Volume 1, No. 2, Art. 3 – Juni 2000
Qualitative Methoden zur Untersuchung von Biographien, Interaktionen und lebensweltlichen Kontexten: Die Entwicklung eines Forschungsstils
Franz Breuer
Zusammenfassung: Es wird die Entwicklung eines methodischen Forschungsstils beschrieben. Es werden einmal der Umgang mit Daten aus (berufs-) biographischen Interviews mit psychologischen Beratern/Therapeuten, die Gesprächsanalyse psychotherapeutischer Behandlungssitzungen sowie die Auswertung darauf bezogener videostimulierter "Selbstkonfrontations-Interviews" (zur Erfassung der "inneren Handlungsanteile" des Beraters/Therapeuten) geschildert. Ferner wird eine Forschungskonzeption vorgestellt, bei der qualitative Interviews und Feldforschung, Grounded Theory-Methodik und die Selbstreflexion der Forschersubjektivität als Erkenntnisinstrumente in unterschiedlichen Themenfeldern eingesetzt werden. Diese Methodenentwicklung wird mit Prämissen epistemologischer und methodologischer Überzeugungen und Vorlieben in Zusammenhang gebracht.
Keywords: qualitatives Interview, biographisches Interview, Selbstkonfrontations-Interview, Inhaltsanalyse, Gesprächsanalyse, Grounded Theory, Selbstreflexivität, Subjektivität, Forschungsstil
Inhaltsverzeichnis
1. Einige Prämissen
2. Rekonstruktion beruflicher Erfahrungsgewinnung und Expertise am Beispiel psychologischer Praktiker (Berater/Therapeuten)
3. Qualitativ-methodische Untersuchungen lebensgeschichtlicher und lebensweltlicher Problematiken in unterschiedlichen Kontexten
4. Epilog
Bei der Entwicklung meines qualitativen Forschungsstils und meiner Methodik-Vorlieben in den zurückliegenden etwa zwanzig Jahren (beginnend mit BREUER 1979 über ders. 1991b bis zu ders. 1996, 1999a, 1999b; s.a. http://wwwpsy.uni-muenster.de/inst3/AEBreuer/veroeffentlichungen.htm) waren u.a. folgende Überlegungen und Gesichtspunkte von Bedeutung: [1]
Ich habe zunehmend ein Mißtrauen gegen die standardmethodischen Vorgehensschablonen entwickelt, die einem "verständnisorientierten" Kontakt mit dem Untersuchungsgegenstand der sozialwissenschaftlichen (Human-) Psychologie im Wege stehen. Diese hinterließen bei mir im Laufe der Zeit immer stärker den subjektiven Eindruck, den Gegenstand "eigentlich verfehlt" zu haben, ihm nicht "nahegekommen" zu sein. [2]
Das versuchte ich zu ändern durch das Bemühen um eine Methodik, deren Erkenntnisresultate an die subjektive Erfahrungswelt der Untersuchten (ihre Problemwahrnehmungen, Konzeptualisierungsweisen, ihr Vokabular etc.) anknüpfbar sind. Dafür waren Erfahrungen mit Datenerhebungen in "alltagsgesprächsnahen" Interviews sowie die Auseinandersetzung mit dem Grounded Theory-Ansatz (GLASER & STRAUSS 1967/1998; STRAUSS 1987/1991) wichtig. [3]
Der Zweifel an der "Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis", wie er von HOLZKAMP (1972) im Zusammenhang mit der Kritik der Mainstream-Psychologie formuliert worden war, hat mir sehr eingeleuchtet. Ich suchte nach einer methodologischen Alternative, um die in alltagsweltlichem Handeln (in lebensgeschichtlichen Problemkontexten, in beruflichen Zusammenhängen – "in der Praxis") entwickelten Kompetenzen, Problemlösungen, Handlungsstrategien etc. in psychologischer Forschung, für psychologische Theoriebildung fruchtbar zu machen. Dabei kam mir einerseits die wissenschaftstheoretische These der Bedeutung des "kreativen Praktikers" als beachtenswertem Akteur bei der Hervorbringung (psychologisch-) wissenschaftlicher Technologien entgegen (BREUER 1991a, S.166-174); zum anderen verallgemeinerte ich diese Idee auf die Relevanz der "Sicht der Subjekte" (d.h. der psychologischen Erkenntnisobjekte) bzw. der "Expertise von Betroffenen" in ihrem jeweiligen Handlungsfeld bzw. in ihrer Lebenswelt. Hier sah ich eine Chance, psychologische Konzepte zu entwickeln, die besser "anschlußfähig" sind an die Sehweisen und Handlungswelten in Alltags- bzw. Praxiszusammenhängen. [4]
Es steigerte sich meine Ablehnung der Hybris der Psychologen, die einerseits auf Wissenschaftler-Seite (d.h. bei sich selbst) gewisse (Denk-, Analyse- etc.) Kompetenzen unterstellen, die sie andererseits ihren Untersuchungspartnern/ Versuchspersonen wenn auch u.U. nicht direkt absprechen, sie jedenfalls nicht zum relevanten Bestandteil von Forschungssituationen machen (sie als "uninteressant", "irrelevant" o.ä. behandeln). Es wuchs die Skepsis gegenüber Untersuchungssituationen, durch deren Artifizialität (Dekontextualisierung, Intransparenz etc.) die bei Untersuchungspartnern vorhandenen Einsichten, Fähigkeiten, Deutungen etc. ignoriert bzw. eher mit Mißtrauen behandelt o.ä. – jedenfalls nicht fokussiert und "ausgeschöpft" werden. Demgegenüber wuchs mein Bedürfnis und Bestreben, Untersuchungssituationen in einer (möglichst idealen) dialogischen Weise anzulegen, aus denen sowohl Forschungssubjekte als auch Forschungsobjekte potentiell einen (Selbst-) Erkenntnis-/Aufklärungs-Gewinn ziehen können – indem sie als Selbstreflexions- ("Dezentrierungs"-) Gelegenheiten für die Untersuchungspartner gestaltet werden und (im Idealfall) ein gemeinsames Interesse an der Aufklärung (und ggf. Veränderung, Optimierung o.ä.) eines Problemfeldes konstituiert wird. [5]
Hinzu kam eine zunehmende "epistemologische Skepsis" gegenüber der Erreichbarkeit von "Objektivität" und "Wahrheit" in wissenschaftlichen Aussagen, eine "neue Bescheidenheit", die in "pragmatischen" Ideen des "konstruktiven" Charakters jeder Wahrnehmung/Erkenntnis/Darstellung (auch der wissenschaftlichen), ihrer Standpunkt-/Perspektivengeprägtheit sowie der epistemologischen Interessantheit und Produktivität divergierender/diskrepanter Sichtweisen zum Ausdruck kam (vgl. BERGOLD & BREUER 1992). [6]
Weiterhin wurde mir eine Funktion der sozialwissenschaftlichen ("quantitativen") Standardmethodik immer augenfälliger, nämlich die der "Angstabwehr" für das Forschungssubjekt, das sich – durch den Einsatz solcher Verfahren – das strukturgleiche Objekt und allerlei mit diesem wie mit der Forschungssituation einhergehende Verunsicherungen möglichst weit "vom Leib" weg hält. Die wachsende Überzeugung von der Abhängigkeit bzw. Geprägtheit jeder Erkenntnis durch das "erkennende System" (die in konstruktivistischen, relativistischen u.ä. Philosophien auf einer allgemein-epistemologischen Ebene vertreten wird) verknüpfte sich mit der Idee von DEVEREUX (1967/1973), die forscherseitige "Gegenübertragung" als Erkenntnisinstrument produktiv zu nutzen, zur Perspektive einer potentiell konkretisierbaren Forschungsmethodik. [7]
Und schließlich wurde mir zunehmend das Bemühen wichtig, psychologischer Forschung (bzw. meiner Arbeit) den Charakter des "intellektuellen und persönlichen Abenteuers" nicht nehmen zu lassen – und diese nicht als "bürokratische" Tätigkeit der Applikation konventioneller Vorschriften und vorgefertigter Denkschablonen und Standardverfahren auszuüben. Diese Überlegungen spielten eine Rolle bei der Herausbildung der beiden nachfolgend skizzierten Forschungsschwerpunkte. [8]
2. Rekonstruktion beruflicher Erfahrungsgewinnung und Expertise am Beispiel psychologischer Praktiker (Berater/Therapeuten)
In BREUER (1979) und ders. (1991b) ging es – u.a. auf der Empiriebasis von Interviewgesprächen zur Berufsbiographie – um die Entwicklung professionaler Handlungskompetenz psychologischer Berater bzw. Therapeuten. Diese wurde in den Studien als ein Prozeß der "Passung" zwischen drei Komponenten (-gruppen) beschrieben: personalen Charakteristika/Voraussetzungen, Rahmen-/kontextuellen Merkmalen (Charakteristika der Institution, in der die Tätigkeit ausgeführt wird sowie deren Umfeld) und wissenschaftlich-psychologischen Konzepten bzw. wissenschaftsbasierten Technologien (etwa störungsspezifischen Behandlungskonzepten, die in der Universitätsausbildung angeeignet wurden). Der Stellenwert psychologischer Theorien und Technologien erwies sich dabei als ein anderer, als in/durch universitäre/r Ausbildung nahegelegt war: Die "Abstimmung" mit den durch institutionelle Rahmenbedingungen bestimmten Möglichkeiten und Anforderungen sowie den persönlich-idiosynkratischen Denk-/Handlungsmöglichkeiten und -grenzen mit solchen ("kontextfern" erworbenen) wissenschaftlich-psychologischen Konzepten wurde von den Akteuren als zentrale Aufgabe professionaler Kompetenzentwicklung beschrieben. Die drei Komponenten werden im Laufe der Berufstätigkeit in einer "verpersönlichten" Weise aufeinander abgestimmt, in ein pragmatisch bestimmtes ("viables") Passungsverhältnis gebracht. [9]
Diese Beschreibung basiert auf der Darstellung eigener Kompetenzentwicklung im Rahmen ("fokussierter", leitfadenbasierter, aber relativ "frei" und alltagsgesprächsnah durchgeführter) berufsbiographischer Interviews. Für die Auswertung dieser Texte gab es einerseits – apriorisch – einen allgemeinen Theoriehintergrund in Gestalt einer arbeitswissenschaftlich orientierten psychologischen Handlungstheorie (zusammenfassend skizziert in BREUER 1991b, S.1-16); andererseits war dieser konzeptuelle Rahmen offen für induktiv akzentuierte inhaltliche Ausdifferenzierungen. Die Auswertungsweise in BREUER (1979) war spontan entwickelt, methodisch wenig reflektiert – man könnte sagen: inspiriert von einem handlungspsychologischen Theorierahmen einerseits – naiv-hermeneutisch orientiert andererseits. Durch die Reformulierung und den Systematisierungsversuch der "Erfahrungsschätze" der Praktiker/Experten entstand so ein über klinisch-psychologische Lehrbuch-Beschreibungen und -Anleitungen hinausgehendes praxisnah-realistisches Bild psychologischer Beratungs-/Therapie-Tätigkeit, deren Konstitutionsbedingungen und Entwicklungsverläufe im institutionellen Kontext. [10]
Diese Methodik wurde in BREUER (1991b, S.17-65) einerseits systematisiert und weiterentwickelt, andererseits durch zusätzliche Auswertungsverfahren ergänzt: In einem Auswertungsschritt wurden Unterschiede im Berufsalter (Anzahl der Berufspraxis-Jahre) der Interviewpartner systematischer auf ihre Bedeutung/Konsequenzen geprüft sowie ein inhaltsanalytisches Kategoriensystem erprobt zur genaueren (auch quantitativen) Bestimmung der berufsaltersabhängigen Thematisierung von Tätigkeitsmerkmalen und Entwicklungsphänomenen. Darüber hinaus wurde eine Auswertungs-Methodik entwickelt, die in Ansätzen eine Überprüfung von A-priori-Hypothesen zur professionalen Kompetenzentwicklung (Veränderungs-Hypothesen) auf der Grundlage des Interviewmaterials erlaubt. [11]
Neben dieser methodischen Ausarbeitung von Beschreibungsweisen der beruflichen Kompetenzentwicklung auf einer Makro-Ebene (bezogen auf einen globalen berufsbiographischen Gesamtverlauf) wurde bei dem im BREUER (1991b) geschilderten Forschungsprojekt – stärker unter einer Mikroperspektive – das konkrete Beratungs- bzw. Therapie-Handeln in Interaktionen zwischen Psychologen/Psychologinnen und Klienten/Klientinnen untersucht. Dies einmal durch Video-Beobachtungen/-Aufzeichnungen von Behandlungssitzungen, zum anderen durch daran anschließende sog. Selbstkonfrontations-Interviews mit den Psychologen, bei denen diese die Videoaufzeichnung ihres Behandlungsgesprächs abschnittsweise wieder vorgeführt bekamen und gebeten wurden, diese hinsichtlich ihrer (erinnerten) "inneren Handlungsanteile" zu kommentieren. [12]
Auswertungsmethodisch wurden die videoaufgezeichneten (und anschließend transkribierten) Beratungs-/Therapieinteraktionen unterschiedlichen Analyseverfahren unterzogen, die gegenstandsbereichsspezifische Konkretisierungen allgemeiner psycho- und soziolinguistischer gesprächsanalytischer, sprechakttheoretischer und verwandter Konzepte darstellen. Hierbei wurden mehrere Varianten zwischen (auch quantitativ verwertbaren) inhaltsanalytischen Kategorisierungen, Verfahren der sequentiellen Interaktionsanalyse und Verfahren der Rekonstruktion der Probleminterpretationen der Gesprächsbeteiligten ausgetestet und miteinander in Beziehung gestellt (BREUER 1991b, S.67-151). [13]
Für die Daten des videostimulierten Selbstkonfrontations-Interviews wurde ein Auswertungsschema entwickelt, das – wiederum auf handlungstheoretischem Hintergrund – berater-/therapeutenseits Schritte der "Wahrnehmung" einer Interaktionssituation, der "Interpretation/Bewertung" auf der Basis eines "Ziels", eine entsprechende "Handlungsplanung" sowie deren handlungsmäßige "Realisation" rekonstruiert und systematisiert (sog. "Extensions-Schema"). Bei dieser Rekonstruktionsmethodik werden Daten der (Aufzeichnung/Transkription/Analyse der) Behandlungssitzung ("Handlung 1") sowie der darauf bezogenen Auskünfte aus dem Selbstkonfrontations-Interview ("Handlung 2") systematisch aufeinander bezogen. Das Selbstkonfrontations-Interview wird dabei als ein Kommunikationsereignis beschrieben, das spezifischen Produktions- und Rezeptionsregeln unterliegt (z.B. hinsichtlich Äußerungswürdigkeit bzw. Präsuppositionierung von Geschehens- und Handlungsaspekten). Diese Charakteristika müssen für ein angemessenes Verständnis der Daten methodisch-auswertungsbezogen berücksichtigt werden. Die Anwendung des Verfahrens erweist sich als aufwendig und komplex, erlaubt aber die Beschreibung einer Reihe interessanter Handlungs- und Interaktions-Charakteristika. Die Übertragung dieser "Extensions"-Methodik auf die zweiseitige Analyse von Interaktions-Aufzeichnungen und darauf bezogene Selbstkonfrontations-Interviews in nichttherapeutschen Feldern ist in BREUER (1995) vorgestellt. [14]
Bei diesen Untersuchungen wurden – so kann man zusammenfassend sagen – eine Reihe von qualitativen Methodik-Varianten entwickelt, erprobt, verglichen und miteinander in Beziehung gesetzt, um mit den verschiedenen Datenarten reflektierter umgehen und diese integrieren zu können – exemplarisch im Inhaltsbereich der Erforschung psychologischer Beratungs- und Therapie-Praxis. [15]
3. Qualitativ-methodische Untersuchungen lebensgeschichtlicher und lebensweltlicher Problematiken in unterschiedlichen Kontexten
Seit Ende der neunzehnhundertachtziger Jahre haben wir eine größere Zahl von Untersuchungen unterschiedlicher Thematik durchgeführt, in deren Zentrum psychologisch interessante Situationen von "alltagsweltlich bzw. lebensgeschichtlich Betroffenen" standen, und dabei eine Methodik entwickelt, die sich – schlagwortartig gesprochen – auf die konstitutiven Aspekte "qualitatives Interview bzw. teilnehmende Feldbeobachtung", "Grounded Theory-Methodik" und "Selbstreflexion der Forscherseite" stützt. Die entstandenen methodischen Prinzipien, Varianten, Adaptationen etc. sind wesentlich entstanden in der forschungsbegleitenden Diskussion der empirischen Projekte in unserer Arbeitsgruppe ("Forschungskolloquium"). "Wir" sind dabei F. BREUER sowie eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Doktorandinnen und Doktoranden, Diplomandinnen und Diplomanden, die am Psychologischen Institut III der Universität Münster tätig waren bzw. Qualifikationsarbeiten anfertigen. Die methodologischen Grundüberlegungen, das konkrete methodische Arbeiten sowie einige beispielhafte Untersuchungen sind in BREUER (1996) vorgestellt (zur Organisationsentwicklung in einer Sonderschule; zur Identitätsproblematik deutscher Einwanderer in Kalifornien; zur Sozialisationsrelevanz des familiären Weihnachtsrituals; zu Bewältigungsversuchen in der Lebensgeschichte von Kindern aus Alkoholikerfamilien; zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit in der psychotherapeutischen Arbeit). In BREUER (1999a) sind empirische Erträge aus Studien aus diesem (und einem Berliner) Kontext versammelt, die sich auf Personen (-gruppen) in unterschiedlich bedingten Lebenslagen beziehen, denen das Problem der unsicheren, fragilen, fragwürdigen sozialen "Normalität", Zugehörigkeit und Identität gemeinsam ist (zur Automieentwicklung bei Körperbehinderung; zur Identitätsproblematik von Schwerhörigen; zu Bewältigungsstrategien der Lebenssituation Altenheim; zum Karriereende von Spitzensportlern; zum Umgang mit Obdachlosigkeit; zum Ecstasykonsum in der Technoszene; zum Verhältnis von Glaubens- und Lebenskrisen; zur Identitätsproblematik in der zweiten Generation jüdischer Überlebender des Holocaust; zur Bewältigung der Rückkehr junger Chilenen aus dem Exil). Über die je besonderen Umgehensweisen dieser "Problem"-Gruppen hinweg wird dort eine verallgemeinernde Skizze des Verhältnisses sozialer Zugehörigkeit und personaler Identität entworfen. [16]
Die Adaptationen der Methodik des qualitativen Interviewens, der Feldforschung sowie des Grounded Theory-Ansatzes sind an dieser Stelle weniger interessant (da in Methodenliteratur oder auch im "Forum Qualitative Sozialforschung" ohnehin häufig vorgestellt und besprochen) als der dritte genannte Aspekt: eine "Selbstreflexivitäts-Methodik". Dazu einige skizzenhafte Andeutungen (ausführlicher BREUER 1999b). [17]
Eine Basisprämisse läßt sich mit der (aus der Astronomie bzw. Physik stammenden) Metapher der "Kabinenwahrnehmung" illustrieren: Der (wissenschaftliche) Beobachter nimmt keinen "fixierten Ort", keinen "absoluten Standpunkt" ein, vielmehr bewegt er sich selbst bzw. ist selbst "bewegt". Die Erscheinungsweise des Objekts "für uns" ist durch die eigene Bewegung, die Bewegung des Subjekts (i.w.S.) mitbestimmt – verallgemeinert ausgedrückt: durch die Systemeigenschaften des Beobachters. Daher besteht die Möglichkeit, Wahrnehmungen/Erkenntnisse in Objekt- wie in Subjektrichtung zu "lesen", sie als Objekt- wie Subjektcharakteristika zu interpretieren. [18]
Die zweite Grundüberzeugung ist die, daß jede sozialwissenschaftliche Forschungsaktivität bzw. -situation sich durch "Interventionshaftigkeit" auszeichnet. Sie läßt das Forschungsobjekt sowie auch das Forschungssubjekt nicht unverändert: Die Anwesenheit des Forschers im Untersuchungsfeld macht einen prinzipiellen Unterschied; seine spezifischen Eigenschaften und Aktivitäten sind konstitutive Bedingungen für das Zustandekommen von "Daten". Zudem löst jeder Kontakt mit dem Gegenstand am Forscher etwas aus – (kognitive, emotionale etc.) "Reaktionen am eigenen Körper" (vgl. BREUER 2000, i.Dr.). [19]
Damit zusammenhängend: Der Forschungskontakt zeichnet sich durch "Interaktivität" aus: durch das Zusammentreffen von "Subjekt" und "Objekt" als konkreten Personen mit spezifischen Merkmalen in sozialen Situationen (die m.o.w. "natürlich", hergestellt, artifiziell sind), wobei soziokulturelle Konventionen, Vorgaben, Muster, Schemata zur Handlungsorientierung und -interpretation herangezogen werden. [20]
Diese Überzeugungen führen zu der Konsequenz: Es besteht die Notwendigkeit der selbst-/reflexiven Einbeziehung des Forschersubjekts und der Interaktionscharakteristik in das hervorgebrachte "Gegenstandsbild", d.h. in die Theorie. Diese Behauptung findet in der zeitgenössischen epistemologischen Debatte weitgehende Akzeptanz, bleibt aber für wissenschaftlich-psychologische Erkenntnisproduktion ziemlich folgenlos – die Frage der Umsetzung in konkrete Forschungsoperationen ist sehr wenig bearbeitet. Eine methodologische Tradition, die diesbezüglich (neben einigen "systemischen" Ansätzen) eine Ausnahme darstellt, begründet sich auf dem exzeptionellen Buch von DEVEREUX (1967/1973) – vor dem in der Mainstream-Psychologie und weithin auch in "qualitativ-psychologischen" Ansätzen die Augen hartnäckig verschlossen werden. Die dort vertretenen Auffassungen werden i.d.R. als fundamentale Verfehlungen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnisnormen aufgefaßt. [21]
Wir versuchen in unseren Untersuchungen dieses methodologische Prinzip der Subjektgeprägtheit und Interaktionsrelevanz ernst zu nehmen. Ein (zukunftsbezogener) Programmpunkt des Ansatzes ist es, Vorschläge für erkenntnisproduktive Veranschaulichungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang werden Leitlinien und heuristische Anregungen zu entwickeln sein, die nicht den Charakter von immer und überall anwendbaren Maßnahmen bekommen können. Die vorliegenden empirischen Arbeiten aus unserer Forschungsgruppe bemühen sich, die damit zusammenhängenden Aspekte zu bedenken – obwohl alle den damit verbundenen Anspruch auch vielfältig verfehlen (vgl. MRUCK 1999, S.203-230). [22]
Für den psychologischen Forschungsprozeß relevante Subjekt/ivitäts-Gesichtspunkte, die über selbstreflexive Thematisierung und Aufklärung zu einer produktiven Erkenntnisquelle gemacht werden können (und nicht, wie in methodologischer Standard-Sicht, notwendigerweise eine Erkenntnisbeeinträchtigung darstellen), lassen sich etwa folgende unterscheiden: Aspekte, die für bestimmte Phasen des Erkenntnisprozesses charakteristisch sind, die sich auf Forschungs-Etappen beziehen – und solche Aspekte, die allgemeinen, forschungsphasen-unspezifischen Charakter besitzen. [23]
Einige skizzenhafte Illustrationen zu phasenspezifischen Aspekten: Bestimmte Subjektmerkmale haben etwas mit individuellen Entscheidungen zur Themenwahl, dem Themenzuschnitt, der Wahl der fokussierten Gegenstandsmerkmale zu tun (Was zieht mich an, stößt mich ab? etc.); andere beeinflussen die Methodenwahl (Unsicherheits-Toleranz, Wunsch nach Objektdistanz; Interaktions-Offenheit, Konformitätsbedürfnis u.ä.); andere das eigene Positionieren und Agieren im Untersuchungsfeld, die Interaktionsmodi mit den Feldmitgliedern (eingenommene Rolle, Wege ins und im Feld, Kontakt- und Aushandlungsformen, Autoritäts-Kalibrierung, Belastbarkeit, "Reizwert" für die Feldmitglieder, "Einlassen" u.a.); andere die Daten-Dokumentation: Was wird registriert bzw. fixiert? (offizielle und inoffizielle Phänomene, objekt- und subjektseitige Phänomene, "passende" und abweichende Phänomene, welche Sichtweisen werden einbezogen? etc.); welche Konzeptualisierungs-Entscheidungen werden bei der Auswertung und Interpretation getroffen? (Wichtiges und Unwichtiges, Interessantes, Unverständliches, Spektakuläres etc.); wie wird die Darstellung und Präsentation der Untersuchung und ihrer Ergebnisse vorgenommen? (adressiert an welche Öffentlichkeiten? Konstruktion von Plausibilität, Kohärenz, Autorität im Text; Ein- oder Vielstimmigkeit; Umgehen mit Tabu-Bereichen, Vertraulichkeit, Verständlichkeit für unterschiedliche Rezpienten-Gruppen; Interesse an der Verarbeitung seitens der Untersuchungspartner etc.). [24]
Die phasenbezogenen Möglichkeiten und Entscheidungen des Wissenschaftlers hängen u.a. zusammen mit allgemeinen Subjekt-Merkmalen – wie der persönlichen Sozialisationsgeschichte, der Geschlechtszugehörigkeit, der ethnischen Herkunft, dem Alter, Aussehen, den sozialen Statuscharakteristika im Wissenschafts- und Untersuchungsfeld; emotionalen, intellektuellen, interaktiv-kommunikativen Merkmalen, Fähigkeiten, Vorlieben und Abneigungen etc. – und den personalen Möglichkeiten und Kompetenzen, im Forschungsprozeß "frei", reflektiert, gezielt mit solchen Merkmalen umzugehen. [25]
Solche Subjekt-Charakteristika, die das Geschehen im Forschungsprozeß und die forscherseitigen Entscheidungen prägen, kann ich hier nur andeuten. Daß sie eine Rolle spielen, wird kein praktisch erfahrener Wissenschaftler abstreiten. Die Vorgehensentscheidungen ergeben sich nicht aus methodologischen Algorithmen bzw. allein "aus dem Lehrbuch". Das "radikale" Ansinnen hier ist es, diese Komponenten "offiziell-kanonisch" (nicht nur "hinter den Kulissen", in anekdotischen Berichten "nach Feierabend" o.ä.) als relevante Merkmale des Erkenntnisprozesses aufzufassen und zu thematisieren, durch systematische Einbeziehung von Selbstreflexion die Erkenntnispotenzen zu steigern. [26]
Diesbezüglich sind noch viele Konkretisierungen zu leisten bzw. "positive Modelle" vorzuführen. U.a. wird ein für die Zukunft geplanter Band des "Forums Qualitative Sozialforschung" sich der Vertiefung dieser Problematik widmen. [27]
Ich habe versucht, eine knappe Skizze der Stationen meiner methodenbezogenen Interessen- und Schwerpunktentwicklung unter der Perspektive "qualitativer Psychologie" zu geben. Zwischen den unter Punkt 2 und Punkt 3 berichten Arbeiten bestehen Unterschiede in den methodologischen Grundorientierungen. In den Untersuchungen zur psychologischen Beratungs- und Therapie-Praxis habe ich mich in stärkerem Maße um einen methodischen Brückenschlag zwischen "quantitativ" und "qualitativ" ausgerichteten Verfahren bemüht: um eine Abwägung ihrer Vorzüge und Nachteile, die jeweilige Indiziertheit für bestimmte Fragestellungen, ihre Kombinierbarkeit etc. In den jüngeren Arbeiten im methodischen Rahmen von Grounded Theory und Selbstreflexivitäts-Postulat haben mich die Anbindungen an die psychologische Standardmethodik weniger interessiert. Ich habe mich darum bemüht, diesen Forschungsstil stärker als "eigenständige Alternative" zu entwickeln. Die Idee des "Handlungs"-Begriffs als eine psychologische "Kernkategorie" ist auf diesem Entwicklungsweg prinzipiell konstant geblieben. Zum anderen hat sich die Überzeugung von einer notwendigen Multi- bzw. Interdisziplinarität qualitativer Sozialwissenschaft gehalten (wobei ich sprach- und geschichtswissenschaftliche, soziologische und ethnologische Perspektiven bevorzugt habe; vgl. auch BREUER 1999b, S.231-256). Die oben unter Punkt 1 aufgeführten Prämissen sind in den beiden skizzierten "Stationen" (Punkt 2, Punkt 3) in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedener Weise realisiert; es gibt dabei eine gewisse zeitlich-historische Linie – das kann ich in der hier gebotenen Kürze jedoch nicht im Einzelnen explizieren. [28]
Bergold, Jarg & Breuer, Franz (1992). Zum Verhältnis von Gegenstand und Forschungsmethoden in der Psychologie. Journal für Psychologie, 1, 24-35.
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Breuer, Franz (1991a). Wissenschaftstheorie für Psychologen. Eine Einführung (5. Auflage). Münster: Aschendorff. (Arbeiten zur sozialwissenschaftlichen Psychologie, Beiheft 1).
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Breuer, Franz (1995). Das Selbstkonfrontations-Interview als Forschungsmethode. In Eckard König & Peter Zedler (Hrsg.), Bilanz qualitativer Forschung. Bd. II: Methoden (S.159-180). Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Breuer, Franz (Hrsg.) (1996). Qualitative Psychologie. Grundlagen, Methoden und Anwendungen eines Forschungsstils. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Breuer, Franz (Hrsg.) (1999a). Abseits!? Marginale Personen – prekäre Identitäten. Münster: LIT. (Psychologische Erkundungen. Studien zur qualitativen Sozialwissenschaft, Bd. 1).
Breuer, Franz (1999b). Probleme human- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnismethoden: viel Verwirrung – einige Vorschläge. In Norbert Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band I, Metatheoretische Perspektiven. 2. Halbbd.: Theoriehistorie, Praxisrelevanz, Interdisziplinarität, Methodenintegration (S.193-309). Münster: Aschendorff. (Arbeiten zur sozialwissenschaftlichen Psychologie, Heft 34).
Breuer, Franz (2000, i.Dr.). Wissenschaftliche Erfahrung und der Körper/Leib des Wissenschaftlers. Sozialwissenschaftliche Überlegungen. In Clemens Wischermann & Stefan Haas (Hrsg.), Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. Stuttgart: Steiner.
Devereux, Georges (1967): From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences. The Hague: Mouton. Dt. (1973). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München: Hanser.
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Holzkamp, Klaus (1972). Zum Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis. In Klaus Holzkamp, Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten (S.9-34). Frankfurt a.M.: Fischer.
Mruck, Katja (1999). "Stets ist es die Wahrheit, die über alles gebietet, doch ihre Bedeutung wandelt sich". Zur Konzeptualisierung von Forschungsobjekt, Forschungssubjekt und Forschungsprozeß in der Geschichte der Wissenschaften. Münster: LIT. (Psychologische Erkundungen. Studien zur qualitativen Sozialwissenschaft, Bd. 2).
Strauss, Anselm L.(1987). Qualitative Analysis for Social Scientists. Cambridge et al.: Cambridge University Press. Dt. (1991). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. München: Fink.
Breuer, Franz (2000). Qualitative Methoden zur Untersuchung von Biographien, Interaktionen und lebensweltlichen Kontexten: Die Entwicklung eines Forschungsstils [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 3, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs000235.
Revised 7/2008