Volume 7, No. 2, Art. 8 – März 2006
Rezension:
Wilhelm Schwendemann
Cornelia Schweppe (Hrsg.) (2003). Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik. Opladen: Leske + Budrich, 355 Seiten, ISBN 3-8100-3165-8, EUR 24,90
Zusammenfassung: Der von Cornelia SCHWEPPE vorgelegte Sammelband gibt Orientierung über die Pluralität der verschiedenen Forschungsansätze und Forschungsmethoden im Bereich der Sozialpädagogik, wobei dieser Sprachgebrauch auf den Graben zwischen universitärem Verständnis von Sozialpädagogik und dem Verständnis von Sozialarbeitswissenschaft an Fachhochschulen aufmerksam macht. Das Buch ist keine systematische Dokumentation, sondern ist in theoretische und in methodologische Fragestellungen unterteilt und fragt im Wesentlichen nach dem Selbstverständnis sozialpädagogischer bzw. sozialarbeitswissenschaftlicher Forschung in den ausdifferenzierten Handlungsfeldern der Profession. Die Pluralität der Forschungszugänge ist zugleich auch ein wissenschaftstheoretisches Problem, denn viele Zugänge verweisen auf den Mangel interdisziplinärer Verständigung im Bereich der Sozialarbeitswissenschaft. Der Herausgeberin ist zu danken, dass sie den Diskurs zwischen den verschiedenen professionellen Disziplinen innerhalb der qualitativen Forschung angestoßen und damit auch gezeigt hat, dass Verständigung über das, was sozialpädagogische Forschung sein kann, möglich ist.
Keywords: Sozialpädagogik, Qualitative Sozialforschung, Methoden, Forschungsansätze, Triangulation, Methodenvielfalt
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Überblick
3. Sozialpädagogik und qualitative Forschung: theoretische und methodologische Grundfragen
3.1 Biographieorientierter Ansatz
3.2 Rekonstruktive Forschungsansätze
4. Qualitative Verfahren in sozialpädagogischen Forschungsfeldern
4.2 Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik
4.3 Sozialpädagogische Adressatenforschung
4.4 Sozialpädagogische Evaluationsforschung
5. Fazit
Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik sei, so die Herausgeberin Cornelia SCHWEPPE sowohl ein Feld der Unübersichtlichkeit als auch ein Ort, an dem bislang lieb gewordene und selbst verständliche Eindeutigkeiten in der Sozialen Arbeit verloren gegangen seien. So ist aus Sicht der Forschung zu begrüßen, dass die Herausgeberin sich auf dieses – auch gerade für Sozialpädagogen und -pädagoginnen immer noch unbekannte – Gebiet einlässt; auf der anderen Seite vergrößert die unterschiedliche AutorInnenschaft des Buches und Zusammenstellung der Beiträge den Dschungel qualitativer Forschung und Forschungsmethoden in der Sozialen Arbeit bzw. innerhalb der Sozialpädagogik. Das hängt mit der Professionalisierung und Ausdifferenzierungstendenz in der Gestaltung des Sozialen zusammen, aber auch mit der uneindeutigen wissenschaftstheoretischen Positionierung der so genannten Sozialarbeitswissenschaft, die sehr unterschiedliche Forschungsansätze und Forschungsmethoden zulässt, deren Qualität und Güte nicht unendlich reproduzierbar sind. Beispielhaft für die gegenwärtige sozialarbeitswissenschaftliche und sozialpädagogische Forschung seien hier HELFFERICH (2005), ADER (2001), RAUSCHENBACH (1998), MÜHLUM (2004), sowie THOLE (2005) genannt, die ihre Schwerpunkte innerhalb der empirischen sozialarbeitswissenschaftlichen Forschung und nicht in der traditionellen Bildungstheorie haben. [1]
Cornelia SCHWEPPE kommt das Verdienst zu, diese verschiedenen Ansätze vor allem der sozialpädagogischen Forschung gebündelt und damit den Diskurs um Ergebnisse und Methoden eröffnet zu haben. Da die verschiedenen Arbeitsfelder der Sozialpädagogik von der Jugend- bis zur Altenhilfe in unterschiedlichen Tempi arbeiten, fehlt hier bisher ein Forschungsdiskurs, der den Spagat zwischen z.B. Institutionenforschung und Einzelfallhilfeforschung überwindet und zusammenführt, so auch RAUSCHENBACH und THOLE (1998). Dieses Defizit verwundert, denn rekonstruktive, interpretativ-verstehende Zugänge gehören seit den Anfängen wissenschaftlicher Analyse sozialpädagogischer Handlungsfelder zum Forschungsinstrumentarium der Sozialpädagogik. SCHWEPPEs Ziel mit diesem Buch liegt also
"darin, qualitative Forschungsbemühungen in der Sozialpädagogik … zu bündeln, die Bedeutung und den Erkenntnisgewinn des sozialpädagogischen Forschungsparadigmas für die sozialpädagogische Forschung und seinen Ertrag für den fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs sichtbar zu machen und über die Zusammenführung der … bearbeiteten Forschungsfragen und -konzepte und der dargestellten Forschungsprojekte Impulse zur Entwicklung eines eigenständigen Diskurses und einer innerdisziplinären Kommunikation über die theoretischen und methodologischen Grundfragen und Grundlagen, die Spezifität, den Gegenstandsbereich, die Erkenntnismöglichkeiten, die Gütekriterien … zu geben …" (S.9). [2]
Das wohl eine Tagung dokumentierende Buch lässt sich grob in zwei Teile gliedern. Der erste Teil des Buches geht den theoretischen und methodologischen Grundfragen nach. Zum ersten Teil (Sozialpädagogik und qualitative Forschung) gehören die Beiträge von HANSES, THOLE sowie v. WENSIERSKI. Der zweite Teil widmet sich besonderen methodischen Verfahren und Handlungsfeldern und lässt sich wiederum in vier Gruppen differenzieren: a) Sozialpädagogische Institutionenforschung unter besonderer Berücksichtigung sozialer Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die Beiträge von KLATEZKI sowie van SANTEN und SECKINGER lassen sich hierzu zählen; b) Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik (SCHWEPPE, KRAIMER, NÖLKE, BOCK, CHAMBON); c) Sozialpädagogische Adressatenforschung (SUTTER, HAUPERT); d) Sozialpädagogische Evaluationsforschung (LÜDERS & HAUBRICH, WOLFF & SCHEFFER). Die Unübersichtlichkeit der Forschungsansätze, Methoden und Fragestellungen im sozialarbeitswissenschaftlichen Bereich macht sich auch in der Anlage des Buches bemerkbar. In den Theoriebeiträgen geht es hier darum zu verdeutlichen, wie sich sozialpädagogische Forschung als sozialpädagogische Forschung fassen lässt und wie diese sich Theorie, Praxis, Ausbildung zuordnet und welche systematischen Erkenntnisstrukturen ausschlaggebend sind. Die theoretischen Beiträge sind daher komplementär zueinander zu verstehen, denn es gibt, so die Erkenntnis der Herausgeberin keine Einheitlichkeit der sozialpädagogischen Forschung. Der zweite Teil des Buches greift in seinem ersten Unterkapitel die Forschungsfelder der sozialpädagogischen Institutionenforschung auf und bringt hier vor allem eine systemische Sicht von Organisation und Struktur der untersuchten Institutionen ein. Das zweite Unterkapitel rückt die professionellen Akteure und Akteurinnen in den Blick; das dritte die Adressaten und Adressatinnen der Sozialen Arbeit. Das vierte Unterkapitel ergänzt die drei oben genannten Felder um die in der Sozialen Arbeit notwendige Prozessorientierung, indem hier Prozess- und Evaluationsforschung jedoch mit einem Akzent auf den qualitativen Verfahren beschrieben werden. [3]
3. Sozialpädagogik und qualitative Forschung: theoretische und methodologische Grundfragen
3.1 Biographieorientierter Ansatz
Andreas HANSES versucht in seinem Beitrag Biographie und sozialpädagogische Forschung (S.19-42) den Grundrhythmus sozialpädagogischer Forschung zu rekonstruieren und arbeitet am Konzept der Biographie den Zusammenhang von Subjekt und Struktur, die Bedeutung des Körpers und des Leibes, die Relevanz von Prozess- und Leidensstrukturen institutioneller und professioneller Interaktionsordnung heraus. Dabei legt er Wert darauf, dass die Biographie eines Menschen erzählte Wirklichkeit und damit eine soziale Wissensform und damit soziale Konstruktion sei (siehe dazu auch ALHEIT & DAUSIEN 1999; HOERNING & ALHEIT 2000, S.152ff.). Auch wenn dieser Ansatz des erzählenden subjektiven Strukturierens einen hohen Überzeugungswert hat, so liegt die hermeneutische Gefahr beim Interpretierenden auf der Hand, dass es zur Eisegesis (Hineinlegung von Interpretamenten) statt zur Exegese (Auslegung von Texten) kommt; der Interpret also einen hermeneutischen Zirkelschluss vollführt und der erlebten Interaktionsgeschichte in der Interviewsituation unterliegt. HANSES macht selbst im Rückgriff auf BOURDIEU (1997a, 1997b, gemeinsam mit ACCARDO 1997) auf dieses Problem aufmerksam, denn hinter dem Konkreten und Einmaligen der Lebensgeschichte eines Menschen lauern soziale Sinnzusammenhänge und Bedeutungen, über die sich der Interpretierende Rechenschaft geben muss: "Bei allen sozialen Anpassungsprozessen ist gleichzeitig ein offener Horizont, ein nicht zu prognostizierender Rahmen gesetzt, der abhängig von biographischen Dispositionen konzipiert wird" (S.28). [4]
Voraussetzung für soziale Interaktionen und Ordnungen sind die Körper der Interagierenden. An dieser Stelle macht sich jedoch m.E. ein Defizit breit: es wird zu sehr die angloamerikanische soziologische Tradition der Körperkonzepte in Position gebracht und die europäisch-phänomenologische, z.B. nach MERLEAU-PONTY vernachlässigt, die die größere Reichweite hätte, um den Zusammenhang zwischen Biografie und Leib/Körper zu verdeutlichen. Wichtig, darauf macht HANSES aufmerksam, ist die Verschränkung von Biographie und Körper und Interaktion und subjektiven Leidensprozessen – und damit auch im Sinn von BOURDIEU Prozesse sozialer Destabilisierung – zu kennen und rekonstruieren zu können. Hier rekurriert HANSES auf das von SCHÜTZ in die Sozialwissenschaft eingeführte Konzept der so genannten Verlaufskurven. In der Biographieforschung geht es nämlich um die Rekonstruktion der so genannten Selbstsozialisation, d.h. um die tatsächliche Aneignungsleistung des Individuums auf dem Hintergrund des spezifischen sozialen Kontextes. [5]
3.2 Rekonstruktive Forschungsansätze
Werner THOLEs Aufsatz Wir lassen uns unsere Weltsicht nicht verwirren (S.43-65) kreist um die Fragen der Qualitätsstandards und der Qualitätssicherung von rekonstruktiven qualitativen Forschungszugängen. Er behauptet eine Theorie der reflexiven Modernisierung, auf die sich das Projekt der Sozialpädagogik (Theorie, Praxis, Ausbildung und Forschung) aber auch die sozialpädagogische Forschung im Einzelnen einzustellen habe. THOLE will nicht nur Importforschung in den Bereich der Sozialpädagogik, also humanwissenschaftliche Forschung, sondern Forschung, die aus dem Theorie- und Erkenntnisbedürfnis der Sozialpädagogik selbst entspringt und sich auf grundlegende sozialpädagogische Problemkonstellationen bezieht und von professionellen Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen durchgeführt wird:
"Als sozialpädagogische Forschung ist letztlich jene Forschung zu bezeichnen, die im Kern allgemeine, möglicherweise auch von anderen Disziplinen zu beobachtende Fragestellungen über die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gesellschaftlicher Bereiche und Spektren um einen der Sozialpädagogik eigenen, typischen, 'sozialpädagogischen Blick' anreichert …" (S.49). [6]
Sozialpädagogische Forschung, so THOLE, verknüpfe also unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven, die sich auf das Feld, die Institutionen, die agierenden Individuen usw. beziehen. Der Unterschied zwischen sozialpädagogischer Forschung und sonstiger pädagogischer oder humanwissenschaftlicher Forschung liegt in der Rekonstruktion von Wirklichkeit, die eine präzise, faktenorientierte Hermeneutik voraussetze, die sich an der Dynamik von Prozessen orientiert. [7]
Hans-Jürgen von WENSIERSKIs Beitrag Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses (S.67-90) ist dem Verhältnis von Forschung – Theoriebildung – Praxis gewidmet, insbesondere dem Problem wissenschaftlicher und handlungsorientierter Strukturlogik. Forschung und Praxis berühren sich, so von WENSIERSKI, vor allem in einem intermediären Feld, das besondere Kommunikationsprobleme zwischen Forschung und Praxis aufwerfe. Er markiert, dass sich Soziale Arbeit als Wissenschaftssystem und als Handlungssystem kaum unter eine einheitliche Theorie fassen lasse, weil sich Gesellschaft immer weiter ausdifferenziere und das Problem gesellschaftlicher Gerechtigkeit immer komplexer werde. Deswegen geht es ihm in erster Linie um eine rekonstruktive Sozialpädagogik und deren Konstitutionsbedingungen:
"Der Begriff der Rekonstruktiven Sozialpädagogik zielt auf dem Zusammenhang all jener methodischen Bemühungen im Bereich der Sozialen Arbeit, denen es um das Verstehen und die Interpretation der Wirklichkeit als einer von handelnden Subjekten sinnhaft konstruierten und intersubjektiv vermittelten Wirklichkeit geht" (von WENSIERSKI & JAKOB 1997, S.9). [8]
Das Problem, das sich den Forschenden in der Sozialpädagogik auftut, gilt der Frage nach Innen- und Außensicht erfahrener, wahrgenommener, reflektierter, interpretierter Wirklichkeit, wobei die empirische von der tatsächlichen sozialen Wirklichkeit mit ihren vielfältigen Interaktionen zu unterscheiden bliebe. Von WENSIERSKI betont dabei m.E. richtig, dass Forschung "nur" an die Rekonstruktion der Konstitutionsbedingungen sozialer Wirklichkeit heranreiche:
"Die empirische Wirklichkeit der Sozialen Arbeit gilt in dieser Perspektive als soziale Welt, deren Strukturen wesentlich durch die Konstruktionen der in ihr handelnden Menschen bestimmt sind. Rekonstruiert werden also die strukturellen Voraussetzungen, die Verfahren, die Regeln und die Konstitutionsbedingungen, mit denen die Menschen als Akteure in sozialen Situationen und Interaktionen Wirklichkeit herstellen und behaupten" (S.72). [9]
Hans-Jürgen von WENSIERSKI behauptet, dass diese Art von Rekonstruktion die verschiedenen Systeme und Sozialstrukturen nicht nur transparenter, sondern überhaupt vergleichbar mache. Am Beispiel der Praxisforschung diskutiert er dann das Konzept der so genannten "angewandten Wissenschaft", wobei er zuallererst den Begriff der Praxis problematisiert (S.83). Unscharf bleibt dabei jedoch die von ihm selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen rekonstruierter Wirklichkeit aufgrund empirischer Daten und die Erfahrung der sozialen Wirklichkeit durch die Handelnden. [10]
4. Qualitative Verfahren in sozialpädagogischen Forschungsfeldern
4.1 Sozialpädagogische Institutionenforschung
Das Problem der Praxis als Forschungsgegenstand beschäftigt auch Thomas KLATEZKI, der soziale Systeme als überindividuelle Realität und als Träger von Sinn und Bedeutung versteht und dieses Verständnis in seinen Beitrag (Skripts in Organisationen. Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen für die Artikulation des kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste; S.93-118) zur Institutionenforschung einbringt. Er untersucht dabei die Alltagsroutinen und das Organisationswissen von sozialen Institutionen und postuliert mit dieser Herangehensweise die Überwindung eines bisher dualistischen Forschungszugangs zu sozialen Institutionen. Er rekonstruiert auf diesem Weg so genanntes Skript- bzw. Rezeptwissen, das Handlungen und Routinen anleitet, organisiert, ermöglicht und das Verstehen von Situationen erleichtert: "Skripts werden in einer praxistheoretischen Perspektive als kollektive Wissensschemata aufgefasst, und zwar in dem Sinne, dass diese Perspektive sich für diejenigen konzeptuellen Strukturen interessiert, die einer Anzahl von Institutionen gemeinsam sind." (S.99) [11]
Routinen und Alltagshandlungen sind dementsprechend für KLATEZKI Habitualisierungen bzw. sich wiederholende Verhaltensweisen, was den Kern von Institutionen bedeutet. Soziale Einrichtungen verfügen als Praxis also über eine Doppelstruktur: Verhaltensroutinen und schematische Wissensbestände. Beides verfüge, so der Autor über eine narrative Grundstruktur, die sich erforschen lässt (vgl. dazu auch aktuell: KLATEZKI & TACKE 2005). [12]
Eric van SANTEN und Mike SECKINGER beschäftigen sich in ihrem Beitrag Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine qualitative Feldstudie (S.119-114) mit der Ethnographie von Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe und untersuchen die Kooperationsbedingungen und -zusammenhänge in diesem Handlungsfeld. Ihnen geht es jedoch nicht in erster Linie um die Perspektive der AkteurInnen, sondern um "Funktionalität von Strukturen, Prozessen und Handlungsabläufen für den Kooperationszusammenhang selbst" (S.121). Bedeutsam in der Untersuchung sind die Ergebnisse über Kooperationsmotivationen, über Qualifikation der Praxis durch Kooperation usw., aber nur dann – so van SANTEN und Mike SECKINGER – wenn über Kooperation selbst reflektiert werde und Kooperationseffekte auch tatsächlich evaluiert würden. Wichtig sei zudem, dass das Selbstverständnis der Kooperationspartner geklärt werde und dass in den Kooperationsprozess ständig Rückkopplungen und Reflexion über den Ressourceneinsatz der Partner eingebaut seien. Die beiden Autoren denken zudem über den Faktor Zeit nach, der in vielen Untersuchungen unterschätzt wird, denn um gelingende Kooperation aufzubauen, bedarf es vor allem an Zeit. Oft genug scheitern jedoch auch gut gemeinte Kooperationsprojekte daran, dass die Kooperationspartner eben diesen Faktor unterschätzen. Kooperationsprozesse sind äußerst intensive Formen der Interaktion, die eine vorbereitete Beziehungsarbeit und kommunikative Feinarbeit zwischen kooperierenden Partnern voraussetzt. [13]
4.2 Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik
Die Herausgeberin Cornelia SCHWEPPE beschäftigt sich in ihrem eigenen Beitrag Wie handeln SozialpädagogInnen? (S.145-165) mit der Professionalisierungsdiskussion innerhalb der Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit. Sie benutzt dazu Fallrekonstruktionen anhand narrativer leitfadengestützer Interviews, in denen die Sicht der handelnden SozialpädagogInnen rekonstruiert wird. SCHWEPPE nutzt diese Sicht Agierender kritisch und hält die Differenz zwischen den idealen professionellen Standards der Sozialarbeitswissenschaft und der davon z.T. beträchtlich abweichenden tatsächlichen Praxis offen. Besonders werden Bevormundung, Standardisierung und Orientierung an unreflektierten Allgemeinplätzen den PraktikerInnen wie ein Spiegel vor Augen gehalten. [14]
Klaus KRAIMER betont in seinem Beitrag Zwischen Disziplin und Profession. Ein Beitrag zur fallrekonstruktiven Erforschung der professionalisierten Praxis am Beispiel der "Hilfen zur Erziehung" (S.167-183) die Wichtigkeit der "Verinnerlichung theoretischer Wissensbestände und professionstheoretischer Ideale für eine gelingende sozialpädagogische Praxis" (S.167). Sein Augenmerk gilt dabei besonders der so genannten Habitusbildung, wobei der Begriff "Habitus" verinnerlichte Wahrnehmungs- und Handlungsmodi umfasst (S.171, Anm.2). KRAIMER dringt darauf, dass aus Gründen der genannten Habitusbildung "Hilfen zur Erziehung" auch theoretisch reflektiert werden müssen, um zu einer engagierten Praxis gelangen zu können. Hier werden institutionelle Ausgestaltungen des Feldes "Hilfen zur Erziehung" mit den professionellen Perspektiven der in diesem Feld Agierenden verknüpft, wobei er die zunehmende Bürokratisierung der Institutionen und gleichzeitige Deformation bei der Ausgestaltung von Maßnahmen kritisiert. KRAIMER fordert: "An die Stelle der bürokratischen Kontrolle hat die professionelle Selbstkontrolle zu treten, da sich die spezifischen Leistungen von Professionen […] weder durch den Markt noch administrativ kontrollieren lassen" (S.180). [15]
Im Vordergrund der Betrachtungen Eberhard NÖLKEs (Klinische Sozialarbeit. Annäherungen mittels qualitativer Forschung; S.185-206) steht die Ausdifferenzierung Sozialer Arbeit; deshalb operiert Soziale Arbeit heutzutage in mehreren Funktionssystemen gleichzeitig und hierzu gehört auch die Soziale Arbeit im Gesundheits- und Rehabilitationswesen. Im Zentrum seines Beitrages stehen zwei Fallanalysen, die die Netz- und Brückenstruktur der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen verdeutlichen. NÖLKE betont, dass Methoden, vor allem der qualitativen und rekonstruktiven Sozialforschung, hilfreich sein und den Blick auf die institutionenspezifische Soziale Arbeit im Klinikbereich fokussieren helfen können:
"Als Vermittler zwischen einer noch nicht etablierten Teildisziplin und der leidvollen Lebenspraxis ihrer KlientInnen werden klinische SozialarbeiterInnen mit unaufhebbaren Paradoxien, aber auch mit aufhebbaren Widersprüchen konfrontiert, die sich aus den zentralen Aufgabenstellungen und zu bearbeitenden Kernproblemen der Versorgung, Behandlung und Betreuung in den unterschiedlichen klinischen Handlungsfeldern speisen" (NÖLKE, S.203). [16]
Kritisch zu NÖLKE lässt sich einwenden, dass er es nicht unternimmt, qualitative Forschung mit einem systemisch-organisatorischen Ansatz zu verbinden, der für die Verhältnisse im Krankenhaus als komplexes System vieler Professionen m.E. notwendig ist (siehe hierzu vor allem das neueste Buch von Sabine ALLWINN und Christoph SCHNEIDER-HARPPRECHT, 2004). [17]
Karin BOCKs Beitrag Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten (S.207-224) ist besonders auffällig, weil hier wohl zum ersten Mal Erleidensprozesse im professionellen Handeln von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen in der deutschen Forschung thematisiert werden. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind dabei in der besonderen Situation, dass sie nicht nur selbst bestimmte Erfahrungen durchleiden, sondern ihrerseits selbst bestimmten Klienteln Hilfe anbieten müssen. Methodisch erwähnenswert sind die biografischen Verlaufskurven, die die Dynamik persönlicher Krisen, das Zusammenbrechen von Alltags- und professionellen Handlungsroutinen usw. markieren. Die Verlaufskurvendynamik setzt einen bestimmten Rahmen voraus, der sich allmählich im Lauf einer Biografie aufbaut. Die Autorin bezieht sich vor allem auf das Phasenkonzept von SCHÜTZE (1999). Sie rekonstruiert auf diesem Hintergrund bestimmte typische Eigenschaften dieses Modells und wendet diesen Forschungszugang auf 15 Lebensgeschichten von "Profis" an. [18]
Adrienne S. CHAMBON (Socially committed discourse analysis and social work practice, S.225-243) verwendet im Rückbezug auf DERRIDA (1996) und FOUCAULT (1990) und eigene Werke (1994) die Diskursanalyse für besonders dafür ausgewählte Praxisfelder Sozialer Arbeit. Der Forschungszugang fängt bei der Analyse einfacher Kommunikation zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn an und CHAMBON versucht dabei die Tendenzen, Bedingungen, Modi und Herkunft dieser speziellen Kommunikation zu rekonstruieren und damit auch die entsprechenden Beziehungsdefinitionen und Herrschafts- und Machtstrukturen, die bislang nur sehr selten in der Sozialen Arbeit reflektiert wurden. [19]
4.3 Sozialpädagogische Adressatenforschung
Hansjörg SUTTER (Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen in einem demokratisierten Vollzug, S.245-277) greift in seiner Rekonstruktion sozialer und moralischer Lern- und Entwicklungsprozesse auf das Modell der objektiven Hermeneutik (OEVERMANN 1993) zurück, das die Regeln, Normen und Wissenssysteme, denen in der Sozialen Arbeit Handelnde implizit oder explizit folgen, verstehen und rekonstruieren will. Die entwicklungspsychologischen Linien des Autors folgen dabei – durchaus in kritischer Distanz – den Modellen PIAGETs (1986), KOHLBERGs (1986) sowie SELMANs (1984). Entwicklung versteht SUTTER im Theorieparadigma eines "Interaktiven Konstruktivismus", wobei kognitive Veränderungen in der permanenten Interaktion zwischen Individuum und Umwelt zu verorten wären. Er will in seinem Aufsatz die Wechselwirkung zwischen "sozialer Strukturierung des Erfahrungsangebotes" und "individueller Handlungs- und Erfahrungsstrukturierung" untersuchen und bedient sich dabei des pädagogischen Modells "Demokratischer Gemeinschaften" (Just Community), die zum Ziel haben, sozial-kognitive und sozial-moralische Lernprozesse unter den Mitgliedern dieser Gemeinschaften zu fördern und zu implementieren. Am Beispiel von Alltagsszenen im demokratisierten Jugendstrafvollzug verdeutlicht SUTTER, dass in diesen durchaus Chancen für Soziales Lernen und Soziale Entwicklung verborgen sind. [20]
In dem Beitrag von Bernhard HAUPERT (Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren zur Rekonstruktion von Deutungsmustern. Eine Fallstudie über "Familiengeheimnisse" im Bergarbeitermilieu, S.279-303) geht es um die intergenerationelle Weitergabe familialer Deutungsmuster, die zu einer Interpretation des Verhaltens Betroffener eines so genannten "Sozialen Brennpunktes" führen. Fokus ist also die Adressatenforschung im eigentlichen Sinn. Bestimmte Milieus geben bestimmte Deutungsmuster weiter, was in den beschriebenen Fällen auch zu einem Verharren in sozialen Notlagen und zu Blockaden gegenüber Unterstützungssystemen und zu einer Verminderung der Selbsttätigkeit und Selbsthilfe führt. HAUPTERT spricht damit ein Feld sozialer Praxis an, das – soweit ich das sehe – noch lange nicht genügend erforscht ist: Es geht um den Widerspruch der Klienten und Klientinnen gegen nicht selbst bestimmte, aber von professionellen Sozialarbeitern und -arbeiterinnen vorgeschlagenen, manchmal auch heteronom durchgesetzten sozialen Praxis. [21]
4.4 Sozialpädagogische Evaluationsforschung
Christian LÜDERS und Karin HAUBRICH versuchen zu klären, was methodologisch unter "Qualitative Evaluationsforschung" (S.305-330) zu verstehen, denn der Begriff "Evaluation" ist seinerseits in der Forschungspraxis mehr oder weniger unbestimmt. Sie definieren Evaluation deshalb folgendermaßen: "Evaluation beinhaltet eine Vielzahl von Konzepten und Strategien, um Verfahren, Maßnahmen, Programme und Organisationen bzw. Institutionen etc. zu beschreiben und zu bewerten" (S.309). In dieser relativen Offenheit definieren LÜDERS und HAUBRICH dann auch Evaluationsforschung: "Unter Evaluationsforschung fassen wir dabei diejenigen Evaluationen, die sozialwissenschaftliche Forschungsverfahren als Mittel der Erkenntnisgewinnung einsetzen und sich an Standards der empirischen Sozialforschung orientieren" (S.309). [22]
Wenn man die beiden Definitionsversuche zusammenfasst, dann bedeutet Evaluationsforschung m.E. ein Methodenmix, der eine Vielzahl von Wirklichkeitsdimensionen beleuchtet und der gleichzeitig nicht von den Standards und Gütekriterien qualitativer Sozialforschung abweicht. Aber: "Qualitative Evaluationsforschung ist eine Forschungspraxis, die sich derzeit größter fachöffentlicher und politisch-administrativer Beliebtheit erfreut, die aber bislang wenig über sich selbst, ihre Voraussetzungen, ihre Möglichkeiten und Grenzen weiß." (S.326) – Ein Schuft, wer sich dabei was denkt! [23]
Auch der letzte Beitrag in diesem Buch Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen von Stephan WOLFF und Thomas SCHEFFER (S.331-351) widmet sich der sozialpädagogischen Evaluationsforschung und weist im Unterschied zum voran gegangenen Beitrag Qualitative Evaluationsforschung als eigenständigen Forschungstyp aus, der im Wesentlichen um das Kernelement "Prozessgeschehen" kreist, wobei es nicht nur um die Bewertung von Güte und um die Wirksamkeit sozialer Maßnahmen geht, sondern schon im Vorfeld um die Entwicklung von Gütekriterien für beabsichtigte Maßnahmen. Weiter bezieht sich Qualitative Evaluationsforschung auch auf den Prozess der Evaluation selbst, in dem der Fokus auf der Kommunikation aller Beteiligten liegt. Hier liegen dann aber auch m.E. die Grenzen dieses Ansatzes, denn Qualitative Evaluationsforschung reicht allein nicht aus, um Lernprozesse etwa innerhalb einer Organisation zu fördern, weil sich die Evaluation z.B. nicht in der Hierarchieebene einer Organisation oder Institution befindet und dementsprechend auch nicht über Machtmittel verfügt, bestimmte Umgestaltungsprozesse zu initiieren. Zudem ist ein Zusammenspiel zwischen Evaluation und Organisation keineswegs selbstverständlich. [24]
Cornelia SCHWEPPE hat den ersten Schritt mit der Zusammenstellung vieler Methoden innerhalb sozialpädagogischer Forschung hin auf einen interdisziplinären Diskurs getan, was sehr begrüßenswert ist. Viele Methoden, wie etwa qualitative Interviews, sind, was z.B. die klassischen Gütekriterien angeht wie Validität, Güte, Reliabilität, schon sehr weit ausdifferenziert.1) Andere qualitativ-empirische Methoden wie z.B. die Qualitative Evaluationsforschung bewegen sich – wie ich anzudeuten versucht habe – noch im begrifflichen und methodologischen Dschungel der Unübersichtlichkeit. Hier gilt insgesamt, Triangulation oder Methodenmix selbst als wissenschaftstheoretisches und methodologisches Problem zu begreifen. Zudem ist zu beachten, dass Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Sozialpädagogik selbst eigenständige Disziplinen der Erziehungswissenschaft sind und nicht mit benachbarten Disziplinen, wie z.B. Soziologie oder Psychologie, identifiziert werden sollen. Weiter gilt, dass es grundsätzlich in der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik auch um Fragen gesellschaftlicher Gleichberechtigung und Partizipation an gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen, um soziale Gerechtigkeit für Individuen in allen Lebenslagen oder für Gruppen geht, denen der Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Ressourcen nur unzureichend möglich oder gar verwehrt ist. Deshalb geschieht sozialpädagogische Forschung nicht nur aus Selbstzweck, sondern aus einem bestimmten politischen Interesse heraus. Grundlagenforschung in der Sozialpädagogik hat auch immer den Impetus sozialer Gerechtigkeit in sich zu tragen. [25]
1) An dieser Stelle will ich auf weitere Skills und Kriterien der Geltungsbegründung in der Qualitativen Sozialforschung nur hinweisen, die ich hier jedoch aus Platzgründen nicht weiter aufgreifen kann. In FQS findet seit 2000 eine Debatte über Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung wie reflektierte Subjektivität des Verstehens, subjektive Situationsdeutungen oder Änderung der Situation aufgrund der Interviewsituation usw. statt. Besondere Beachtung müsste m.E. das hermeneutisch-konstruktive Vorverständnis des Forschenden finden, das in der Reflexion zuallererst dekonstruiert werden müsste, weil vorab angenommene Objektivität einem Ideologieverdacht ausgesetzt ist. Zur Diskussion innerhalb von FQS siehe beispielhaft REICHERTZ (2000), BREUER (2000) sowie MRUCK und BREUER (2003) und auch BREUER (1996). <zurück>
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Wilhelm SCHWENDEMANN ist Professor für Evangelische Theologie und Religionsdidaktik/Religionspädagogik mit Schwerpunkt empirischer Religionspädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg – Hochschule für Soziale Arbeit, Diakonie und Religionspädagogik, Dep. II (Religionspädagogik). In FQS finden sich weitere Besprechungen von Wilhelm SCHWENDEMANN zu Auf den Trümmern der Geschichte: Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Bauman (hrsg. von Harald WELZER) und Gespräche analysieren (von Arnulf DEPPERMANN).
Kontakt:
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Evangelische Fachhochschule Freiburg
Buggingerstr. 38
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Schwendemann, Wilhelm (2005). Rezension: Cornelia Schweppe (Hrsg.) (2003). Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(2), Art. 8, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs060283.