Volume 1, No. 2, Art. 35 – Juni 2000
Interpretationsspielräume erkennen und nutzen – Reflexionen zum Sinnverstehen
Günter Mey
Review Essay:
Jürgen Straub (1999). Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Berlin/New York: Walter de Gruyter. XI + 423 Seiten, DM 298.- / sFr 265.- / öS 2175.-, ISBN 3-11-016320-9
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Notwendigkeit handlungstheoretischen Denkens (Kapitel I)
3. Interpretationen als "The Operation called 'Vergleichen'" (MATTHES) (Kapitel II)
4. Die Anerkennung des Eigenen und des Anderen für die Erkenntnisbildung (Kapitel III)
5. Abschließende Bemerkungen: Interpretationsspielräume – jenseits eines bloßen Subjektivismus
6. Nachtrag
"Daß etwas passiert, daß qualitative Sozialforschung offenbar funktioniert, reicht nicht aus. Sie muß wissen, wo ihr Kopf sitzt. Daher muß die qualitative Forschungspraxis stärker als bisher von einer methodologisch reflektierten Kritik der qualitativen Sozialforscher selbst begleitet werden, um so die eigenen blinden Flecke und Aporien ans Licht zu bringen."
Dieses einer Bestandsaufnahme folgende Resümee von Christian LÜDERS und Jo REICHERTZ (1986, S.98) liegt nunmehr fast 15 Jahre zurück. Zu behaupten, daß seitdem nichts geschehen ist, wäre sicher überzogen. Denn qualitative Forschung hat in dieser Zeit – ohne dies hier genauer explizieren zu können – vielfältige Wege genommen: einige davon begrüßenswert, andere bedenkenswert. Gleichwohl hat der von LÜDERS und REICHERTZ geforderte (selbst-) kritische Blick nicht immer Hochkonjunktur (gehabt), trotz – oder vielleicht auch wegen – einer erheblichen Ausweitung und einsetzenden Etablierung qualitativer Sozialforschung. [1]
Auch aus diesem Grund haben einige zentrale Fragen nicht an Brisanz verloren. Eine dieser immer aktuellen Fragen ist, wie Forschende überhaupt zu ihren Aussagen über den je betrachteten Gegenstand gelangen und welche Gültigkeit die getroffenen Aussagen aufweisen, Fragen also, die den Forschungsprozeß, die Beziehung zwischen dem forschenden und dem beforschten Subjekt (bzw. nach den im Rahmen dieser Beziehung hervorgebrachten "Daten", die in der Regel textlicher Art sind) betreffen. [2]
Jede einzelne Station in diesem Prozeß benötigt kritische Begleiter(innen) in dem von LÜDERS und REICHERTZ angemahnten Sinne. Ohne dabei die Stationen bis zur Aufbereitung der Daten als lesbare Texte in ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche Erkenntnisbildung zu unterschätzen (siehe hierzu etwa die von Birgit VOLMERG 1988 diskutierten "Verstehensbarrieren" oder die Bemerkungen von Franz BREUER 1999 zu Problemen humanwissenschaftlicher Erkenntnismethoden), bleibt wohl festzuhalten, daß das zentrale Gewicht kritischer Reflexion auf den Bezugnahmen der Forschenden als Interpret(inn)en zu Texten liegen muß, auch weil sich hier – anders als etwa im Rahmen der Datenerhebung –das forschende und beforschte Subjekt nicht mehr im direkten Dialog befinden, sondern die Forschenden bemächtigen sich nun mehr "ihrer" Texte und geben diesen Sinn, in der Regel ohne daß das beforschte Subjekt in diesem Sinnzuschreibungsprozeß Einspruch erheben kann. [3]
Daß diese Bemächtigung und die daraus gewonnenen Resultate nicht unwidersprochen bleiben, zeigt sich (wenn überhaupt) erst dann, wenn diese den beforschten Subjekten (etwa im Zuge der [kommunikativen] Validierung) wieder vorgelegt werden oder wenn sie über Veröffentlichungen zugänglich sind (siehe dazu die Reaktionen auf die von Heinz BUDE 1997 vorgelegte Rekonstruktion der 68er Generation). Insofern ist für jede einzelne Forschungsarbeit die Frage zu stellen, welche Interpretationen überhaupt "erlaubt" sind; dies berührt den (nicht nur theoretischen, sondern auch Werte-) Standpunkt der Forschenden/Interpretierenden, von dem aus diese die in den Daten enthaltenen Äußerungen im Zuge ihrer Auswertungsarbeit beurteilen. [4]
Aber bevor eine solche Frage, die auf Moral und Ethik zielt, beantwortbar (bzw. überhaupt debattierbar) erscheint, stellt sich die Frage nach dem Interpretieren selbst bzw. danach, wie Interpretationen vor sich gehen. Es ist überraschend, daß trotz der Zentralität dieser Frage vergleichsweise wenige systematische Reflexionen vorliegen. Ein wichtiger Schritt in Richtung einer Behebung dieses Mißstandes scheint mir jetzt mit Jürgen STRAUBs "Handlung, Interpretation, Kritik" getan, mit dem dieser eine textwissenschaftliche Handlungs- und Kulturpsychologie konzeptualisieren möchte. [5]
STRAUB geht es in seiner Schrift darum, die "Sinn- und Bedeutungsstruktur von Handlungen" angemessen zu konzeptualisieren, und dazu fordert er, "Deutungen und Interpretationen als den Dreh- und Angelpunkt des wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung anzuerkennen" (S.1). Programmatisch möchte STRAUB eine Lücke schließen (oder vielleicht sogar treffender: offenlegen) zwischen handlungstheoretischen Diskursen und einer interpretativ ausgelegten Sozialforschung. Dazu führt er – entsprechend der Auflistung im Titel seines Buches – durch drei große Themenfelder: Handlung (Kapitel I), Interpretation (Kapitel II) und Kritik (Kapitel III), wobei die ersten beiden Kapitel ausführlich gestaltet sind, das dritte eher als eine vorläufige Skizze zu verstehen ist. [6]
2. Zur Notwendigkeit handlungstheoretischen Denkens (Kapitel I)
Kapitel I hat die Funktion, das rationalistische Moment (also die Ziel- und Zweckorientierung, die mit der Verwendung des Handlungsbegriffes bzw. von Handlungstheorien oftmals verbunden ist) zu überwinden und die handlungsorientierte Psychologie als eine interpretative Wissenschaft zu konzipieren. Den Weg dahin führt STRAUB in einer groß angelegten Analyse vor, deren Stationen hier lediglich markiert werden sollen: Zunächst werden Explikationen zum Handlungsbegriff (unter Bezugnahme auf LENK, BOESCH, LAUCKEN) vorgestellt, gefolgt von Erörterungen der Differenz zwischen Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung. Hierbei werden unterschiedliche Handlungstypologien (so die klassischen Überlegungen von WEBER und die zeitgenössischen von von CRANACH und ASCHENBACH) einer kritischen Analyse unterzogen, und es wird eine Auseinandersetzung mit Modellen der Handlungserklärung (von WRIGHT, WINCH, KORTHALS-BEYERLEIN) geführt. Abgeschlossen wird dies mit einer Darlegung von Modellüberlegungen zur narrativen Handlungsbeschreibung bzw. -erklärung (SCHWEMMER, DANTO) und einer Fokussierung von produktiven (in Abgrenzung zu den reproduktiven) Aspekten von Handlungen (JOAS, WALDENFELS). Auf dieser Grundlage erfolgt zum Schluß eine erste Fundierung und eine Ausdehnung von handlungs- auf kulturpsychologisches Denken (unter Bezugnahme auf WERBIK, BOESCH, ECKENSBERGER und BRUNER, allesamt Autoren, die fruchtbare Verknüpfungen hin zu einem geschichts- und erzähltheoretischen Handlungsmodell eröffnen). [7]
3. Interpretationen als "The Operation called 'Vergleichen'" (MATTHES) (Kapitel II)
Gerade im Zuge der das Kapitel I schließenden Ausführungen wird deutlich, wie sehr für STRAUB die Konzeption einer Handlungs- und Kulturpsychologie mit der interpretativen Analyse von Texten verbunden bzw. zu verbinden ist. Vor diesem Hintergrund hat nun das Kapitel II zu Interpretation m.E. eine hervorgehobene Bedeutung in der STRAUBschen Abhandlung. In diesem ebenfalls umfänglich angelegten Kapitel greift STRAUB u.a. auf Überlegungen von Ralf BOHNSACK zu Vergleichshorizonten zurück und erweitert diese zugleich, um dann unter Bezugnahme auf KANTs Unterscheidung zwischen bestimmenden und reflektierenden Formen der Urteilskraft ein allgemeines Modell zu entwerfen, nach dem der Grundkern jeglicher Interpretation der Prozeß des Vergleichens ist: "Vergleichen heißt, daß der Interpret das Interpretandum vor dem Hintergrund eines oder mehrerer Vergleichshorizonte bestimmt bzw. über es reflektiert." (S.224) [8]
Daß dabei die Bezugspunkte (und damit die Vergleichsmodi/-horizonte) variieren, wird ausgeführt unter Hinzuziehung der Ordnungsheuristik von Umberto ECO, nach der sich eine intentio auctoris, eine intentio operis und eine intentio lectoris unterscheiden lassen. Entlang dieser Dreiteilung, die jeweils den Autor/die Autorin des Textes, den Text selbst bzw. die Lesenden "als (primär) konstitutiv für textuell vermittelte Sinn- und Bedeutungsstrukturen" (S.227) zum Ausgangspunkt nimmt, expliziert STRAUB den Prozeß der Interpretation und arbeitet die damit einhergehenden Probleme heraus. [9]
Die (Selbst-) Beschränkung einer Verstehensperspektive unter den Leitlinien einer intentio auctoris wird an dem Ansatz von Eric HIRSCH verdeutlicht. Hier markiert STRAUB – entgegen der von HIRSCH vermittelten Position –, daß Interpretieren vor allem Textarbeit ist, mittels derer neue Erkenntnisse hervorgebracht werden (können und müssen). Die Kritik richtet sich insbesondere gegen jene Auffassung, nach der "Interpretationen ... keine im eigentlichen Sinne bedeutungskonstituierenden Akte dar[stellen], sondern Handlungen, die etwas zu erfassen haben, was ihnen vorausgegangen ist und ihnen als Objekt gleichsam gegenüberliegt" (S.241) – eine Haltung, die wohl die Illusion nährt, den "wahren" Aussagegehalt eines Textes an und für sich sprechen lassen zu können. [10]
Im Gegensatz zu der eingeschränkten Perspektive des intentio auctoris entwickelt STRAUB am Beispiel der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg GADAMERs die Potenz einer intentio operis. GADAMER, der in "Wahrheit und Methode" beabsichtige, nicht ein "Verfahren des Verstehens zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen Verstehen geschieht" (zitiert nach STRAUB, S.253f), liefert STRAUB zufolge für eine interpretativ ausgelegte Kulturpsychologie "eine Fülle von Anregungen für das methodologische Denken und Forschen" (S.255). Explizieren lasse sich insbesondere das Aufeinandertreffen und die damit einhergehende Herausforderung des Selbst- und Weltverständnisses des oder der Interpretierenden. Erst damit könne das Relationale des Verstehens akzentuiert werden, was bedeutet, daß auch das Eigene (und eben nicht nur das/der Andere) in Frage steht. [11]
STRAUB schreibt selbst, daß seine Auslegung des GADAMER Werkes "wohlwollend" (S.265) sei. Kritik übt er vor allem hinsichtlich der bei GADAMER vernachlässigten Frage nach der "Differenz und Heterogenität von kollektiven Symbolsystemen, Lebensformen und Individualitäten" (S.271), weil für STRAUB damit (und trotz GADAMERs Wissen um die vielfältigen Möglichkeiten des Mißverstehens) die Gefahr von "nostrifizierenden Akten der Aneignung von Fremdem und Bemächtigung des anderen" (a.a.O.) besteht. Insofern zielt die Kritik auch auf den im Werk GADAMERs zentralen Begriff der Horizontverschmelzung. Dieser nähre die Annahme, daß es für GADAMER "recht besehen ... nämlich 'immer schon' nur einen einzigen Horizont des Verstehens [gibt], in den sich alle 'bloß vermeintlich' verschiedenen Horizonte eingliedern lassen" (S.273). [12]
Die intentio lectoris stellt STRAUB am Ansatz der Tiefenhermeneutik Alfred LORENZERs vor, mit dem die Verstehensleistungen eines handelnden Subjekts, für das GADAMER "so gut wie nichts übrig" (S.279) hat, zugänglich werden können, weil hier "Handlungen und andere Phänomene in ihrem soziokulturellen Kontext betrachtet [werden können], ohne dabei das Individuum aus den Augen zu verlieren" (S.281). Die Fruchtbarkeit LORENZERs für eine Handlungs- und Kulturanalyse ist dadurch eröffnet, daß LORENZER selbst – wie STRAUB ausführlich erörtert – weit über die Psychoanalyse hinausgeht (bzw. wegen den Besonderheiten des Verhältnisses von Text-Interpret[in] vs. Analysant[in]-Analytiker[in] hinausgehen muß) und theoretische Anleihen bei Literatur- und Kunstwissenschaft sowie bei der kritischen Gesellschaftstheorie macht. Herausgehoben wird dabei, daß es nicht um den Rezipienten/die Rezipientin selbst (und damit eben nicht um das der – psychoanalytischen – Interpretation gerne angelastete Subjektivistische) geht, sondern um die Text-Leser(in)-Interaktion, bei der die Interpretierenden ihre "subjektiven individuellen Voraussetzungen vorbehaltlos in den Dienst der Sachen stellen [müssen]. Diese Sache jedoch gibt der Text, das Interpretandum, vor" (S.291). Insofern fungieren die Interpret(inn)en als eine Vermittlungsinstanz, mittels derer ein transsubjektiver Sinn zugänglich sein soll, eben weil es im Sinne LORENZERs um das kollektiv Unbewußte, nicht um das je individuelle Unbewußte der Interpretierenden geht. [13]
4. Die Anerkennung des Eigenen und des Anderen für die Erkenntnisbildung (Kapitel III)
Die mit dem Umgang von Eigenem-Fremdem verbundenen Gefahren werden abschließend im dritten Kapitel – Kritik – eingehender ausgeleuchtet, wobei STRAUB seine Ausführungen selbst als eine "vorläufige Standortbestimmung" (S.327) begreift. Ausgehend von den allen Interpretationen zugrundeliegenden Vergleichsoperationen, ohne die Erkennen nicht möglich und Forschung nicht praktizierbar ist, ergeben sich einige zentrale Problemkreise, die den Machtaspekt von Interpretation und die Frage berühren, ob (und wie) ein(e) Interpret(in) (nicht) Stellung bezieht, wenn er/sie das Interpretandum beschreibt, analysiert und erklärt. In diesem Zusammenhang wirft STRAUB zunächst die Frage auf, ob Vergleichen immer unweigerlich im Angleichen des Fremden an das Eigene vollzogen werden muß, wie dies für die zeitgenössische Psychologie (ebenso wie für viele andere Disziplinen) charakteristisch ist. Unter Rekurs auf Joachim MATTHES erläutert STRAUB, daß ein Vergleichen im eigentlichen Sinne dann gar nicht stattfindet, wenn "die eine Seite des Vergleichs ... nämlich nicht nur Verglichenes [ist], sondern ... den unhinterfragten Maßstab des Vergleichs gleich mit[liefert]" (S.333) – eine Beobachtung, die angesichts einer (oft) unbemerkt getätigten Projektion des Eigenen und Vertrauten in fremde Wirklichkeiten auf die sogenannten kulturvergleichenden Untersuchungen zutrifft, sich aber bei weitem nicht auf dieses Forschungsfeld begrenzen läßt. [14]
Demgegenüber geht STRAUB – anschließend an die Theorie des "kommunikativen Handelns" von Jürgen HABERMAS und an die dort vorgenommenen Überlegungen zur Relevanz von Geltungsansprüchen – bezogen auf die Frage der Interpretation davon aus, daß Fremdverstehen voraussetze, das Eigene zu reflektieren, da nur auf dieser Basis das Andere überhaupt angemessen rekonstruiert werden könne. STRAUB wendet allerdings kritisch ein, HABERMAS' Konzeption sei "zutiefst normativ [...]" (S.349), da ihr sozusagen ein "Zwang zum Urteil" (S.347; Herv. im Orig.) innewohne bzw. sich im HABERMASschen Sinne die Geltungsgründe nicht lediglich deskriptiv fassen lassen. Demgegenüber vertritt STRAUB die Position, daß "es ... sich durchaus so einrichten [läßt], daß einer Interpretation nicht anzusehen ist, wie sich der Interpret zu dem, was er darstellt, verhält" (a.a.O.). Die von HABERMAS angenommene Notwendigkeit von evaluativen/normativen Stellungnahmen schränkt STRAUB vor allem deshalb ein, weil sich mit ihnen "der Rahmen der Interpretation [verändert], mithin auch die Möglichkeiten, daß Interpretandum in bestimmter Weise zu erfassen" (S.349). [15]
STRAUBs anschließende Argumentation zielt darauf, von vorschnellen (Vor-) Urteilen (wozu auch Achtungsbekundungen zählen) abzusehen, wobei er auf die Erörterungen von Charles TAYLOR zur Frage der Anerkennung von Kulturen Bezug nimmt. Denn "wer sich mit anderen Kulturen und Personen, mit deren Orientierungs-, Handlungs- und Lebensformen nicht so auseinandergesetzt hat, daß er schließlich 'selbst eine Veränderung erfahren hat'" (S.353) bzw. für wen "diese Selbstveränderung [nicht] zumindest im Bereich des Möglichen lag" (a.a.O.), der gibt hiernach nicht nur den Anspruch preis, dem/den Anderen gegenüber die als notwendig betrachtete Achtung und Anerkennung zu zollen, sondern ohne den Versuch/das Bemühen, den/das Andere anzuerkennen, ist "kein Verstehen und keine Kenntnis des anderen" (a.a.O.) erreichbar. Für die Interpretation – als Beziehungsaufnahme zwischen forschenden und beforschten Subjekten (deren Texten) – bedeutet dies, daß sich kritische Urteile von Interpretierenden auf das Eigene und das Fremde gleichermaßen beziehen sollten. Insofern wird deutlich, daß Fremdverstehen und Selbstverstehen untrennbar verbunden sind. [16]
5. Abschließende Bemerkungen: Interpretationsspielräume – jenseits eines bloßen Subjektivismus
Der von STRAUB unternommene Versuch, Interpretationen konsequent als Modi des Vergleichens zu fassen, um daran die Bezugnahmen von Interpret(in)-Interpretandum zu systematisieren, scheint mir in beeindruckender Weise gelungen. STRAUB expliziert nicht nur die Gefahr einer Reduktion des Vergleichens auf ein Angleichen, sondern er fordert den persönlichen Anteil der/des Interpretierenden an der Konstitution des Interpretandums zu reflektieren, denn ohne diese droht Interpretation zu scheitern. [17]
Dabei entfaltet sich entlang der geführten Auseinandersetzung mit den Interpretationsmodi – jenseits eines bloßen "Psychologismus und Subjektivismus" – ein Verständnis für einen Möglichkeitenraum, den Interpretationen haben (können/müssen) und den es, wie die Analyse von STRAUB nahelegt, auszuloten gilt. Da Interpretationen nach STRAUB im Interesse einer wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung weder einfach(e) "Abbildungen" schaffen noch einfach(e) Urteile über das Fremde/Andere infolge einer Aneignung fremder Wirklichkeiten und fremder Selbst- und Weltverhältnisse durch den/die Interpretierenden sein dürfen, geht es vor allem um einen Modus von Interpretation, der "Eigenes und Fremdes nicht nur voneinander trennt, sondern auch die Chancen zur relationalen Bestimmung des Differenten bereithält" (S.341). [18]
Diese Überlegungen bieten viele Anknüpfungspunkte, um die zentralen Prinzipien qualitativer Sozialforschung – Offenheit, Kommunikation und Fremdheit – inhaltlich aufzufächern und damit im weiteren eine Präzisierung der qualitativen paradigmatischen Vorab-Setzungen zu leisten. Der von Jürgen STRAUB vorgenommene Versuch, eine "erfahrungsgesättigte formale Theorie interpretativen Handelns" (S.203) zu entwerfen, verdeutlicht, daß sich entlang der von ihm vollzogenen Differenzierung dreier fundamentaler theoretischer Operationen "jeweils ganz verschiedene Perspektiven und Spielräume der Interpretation eröffnen und begrenzen" (S.226) lassen. Damit wird die Aufmerksamkeit wieder jenem größeren Bezugshorizont geschenkt, wie denn qualitative Sozialforschung überhaupt funktioniert. Mit den Darlegungen von STRAUB, die anerkennen, daß Interpretationen nicht (als) endgültig verstehbar sind und daß Interpretationsspielräume immer vorliegen/bestehen, wird ein Diskussionsraum um das Sinnverstehen eröffnet, der sich einer Debatte versperrt, die bei dem Beliebigkeitsvorwurf von Interpretationen stehen bleibt oder sich in Ausführungen über die Unabschließbarkeit von Deutungen auflöst. Insofern wird nur all zu sehr deutlich, daß eine Lösung eben nicht ausschließlich im Verfahrenstechnischen zu finden sein wird, mit dem – nicht selten und entgegen den programmatischen Verlautbarungen – die Seite des forschenden Subjekts (und die damit einhergehende "Subjektivität") nach wie vor weitgehend ausgeblendet wird (siehe dazu auch MRUCK & MEY 1996 und MRUCK 1999). [19]
Da ich in meiner Rezeption des Buches den Fokus vornehmlich auf die (mich interessierende) Frage nach dem Charakter von Interpretation(en) gerichtet habe, sei zum Schluß genereller festgehalten, daß ich "Handlung, Interpretation, Kritik" mit viel Gewinn gelesen habe; insbesondere die Klarheit des Autoren und seine Stellungnahmen in den drei Themenfeldern sowie die darin einbezogene Breite an Diskursen und (sub- und inter-) disziplinären Bezügen – die ich hier nur sehr summarisch skizzieren konnte – machen es zu einem wirklich interessanten Buch. Zu hoffen bleibt, daß aus den hier dargelegten Grundzügen einmal eine Grundlegung textwissenschaftlicher Handlungs- und Kulturpsychologie erwächst – ein sicherlich weiter Weg, auf dem dieses Buch ein wichtiger Schritt sein dürfte. [20]
Und ein anderes bleibt auch zu hoffen: Ein Buch, daß einen wirklich weiten Leser(innen)kreis verdient hat, sollte so bald wie möglich auch für einen erschwinglichen Preis verfügbar sein. [21]
Bude, Heinz (1997). Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Breuer, Franz (1999a). Probleme human- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnismethoden: viel Verwirrung – einige Vorschläge. In Norbert Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band 1: Metatheoretische Perspektiven/2.Halbband (S.193-309). Münster: Aschendorff.
Lüders, Christian & Reichertz, Jo (1986). Wissenschaftliche Praxis ist, wenn alles funktioniert und keiner weiß warum – Bemerkungen zur Entwicklung qualitativer Sozialforschung. Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau, 12, 90-102.
Matthes, Joachim (1992). The Operation Called "Vergleichen". In ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (Soziale Welt, Sonderband 8, S.75-102): Göttingen: Schwartz.
Mruck, Katja (1999). "Stets ist es die Wahrheit, die über alles gebietet, doch ihre Bedeutung wandelt sich." Zur Konzeptualisierung von Forschungsobjekt, Forschungssubjekt und Forschungsprozeß in der Geschichte der Wissenschaften. Münster: LIT.
Mruck, Katja & Mey, Günter (1996). Qualitative Forschung und das Fortleben des Phantoms der Störungsfreiheit. Journal für Psychologie, 4(3), 3-21.
Volmerg, Birgit (1988). Erkenntnistheoretische Grundsätze interpretativer Sozialforschung in der Perspektive eines psychoanalytisch reflektierten Selbst- und Fremdverstehens. In Thomas Leithäuser & Birgit Volmerg, Psychoanalyse in der Sozialforschung (S.131-179). Opladen: Westdeutscher Verlag.
Günter MEY ist Wissenschaftlicher Assistent im Fachgebiet Entwicklungspsychologie an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Qualitative Methodologie und Methoden, narrative Psychologie, Identitätsforschung, ökologisch-orientierte Entwicklungspsychologie.
Kontakt:
Dr. Günter Mey
Technische Universität Berlin
Psychologie im Institut für Sozialwissenschaften
Sekr. HAD 40
Hardenbergstraße 4-5
D - 10623 Berlin
Tel.: +49 / 030 / 314 - 25 286
Fax: +49 / 030 / 314 - 79 474
E-Mail: mey@gp.tu-berlin.de
URL: http://www.tu-berlin.de/fb7/ifs/psychologie/entwicklung/mey/
Mey, Günter (2000). Interpretationsspielräume erkennen und nutzen – Reflexionen zum Sinnverstehen. Review Essay: Jürgen Straub (1999). Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie [21 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 35, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0002357.