Volume 1, No. 1, Art. 26 – Januar 2000
Zur Nutzung von Inhaltsanalysen und Interviews in der pädagogisch-psychologischen Forschung – ein empirisches Beispiel1)
Robert B. Faux
Zusammenfassung: Psychologie hat im Allgemeinen, ebenso wie die Pädagogische Psychologie im Besonderen, ihre Methoden von den positivistischen Wissenschaften übernommen. Zumeist wird ein experimentelles Forschungsdesign und werden statistische Signifikanztests präferiert. Gleichwohl nutzt eine wachsende Zahl an Psycholog(inn)en qualitative Forschungsverfahren. Hierzu gehören in der Pädagogischen Psychologie Ethnografien von Schulklassen, in der Kognitiven Psychologie Inhaltsanalysen der verbalen oder geschriebenen Reaktionen zu Problemlöseaufgaben usw.
In diesem Beitrag sollen Möglichkeiten der Anwendung der Inhaltsanalyse und von teilstrukturierten Interviews in der pädagogisch-psychologischen Forschung vorgestellt werden. Mittels der hier vorgestellten Studie sollte herausgefunden werden, wie Studierende ihr in der universitären Lehre erworbenes Wissen auf Fallstudien anwenden, die z.B. Probleme im Klassenraum oder die mangelnde Motivation von Studierenden thematisieren, und wie sie prinzipieller den Einsatz von Fallstudien als Lehrmittel einschätzen. Dazu wurden Inhaltsanalysen schriftlicher Antworten der Studierenden auf Fallbeispiele durchgeführt und zusätzlich individuelle Interviews geführt.
Keywords: Inhaltsanalyse, Unterricht, Fallstudie, Interview, Pädagogische Psychologie
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Ziele der Studie
3. Fallstudien
4. Selbst reguliertes Lernen
5. Design und Datenerhebung
6. Datenauswertung
7. Ergebnisse
8. Diskussion
In der psychologischen Forschung angewandte Methoden sind meist den positivistischen Wissenschaften entliehen. Entsprechend bilden experimentelle Methoden und Signifikanztests das Herzstück des Methodenvorrats von Psycholog(inn)en. Die Anwendung solcher Methoden hat in der Psychologie eine lange Tradition. Einige Psycholog(inn)en greifen allerdings mittlerweile auch auf qualitative Forschungsmethoden wie bspw. Ethnografien und Interviews zurück, die eine reichhaltige Beschreibung der beforschten Phänomene ermöglichen. [1]
Die hier vorgestellte Studie verfolgte drei Ziele. Erstens sollten von Studierenden verfasste schriftliche Auswertungen von Fallanalysen dahingehend untersucht werden, wie diese ihr in Lehrveranstaltungen und durch Fachbücher angeeignetes Wissen zur Lösung der in den Fallstudien präsentierten Dilemmata anwendeten. Zweitens sollten die Einstellungen der Studierenden zur Effektivität von Fallstudien als Unterrichtsmittel herausgearbeitet werden. Drittens ging es mir um die Frage, inwieweit die Beschäftigung mit den Fallstudien den Grad der Selbstregulation der Studierenden beeinflusste. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse wurden im Rahmen eines pädagogisch-psychologischen Seminars gewonnen [2]
Im Rahmen der universitären Lehre eingesetzt, sollten schriftliche Auswertungen von Fallstudien als Ausgangsmaterial für die Studie zunächst dazu dienen, studentische Wissensanwendungsprozesse zu beschreiben und einzuordnen. Die Fallstudien führten den Studierenden reale Problemsituationen vor, mit denen Praktiker(innen) der eigenen Disziplin konfrontiert werden: Anders als Multiple-Choice-Tests und andere objektive Maße ermöglichen Fallstudien es den Studierenden also, ihr Wissen auf Situationen anzuwenden, die im Rahmen der Disziplin, die sie studieren, in praxi auftreten. [3]
Fallstudien sind in ihrer Struktur narrativ und meist mehrdeutig, sodass unterschiedliche Lösungswege denkbar sind. Somit können die von den Studierenden verfassten Analysen darüber Auskunft geben, ob sie ihr Wissen, das sie aus Lehrveranstaltungen und Fachbüchern beziehen, verstehend durchdringen und ob sie es in der konkreten (Forschungs-) Arbeit anwenden können. Ist Letzteres der Fall, so interessiert, in welchem Ausmaß sie dies tun: Versuchen sie nur wiederzugeben, was in Lehrbüchern steht oder von Dozent(inn)en gesagt wird, oder wenden sie die vermittelten Konzepte in kreativer und einfühlender Weise an und legen so ein fundiertes Verständnis derselben an den Tag? Die schriftlich niedergelegten Problemlösungswege der Studierenden wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. [4]
Damit Fallstudien im Unterricht effektiv eingesetzt werden können, benötigen Studierende entsprechendes Hintergrundwissen, sie müssen den erforderlichen Arbeitsaufwand über die Zeit erbringen (wollen), und sie müssen ihr Lernen selbst regulieren (BLUMENFELD, SOLSWAY, MARX, KRAJCIK, GUZDIAL & PALINSCAR 1991). Nach ERTMER, NEWBY und MacDOUGALL (1996) kommen diese allgemeinen Charakteristika besonders in Lernsettings zum Tragen, in denen auf Fälle zurückgegriffen wird, die Studierende "mit komplexen und mehrdeutigen Lernaufgaben" (S.721) konfrontieren. ERTMER et al. weisen zusätzlich darauf hin, dass die Reaktionen der Studierenden bei dieser Unterrichtsform von deren Selbstregulation abhängen. ZIMMERMAN (1994, S.3) definiert Selbstregulation als "das Ausmaß, in dem Individuen eigene Lernprozesse in metakognitiver, motivationaler und behavioraler Hinsicht selbst aktiv gestalten". [5]
ERTMER et al. (1996) haben die Zusammenhänge zwischen fallorientierter Lehre und dem Grad der Selbstregulation von Studierenden genauer herausgearbeitet. Hiernach sind Studierende mit hoher Selbstregulation, die nicht oder wenig mit den an sie herangetragenen Inhalten (beispielsweise im Bereich der Pädagogischen Psychologie) oder mit der Lehrmethodik (wie z.B. dem Einsatz von Fallanalysen) vertraut sind, in ihrer akademischen Karriere erfolgreich, weil sie konsequent und ausdauernd effektive Lernstrategien anwenden. Studierende mit niedriger Selbstregulation sind weniger erfolgreich, weil sie seltener bzw. weniger effektiv Lernstrategien z.B. der Metakognition oder Elaboration anwenden. Hiervon ausgehend haben ERTMER et al. vorgeschlagen, den Einsatz fallbasierter Lehr- und Lernstrategien im universitären Unterricht genauer zu untersuchen für Studierende, deren Selbstregulation als hoch bzw. niedrig eingestuft wurde, um so "Bedingungen und Strategien identifizieren zu können, die einer Erhöhung der Performanz aller Studierenden in einem mit Einzelfällen operierenden Lernsetting zuträglich sind" (S.721). [6]
Deshalb sollten die Niederschriften der Studierenden zu den präsentierten Einzelfällen zunächst inhaltsanalytisch dahingehend ausgewertet werden, wie Studierende mit hoher oder niedriger Selbstregulation an die Einzelfälle herangingen. Erwartet wurde, dass Studierende mit hoher Selbstregulation – im Unterschied zu Studierenden mit niedriger Selbstregulation – ihr Wissen auf kreative Art anwenden und sich nicht von der den meisten Fallstudien inhärenten Mehrdeutigkeit abschrecken lassen würden. Zudem wurde angenommen, dass Studierende mit hoher Selbstregulation auf fundierte Weise mit Theorien umgehen würden, das heißt sie würden Theorien, von der sie durch ein Lehrbuch oder in einer Vorlesung erfahren haben, eher als "Werkzeug" anwenden, um ein in einer Fallstudie geschildertes Problem möglichst effektiv anzugehen: So könnte beispielsweise ein Student oder eine Studentin mit hoher Selbstregulation nach dem Lesen und Reflektieren eines Falles entscheiden, dass behavioristische Ansätze helfen könnten, das infrage stehende Problem zu lösen; er oder sie würde also z.B. Konzepte der positiven Verstärkung oder der Bestrafung konkret heranziehen. Studierende mit niedriger Selbstregulation hingegen würden zwar möglicherweise bemerken, dass eine in der Fallstudie aufgeworfene Thematik mit Theoremen der behavioristischen Psychologie in Verbindung gebracht werden kann, dann aber einfach Konzepte wie Verstärkung und Bestrafung auflisten, ohne zu zeigen, wie sie konkret für die Problemlösung zum Einsatz kommen könnten. [7]
RIDLEY (1991) nimmt an, dass die Selbstregulation auf einem Kontinuum abgebildet werden kann zwischen den Polen unreflektiertes und weitgehend automatisches Verhalten einerseits und reflektiertes und intentionales Verhalten andererseits. Studierende, deren Selbstregulation dem unteren Ende des Kontinuums zugeordnet wird, reagieren hiernach "auf die [Lehr-] Situation mit ungeprüften und gewohnheitsmäßigen Gedanken" (S.33). Die Unterscheidung zwischen niedriger und hoher Selbstregulation einerseits und die Komplexität und Ambiguität von Fallstudien, die einen Rückgriff auf vorgängige Erfahrungen erforderlich machen anderseits vorausgesetzt stellt sich die Frage, inwieweit sich Studierende, deren Selbstregulation als hoch vs. niedrig eingestuft wurde, in Bezug auf die Anwendung von Wissen unterscheiden: Suchen sie intentional und reflektiert nach Lösungen für die in Einzelfallbeispielen präsentierten Probleme oder tendieren sie zu einer eher automatischen und unreflektierten Herangehensweise? [8]
Die vorliegende Studie war in der Pädagogischen Psychologie angesiedelt wegen der in dieser Subdisziplin explizit bestehenden Verbindung zwischen Theorie und Praxis: Viele, wenn nicht sogar die meisten pädagogisch-psychologischen Theorien nehmen praktische Themen des Lehrens und Lernens in den Blick. So wird zum Beispiel das psychologische Konzept des Operanten Konditionierens (verstärkendes oder belohnendes Verhalten) direkt auf reale Situationen im Klassenraum angewendet, beispielsweise auf den Umgang mit "Fehlverhalten" von Studierenden. [9]
Achtunddreißig Student(inn)en, die sich in ein Seminar zur Einführung in die Pädagogische Psychologie eingeschrieben hatten, wurden gefragt, ob sie an der Studie teilnehmen wollten. Ich war als Forscher zugleich Dozent dieses Kurses, der einmal wöchentlich stattfand und als Überblick über verschiedene psychologische Theorien und deren Nutzen für pädagogische Problemstellungen konzipiert war. Aus der Gruppe der 38 Studierenden wurden sechs ausgewählt, deren Fallanalysen untersucht und die zusätzlich interviewt werden sollten. Diese Auswahl war vor allem pragmatisch begründet, da zwar alle Student(inn)en im Verlauf des Semesters vier Fallstudien lesen und analysieren mussten; der Einbezug aller Teilnehmenden bzw. von allen Materialien in dem für die Studie verfügbaren Zeitrahmen wäre jedoch unmöglich gewesen. Für die Auswahl der sechs Studierenden wurden die Ergebnisse des Motivated Strategies of Learning Questionnaire (MSLQ) herangezogen, der das Ausmaß der Selbstregulation einschätzt. Es wurden je drei Studierende mit einem hohen und drei mit einem niedrigen Wert im MSLQ in die weitere Untersuchung einbezogen, um zu ermitteln, ob zwischen beiden Gruppen Differenzen hinsichtlich ihrer Herangehensweisen an die Fallstudien bestanden. [10]
Während des Semesters erhielten alle Studierenden vier Fallbeispiele mit der Bitte, für deren Analyse psychologische Theorien heranzuziehen, die sie sich zuvor durch die Lektüre von Fachbüchern und/oder in der Lehrveranstaltung angeeignet hatten. Die gewählten Einzelfälle waren bereits vorliegenden Fallstudien entnommen und behandelten Themen aus der Kognitiven Psychologie, aus sozialen Lerntheorien, Motivationstheorien und aus dem Behaviorismus, theoretische Bezugspunkte, die dem Kurslehrplan entnommen waren. In den ersten drei Fallbeispielen ging es um Lehrmethoden, um geringes Selbstwertgefühl bei Kindern und um Lernmotivation. Der vierte Fall bezog sich nicht auf den Lehr- und Lernstoff des Seminars, sondern er sollte überprüfen helfen, ob die Studierenden ihr Wissen auf eine konkrete Situation übertragen würden bzw. konnten. [11]
Als Forscher musste ich mit der Aufgabenstellung zu jeder Fallstudie eine Entscheidung treffen: Studierende wollen oft wissen, was sie zu tun haben, was von ihnen erwartet wird. Im Falle sehr enger Instruktionen wäre es wahrscheinlich, dass sie diesen ohne weiteres Nachdenken zu folgen versuchen würden. Da mich aber interessierte, wie die Studierenden ihr Wissen spontan anwenden, hielt ich die Instruktionen bewusst möglichst vage, um ihre Antworten nicht unnötig einzuschränken. Den Studierenden wurde zudem gesagt, dass sie ihre Mitschriften, Lehrbücher und sonstige Materialien, die ihnen für die Bearbeitung der Fälle wichtig schienen, nutzen könnten, wenn sie dies für nötig hielten. [12]
Alle Studierenden erhielten zur dritten Fallstudie ein Feedback in Form einer Zensur und schriftlicher Kommentare zu ihren Auswertungen, in denen sie bspw. auf falsche Verwendungen theoretischer Konzepte hingewiesen wurden und die Vorschläge dazu enthielten, wie die nächste Fallanalyse verbessert werden könnte. [13]
Nach Abschluss der Arbeiten am 3. Fallbeispiel führte ich mit den sechs ausgewählten Studierenden teilstrukturierte Interviews durch mit dem Ziel, ihre Haltungen in Bezug auf die Effektivität des Einsatzes von Fallstudien im Rahmen der Lehre im Fach Pädagogische Psychologie zu ermitteln. Die Studierenden wurden nach ihrer Meinung zum Einsatz von Fallstudien als Unterrichtsmittel gefragt und danach, ob diese zu einer effektiven Aneignung von Theorien beitrugen. Die Interviews wurden mit Einverständnis der Studierenden auf Tonband aufgezeichnet. [14]
Die von den Studierenden erstellten Fallanalysen wurden mithilfe eines von mir entwickelten Kodierleitfadens inhaltsanalytisch daraufhin ausgewertet., wie sich das Wissen der Studierenden in diesen Fallanalysen manifestiert hatte. Das Konstruieren eines Kodierleitfadens erwies sich als ein besonders arbeits- und zeitintensiver Aspekt der Studie. Von ursprünglich vergebenen 36 Kodes blieben zuletzt nur fünf übrig. Im Verlauf der sukzessiven Entwicklung der Kodes am Material musste ich immer wieder auf das Ziel des Kodierens reflektieren: Sollte für alles, was die Studierenden geschrieben hatten, Kodes entwickelt oder sollte nur eine beschränkte Anzahl von Konzepten erfasst werden? Da die Kodes mit steigender Anzahl unüberschaubar wurden, war eine Reduzierung erforderlich, um den studentischen Gebrauch von Konzepten nachvollziehen zu können. Tabelle 1 enthält die Definition und Beispiele für jeden Kode. Ich gehe davon aus, dass die dort dargestellten fünf Kodes am Besten geeignet sind um zu fassen, wie die Studierenden mit den Fällen umgegangen waren. [15]
Da die einzelnen präsentierten Fallbeispiele mehr als ein Problem enthalten konnten, wurde zunächst versucht, das von den Studierenden jeweils thematisierte Problem bzw. die jeweils thematisierten Probleme zu identifizieren. Denn nur im Falle des Erkennens einer relevanten Problemstellung und von deren möglichen Konsequenzen können Studierende zu einem vernünftigen Lösungsvorschlag kommen, und in der Art der vorgeschlagenen Lösung werden auch die Beziehungen zwischen dem gegebenen Problem und der darauf angewandten Theorie sichtbar. Das Theorieverständnis und die Art der Handhabung einer Theorie werden nachvollziehbar in den Beispielen, die zur Problemanalyse herangezogen werden oder in dabei getätigten Bezugnahmen auf bestimmte Theoriebestandteile. Eine Problemstellung im Lichte einer bestimmten Theorie zu interpretieren bedeutet jedoch noch nicht, eine Theorie auch für die Problemlösung anwenden zu können, ein weiterer wichtiger Indikator für studentische Wissensaneignung und -verwendung.
Kode/Konzept |
Definition |
Beispiel |
Problemidentifikation |
Feststellen des Problems/der Probleme, die in einem Fall enthalten sind |
James stört im Mathematikunterricht. |
Konsequenzen des Problems/der Probleme |
Herausarbeiten der Konsequenzen, die aus dem identifizierten Problem/den identifizierten Problemen erwachsen können |
Schüler(innen) und Lehrer(innen) sind abgelenkt. |
Theorieanwendung |
Heranziehen von Theorie und Verbinden mit dem Problem/den Problemen |
Operantes Konditionieren: Der Lehrer lobt James, wenn er sich korrekt verhält. |
Beispiele der Theorieanwendung |
Beispiele geben, wie die herangezogene Theorie auf das Problem/die Probleme angewendet werden kann |
James wird positiv verstärkt, wenn er sich korrekt verhält. |
Ergebnisse |
Beschreiben von Indikatoren für eine (erfolgreiche) Anwendung der Theorie |
James' destruktives Verhalten wird abnehmen. |
Tabelle 1: Zur Analyse der Studierendenantworten herangezogene Konzepte [16]
Nachdem der Kodierleitfaden fertiggestellt war, wurden zwei Studenten als unabhängige Kodierer hinzugezogen. Beide Studenten und ich selbst lasen und kodierten die insgesamt 24 Fallanalysen der sechs ausgewählten Studierenden. Zuvor hatte ich die Studenten in die Nutzung des Kodierleitfadens eingewiesen, indem sie zunächst Fälle kodierten, die den im Rahmen der Forschungseinheit zu kodierenden Fällen ähnelten, ehe sie die eigentliche Kodierung vornahmen. Die dann ermittelte Interrater-Reliabilität war sehr gering – sowohl zwischen beiden Studenten und zwischen mir und jedem Studenten –, was zwei Gründe haben könnte: [17]
Zum einen hatte ich den Kurs schon oft veranstaltet und war mit Pädagogischer Psychologie und mit dem Material vertraut. Zugleich kannte ich als Dozent des beforschten Kurses eben nicht nur das Material, sondern auch die Kursteilnehmer(innen) weitaus besser als die beiden am Kodieren (aber nicht im Kurs) beteiligten Studenten: Ich hatte den Kursteilnehmer(inne)n das Material präsentiert und mit ihnen während des Semesters über 15 Wochen hinweg interagiert, was mir das Verständnis der von ihnen verfassten Fallanalysen erheblich erleichterte. Zum anderen erwies sich der zunächst herangezogene Kodierleitfaden für die Ziele der Studie als zu unhandlich: weniger Kodes hätten vielleicht zu einer besseren Reliabilität geführt. Ich entschied mich deshalb für die Begrenzung auf die oben bereits erwähnten fünf Kodes. [18]
In Anbetracht des Mangels an Übereinstimmung unter den drei kodierenden Personen nach erfolgter Kodierung aller Fallanalysen stand ich vor einer Entscheidung: Sollten alle drei Kodierergebnisse berücksichtigt werden und wie sollte ich mit den Divergenzen mit Blick auf das verfügbare Zeitbudget umgehen? Nach Beratungen mit Kolleg(inn)en entschied ich mich dafür, nur die eigenen Kodierungen für die Interpretation der Antworten der Studierenden zu nutzen: Wie bereits erwähnt, war es für mich leichter, deren Antworten angemessen zu interpretieren, da ich ihnen das Material präsentiert hatte und mit ihnen vertraut war. Dies war beispielsweise dann ersichtlich, wenn ein Student oder eine Studentin sich in einer Fallanalyse auf etwas bezog, was zuvor in der Veranstaltung diskutiert worden und wo dieser Kontext zum Verstehen der Niederschrift unerlässlich war. Zwar hätten zwei weitere Kodierer hinzugezogen werden können, die mir bezüglich der Vertrautheit mit Pädagogischer Psychologie usw. ähnlicher wären als die zuvor einbezogenen studentischen Kodierer. Aber es zeichnete sich immer mehr ab, dass es eben nicht reichte, das Material zu kennen, sondern dass die Kenntnis der Untersuchungsteilnehmer(innen) und des konkreten Untersuchungskontextes für das Verstehen unerlässlich waren. In einer quantitativ angelegten Studie hätte die niedrige Interrater-Reliabilität als Hinweis auf eine unzureichende Validität der Kodes gegolten. Vielleicht trifft dies zu. Die Entscheidung, für die weitere Analyse nur die eigene Kodierung zu nutzen, war jedoch dem Bemühen geschuldet, so gut wie irgend möglich zu verstehen, was die Studierenden geschrieben hatten. [19]
Die Konzeption der Studie sah ursprünglich vor, dass mit den Studierenden während des Semesters Interviews geführt werden sollten. Diese Überlegung beruhte auf Vorgehensweisen, die in einer ähnlichen Studie verwandt worden waren (ERTMER et al. 1996), und in denen Interviewserien darüber Aufschluss geben sollten, ob überhaupt und wie sich die Einstellungen der Studierenden zu Fallstudien als Unterrichtsmittel und ihr Umgang damit über die Zeit veränderten. Als das Semester und damit die Studie begannen, stellte sich jedoch heraus, dass Interviewtermine im Semesterverlauf fast unmöglich waren. Deshalb entschied ich, gegen Ende des Semesters individuelle Termine mit jedem/jeder der sechs ausgewählten Studierenden zu verabreden, wobei eine Passung mit dem eigenen Terminkalender und dem der Studierenden erneut schwierig, aber letztlich erfolgreich war. [20]
Das Ziel der Interviews bestand darin, einen Eindruck von den Überzeugungen und Haltungen der Studierenden gegenüber Fallstudien als Unterrichtsmitteln zu gewinnen. Hierzu wurden nach drei Einstiegsfragen während jedes Interviews Fragen gestellt a) zu Annahmen darüber, wie die Fallstudien die eigene Lernmotivation beeinflusst hatten, b) zur Gewissheit, das, was sie gelernt hatten, auch verstanden zu haben und c) zur Einschätzung der Eignung von Fallanalysen als effektiver Unterrichtsstrategie. [21]
Die in den Interviews erhobenen Daten waren für die Ziele der Studie am informativsten. Ein Problem hätte aus meiner Doppelrolle als Forscher und Dozent erwachsen können, indem die Studierenden möglicherweise nicht so aufrichtig antworteten, wie es wünschenswert gewesen wäre. Diese Sorge wurde jedoch schnell zerstreut, denn über die 15 Wochen Kursdauer hinweg war es möglich, ein Beziehungsklima herzustellen, das es den Studierenden und mir ermöglichte, offen über ihr Erleben und ihre Eindrücke in der Arbeit mit den herangezogenen Fallstudien zu sprechen. So entstand ein reichhaltiges Material für die folgende Auswertung, das weitergehende Einsichten in das gewährte, was sie über diese Lehr-/Lernstrategie tatsächlich dachten. Während beispielsweise ein Student resümierte: "Es war so, als hätte ich als armer Automechaniker plötzlich Zugang zu einem brandneuen Set … Werkzeuge gehabt… hier, nimm was du brauchst!", antwortete ein anderer Student: "Ich glaube nicht, dass Fallstudien wirklich was bringen." [22]
In diesem Abschnitt werde ich einen kurzen Überblick über die zentralen Ergebnisse der Studie geben. Diese betreffen a) Änderungen in den MSLQ-Werten der Studierenden, b) Unterschiede zwischen den einzelnen studentischen Fallanalysen und c) allgemeiner die Einstellungen der Studierenden zu Fallstudien als Unterrichtsmittel. [23]
Die erste Frage, mit der sich diese Studie befasste, war, ob die Arbeit an Fallbeispielen das Ausmaß an Selbstregulation erhöht. Tatsächlich war für vier der sechs Studierenden ein leichter Anstieg der MSLQ-Werte zwischen Pretest und Posttest zu verzeichnen, umgekehrt fiel bei einem Studenten eine hochsignifikante Veränderung von einer ursprünglich als hoch hin zu einer im Posttest als niedrig eingestuften Selbstregulation auf. Insgesamt ist für diese kleine Gruppe an Studierenden jedoch ein nur sehr geringer Effekt der Arbeit an Fallmaterial auf den Grad der Selbstregulation erkennbar. Zusätzlich zeigte die Auswertung der Interviews, dass viele Studierende Charakteristika aufwiesen, die zugleich auf einen hohen und niedrigen Selbstregulationslevel deuteten. [24]
Die zweite Frage war die nach individuellen Unterschieden bei dem Lösen der in den Fallstudien gestellten Probleme, abhängig vom Grad der Selbstregulation. Drei der sechs Studierenden, die an der Studie teilnahmen, gründeten ihre Fallanalysen ohne weitergehende Elaboration hauptsächlich auf formales, konzeptuelles Wissen, das sie sich mithilfe eines Lehrbuches und von Kursmaterial angeeignet hatten; zwei von ihnen dem MSLQ zufolge mit niedrigen Selbstregulationswerten, einer mit einem hohen Wert. Die anderen drei Studierenden hatten sich weniger auf das Lehrbuch und das Kursmaterial verlassen und waren vielmehr, wie sie in den Interviews berichteten, ihrer eigenen "Intuition" gefolgt; zwei von ihnen mit einem hohen, einer mit einem niedrigen Selbstregulationslevel nach dem MSLQ. Aus dieser letzten Gruppe hatten sich zwei Studierende, darunter der mit einem niedrigen Selbstregulationstestwert, auf eigene Alltagserfahrungen berufen und die Fallbeispiele als praktische, authentische Problemstellungen gedeutet. Sie hatten lebensweltliche Erfahrungen und formales Wissen angewandt, um die Fälle zu analysieren und zu lösen. Die Vorteile des Arbeitens mit Fallstudien, um Theorien zu verstehen und anzuwenden, hatten sie erkannt und genutzt. [25]
Die dritte Frage, die die Studie zu beantworten helfen sollte, war die nach den Einschätzungen der Studierenden zur (Nicht-) Eignung von Fallstudien als Lehr-/Lernmethode. Alle Studierenden berichteten in den Interviews, dass die Fallbeispiele ihnen die Chance gegeben hatten, das Wissen, das sie sich im Kurs angeeignet hatten, anzuwenden. Interessant sind die Unterschiede in der Art und Weise, wie sie ihr Wissen im Rahmen der Fallanalysen nutzten: Zwar hatten alle Studierenden die behandelten Theorien auf die Fallstudien angewandt. Einige hatten sich jedoch entschieden, die in der Veranstaltung rezipierten Theorien nicht in fundierter Weise mit den Fallstudien in Verbindung zu bringen, obwohl sie um die Möglichkeit, ihr akademisches Wissen in einer solchen Weise zu verwenden, wussten. Wahrscheinlich betrachteten diese Studierenden die Fallstudien als akademische Übungen und vermieden – um eine gute Zensur zu erhalten oder aus Angst vor Fehlern oder Fehleinschätzungen –, Theorien reflektiert oder kreativ zu nutzen, sodass ihre Analysen an der Oberfläche blieben. Eine Studentin sagte, die Fallstudien hätten wenig Einfluss darauf gehabt, wie sie sich mit dem Material befasst hatte. Eine andere Studentin berichtete, sie sei zu wenig sicher gewesen, was die Arbeit und die Intention der Arbeit mit Fallbeispielen angeht. Vielleicht hatte sie sich auch aus diesem Grund auf das Lehrbuch und auf das Kursmaterial verlassen. [26]
Qualitative Forschung ist herausfordernd: die Daten lassen sich nicht ohne Weiteres in Tabellen ein- oder Kategorien zuordnen. Sobald sich ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin ein Thema gestellt hat, ist sie oder er mit der viel wichtigeren Frage konfrontiert, wie dieses Thema angemessen zu beforschen sein könnte. Dabei sollte sich die Wahl der Methoden nach den Forschungsfragen richten. In der eigenen Studie interessierte mich, wie die Studierenden Fallbeispiele analysieren und was sie über deren Verwendung denken. Inhaltsanalysen und Interviews schienen dabei am besten geeignet, um auf diese Fragen Antworten zu erhalten. Wie bereits zuvor bemerkt, stellte sich die Kodierung der Daten erst im Verlauf der Studie als problematisch heraus, was im Rahmen einer quantitativ angelegten Studie äußerst prekär gewesen wäre. Die mittels des MSLQ erhobenen Ergebnisse schienen widersprüchlich, so etwa, dass ein Student mit einem hohen Selbstregulationswert im Pretest im Posttest ein niedriges Maß an Selbstregulation aufwies – wäre die Studie an diesem Punkt abgeschlossen worden, hätte argumentiert werden können, dass die Arbeit mit Fallstudien ineffektiv und vielleicht sogar der Selbstregulation abträglich ist. Die Studie wurde jedoch fortgeführt, und mit den Interviews wurde eine sehr viel komplexere Annäherung an die Verwendung und Einschätzung von Fallstudien möglich. [27]
Hätte ich ausschließlich auf den MSLQ vertraut, so hätte ich nicht verstanden, welche Bedeutung die Studierenden den Fallstudien beimaßen. Ich selbst hatte die Fallstudien in dieser pädagogisch-psychologischen Veranstaltung mit dem Ziel eingesetzt, die Studierenden dabei zu unterstützen, die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überwinden. Welche Bedeutung die Studierenden der Verwendung von Fallbeispielen im Seminar gaben, mag ihre Fallanalysen und Lösungsvorschläge beeinflusst haben. Studierende, die Fallstudien als akademische Übungen mit der einen korrekten Lösung ansahen, waren der Tendenz nach weniger kreativ, dies zeigten die Interviews. [28]
CROTTY (2003) und HUMPHREY (1993) betonen, dass wir der Welt Bedeutungen geben, wenn wir uns mit ihr befassen. Dies bezieht sich auf all unsere Erfahrungen. Hieran anschließend kann dieser Studie das folgendes Ergebnis zusammenfassend entnommen werden: Um zu verstehen, wie und warum Studierende im Kontext eines Seminars dem, was sie lernen, bestimmte Bedeutungen geben, müssen wir etwas über sie als Individuen wissen. Teilweise beruhen die von den Studierenden vollzogenen Prozesse der Sinnstiftung auf ihren Motivationen, auf ihrem soziokulturellen Hintergrund, auf ihren Überzeugungen und Erwartungen, allesamt Bereiche, denen sich künftige Forschung über (den Nutzen von) Fallstudien vermehrt zuwenden sollte. [29]
Ich danke Dr. Anja KRAUS, Juniorprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, für ihre hilfreichen Kommentare und Vorschläge und vor allem für den deutschen Übersetzungsvorschlag für meinen ursprünglich in englischer Sprache veröffentlichten Text.
1) Vorübersetzt durch Anja KRAUS, geprüft und für die Veröffentlichung überarbeitet durch die FQS-Redaktion. <zurück>
Blumenfeld, Phyllis C.; Soloway, Elliot; Marx, Richard W.; Krajcik, Joseph S.; Guzdial, Mark & Palincsar, Annemarie (1991). Motivating project-based learning: Sustaining the doing, supporting the learning. Educational Psychologist, 26, 369-398.
Crotty, Michael (2003). The foundations of social research: Meaning and perspective in the research process. Thousand Oaks, CA: Sage.
Ertmer, Peggy A.; Newby, Timothy J. & MacDougall, Mary Ann (1996). Students' responses and approaches to case-based instruction: The role of reflective self-regulation. American Educational Research Journal, 33(3), 719-752.
Humphrey, Nicholas (1993). A history of the mind. London: Vintage.
Ridley, Dale S. (1991). Reflective self-awareness: A basic motivational process. Journal of Experimental Education, 60(1), 31-48.
Zimmerman, Barry J. (1994). Dimensions of academic self-regulation: A conceptual framework for education. In Dale H. Schunk & Barry J. Zimmerman (Hrsg.), Self-regulation of learning and performance: Issues and educational implications (S.3-21). Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Contact:
Robert B. Faux
5943 Posvar Hall
Department of Psychology in Education
School of Education
University of Pittsburgh
Pittsburgh, Pennsylvania 15260, USA
Tel.: 412.648.7037
E-Mail: rfaux@pitt.edu
Faux, Robert B. (2007). Zur Nutzung von Inhaltsanalysen und Interviews in der erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Forschung – ein empirisches Beispiel [29 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1), Art. 26, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0001265.