Volume 1, No. 2, Art. 23 – Juni 2000
Das "themenzentrierte Interview". Ein Verfahren zur Entschlüsselung manifester und latenter Aspekte subjektiver Wirklichkeit
Ariane Schorn
Zusammenfassung: In dem Artikel wird das Verfahren des themenzentrierten Interviews vorgestellt, das sich an die von LEITHÄUSER und VOLMERG konzipierte Methode der themenzentrierten Gruppendiskussion anlehnt. Neben dem forschungspraktischen Vorgehen bei der Erhebung werden die einzelnen Auswertungsschritte einer vertikalen und horizontalen Hermeneutik dargelegt und erläutert.
Keywords: themenzentriertes Interview, tiefenhermeneutische Textinterpretation, vertikale Hermeneutik, horizontale Hermeneutik, themenzentrierte Gruppendiskussion, Forschungssupervision
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Vorgehen bei der Erhebung (Hermeneutisches Feld I)
3. Auswertungsmethode
3.1 Forschungspraktisches Vorgehen bei der Auswertung
4. Gütekriterien
Im folgenden soll das Verfahren des "themenzentrierten Interviews" dargestellt und erläutert werden, so wie es in meiner Untersuchung über die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung zur Anwendung kommt. Der Fokus dieses Beitrages liegt auf dem forschungspraktischen Vorgehen bei der Erhebung und Auswertung. Ich gehe ferner auf die methodische Tradition, in der das themenzentrierte Interview steht, sowie auf das Erkenntnisinteresse dieses Verfahrens ein. [1]
Da bei der Erläuterung einzelner Verfahrensschritte in Form von Beispielen auf die genannte Untersuchung Bezug genommen wird, soll diese kurz beschrieben werden:
Zahlreiche entwicklungspsychologische und klinische Untersuchungen der letzten Jahre haben die entwicklungsfördernde Funktion des Vaters hervorgehoben. Vergleichsweise wenig weiß man jedoch über die Ätiologie der Vater-Kind-Beziehung sowie über die (psychologischen) Faktoren und Zusammenhänge, die der Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung förderlich oder auch abträglich sind. Die Untersuchung: Die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung (Arbeitstitel) basiert auf der Annahme, daß bereits während der Schwangerschaft Prozesse stattfinden, die die spätere Eltern-Kind-Beziehung "einfädeln". Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den affektiv bedeutsamen Vorstellungen und Phantasien zu, die sich auf das entstehende Kind und auf das künftige Zusammenleben beziehen. In der Untersuchung interessieren die manifesten und latenten Phantasien werdender Väter. Mit zehn Interviewpartnern werden jeweils drei themenzentrierte Interviews geführt, zwei vor der Geburt, eines im vierten Lebensmonat des Kindes, die tiefenhermeneutisch ausgewertet werden. [2]
Das "themenzentrierte Interview" lehnt sich an das von LEITHÄUSER und VOLMERG konzipierte Verfahren der "themenzentrierten Gruppendiskussion" an (1979, 1988). Es wurde im Bremer Institut für Psychologie und Sozialforschung entwickelt und kam bereits in verschiedenen Untersuchungen zur Anwendung (vgl. SCHORN 1996, LÖCHEL 1997). LEITHÄUSER und VOLMERG griffen das Gruppendiskussionsverfahren auf, das am Frankfurter Institut für Sozialforschung entwickelt wurde, veränderten es jedoch u.a. im Hinblick auf das Selbstverständnis des Diskussionsleiters. Dieser definiert sich nicht – wie im Experiment – als neutraler Beobachter, sondern nimmt am Diskussionsprozeß teil. Die Abstinenz eines "neutralen" Beobachters kann als ein starkes Übertragungsangebot bewertet werden. Sie kann Unsicherheiten und Irritationen hervorrufen, die es den Diskussionsteilnehmern erschweren, die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu richten, um den es jeweils geht. Der Versuch hingegen, sich den Modi alltäglicher Kommunikation anzunähern, kann dazu beitragen, die Gesprächssituation zu entspannen. Den Einfluß des Forschenden sowie seine emotionale Verwicklung in den Forschungsgegenstand gilt es hierbei methodisch reflektiert zu nutzen. Er ist nur dann eine problematische Variable, wenn er nicht erkannt, reflektiert und im Hinblick auf das Thema verstanden wird. Gelingt dies, so können wichtige gegenstandsbezogene Daten gewonnen werden. [3]
LEITHÄUSER und VOLMERG beziehen sich in dem von ihnen begründeten Gruppendiskussionsverfahren ferner auf das von COHN (1978) entwickelte Modell der "themenzentrierten Interaktion". Dem Diskussionsleiter kommt die Aufgabe zu, eine "'dynamische Balance' zwischen dem einzelnen, der Gruppe und einem explizit formulierten Thema" (LÖCHEL 1997, S.56) herzustellen und aufrecht zu erhalten. [4]
Das themenzentrierte Interview weist einige Parallelen zu dem von WITZEL entwickelten Verfahren des "problemzentrierten Interviews" auf (1989). Eine Differenz läßt sich jedoch z.B. im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse ausmachen. Während es bei WITZEL um eine qualitative Analyse subjektiver Sinnbezüge geht, zielt das themenzentrierte Interview darauf ab, neben manifesten auch abgewehrte und latente Sinngehalte des Kommunizierten zu entschlüsseln. Ein solches Anliegen macht es notwendig, in einem stärkeren Maße als dies WITZEL tut, zwischen hermeneutischen Feld I (Erhebung) und hermeneutischen Feld II (Auswertung) zu differenzieren (vgl. LÖCHEL 1997). In diesem Zusammenhang gehört auch, daß der Reflexion des Beziehungsgeschehens in der Forschungsbegegnung eine große Bedeutung zukommt (Spiegeln sich latente Aspekte des Forschungsthemas im Beziehungsraum des Interviews?, vgl. hierzu TIETEL 2000, in diesem Band). [5]
2. Vorgehen bei der Erhebung (Hermeneutisches Feld I)
Das themenzentrierte Interview gibt den Interviewpartnern die Möglichkeit, ausführlich ihre besondere Sichtweise zu entfalten. Stärker als in einer Gruppendiskussion tritt hier der einzelne mit seinen im Kontext des Themas gemachten Erfahrungen und Sichtweisen in den Blick. Es gilt, das Interview als eine offene Gesprächssituation zu gestalten. Die Interviews beginnen mit einer kurzen Erläuterung des Themas der Untersuchung und der Klärung des Interviewrahmens (Dauer, Ablauf, Zusage der Vertraulichkeit usw.). Die Interviewpartner werden darauf aufmerksam gemacht, daß sie nicht (wie möglicherweise erwartet) mit einem zuvor erstellten Fragenkatalog konfrontiert werden, sondern vielmehr die Möglichkeit haben, das, was ihnen im Hinblick auf das Thema wichtig ist, entfalten und darstellen zu können. Das Interviewthema wird anhand einer zuvor formulierten Leitfrage, die gut leserlich plaziert wird, präsent gehalten.
Beispiel:
"Was bedeutet es für Sie, Vater zu werden?" [6]
Die Leitfrage sollte so formuliert werden, daß sie einerseits offen genug ist, ein frühzeitiges Versanden oder gar Abbrechen des Gesprächs zu verhindern, zugleich aber nicht so offen oder vage angelegt sein, daß sich die geäußerten Einfälle und Gedanken ins Uferlose verlieren würden. Der Interviewer bemüht sich, den Ausführungen und Einfällen der Gesprächspartner mit Bestätigung und Spiegelung des Gesagten sowie mit Klärungs- und Vertiefungsfragen zu folgen. Wenn das Gespräch zu versanden droht, wird der Gesprächsfluß durch weitere vom Interviewer eingebrachte Fragen unterstützt.
Beispiel:
"Was war für Sie als werdender Vater in den letzten Wochen/Monaten besonders wichtig?" [7]
Die Interviews enden mit der Frage, ob es noch etwas gibt, was noch nicht oder nur am Rande zur Sprache gekommen ist, dem Interviewpartner aber im Zusammenhang des Themas wichtig ist. [8]
Unmittelbar nach dem Interview wird ein Postskriptum erstellt, in dem erste Eindrücke festgehalten werden. Hierzu gehören sowohl Einfälle und Gefühle, die sich auf die Person des Interviewpartners beziehen als auch solche, die den Interviewer selbst betreffen. Von besonderem Interesse ist aber auch das, was gewissermaßen "zwischen" den Akteuren stattfand (ihre Interaktion, die Gesprächsatmosphäre/-dynamik, spezifische "Szenen" usw.).
Beispiel:
Herr P. begrüßt mich mit einem festen Händedruck. Als wir uns setzen und ich damit beginnen möchte, noch einmal den Rahmen des Interviews zu thematisieren, schlägt Herr P. vor, sich zu doch zu duzen. Dies fände er für sich stimmiger. Etwas perplex und mit dem Gefühl ein bißchen überrumpelt zu werden, willige ich ein ... [9]
Dem Interview schließt sich eine (kollegiale) Supervision an, in der Inhalte desselben sowie Eindrücke und Gefühle, die im Zusammenhang mit dem Interview stehen, thematisiert werden können. Die forschungsbezogene Supervision ist neben dem Postskriptum eine wichtige Hilfe, um latente Aspekte des Forschungsthemas aufzuspüren. Sie kann dazu beitragen, das Geflecht von Übertragungen und Gegenübertragungen, das in einer Interviewsituation wirksam wird, einer Reflexion zugänglich zu machen. Die forschungsbezogene Supervision kann als ein erster Auswertungsschritt aufgefaßt werden.
Beispiel:
Auf Wunsch von Herrn D. führe ich mit ihm das erste Interview in seinem Haus. Seine Frau ist in der 33. Schwangerschaftswoche. Am Ende des Interviews erläutert er noch einmal zusammenfassend, daß sich für ihn eigentlich wenig verändert habe, und daß dies der Grund sei, warum ihn der Umstand, daß er Vater wird, aktuell kaum beschäftige. Das Einzige wäre halt, daß er einen Gartenteich angelegt hätte. Mir "rutscht" heraus, daß dies ja was zum Reinfallen sein könne. In der Forschungssupervision überlege ich, diese Sequenz auszusparen. Unangenehm sind mir weniger die besagten Worte, als die aggressiven Phantasien, die mir in dem Moment, als Herr D. von seinem Gartenteich zu sprechen begann, in den Sinn kamen: Herr D. hatte für einen kurzen Augenblick für mich seine Harmlosigkeit verloren. Ich möchte nicht, daß die Supervisorin hier auf einen ähnlichen Gedanken kommt, möchte diese Seite meines Forschungsmaterials (mir fallen ähnliche Beispiele ein), wie dann in der gemeinsamen Reflexion deutlich wird, am liebsten "löschen". Meine Gesprächspartner und ich teilen hier möglicherweise ein soziales Tabu: Aggressive Phantasien und Regungen, die sich auf das Kind beziehen, sind sozial anstößig und müssen verborgen bleiben. [10]
Die Auswertung der themenzentrierten Interviews lehnt sich an das von LEITHÄUSER und VOLMERG entwickelten Verfahren der tiefenhermeneutischen Textinterpretation an (1979, 1988).1) Mit Einwilligung der Gesprächspartner werden die Interviews auf Tonband aufgenommen. Diese Tonbandaufzeichnungen werden transkribiert, wobei auf eine möglichst wortgetreue Transkription geachtet wird. Das schließt die Kenntlichmachung von längeren Gesprächspausen, paraverbalen Zeichen ("ähm", "hm") und emotionale Kommentierungen (z.B. Lachen) mit ein. [11]
Eine tiefenhermeneutische Textinterpretation zielt, wie gesagt, darauf ab, mehr als die manifesten Sinngehalte eines Textes zu verstehen. Sie intendiert, auch Vorstellungen und Phantasien zu erschließen, die dem Bewußtsein des Sprechers nicht unmittelbar zugänglich sind. Es geht hier nicht zuletzt um die aus der expliziten Sprache ausgeschlossenen latenten Sinngehalte eines Textes, um die "psychosozialen Strukturen und Mechanismen, die das sprachliche Geschehen gleichsam als ihre Unterwelt bewegen" (LEITHÄUSER & VOLMERG 1988, S.253). LEITHÄUSER und VOLMERG (a.a.O.) unterscheiden zwei Wege der Auswertung. Eine Auswertungsperspektive ist die "vertikale Hermeneutik". Hierbei handelt es sich um Einzelfallanalysen, die auf die ausführliche und detaillierte Interpretation eines "Textes" abzielen und insofern in besonderer Weise auf die Komplexität und Dynamik, die jedem Interview inhärent ist, einzugehen vermögen. Einzelfallanalysen haben den Vorteil, daß die im Zusammenhang des Forschungsthemas relevanten Erfahrungen, Sichtweisen und Vorstellungen eines Interviewpartners vergleichsweise ausführlich und auf die Dynamik eines Interviews bezogen (An welchen Stellen taucht ein bestimmtes Thema auf, was stößt dieses an usw.?) Gegenstand werden können. Dies macht es leichter, latente Sinnzusammenhänge zu erschließen und komplexe Interpretationsfiguren zu entfalten. Ein zweiter Auswertungsweg löst sich aus dem Kontext eines einzelnen Interviews. Aus der Gesamtheit aller Interviews werden hier ausgesuchte Themenfelder einer genauen Betrachtung unterzogen ("horizontale Analyse"). Interpersonelle Gemeinsamkeiten und Differenzen hinsichtlich bestimmter Phantasien, Vorstellungen, Erfahrungen und Sichtweisen können hier herausgearbeitet werden. [12]
3.1 Forschungspraktisches Vorgehen bei der Auswertung
Im folgenden werden zunächst die Auswertungsschritte einer vertikalen Hermeneutik dargelegt und erläutert, so wie sie in der genannten Untersuchung Anwendung finden. Anschließend die einer horizontalen Hermeneutik. [13]
1. Zunächst wird eine kurze zusammenfassende Nacherzählung des Interviews erstellt. Diese gibt einen Überblick über die Inhalte, die im Interview thematisiert wurden, und hilft, zentrale Themen und damit auch erste Interpretationsschwerpunkte identifizieren zu können
2. In einem weiteren Schritt wird der vorliegende Text sorgfältig auf für das Forschungsthema relevante Äußerungen und Gesprächssequenzen hin untersucht. Als relevant gelten die Textstellen, die sich in ihrem manifesten Gehalt auf das Erkenntnisinteresse der Untersuchung beziehen. Von Interesse können aber auch Textstellen/-passagen sein, die nicht unmittelbar auf die Forschungsfrage Bezug nehmen. Eine besondere Beachtung finden diese dann, wenn sie auf eine starke emotionale Beteiligung der Gesprächspartner (damit sind Interviewer und Interviewter gemeint) hinweisen oder Irritationen hervorrufen. Die Äußerungen und Gesprächssequenzen, die bei dieser "Sichtung" hervortreten, werden markiert, dem Text entnommen und zu einem neuen zusammengefügt. Hierbei wird auch nach natürlichen Verallgemeinerungen im Text gesucht, die mit LEITHÄUSER und VOLMERG als Kernsätze bezeichnet werden können. Ein Kernsatz ist ein signifikanter Satz eines Textes, in dem sich zentrale Erfahrungen, Sichtweisen, Positionen und Handlungsmaximen zu einer markanten Begrifflichkeit verdichten. "Kernsätze sind (..) natürliche Verallgemeinerungen im Fluß der Diskussion. Sie fassen meist einen Diskussionsabschnitt zusammen" (VOLMERG, SENGHAAS-KNOBLOCH & LEITHÄUSER 1986, S.271).
Die Textstellen, die dem Interview entnommen werden, werden jeweils mit einem Stichwort überschrieben, das das darin zum Ausdruck kommende Thema möglichst treffend bezeichnet.
Beispiel:
"Ein Mädchen orientiert sich mehr zum Vater hin" (Stichwort für die oben genannte Textpassage), "Einem Sohn muß man als Vater ein perfektes Vorbild sein", "Mädchen sind umgänglicher". [16]
3. Der "Text", der das Resultat des letzten Arbeitsschrittes ist, wird anschließend weiter gegliedert. Hierzu werden die Textstellen zusammengestellt, die in ihrem manifesten und latenten Gehalt einem Themenfeld zugeordnet werden können. Für dieses wiederum gilt es ein Stichwort zu finden, das den thematischen Sinnzusammenhang verdeutlicht.
4. An dieser Stelle angelangt, geht es darum, die so extrahierten Äußerungen und Textpassagen einer detaillierten Analyse bzw. Interpretation zu unterziehen. Alltagssprache – und mit der haben wir es in den Texten zu tun – zeichnet sich dadurch aus, daß sie fragmentarisch und mehrdeutig ist.2) Das heißt, daß der Sinn einer Äußerung nur scheinbar sofort zugänglich ist und somit auch, daß Verstehensanstrengungen notwendig werden. Die wissenschaftliche (Text-) Interpretation knüpft an alltägliche, gewissermaßen intuitive Verstehenswege an, setzt jedoch unser alltagspraktisches Regelwissen systematisch ein. Für die Forschungspraxis bedeutet dies, daß der Forscher Fragen an den Text stellt (Sinnerschließungsfragen), die die Aufmerksamkeit auf verschiedene Sinnschichten eines Textes/einer Textpassage richtet und deren Sinngehalt zu erschließen hilft (vgl. LEITHÄUSER & VOLMERG 1988, S.259):
Mit der interpretationsleitenden Fragestellung "Worüber wird gesprochen?" wird der sachliche Gehalt eines Textes erschlossen (logisches Verstehen).
Mit der Frage "Wie wird miteinander gesprochen?" soll der Beziehungsgehalt des Gesprochenen ermittelt werden (psychologisches Verstehen).
Im szenischen Verstehen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise der Rede. "In welcher Art und Weise (wie) wird worüber gesprochen?", heißt hier die interpretationsleitende Fragestellung.
Das tiefenhermeneutische Verstehen schließlich fragt danach, warum in dieser Weise gesprochen wird. Mit der Sinnerschließungsfrage "Warum wird wie worüber gesprochen?" sollen die latenten, nicht bewußten Intentionen und Bedeutungen entschlüsselt werden.3)
Interpretationsbeispiel (2. Interview, 32. Schwangerschaftswoche):
Herr J.: "Es ist schon viel näher gekommen, zappelt ja auch wie verrückt. Man sieht das erstens und kann es auch fühlen dann. Auch unterscheiden, das ist 'n Arm, 'n Bein oder es tritt so, es boxt. Also, das ist schon so, es drängt so langsam aber sicher in die Realität. Ja und das hat sich schon gewandelt."
I.: "Und wie erleben Sie das? Wie ist das für Sie?"
Herr J.: "Das ist gut. Man kann sich also jetzt schon richtig vorstellen, daß da so 'n kleiner Mensch drin ist, der irgendwann dann endlich raus kommt und nicht nur mehr so abstrakt. Also am Anfang war es ja immer nur der Bauch wird nach und nach ein bißchen dicker. So richtig darunter vorstellen konnte man sich noch nichts. (..) Doch, das ist schon richtig konkret, nicht mehr so abstrakt." (2/4)
Herr J. beschreibt hier eine für ihn deutlich wahrnehmbare Veränderung. Zum Zeitpunkt unseres ersten Gespräches (22. Schwangerschaftswoche) war es für ihn eine abstrakte Realität, daß im Bauch seiner Frau ein Kind heranwächst. In seinem Erleben war der dicker werdende Bauch nicht oder nur in bestimmten Momenten mit der Tatsache vermittelt, daß sich in diesem ein Kind entwickelt. Dies scheint sich verändert zu haben. Sprach Herr J. noch im letzten Interview davon, daß "etwas" gegen den Bauch stoßen würde, wenn er die Hand darauf lege (ohne diesen haptischen Kontakt schien der Bauch leer zu sein), so spricht er hier von einem kleinen Menschen, den er sich im Bauch seiner Frau vorstellen könne. Aus einem eher diffusen "etwas" ist ein – zu diesem Zeitpunkt – nicht näher bestimmtes Subjekt geworden. Ursache der genannten Differenz scheinen vor allem Wachstumsprozesse und Entwicklungsschritte des Fötus selber zu sein. Vitale Bewegungen des Kindes zeichnen sich mittlerweile auch für den außenstehenden Betrachter ab, geben dem Baby Kontur und unterstützen Herrn J., sich über den Seh- und Tastsinn vermittelt, der Realität des Kindes zu vergewissern. Herr J. kann das Baby ertasten. Er scheint sogar verschiedene Körperteile wie Arme oder Beine unterscheiden zu können. Baby und Frau werden damit vermutlich auch als etwas tendenziell Getrenntes, als voneinander abgrenzbare Subjekte wahrnehmbar. Herr J. erzählt, daß das Kind "langsam aber sicher" in die Realität dränge, sich also bemerkbar macht. "Realität" scheint hierbei einen doppelten Charakter zu haben: Das Baby "schiebt" sich gewissermaßen in die äußere Realität und damit auch zunehmend in die psychische Realität von Herrn J.. Sich dessen wiederum gewahr zu werden, scheint für Herrn J. auch entlastend zu sein. [18]
Die horizontale Auswertung folgt den dargelegten Auswertungsschritten bis zum Punkt drei. An dieser Stelle wird ein weiterer Arbeitsschritt eingefügt (3b), dem sich dann das unter Punkt vier beschriebene Vorgehen anschließt: Es wird ein Raster erstellt, in das – differenziert nach Untersuchungsteilnehmer und Untersuchungszeitpunkt (hier: Interview 1, 2 oder 3) – die Stichworte eingetragen werden, die im dritten Arbeitsschritt herausgearbeitet wurden. Dieses Raster gibt einen Überblick über relevante Themenfelder, die dann im einzelnen eingehender untersucht werden können.
Beispiel:
Da in nahezu allen Interviews, die in der Zeit vor der Geburt des Kindes geführt wurden, das (mögliche) Geschlecht des Kindes Thema war und in diesem Zusammenhang ein Vielzahl von Vorstellungen und Phantasien geäußert wurden, entschloß ich mich, dieses Thema zu einem Gegenstand der horizontalen Auswertung zu machen. [19]
VOLMERG, SENGHAAS-KNOBLOCH & LEITHÄUSER (1986) beschreiben Erhebung und Auswertung als zwei aufeinander bezogene hermeneutische Felder, denen jeweils spezifische Gütekriterien entsprechen. Im hermeneutischen Feld I ist ein zentrales Kriterium, ob ein tragfähiges Arbeitsbündnis zwischen Interviewer und Interviewtem zustande gekommen ist. Ein solches ist zwar kein Garant für die Aufrichtigkeit und den Wahrheitsgehalt des Geäußerten, gleichwohl aber eine Voraussetzung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Reflexion der Beziehungsdynamik, so wie sie sich in dem Kontakt zwischen den jeweiligen Akteuren hergestellt hat. Hilfreich ist hier das Postskriptums sowie das Wahrnehmen von (kollegialer) Supervision. Bezogen auf das hermeneutische Feld II gilt es, den Prozeß der Erhebung und Auswertung darzulegen und die Regeln, die diesem zugrunde liegen, zu explizieren. Interpretationen werden möglichst durch wörtliche Interviewzitate belegt. Der Leser sollte diese nachvollziehen und auf ihre Plausibilität und Stimmigkeit hin überprüfen können. Die Interviewzitate sind so ausführlich, daß es dem Leser gegebenenfalls auch möglich ist, eigene Schlüsse zu ziehen und alternative Lesarten zu entwickeln. Die Gültigkeit einer Interpretation wird im Forscherdiskurs überprüft. Hier geht es um die Plausibilität, Stimmigkeit und Nachvollziehbarkeit einer Interpretation. Diese Rückmeldungen sind nicht nur ein wichtiges Korrektiv, sie geben auch wichtige Anregungen für ergänzende oder alternative "Lesarten". Die Realitätshaltigkeit der Forschungsergebnisse hängt nicht zuletzt davon ab, ob der gewählte methodische Zugang dem Gegenstand der Untersuchung angemessen ist. [20]
1) Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, ausführlich auf Differenzen und Modifikationen einzugehen. Hinzu kam die zusammenfassende Nacherzählung der Interviews, zurückgenommen wurde die Bedeutung der Kernsätze und hervorgehoben die Bedeutung der Szene. Unterschiede gibt es auch hinsichtlich der Clusterung der (in diesem Falle) Interviewtexte. <zurück>
2) Eine auf den ersten Blick banale und unmißverständliche Äußerung wie "es ist kalt", kann über eine bloße Feststellung hinaus verschiedene Bedeutungen haben. Wer feststellt, "es ist kalt", der möchte möglicherweise dazu auffordern, die Heizung anzumachen. Die Feststellung "es ist kalt" kann aber auch eine Beziehungsaussage enthalten (in deiner Nähe ist mir kalt). <zurück>
3) Wenn möglich, sollte die Auswertung eines Interviews durch die Person erfolgen, die dieses auch geführt hat. <zurück>
Cohn, Ruth (1978/1975). Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Stuttgart: Ernst Klett.
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Schorn, Ariane (1996). Scham und Öffentlichkeit. Genese und Dynamik von Scham- und Identitätskonflikten in der Kulturarbeit. Regensburg: Roderer.
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Ariane SCHORN, geb. 1964, Dr. phil., Dipl.-Psych., Hochschulassistentin an der Universität Bremen, Institut für Psychologie und Sozialforschung, Arbeitsschwerpunkte: Entwicklungspsychologie, analytische Sozialpsychologie, qualitative Sozialforschung, Supervision, Konzeption u. Durchführung psychologischer Weiterbildungsseminare.
Kontakt:
Dr. Ariane Schorn
Institut für Psychologie und Sozialforschung (IPS)
Universität Bremen, FB 11
Grazer Str. 2c
D – 28359 Bremen
Tel.: (49) / 0421 / 218 - 3067 o. 0421 / 218 / 3079 (Sekr.)
Fax: (49) / 0421 / 218 – 4976
E-Mail: schorn@uni-bremen.de
Schorn, Ariane (2000). Das "themenzentrierte Interview". Ein Verfahren zur Entschlüsselung manifester und latenter Aspekte subjektiver Wirklichkeit [20 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 23, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0002236.