sozialwissenschaftliches Interpretieren keine Anwendung psychopathologischer Klassifikation sein dürfe, schildert KÖNIG die Kernidee tiefenhermeneutischer Interpretation: die Teilhabe am fremden Phänomen (Text, Protokoll, Kunstwerk) mit gleichschwebender Registration dabei entstehender Gegenübertragung, deren Dokumentation und anschließend erfolgender Rekonstruktion verborgener Interaktionsentwürfe. Zur Kontrolle des Interpretationsgangs empfiehlt KÖNIG die Durchführung dieser Analysen in Gruppen ähnlich der von Balint-Gruppen. Die Formulierung von Regeln der Durchführung ist abstrakt gehalten, es folgt eine Übersicht bisheriger Untersuchungsfelder der Tiefenhermeneutik. [14]

3.3 Textstrukturell orientierte Verfahren

"Die Konversationsanalyse ist ein Forschungsansatz, der zum Ziel hat, die formalen Prinzipien der sozialen Organisation sprachlicher und nichtsprachlicher Interaktionen zu untersuchen." Schnörkellos beginnt der Aufsatz von EBERLE; er referiert den historischen Hintergrund in der Ethnomethodologie GARFINKELs und dessen Anliegen, das Problem der Herstellung sozialer Ordnung zu beschreiben. Sein Schüler SACKS konzentriert dieses Anliegen auf die Organisation von Gesprächen. Mit kleineren Beispielen der Analyse alltäglicher Beispiele wird in die Methode eingeführt, deren Kennzeichen die Registrierung alltäglicher Kommunikation, deren extensive Transkription, der strikten Datengeleitetheit und Vermeidung von theoretischen Vorannahmen bei der Findung von wiederkehrenden Mustern im Material. Einige typische Muster (z.B. Frage – Antwort, Einladung – Annahme bzw. typische Verzögerung bei Ablehnung derselben) werden angedeutet. Solche Muster, die auch sehr viel spezifischer sein können (Methoden der Vermittlung einer Diagnose im Arzt-Patient-Gespräch), müssen u.a. dem Anspruch genügen, ein generatives Prinzip zu sein (nicht nur das Datenmaterial zu erklären). Fragen der Validierung, die neuere Entwicklung der Konversationsanalyse und konkrete Forschungsfelder (u.a. Analyse institutioneller Interaktion, Mensch-Maschine-Interaktion) werden behandelt. Obschon der Aufsatz das Procedere am genauesten von allen referierten Ansätzen schildert, betont er die Notwendigkeit, diese Methode von Erfahrenen zu lernen und zu üben. [15]

GÜNTHNER und KNOBLAUCH entfalten in ihrem Text zur Gattungsanalyse umfangreich, was sie unter kommunikativen Gattungen verstehen: Wiederkehrende Kommunikationen bilden typische Muster aus, an denen sich Handelnde orientieren können; damit sind als "Gattung" Phänomene wie "Vorwurf" und "Grußbotschaften auf Anrufbeantwortern" gemeint. Ihre Innenstruktur zeichnet sich durch prosodische und verbale Merkmale aus, die nicht von einer interaktiven Redezugabfolge her zu erklären sind. Sie sind in spezifische Milieus eingebettet (damit gemeint: von "Altenmilieu" über "Milieu der Ökologiebewegung" bis hin zu afrikanischen Kulturen). Den extensiven kommunikationstypologischen Differenzierungen stehen in dem Aufsatz kaum verdeutlichende Beispiele gegenüber, die Bemerkungen zur Forschungspraxis erwähnen Transkription und sequenzanalytische Interpretation in nicht nachzuvollziehender Allgemeinheit, Vagheit und Kürze. [16]

Eine vor allem an berühmten Namen umfangreiche Erläuterung der Verwendungsweisen des Begriffs "Diskurs" erwartet die Lesenden von KELLERs Aufsatz zur Diskursanalyse, bis Diskurse im Sinne FOUCAULTs als "spezifische, gesellschaftlich ausdifferenzierte Formen der Wissensproduktion" verstanden werden. Textinhalt, -struktur, -produktion und -rezeption stehen gleichermaßen im Zentrum der Analyse. Das umfassende Programm der Diskursanalyse, wie z.B. Diskurse entstanden sind, welche Veränderungen sie erfahren, welche kognitiven Inhalte und welche rhetorischen Mittel, welche materialen Praktiken ihrer Durchsetzung und welches Verhältnis zu anderen zeitgenössischen oder historischen Diskursen sie kennzeichnet, lässt keine bestimmte Methode zu, sondern bedarf eines umfangreicheren Methodeninventars. Die Schwierigkeiten, umfangreiche Textmengen verarbeiten zu müssen, erschwert die Verwendung von arbeitsaufwendigen sequentiellen und anderen Feinanalysen. Im Gegensatz zu FOUCAULT sieht KELLER Diskursanalysen als hermeneutische Verfahren, und ihre Nachvollziehbarkeit, Reliabilität bzw. Validität ließen sich nur über eine prinzipielle Offenlegung des Interpretationsgangs sichern. [17]

MAEDER und BROSZIEWSKI beginnen ihren Aufsatz zur "Ethnographischen Semantik" mit der Unterscheidung von "Feld" und Schreibtisch: "Feld" ist das Andere, draußen vor der Tür Existierende, das in keiner Aufzeichnung unzerstückelt zu haben ist und dessen Interpretation immer im Verdacht steht, mehr die Kategorien des Beschreibenden als des Beschriebenen zu enthalten; von daher kann der ethnographische Bericht im besten Fall die Aufmerksamkeit der Lesenden darauf legen, was von den Akteuren im Feld selbst mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Sie unterscheiden einerseits Ethnoscience/Ethnotheorie von Ethnomethodologie, diese andererseits von der Kulturanthropologie und wiederum von der kognitiven Anthropologie, konstatieren Einflüsse der linguistischen Semantik, und entwickeln für sich selbst den Begriff der ethnographischen Semantik – um dann bedauernd zu konstatieren, dass die Begriffsverwendung der derzeit Publizierenden nicht eindeutig sei ... Mit dieser vielleicht unfreiwilligen Ironie hat der Lesende die Dornenhecke aus Differenzierungen überwunden und erfährt sehr knapp, aber Grundeinsichten vermittelnd das Vorgehen der ethnographischen Semantik am Beispiel eines schweizerischen Gefängnisses. Ablaufstufen des Vorgehens, der Theoriebildung, der Umgang mit dem Material und Eigentümlichkeiten der erzählenden Darstellung sind so angedeutet, dass ein eigenes Weiterstudium sinnvoll erscheint. [18]

4. Schlussbemerkung

HONER und HITZLER räumen (durchaus humorvoll) ein, dass die Dreiteilung in kulturtheoretisch, biographieanalytisch und textstrukturell interessierte Verfahren nur eine von verschiedenen Ordnungsprinzipien war, die der Komplexität der jeweiligen Verfahren immer nur bedingt gerecht werden. Zu bedauern ist, dass ein Index und ein gemeinsames Literaturverzeichnis fehlen – diese hätten den Gebrauchswert des Buches erhöht. Dennoch ist das Buch, wie oben bereits festgehalten, als Übersicht für Forschende und DozentInnen über den Entwicklungsstand möglicher Verfahren gut geeignet. [19]

Literatur

Buchholz, Michael B. & Streeck, Ulrich (Hrsg.) (1994). Heilen, Forschen, Interaktion. Psychotherapie und qualitative Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Garz, Detlef & Kraimer, Klaus (Hrsg.) (1991). Qualitativ-empirische Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Mruck, Katja & Mey, Günter (1996). Überlegungen zu qualitativer Methodologie und qualitativer Forschungspraxis. Die Kehrseite psychologischer Forschungsberichte. Forschungsberichte aus dem Institut für Psychologie, Nr. 96-1. Abrufbar unter: http://userpage.fu-berlin.de/~mruck/Ber-96-1.html.

Zum Autor

Prof. Dr. Rudolf SCHMITT

Studium von Psychologie und Germanistik in Marburg und Berlin, jeweils mehrere Jahre in Einzelfall- und Familienhilfe und Psychiatrie beschäftigt, seit 1997 Professur für Psychologie am FB Sozialwesen der HTWS Zittau-Görlitz, wissenschaftlicher Schwerpunkt: Metaphernanalyse als sozialwissenschaftliches Forschungsverfahren

Kontakt:

Prof. Dr. Rudolf Schmitt

Fachbereich Sozialwesen
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Sozialwesen Zittau / Görlitz
Goethestr. 5
D - 02826 Görlitz

E-Mail: r.schmitt@hs-zigr.de

Zitation

Schmitt, Rudolf (2000). Von der Schwierigkeit, Verstehen zu verstehen. Review Essay: Ronald Hitzler & Anne Honer (Hrsg.) (1999). Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(3), Art. 44, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0003444.

Revised 2/2007

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

Creative Common License

Creative Commons Attribution 4.0 International License