Volume 1, No. 2, Art. 15 – Juni 2000
Identitäten zum Reden bringen. Erfahrungen mit qualitativen Ansätzen in einer Längsschnittstudie
Wolfgang Kraus
Zusammenfassung: Der Artikel berichtet von den theoretischen Fragen und methodischen Wegen im Rahmen eines 10jährigen Forschungsprojekt zum Thema "Identitätsentwicklung, Erwerbskarriere und soziales Netzwerk". Im Rahmen dieses Projektes, das den Ansatz einer Patchwork-Identität vorgeschlagen und konzeptualisiert hat, ist mit qualitativen Methoden eine Längsschnittuntersuchung durchgeführt worden. Der Artikel erläutert den eingeschlagenen methodischen Weg und diskutiert Fragen des Ertrages und den theoretisch-methodischen Veränderungsprozess im Lauf des Projektes.
Keywords: Identität, qualitative Methoden, Narration, Längsschnitt, soziale Konstruktion, Kohärenz
Inhaltsverzeichnis
1. Das Projekt
2. Warum qualitative Methoden
3. Patchwork-Identität als forschungsmethodisches Problem
3.1 Fokus "Identität als lebensweltbezogene Konstruktionsarbeit"
3.2 Fokus "Identität als Prozess"
3.3 Fokus "Identitätskonstruktion als Leistung eines aktives Subjektes"
3.4 Fokus "Identität als Arbeit an der biographischen Kohärenz"
4. Der methodische Werkzeugkasten
4.1 Der Rahmen: Teilstrukturiertes Interview
4.2 Einzelne methodische Elemente im Rahmen des Interviews
4.2.1 Netzwerk-Karte
4.2.2 Soziographischer Fragebogen
4.2.3 Der Life-Event-Fragebogen
4.2.4 Bildvorlagen
4.2.5 Selbsterzählung als "story line"
4.3 Frageziele und Methoden im Überblick
5. Erfahrungen
5.1 Lebensweltbezogene Positionswechsel
5.2 Längsschnitt als Ausschnitt
5.3 Das "aktive Subjekt" sieht sich nicht immer so
5.4 Disembedding und narrative Kohärenz: There is more to the picture ...
1998 haben wir1) n den Universitäten München und Leipzig ein – 1989 begonnenes – Forschungsprojekt zur Identitätsentwicklung beendet. Es bestand im empirischen Kern aus einer Längsschnittstudie, die über drei Erhebungszeitpunkte in einem Zeitraum von etwa fünf Jahren durchgeführt wurde. Die von Heiner KEUPP geleitete Untersuchung trug den Titel "Identitätsentwicklung, Erwerbsverläufe und soziale Netzwerke junger Erwachsener" und war Teil des von der DFG finanzierten Sonderforschungsbereiches 333, "Entwicklungsperspektiven von Arbeit" (vgl. KEUPP & HÖFER 1997, KEUPP u. a. 1999).2) [1]
Unsere Entscheidung für qualitative Methoden hatte mehrere Gründe3). Zum einen hatte es in den Jahren vor unserer Antragsstellung explizite Kritik an den bis dahin in der Identitätsforschung verfolgten methodischen Strategien gegeben. So bemängelte BOURNE (1978a, 1978b) in einer sehr umfassenden Zusammenstellung von empirischen Arbeiten der Identitätsforschung, dass diese Ansätze strukturorientiert statt prozessorientiert seien. HAUßER (1983, S.177) beklagte die Vorherrschaft fertig strukturierter, geschlossener Instrumente, die regelmäßig daran scheiterten, die für die Identitätsbildung zentrale subjektive Bedeutsamkeit von Selbsterfahrungen zu erfassen. Hinzu kamen Überlegungen aus der Jugendforschung, in denen von einer "Wahlverwandtschaft von qualitativer Forschung und dem Arbeitsfeld Jugend" die Rede war (FUCHS 1988). [2]
Aus unserer Ausgangsfragestellung ergaben sich weitere Gründe. So hatten wir unsere Überlegungen zu einer Patchwork-Identität insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Eriksonschen Identitätskonzept entwickelt (ERIKSON 1966)4). Wir fragten, ob heute nicht vielmehr die Unabgeschlossenheit von Identitätsprojekten, das Nebeneinander von verschiedenen Prozessphasen in unterschiedlichen Lebenswelten charakteristisch für die Identitätsbildung sind. Damit nahmen wir Bezug auf den zeithistorischen Subtext in seinem Ansatz (vgl. TAP 1980) und konfrontierten ihn mit aktuellen Analysen der Subjektkonstruktion. Diese allgemeine These wurde detailliert durch Überlegungen
zum Prozess der gesellschaftlichen Individualisierung und des "disembedding" (GIDDENS 1990),
zur Destandardisierung der Jugendphase,
zur Zunahme selbstreflexiver Identitätsentwürfe5),
zur qualitativen Veränderung der Bedeutung von Arbeit für die Identitätsentwicklung junger Erwachsener. [3]
Solche Thesen zur gesellschaftlichen Veränderungen der Subjektkonstruktion waren keineswegs unstrittig – im Gegenteil. Insofern befanden wir uns auf einem Forschungsterrain, das theoretisch wie empirisch noch wenig beleuchtet war und wo die vorliegenden Forschungsergebnisse unter einem anderen gesellschaftstheoretischen wie methodischen Paradigma gewonnen worden waren. In einer solchen explorativen Phase erschien – auch den Gutachter/innen – ein qualitativer Ansatz naheliegend. [4]
3. Patchwork-Identität als forschungsmethodisches Problem
Die Konkretisierung dieser allgemeinen methodischen Orientierung musste entlang dem Thesengerüst erfolgen, das oben – in groben Zügen – vorgestellt wurde. Im wesentlichen ging es uns darum, die Individualisierungsthese ernstzunehmen und identitätsbezogen zu überprüfen. Wenn etwa soziale Zugehörigkeiten als Folge des "disembedding" nicht mehr in dem Maße wie früher identitätsstiftend sein können, dann muss sich, so unsere Überlegung, dieser soziale Rahmen der Selbstkonstruktion in die einzelnen Lebenswelten verlagern. Zudem ist der einzelne weit mehr als bisher selbst als "Konstrukteur" gefordert. Daraus folgt dann auch, dass diese Selbstkonstruktionen in hohem Maße individualisiert sind, was wiederum die Frage des sozialen Bezuges und der Synchronisierung von Lebensläufen (z.B. in Partnerschaften) komplizieren muss. Und schließlich stellt sich auch die Frage nach der Kohärenz als einem inneren Gefühl der Stimmigkeit des eigenen Lebens. Wie lässt sich ein solches Gefühl erleben angesichts der postulierten Zerrissenheit von Selbsterfahrungen in disparaten Situationen und Lebenswelten? [5]
3.1 Fokus "Identität als lebensweltbezogene Konstruktionsarbeit"
Wir gingen mit HAUßER (1983, S.177) davon aus, dass eine lebensweltlich orientierte Methodik differenziertere und materialreichere Ergebnisse bringt als die Anwendung von allgemeinen, alltagsfernen Instrumenten. Auch die genannten Überlegungen der Individualisierungstheorie legten eine lebensweltliche Orientierung nahe. Denn danach gewinnen die einzelnen Lebenswelten identitätsbezogen in dem Maße an Bedeutung, wie andere gesellschaftliche Institutionen (z.B. Kirche) an Einfluss verlieren. In der empirischen Identitätsforschung im Gefolge ERIKSONs gab es methodische Überlegungen und Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen konnten. So unterscheidet MARCIA (1966; 1993) die Lebenswelten Arbeit, Familie und Freunde (Peers). Allerdings war uns wichtig, uns nicht darauf zu beschränken, sondern methodisch das Aufscheinen von Lebenswelten zu ermöglichen, die in diesem Kanon nicht enthalten waren. Dies erschien uns bedeutsam angesichts der Wahrnehmung, dass "... ein heutiger Jugendlicher in der Regel in eine Vielzahl von Alltagen verwickelt (ist)" (ZIEHE 1991, S.64). [6]
Es ging uns hier einerseits darum, die Lebenswelten als Bühne für die Konstruktion von Teilidentitäten zu erfassen und andererseits um ihre Funktion und Qualität als soziale Ressource (vgl. AHBE 1997; MITZSCHERLICH 1997). Denn es ist klar, dass die gesellschaftliche Individualisierung für die einzelnen zwar Chancen und Risiken schafft, diese aber ungleich verteilt. Die Erhebung der sozialen Lebenswelten und Ressourcen sollte durch eine Darstellung des sozialen Netzwerkes ergänzt werden. Instrumente dafür sind von der Netzwerkforschung in vielfältiger Form entwickelt worden (vgl. KEUPP 1990). Sie erfassen und visualisieren soziale Bezüge. Zudem helfen sie, diese Informationen im Interview als Orientierungshilfe verfügbar zu halten. [7]
3.2 Fokus "Identität als Prozess"
Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Identitätsentwicklung nicht um die Erreichung eines Ergebnisses handelt, das sodann besichtigt werden kann, sondern um eine nicht abzuschließende Konstruktionsarbeit, dann ist es richtig, den Prozesscharakter deutlich werden zu lassen. Längsschnittstudien sind, so heißt es im eher quantitativ orientierten Forschungskanon, zur Erreichung folgender Forschungsziele unerlässlich: (1) zur Sicherung von Information über Entwicklung, (2) zur Sammlung von Informationen über Veränderungen und Veränderungsmuster (3) um früheres Verhalten mit späterem in Beziehung zu setzen (4) um frühere Bedingungen mit späterem Verhalten in Beziehung zu setzen (WOHLWILL 1973, S.140). Dies waren in der Tat Ziele unseres Forschungsvorhabens. Uns ging es allerdings noch um mehr: Wir wollten nicht einfach einen bestimmten Status zu einem bestimmten Messzeitpunkt abbilden, sondern im Gegenteil, in Interaktion mit den InterviewpartnerInnen (IP) Prozesslinien nachzeichnen, die Entwicklung von Identitätsprojekten erfassen, ihre Realisierung begleiten und ihre retrospektive Evaluation/Narration abbilden. Das ging nicht über eine "Messung" zu drei Zeitpunkten, sondern über eine prospektive, retrospektive und situative Selbst-Konstruktion, die interaktiv – im Gespräch/Interview – stattfinden sollte. [8]
Die Prozessorientierung lösten wir methodisch durch ein Längsschnittdesign mit drei Erhebungszeitpunkten ein. Die Frage war, wann diese Erhebungen/Interviews stattfinden sollten. Wir entschieden uns für eine Orientierung an Lebensereignissen bzw. Umbruchssituationen: Der Prozess der Entwicklung bzw. des Umbaus von Identität ist – so unsere Überlegung – dann am ehesten bzw. intensivsten von außen wahrnehmbar, wenn das Subjekt sich in einer akuten Prozessphase befindet. Krisen im Sinne eines inneren Geschehens sind schlecht voraussehbar, im Sinne eines von außen induzierten Re-Orientierungsprozesses durchaus. Im Hinblick auf Erwerbsarbeit, dem zweiten Fokus unseres Projektes, hat die Jugendforschung eine Fülle von Befunden darüber zusammengetragen, dass die Berufseinmündungsphase in der Tat eine solche Umbruchsphase darstellt. Dies gilt für die Entscheidung für einen Beruf, das Finden eines Ausbildungsplatzes, die ersten Monate dort und schließlich, für das Ende der Ausbildung (samt Prüfung) und daran anschließend die Wahl bzw. das Finden einer dauerhaften Arbeitsstelle. Entsprechend befragten wir die jungen Erwachsenen zum ersten Mal zu Beginn der Berufseinmündungsphase und zum zweiten Mal nach Beendigung ihrer Ausbildung. Das dritte und letzte Interview hatte keinen voraussehbaren Umorientierungsimpuls im Visier. Vermutet werden konnte, dass mit dem vollzogenen Eintritt in die Erwerbsarbeit weitere berufliche und private Identitätsprojekte für die nächsten Jahre ins Auge gefasst würden (Partnerschaft, eigene Wohnung). Zudem konnte davon ausgegangen werden, dass die berufliche Integration nicht für alle erfolgreich verlaufen würde, also neuerliche Orientierungsprozesse anstünden. [9]
3.3 Fokus "Identitätskonstruktion als Leistung eines aktives Subjektes"
Dieser Fokus mag manchen heute trivial erscheinen. Er ist es nicht, wie etwa HARRÉ (1996, S.144) in einem kurzen Abriss der Paradigmen der Psychologie der letzten fünfzig Jahre aufzeigt. Im Gegensatz zur Vorstellung von einem Individuum "in dem" sich etwas entwickelt, ging es uns darum, den InterviewpartnerInnen die Möglichkeit zu geben, sich als kompetente Gestalter ihres Lebens zu präsentieren. Aus unseren Überlegungen zur Individualisierung und zur selbstreflexiven Biographie6) folgt eine zentrale, aktive Rolle für das Individuum im Sinne einer "Selbstsozialisation" (HEINZ & WITZEL 1995). HURRELMANN spricht in diesem Zusammenhang vom aktiv realitätsverarbeitenden Subjekt (1983). Jugend nicht als etwas passiv zu Erlebendes, das den aktiven Part den gesellschaftlichen Strukturen zuschreibt (in die Erwachsenenwelt aufgenommen werden) oder als Ablauf von physiologischen Prozessen; sie ist vielmehr gestaltbar und gestaltet vom handelnden Subjekt. Dieses Verständnis der InterviewpartnerInnen als eines aktiv realitätsverarbeitenden Subjekts sollte, so unsere Hoffnung, methodisch transportiert werden über
eine Gesprächshaltung: Der Jugendliche wird als jemand betrachtet, der sein Leben aktiv gestaltet, nicht nur reagiert, sondern agiert, nicht nur Impulse aufnimmt, sondern auch setzt.
Metakommunikation und Reflexion: Die InterviewpartnerInnen sollten immer wieder aktiv ermuntert werden, Eindrücke der InterviewerInnen zu kommentieren und zu korrigieren.
Variable methodische Elemente, die den Wünschen der IP gemäß angepasst werden (z.B. die "Netzwerk-Karte" zur Erfassung des sozialen Netzwerkes). [10]
3.4 Fokus "Identität als Arbeit an der biographischen Kohärenz"
Die Individualisierungsthese betont die gewaltige Leistung der Selbstkonstruktion, der sich die Individuen heute stellen müssen. Die Frage ist, welche Bedeutung angesichts der disparaten Selbsterfahrungen der Kohärenzbegriff noch haben kann. Vor der Klärung dieser theoretischen Frage war es für unsere Empirie zunächst einmal wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, um die postulierte Disparität der Selbsterfahrungen und die Mühsal der Selbstkonstruktion überhaupt aufscheinen zu lassen. Das erwies sich als schwierige Aufgabe, deren Komplexität sich erst allmählich in all ihrem Facettenreichtum erschloss. Wir wollten Identität per Interview, also mittels Sprache/Sprechen, beforschen, aber die Selbstauskunft ist nicht per se geeignet zur Mitteilung von Erfahrungen innerer Zerrissenheit. Abgesehen von Fragen der Offenheit und sozialen Erwünschtheit zeigte sich in einer Voruntersuchung, dass den einzelnen gelegentlich buchstäblich "die Worte fehlten" für ihre Erfahrungen der Selbstkonstruktion. Zudem wurde deutlich, dass Selbsterzählungen ein Kohärenzzwang innewohnt. Der aber verhindert, so unsere Befürchtung, gerade das, was uns doch so wichtig war, nämlich die Erfahrungen von Brüchen, von nicht integrierbaren Facetten der eigenen Identität zur Sprache kommen zu lassen. Methodisch betrachtet standen wir also vor einem dreifachen Kohärenzdilemma.
Die Kommunikationssituation erfordert von den PartnerInnen eine Kompetenzdemonstration in Form einer plausiblen situationsgemäßen Selbstdarstellung. Kohärenz ist eine zentrale Dimension dabei.
Grundsätzlich ist zu fragen, ob nicht die meisten etablierten methodische Elemente ein Kohärenzparadigma transportieren und seine Übernahme durch die Kommunikationspartner einfordern.
Letztlich sind auch die InterviewerInnen selbst nicht frei davon, dem gängigen Identitätsmodell interaktiv immer wieder aufzusitzen. Ihr subjektives Kohärenzbedürfnis, ihr Bedürfnis nach einer plausiblen individuellen Geschichte mit einem Anfang und einem – zumindest vorläufigen – Ende sichert möglicherweise kommunikativ ein Paradigma ab, das sie theoretisch in Frage stellen. [11]
Es gibt also eine Vielzahl von Gründen, warum die für unsere Ausgangsthese so wichtigen Unentschiedenheiten, Ambivalenzen, Brüche im Identitätsbildungsprozess in der empirischen Forschung nur schlecht aufscheinen können. Andererseits musste es uns gerade darum gehen. In methodischer Hinsicht war die Frage, ob es möglich ist, diese Kohärenzkonstruktionen in der Interviewsituation kommunikativ quasi zu unterlaufen? Wie bekommen wir eine Chance, auch innere "Minderheitenpositionen" zu erfassen, d.h. Selbsteinschätzungen, die die Person zwar zuweilen – unter sehr spezifischen Bedingungen – tentativ vornimmt, deren feste Übernahme in ihr "Skriptreservoir" zur sozialen Präsentation zumindest aktuell nicht ansteht. Den InterviewpartnerInnen (IP) soll es möglich sein, ja wir wollten sie ermuntern, Ambivalenzen sichtbar zu machen. Mehrere Vorgehensweisen erschienen uns – insbesondere in ihrer Kombination – sinnvoll:
Gesprächsklima: Bemühen um vertrauensvolles Klima, Empathie usw. im Sinne der gesprächstherapeutischen Grundregeln von ROGERS. Die solchermaßen als vertraulich gekennzeichnete Situation macht andere Präsentationsformen des Selbst möglich. Diese (aus der Psychotherapieforschung stammenden) Grundregeln zielen auf etwas, was in der therapeutischen Situation im Zentrum steht: Sichtweisen auf das eigene Selbst zu explizieren, die – wie verdeckt oder partiell auch immer – schon da sind.
Metakommunikation: Das Problem von Ambivalenzen lässt sich auch durchaus explizit im Gespräch thematisieren und insofern kommunikativ "normalisieren" (vgl. z.B. KIHLSTROM & CANTOR 1984).
Interviewstrategie: Hier bietet sich insbesondere die Technik des Perspektivenwechsels an. So kann z. B. das Thema "Stellensuche" besprochen werden aus der Sicht der IP als junge Erwachsene, an die Erwartungen gestellt werden im Hinblick auf den Entwurf einer individuellen Arbeitsidentität; oder als Kind, d.h. Mitglied eines familialen Kontextes, in dem Arbeit in einer spezifischen Weise thematisiert wird; oder auch als Mitglied einer Clique, in der Arbeit in einer cliquenspezifischen Weise thematisiert wird; oder schließlich auch als Bewohner einer Region mit einer regionalspezifischen Arbeitsstruktur. Man könnte auch sagen, dass aus der (gleichzeitigen) Eingebundenheit in soziale Rollen im Interview eine themenorientierte Reihung wird. Die Gleichzeitigkeit von Übereinstimmungen und Widersprüchen, die sich aus dieser Rollenvielfalt ergeben, wird so nach und nach für die InterviewerIn – und oft so auch erst für die IP – thematisierbar.
Methodische Instrumente: Hier ist die These, dass KommunikationspartnerInnen im Gespräch viele "Eigensicherungen" einbauen. Wenn die InterviewpartnerIn spontan agiert, reagiert, dann entsteht vielleicht eine Offenheit, die zu einer Re-Definition der Kommunikationssituation führt. Zudem scheint in der Spontaneität vielleicht eine subjektive Wahrheit auf, die der IP selbst kognitiv so nicht präsent war. Ziel solcher Methoden ist also in der Regel, durch Spontaneität den Ordnungszwang zu unterlaufen. Im konkreten Fall entschieden wir uns für ein Bilderwahlverfahren. [12]
4. Der methodische Werkzeugkasten
4.1 Der Rahmen: Teilstrukturiertes Interview
Der Rahmen: Teilstrukturiertes InterviewAls Rahmen entschieden wir uns für das qualitative Interview in der Form des problemzentrierten teilstrukturierten Interviews (KRÜGER-MÜLLER 1990). Wir folgen damit CLAES in seiner Feststellung, dass " ... das systematische, themenzentrierte Einzelinterview, orientiert an Themen, die zentrale Bedeutung für die Entwicklung der adoleszenten Persönlichkeit haben, offensichtlich die Methode der Wahl ist" (1986, S.186). Die InterviewerInnen bleiben nicht passiv, sondern versuchen " ... durch Konfrontation des Erzählten mit Informationen aus anderen Bereichen, oder Widersprüchen im Interview, durch gezieltes Nachfragen bei Antworten, die dem Interviewer nicht eindeutig scheinen, möglichst genau herauszufinden ... , was das Gegenüber meint." Dabei ist es besonders wichtig, dass sich der Interviewer jeglicher Wertung enthält und " ... den Befragten als alleinigen Experten seiner eigenen Situation ernstnimmt" (KRÜGER-MÜLLER 1990, S.18). Jedes weitere erklärende Wort über diese Interviewform ist – nach der umfassenden Darstellung von WITZEL (2000) – überflüssig. [13]
Die Themenkomplexe des Interviews leiten sich, wie schon im Titel des Projektes deutlich wird, aus den zentralen Begriffen Arbeit und soziales Netzwerk ab. Entsprechend gliedert sich der Leitfaden in Arbeit, Familie und Freunde/Freizeit. Die Erweiterung um individuelle Lebenswelten war jederzeit möglich und wurde auch durchgeführt. Die Selbstwahrnehmung der eigenen Person stellt einen vierten Bereich dar, der in gewisser Weise von den einzelnen Lebenswelten abstrahiert. Hier werden eher Bereiche thematisiert, die nicht präzise einer Lebenswelt zugehörig sind. Dadurch wird es allerdings – im Sinne eines Perspektivenwechsels – auch möglich, lebensweltliche Aussagen dazu in Beziehung zu setzen. [14]
4.2 Einzelne methodische Elemente im Rahmen des Interviews
Mit dem Interview-Leitfaden ist der Rahmen und der Inhalt im wesentlichen bestimmt. Unterstützt wird die praktische Umsetzung durch einige weitere methodische Elemente. [15]
Die Netzwerkforschung hat mittlerweile eine breite Palette von Detailfragen behandelt und ein großes Spektrum methodischer Vorgehensweisen entwickelt. Wir haben uns für ein ichbezogenes Netzwerkmodell entschieden, das die Menge und die subjektive Bedeutung von sozialen Netzen abbilden soll. Die Netzwerk-Karte ist ein methodisches Element, das die InterviewerIn zu Beginn des Interviews einführt und auf das sie sich bei der Abarbeitung der verschiedenen Themenkomplexe immer wieder bezieht. Sie besteht aus einem Blatt mit sieben konzentrischen Kreisen. Den Mittelpunkt bildet das "Ich". Wichtige Dimensionen der Auswertung sind u.a.:
auf der strukturellen Ebene: Dichte (Ausmaß, in dem die benannten Personen untereinander in Kontakt stehen), Multiplexität (Ausmaß, in dem Personen in mehreren Sektoren/Lebenswelten vorkommen), Distanz, Konfliktualität von Beziehungen,
auf der funktionalen Ebene: das Hilfesuchverhalten (Relevanz und Nutzung des Netzwerkes zur Lebensführung/Problembewältigung); die subjektive Gestaltung (das Ausmaß, in dem das Individuum das Netzwerk gestaltet, umgestaltet, die Qualität von Beziehungen aktiv beeinflusst). [16]
4.2.2 Soziographischer Fragebogen
Der soziographische Fragebogen (bei WITZEL 2000: "Kurzfragebogen") wird jeweils zu Beginn des Interviews eingeführt und abgearbeitet. Er enthält eine Reihe von Fragen zur Person, Biographie und zur jeweils aktuellen Lebenssituation. Er soll die Vergleichbarkeit der IP mit anderen IP bzw. den Populationen anderer Studien ermöglichen. Zudem bietet er der InterviewerIn ein historisch-biographisches Raster als erste Basis zur Einordnung nachfolgender Ausführungen der IP. [17]
4.2.3 Der Life-Event-Fragebogen
Der Life-Event-Bogen ist unter der Prämisse der Nähe zu den individuellen Lebenswelten formuliert. Er bezieht sich auf die letzten 12 Monate und fragt danach, ob ein Ereignis ("ich war krank") oder eine Einschätzung ("mir ging es gut") zutrifft oder nicht. Er wird von der IP selbst ausgefüllt. Die InterviewerIn überprüft die Antworten auf Klärungsbedarf und bittet eventuell um Erläuterungen. Der Fragebogen sichert die Vollständigkeit bei der Erhebung der Lebensereignisse. Er sorgt dafür, dass Bereiche, die "quer" zu der lebensweltlichen Strukturierung liegen (z.B. Gesundheit), nicht vergessen werden. Zum anderen ermöglicht er oft überraschende Offenheiten: Heikle Themen, die im Perspektivenwechsel ausgiebig umkreist wurden, stehen plötzlich als "factum brutum" im Raum und sind nicht mehr umgehbar (z.B. "ich hatte mit der Polizei zu tun"). Nicht zuletzt werden damit auch schnelle Vergleiche mit Umfragen aus der life-event-Forschung möglich. [18]
Die erwähnten Überlegungen zu nicht kognitiven Methoden führten zur Einführung einer Bilderwahl (im ersten Interview). Die Verwendung von Fotografien hat eine gewisse – wenn auch keine sehr bedeutsame – Tradition in den Sozialwissenschaften (vgl. BECKER 1981; KRAUS & FRYREAR 1983) und der Selbstkonzept-Forschung (ZILLER 1991). In unserem Fall handelte es sich um eine Serie mit Bildern von jungen Frauen und eine mit solchen von jungen Männern. Die Bildvorlagen halfen insbesondere bei einer Thematisierung von Selbstbild und Partnerwahl. Das Problem der Interpretierbarkeit angesichts der Komplexität des Reizmusters "Fotografie" ist für uns kaum von Bedeutung, da im Interview die InterviewpartnerIn die getroffene Wahl erläuterte, wir also über einen Text darüber verfügen konnten. [19]
4.2.5 Selbsterzählung als "story line"
Die story line (vgl. GERGEN & GERGEN 1988) ist ein Instrument, das nur einmal – im letzten Interview – eingesetzt wurde. Sie sollte zusammenfassend die "mythopoetische Konstruktion" (McADAMS 1985) des einzelnen ermöglichen und als Narration sichern helfen. Die InterviewpartnerIn zeichnet die Jahre vom ersten bis dritten Interview als beliebige Linie (häufig als "Fieberkurve") und erläutert anschließend ihren Verlauf. Die Aufnahme der story line in das Instrumentarium zeigt im übrigen einen veränderten Umgang mit der Frage der kohärenten Selbsterzählungen. Nicht "hinter" den Selbsterzählungen wollten wir die Identitätskonstruktionen nunmehr aufspüren, sondern "in" ihnen. In gewisser Weise diente sie auch dazu, den mit dem dritten Interview zuende gehenden Kontakt zwischen Interviewer und InterviewpartnerIn symbolisch zu einem Abschluss zu bringen. Ein Weg war gemeinsam beschritten, sein Verlauf wurde noch einmal retrospektiv besichtigt. [20]
4.3 Frageziele und Methoden im Überblick
Die Themenbereiche des Interviews: Arbeit, Familie, Freunde, Freizeit, eigene Person wurden jeweils konkretisiert in sieben Fragezielen. Diesen können die eingesetzten Methoden zugeordnet werden. Die Grafik zeigt im Überblick, welche Frageziele mit welchen Methoden erreicht werden sollen. [21]
Frageziel |
Methodisches Element |
Subjektive Faktizität |
Leitfaden, Vergleich von 1., 2. und 3. |
Empfindung |
Leitfaden, Gesprächshaltung, |
Einschätzungen, moral reasoning |
Leitfaden, lebensweltliche |
Ressourcenfundus |
Netzwerk-Karte, Leitfaden |
Realisierung von Optionen |
Netzwerk-Karte, Leitfaden |
Eigenbeurteilung von Entwicklung |
gemeinsamer Vergleich von Material |
sense making (BRUNER 1990), |
story line |
Tabelle 1: Frageziele und Methoden [22]
5.1 Lebensweltbezogene Positionswechsel
Eine lebensweltorientierte Interviewführung erwies sich in mehrerer Hinsicht als positiv. Zum einen wurde in der Tat eine schon von MARCIA verschiedentlich konstatierte Heterogenität und Ungleichzeitigkeit der Identitätsentwicklung in den einzelnen Lebenswelten deutlich. Zum anderen ermöglichte das thematische Angebot von drei lebensweltlichen Bereichen (Arbeit, Familie, Freizeit) im Interview eine erste Orientierung, die dann noch individuell verfeinert werden konnte. Hinzu kam, dass die Lebenswelten nicht als separate Bereiche der Selbstverwirklichung diskutiert wurden, sondern in ihrer Bezogenheit aufeinander. Arbeit zum Beispiel wurde thematisiert als eigene Lebenswelt, aber auch aus der Sicht von Familie einerseits und von Freizeit andererseits. Dieser Perspektivenwechsel auf die einzelnen Bereiche brachte eine erhebliche zusätzliche Differenzierung der Selbsterzählungen. Schließlich bewahrt eine solche lebensweltliche Erschließung auch vor der Gefahr, einen einzelnen Fragekontext vorschnell zu immunisieren gegenüber dem Gesamt lebensweltlicher Bezüge des Subjektes. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion finden wir in unseren Überlegungen und Erfahrungen Parallelen zur Theorie des Positioning, wie sie von HARRÉ & VAN LANGENHOVE (1999) vorgelegt worden ist. [23]
Abgesehen von der Interviewführung spielte hier die erwähnte Netzwerkkarte eine bedeutsame Rolle. Sie tat zum einen, was sie tun sollte, nämlich die sozialen Bezüge in den einzelnen Lebensbereichen zu dokumentieren und ihre Qualität im Sinne von sozialen Ressourcen zu erfassen. Zum zweiten erwies sie sich als unschätzbares Mittel, um diese differenzierten Informationen im Interview für die InterviewerIn überhaupt präsent zu halten. Schon bei zehn Namen wird es schwierig, zu überblicken, von wem gerade die Rede ist. Das gelingt mit der in der Netzwerkkarte vorgenommenen Visualisierung wesentlich besser. [24]
Schließlich war die Netzwerkkarte, die ja in jedem Interview aufs Neue erhoben wurde, nützlich, um Veränderungen des Netzwerkes zu erfassen und die Begründungen dafür zu erfragen. Identitätstheoretisch besonders wichtig fanden wir Fälle, in denen sich die InterviewpartnerIn an einzelne, ihr früher sehr nahe stehende Personen gar nicht mehr erinnern konnte. Hier gelangen gelegentlich sehr differenzierte Einblicke in Versuche der Selbstkonstruktion bzw. -rekonstruktion. [25]
Der Frage, inwiefern die InterviewerInnen und das dreimalige, oft mehrstündige, Interview einen eigenen lebensweltlichen Erfahrungskontext für die Interviewten gebildet haben, sind wir nicht systematisch nachgegangen. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass dies zumindest bei einzelnen InterviewpartnerInnen der Fall war. Sie nutzten die InterviewerInnen zur Selbstreflexion und zum Erproben von Diskurspositionen gegenüber nicht anwesenden Dritten wie gegenüber sich selbst. [26]
5.2 Längsschnitt als Ausschnitt
Längsschnittstudien sind – paradoxerweise – wohl meistens "zu kurz". Zum einen "kommt der Appetit mit dem Essen". Die intensive Teilhabe an subjektiver Entwicklung lässt einen bedauern, dass die Empirie zuende geht. Zum anderen lassen sich bei größeren Fallzahlen – hier 152 – natürlich die individuellen Entwicklungen nicht so ohne weiteres synchronisieren, wie es ein – äußeren Zwängen – unterworfenes Projekt nun einmal erfordert. Individuelles Leben richtet sich eher selten nach Forschungsdesigns. In manchen Fällen waren wichtige Weichenstellungen gleich nach dem dritten Interview zu erwarten und ließen einen bedauern, dass sie keinen Eingang in die Empirie mehr finden würden. Hier zeigte sich, dass die Verlängerung der Jugendphase bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt hinein reicht, einen Zeitraum, den wir nicht mehr abdecken konnten. [27]
Abgesehen von diesem allgemeinen Lamento war die Wahl der Interviewzeitpunkte richtig. Die Berufseinmündungsphase ist in der Tat eine Zeit großer Umbrüche, wie auch das Ausbildungs-Ende eine Projektierung der nahen Zukunft erzwingt. Die partnerschaftlichen Projekte waren allerdings nur teilweise gut gestartet. Eine Reihe von InterviewpartnerInnen hat in diesem Bereich nur sehr rudimentäre Erfahrungen gesammelt, so dass die entsprechenden Selbstentwürfe noch wenig erfahrungsgetränkt wirkten. Gleiches lässt sich für die familiale Ablösung konstatieren. In beiden Fällen gab es aber auch eine Vielzahl anderer Fälle, in denen intensive Projekte begonnen worden waren. Für den von unserer Studie abgedeckten Zeitraum zeigen sich also notwendig unterschiedliche Verläufe der Identitätsbildung, die lebensweltlich zu differenzieren sind, und im übrigen keineswegs zwangsläufig auf ein Identity Achievement im Sinne von MARCIA hinsteuern. Im Gegenteil, es gibt genügend Beispiel dafür, dass sich eine "achieved identity" im nächsten Interview als aktuelle Quelle der Identitätsdiffusion herausstellt. Das oben erwähnte allgemeine Bedauern resultierte denn auch wohl häufig daraus, dass die InterviewerInnen von "ihren" InterviewpartnerInnen zu einem Zeitpunkt Abschied nehmen mussten, an dem doch noch soviel Leben von ihnen zu leben und von uns zu erfahren gewesen wäre. [28]
5.3 Das "aktive Subjekt" sieht sich nicht immer so
Wohl kaum ein Fokus kam uns so selbstverständlich vor und wohl kaum einer führte so schnell zu Irritationen. Eine ganze Reihe von Jugendlichen weigerte sich, sich als aktive Gestalter ihres Lebens zu verstehen und darzustellen. Die von einigen Jugendlichen verwendete Selbstbeschreibung als "Stino": als stinknormalen Jugendlichen, über den es nichts weiter zu sagen gebe, wurde unser projektinternes Synonym für diese Art von Selbsterzählungen. Das Leben als Folge von Zufällen, in dem es keinen benennbaren Akteur gibt, geschweige denn, dass der Jugendliche selbst sich diese Rolle zuschriebe. In einem ersten analytischen Zugriff konzentrierten wir uns hier auf den Ost-West-Unterschied: Den ostdeutschen Jugendlichen, so die – westdeutsche – Überlegung, fällt es, geprägt durch eine das Kollektiv betonende Sozialisation, schwer, sich als Akteure ihres Lebens zu erzählen. Ihnen liegt es näher, Entwicklungen als zufällig darzustellen und eher ihre soziale Zugehörigkeit zu betonen denn ihrer Singularität (WALDMANN & STRAUS 1992). [29]
Beim zweiten Hinsehen allerdings differenzierte sich die Analyse. Hauptkriterium dafür, sich in einer Selbsterzählung als gestaltendes Subjekt darzustellen ist wohl das Verfügen-Können über soziale Ressourcen. Der Befund taugt dann insofern für eine Differenzierung zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen, als dort in der Tat im Gefolge der Wende eine ganze Reihe von sozialen Ressourcen weggebrochen sind. Insofern befruchtete dieser Fokus zum einen unsere projektinterne Diskussion über die Unterschiede zwischen Ost- und Westjugendlichen; zum anderen gewann die Frage der sozialen Ressourcen erheblich an Bedeutung. Ihre Erhebung war zwar ohnehin über die Lebenswelten und die Netzwerkkarte sichergestellt. Jetzt allerdings wuchs auch der theoretische Stellenwert dieser Dimension. [30]
5.4 Disembedding und narrative Kohärenz: There is more to the picture ...
Die Frage der Kohärenz als Zentralbegriff einer Identitätstheorie hat uns im Laufe des Projektes intensiv beschäftigt. Für das Projekt bedeutsame Differenzierungen wurden hier von KRAUS (2000) mit dem Begriff der narrativen Kohärenz und von HÖFER (2000) mit dem Begriff des sense of coherence vorgenommen. Auch bezogen auf die methodische Frage des Umgangs mit dem Kohärenzzwang bei der narrativen Konstruktion kohärenter Selbsterzählungen hat sich unser Vorgehen weiterentwickelt. Während wir zu Beginn des Projektes viel darüber nachgedacht hatten, die mythopoetischen Konstruktionen zu unterlaufen, ihre Konstruktion in den Interviews gerade zu vermeiden (vgl. 3.4.), differenzierte sich im Lauf des Projektes unser Verständnis des Erzählprozesses und damit die Strategie. Hier befruchtete auch die dialogische und narrative Wende in den Sozialwissenschaften unsere eigene Diskussion (vgl. SARBIN 1986; 1997; SAMPSON 1993; ANDERSON 1997; STRAUB 1998). Wir kamen dazu, die narrative Kohärenzproduktion nicht als etwas anzusehen, das es zu unterlaufen gilt, sondern im Gegenteil sie zu fördern und an dem so gewonnenem Material dann analytisch anzusetzen. Sprache nicht als Gegner, der die Suche nach irgend etwas dahinter Liegendem behindert und deshalb außer Kraft gesetzt werden muss, sondern als der Ort der Sinnkonstruktion, der als solcher genau der zentrale Untersuchungsgegenstand ist. Und die Strategien der einzelnen zur narrativen Konstruktion von Kohärenz galt es dann zu analysieren. [31]
Wenn das Prinzip von Judo ist, die Kraft des "Gegners" nicht zu blockieren, sondern für die eigenen Zwecke zu nutzen, so könnte man sagen, dass wir uns zu einem solchen Verständnis weiter entwickelt haben. Möglich war das, weil die Interviews immer schon narrativ – und argumentativ/begründend – angelegt waren. Ziel war nicht – mehr –, die Kraft der mythopoetischen Konstruktionen zu schwächen, sondern im Gegenteil ihre kraftvolle Präsentation zu fördern und daraus analytisch Kapital zu schlagen. Zerrissenheiterfahrungen sind nicht in einem Jenseits des Textes, sondern im Text selbst aufzuspüren. Sie zeigen sich dort z.B.
im Umgang mit der Zeitperspektive,
im individuellen Umgang mit der Frage der Auktorialität, d.h. der Platzierung und Handlungsmächtigkeit der eigenen Person in der Selbsterzählung,
in der Zielklarheit,
und im Umgang mit der Frage der Kausalität in den Selbsterzählungen (vgl. KRAUS 2000, S.229 ff.).7) [32]
Identitäten zum Reden bringen: Das konnte nicht "Zitronenpresse" heißen, sondern "meaning making", wie Jerome BRUNER (1990) es bezeichnet hat. Die Empirie machte uns, eindringlicher noch als die theoretische Diskussion, deutlich, worum es in den Interviews ging: Um die gemeinsame, interaktive Arbeit an der Sinnkonstruktion, im konkreten Fall an den Selbst-Erzählungen unserer InterviewpartnerInnen, als einem dialogischen Unternehmen. [33]
1) Bis zum Abschluss dabei waren: Thomas AHBE, Wolfgang GMÜR, Renate HÖFER, Heiner KEUPP, Wolfgang KRAUS, Beate MITZSCHERLICH, Florian STRAUS. <zurück>
2) Wir interviewten 152 Männer und Frauen im Alter von 18 bis 22 Jahren. Wir unterschieden zwei Fallgruppen. Eine bestand aus Personen mit einem bis dahin diskontinuierlichen Erwerbsverlauf, die zum Zeitpunkt des Erstinterviews in Projekten der berufsbezogenen Jugendhilfe waren; die andere Gruppe bestand aus Auszubildenden des Berufsbildes "Verwaltungsfachangestellte/r im Kommunalbereich". Die InterviewpartnerInnen kamen aus vier verschiedenen Regionen, zwei großstädtischen (München und Leipzig) und zwei ländlichen (Coburg und Mühldorf). <zurück>
3) Die Darstellung unserer damaligen Überlegungen folgt weitgehend KRAUS & STRAUS 1991. Alle übrigen Einschätzungen sind meine eigenen. Manche TeamkollegInnen sehen möglicherweise manches anders. <zurück>
4) Genauer in KEUPP u.a. 1999; kritisch dazu: STRAUB 1991; MEY 1999. <zurück>
5) Für den breiteren Kontext dieser Einschätzungen vgl. WAGNER 1994; BECK & BECK-GERNSHEIM 1994. <zurück>
6) Vgl. STRAUS 1991. <zurück>
7) Die allmählich sich entwickelnde Narrationsanalyse bietet im übrigen ein ganzes Spektrum von analytischen Wegen an, wenn hier auch noch viel zu tun bleibt: CZARNIAWSKA 1998; CORTAZZI 1993; DEMAZIERE & DUBAR 1997; LIEBLICH, TUVAL-MASHIACH & ZILBER 1998; RIESSMAN 1993. <zurück>
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Wolfgang KRAUS, Dr. phil., Studium der Psychologie in Regensburg und Berlin, derzeit wissenschaftlicher Angestellter an der Universität München, SFB 536 "Reflexive Modernisierung" (http://www.sfb536.mwn.de/), Projekt B 2: "Individualisierung und posttraditionale Ligaturen". Aktuelle Arbeitgebiete: Narrative Psychologie, Narrationsanalyse, soziale Konstruktion von Vertrauen, Veränderungen der Strategien sozialer Verortung.
Kontakt:
IPP
Ringseisstr. 8
D - 80337 München
Tel.: +49 / 089 / 543 59 77 - 2
Fax: +49 / 089 / 543 59 77 - 9
E-Mail: W.Kraus@lrz.uni-muenchen.de
URL: http://www.ipp-muenchen.de
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Revised 7/2008