Volume 1, No. 2, Art. 39 – Juni 2000
Rezension:
Carlos Kölbl
Udo Kelle & Susann Kluge (1999). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich, 111 Seiten, DM 19.80 / sFr. 19.- / ÖS 145.-, ISBN 3-8100-2190-3
Inhaltsverzeichnis
"Vom Einzelfall zum Typus" erscheint als der vierte Band in einer von Ralf BOHNSACK, Christian LÜDERS und Jo REICHERTZ herausgegebenen Reihe "Qualitative Sozialforschung", deren Ziel es ist, konzise Texte für den Bedarf der Forschungspraxis bereitzustellen. [1]
Die vorliegende Arbeit ist der Frage nach der Konstruktion von Typen und Typologien gewidmet, denen deskriptive sowie explanative Funktionen zukommen können. Damit wird beabsichtigt, Möglichkeiten zu einer theoretisch und empirisch gehaltvollen Transzendierung der zunächst lediglich auf Einzelfallebene vorliegenden qualitativen Daten aufzuzeigen. [2]
In den ersten beiden Kapiteln werden Grundlagen einer Logik qualitativen Forschens erörtert. Als eines der Hauptkennzeichen des hypothetico-deduktiven Ansatzes gilt die Vorabformulierung präzise operationalisierter Hypothesen aus theoretischen Vorannahmen. Demgegenüber fordert das in einer Gegenbewegung entstandene interpretative Paradigma, sich dem Untersuchungsgegenstand mit größtmöglicher Offenheit zu nähern. Dieses Postulat hat nun allerdings vielfach dazu geführt, ein "induktivistisches Selbstmißverständnis" (S.16) zu befördern. Wenn es aber eine Konvergenz der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Schulen gibt, dann die, daß ein induktives Forschungsprogramm schlichtweg unmöglich ist. Ist dies nun der Fall, muß man dann doch wieder zum hypothetico-deduktiven Modell zurückkehren? Hier lautet die überzeugend ausgeführte Antwort der Autoren: tertium datur. Dieses Dritte kann mit PEIRCE als "hypothetisches Schlußfolgern" bestimmt werden. Ein solches Schlußverfahren sieht in seiner abduktiven Spielart vor, daß für eine überraschende Tatsache durch die Konstruktion einer Regel eine mögliche Erklärung generiert wird, wobei dies immer auch unter Rekurs auf schon vorhandenes theoretisches Vorwissen geschieht. Die entscheidende Differenz zwischen qualitativer und quantitativer Forschung hinsichtlich dieses Wissens besteht darin, daß interpretativ verfahrende Sozialforscher die vorerst bestehende Vagheit theoretischer Rahmenkonzeptionen nicht bereits vor dem Kontakt mit dem Untersuchungsgegenstand qua definitorischer Bemühungen auszuräumen suchen, sondern in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Relevanzsetzungen der Beforschten. Das theoretische Vorwissen läßt sich noch weiter auffächern. Im einzelnen werden Grad der Explikation, Herkunft, Grad der Theoretisierung und des empirischen Gehalts dieses Wissens erörtert. [3]
Die folgenden Kapitel drei und vier stehen ganz im Zeichen der "Operation Called 'Vergleichen'" (Joachim MATTHES). Das heißt nun nicht, daß KELLE und KLUGE sich auf den genannten Autor stützen würden; auch ist ihre Intention in diesen Abschnitten auf die konkrete methodische Kärrnerarbeit gerichtet, wo es MATTHES doch um grundlegende erkenntnistheoretische Probleme geht. Gleichwohl ist in der Betonung der überragenden Bedeutung komparativer Akte für sozialwissenschaftliche Belange eine Konvergenz der drei Autoren zu sehen und wohl ein gemeinsamer Nenner qualitativ-methodischen Denkens überhaupt. Schon für die Bestimmung der zu untersuchenden Fälle ist dieses Prinzip konstitutiv. Dabei lassen sich drei Strategien des qualitativen Samplings unterscheiden: die Suche nach Gegenbeispielen, das theoretische und das selektive Sampling. Die genannten Strategien werden unter Einbezug teils klassischer empirischer Studien, etwa zu den Wirkungen des Opiatgebrauchs, der Interaktion mit Sterbenden oder den berufsbiographischen Handlungsstrategien junger Facharbeiter, erläutert. Gemein ist allen drei Vorgehensweisen die "Fahndung" nach repräsentativen Fällen. Diese Repräsentativität ist aber nicht statistisch, sondern theoretisch zu verstehen. Oder in den Worten der Autoren: "Das Ziel einer theoriegeleiteten Fallauswahl besteht [...] nicht [...] darin, ein [...] maßstabsgetreu verkleinertes Abbild einer Grundgesamtheit herzustellen, sondern darin, theoretisch bedeutsame Merkmalskombinationen bei der Auswahl der Fälle möglichst umfassend zu berücksichtigen." (S.53) [4]
Fallkontrastierungen waren bereits für die Auswahl der Untersuchungsteilnehmer bedeutsam. Aber auch beim nächsten Schritt – der Auswertung der erhobenen Daten – kann nach einer Indizierung bzw. Kodierung des Materials eine weitere wichtige Form der Fallkontrastierung stattfinden: der systematische ("synoptische") Vergleich von Textstellen (S.54). Die hier angestellten Vergleiche dienen dazu, die sinnhaften Zusammenhänge im empirischen Material auf den Begriff zu bringen. Dazu müssen die Daten entweder subsumptiv oder abduktiv kodiert werden. Die Konstruktion von Kategorien- bzw. Kodierschemata erfolgt unter Verwendung des im vorhergehenden Kapitel ausdifferenzierten theoretischen Vorwissens. Abschließend wird noch die Bildung von Subkategorien durch begriffliche Explikation bzw. synoptische Analyse behandelt. [5]
Die bis jetzt referierten Prozeduren sind notwendige Vorarbeiten für die im fünften Kapitel beschriebene Typenbildung, die als die Krönung qualitativ-empirischen Arbeitens gesehen werden kann. Die Typenbildung wird von den Autoren in einem vier Stufen umfassenden Modell vorgestellt. Als erstes gilt es, relevante Vergleichsdimensionen zu bestimmen. Dazu kann man unterschiedliche Wege einschlagen. Zwei sich deutlich unterscheidende Vorgehensweisen sind die Heranziehung a priori festgelegter Kategorien einerseits und die sukzessive Entwicklung der Kategorien während der Datenanalyse andererseits. Anschließend bedarf es einer Gruppierung der Fälle sowie einer Analyse empirischer Regelmäßigkeiten. Dabei kann sich bei entsprechend komplex gestalteten Untersuchungsplänen schnell Unübersichtlichkeit einstellen. Statistische Operationen zur Reduktion des Datenmaterials können hierbei ein sinnvolles Hilfsmittel zur Ordnung darstellen. Verbleiben Stufe eins und zwei noch weitestgehend bei der Deskription des Materials, kommt der dritten Stufe – der Analyse der Sinnzusammenhänge – eine explanative Funktion zu. Mit Kurt LEWIN könnte man hier, nebenbei bemerkt, auch von einer strukturellen statt einer bloß materiellen Reduktion sprechen. Eine solche erklärende Funktion wird durch die Relationierung der herausgearbeiteten Kategorien in theorieentwickelnder Absicht geleistet. Als letzter Schritt bleibt noch die Charakterisierung der gebildeten Typen. Für diese gibt es zwei besonders prominente Möglichkeiten, nämlich die Konstruktion von Ideal- und Prototypen. [6]
Im letzten Kapitel fassen die Autoren ihre Überlegungen jeweils unter der Überschrift einer methodologischen Regel zusammen. Diese Regeln, wie z.B. "[f]ür den Fallvergleich und die Typenbildung ist die Konstruktion eines 'heuristischen Rahmens' unverzichtbar" (S.98), können für sich allein genommen auch als die verdichtete Essenz des von KELLE und KLUGE durchschrittenen Argumentationsganges gelesen werden. [7]
Was bleibt abschließend zu der vorgestellten Arbeit zu sagen? Durchweg Positives. Da sind der angenehm klare Stil und die Beschränkung auf das Wesentliche zu nennen. Außerdem wird die wissenschaftstheoretische Aufgeklärtheit der Autoren immer wieder deutlich. Das hat den Vorteil, daß manch naive Vorstellung, die bisweilen in qualitativ-methodisch inspirierten Vorhaben immer noch zu finden ist, souverän umschifft wird. Es gelingt den beiden Wissenschaftlern sogar, die unterbreiteten wissenschaftstheoretischen Argumente in ihrer forschungspraktischen Bedeutsamkeit stets anschaulich auszuweisen. Die Forschungspraxis kommt hierdurch, aber auch durch die sonstige illustrative Verwendung gut ausgewählter empirischer Studien, zu ihrem Recht. Ich möchte dieses Buch, das auf anregende Weise ein methodologisch-methodisches Programm jenseits von Idiographie und Nomothetik auf engstem Raum darstellt, mithin uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. [8]
Lewin, Kurt (1930/31). Der Übergang von der Aristotelischen zur Galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. Erkenntnis, 1, 421-466 (eine Buchausgabe dieses Aufsatzes ist 1971 bei der wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt erschienen).
Matthes, Joachim (1992). The Operation Called "Vergleichen". In ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (S.75-102). Soziale Welt, Sonderband 8. Göttingen: Schwartz.
Carlos KÖLBL ist zur Zeit Forschungsassistent in einer von Burkhard LIEBSCH und Jürgen STRAUB geleiteten interdisziplinären Studiengruppe, die sich am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen mit dem Thema "Lebensformen im Widerstreit. Identität und Moral unter dem Druck gesellschaftlicher Desintegration" beschäftigt. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Entwicklungs- und Kulturpsychologie, Handlungstheorien, qualitative Sozialforschung; Arbeit an einer Dissertation zur Entwicklung von Geschichtsbewußtsein im Jugendalter.
Kontakt:
Dipl.-Psych. Carlos Kölbl
Kulturwissenschaftliches Institut
Goethestr. 31
D - 45128 Essen
E-Mail: carlos.koelbl@kwi-nrw.de
Kölbl, Carlos (2000). Rezension zu: Udo Kelle & Susann Kluge (1999). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. [8 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 39, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0002394.