Volume 10, No. 2, Art. 36 – Mai 2009

Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht. Zur Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung mithilfe des Konzepts der Artikulation

Tina Spies

Zusammenfassung: Während in der Biografieforschung lange Zeit der Einfluss von Diskursen auf biografische Erzählungen nicht berücksichtigt wurde, wird in Diskursanalysen häufig die subjektkonstituierende Wirkung von Diskursen vernachlässigt. In diesem Beitrag soll es daher auf theoretischer Ebene um die Frage gehen, wie Diskurs und Subjekt zusammengedacht werden können. Hierzu soll das Konzept der Artikulation von Stuart HALL vorgestellt werden. Stuart HALL hat sich vor allem ab Beginn der 1990er Jahre mit Fragen der (kulturellen) Identität auseinandergesetzt und hierbei ein Subjektverständnis entwickelt, das es ermöglicht, Subjekte nicht nur als Effekte von Diskursen zu verstehen, aber dennoch Diskurse in der Subjektkonzeption zu berücksichtigen. Er wurde im deutschsprachigen Raum bisher sowohl in der Biografie- als auch in der Diskursforschung wenig rezipiert, doch sein Konzept der Artikulation könnte möglicherweise eine Brücke von der Diskurs- zur Biografieforschung schlagen und auch für empirische Arbeiten anschlussfähig gemacht werden.

Keywords: Diskursanalyse; Biografieforschung; Subjektpositionierung; Handlungsmacht; kulturelle Identität; Hall; Foucault; Laclau; Mouffe

Inhaltsverzeichnis

1. Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung

2. Dezentrierung des Subjekts

3. Diskurstheoretischer Kontext

3.1 FOUCAULT

3.1.1 Subjekte als Effekte von Diskursen

3.1.2 Macht und Wissen

3.1.3 Macht, Wissen und Subjekt

3.2 LACLAU und MOUFFE

3.2.1 Praxis der Artikulation

3.2.2 Knotenpunkte

3.2.3 Subjektive Aneignung und Veränderung diskursiver Strukturen

4. Das Konzept der Artikulation

4.1 Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht

4.2 Positioniert sein

5. Analyse von Biografien als Artikulationen

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung

In der Biografieforschung wurde lange Zeit der Einfluss von Diskursen auf Biografien nicht berücksichtigt. Gleichzeitig wird in Diskursanalysen meist nur die Ordnungs- und Strukturierungsfunktion von Diskursen untersucht, und ihre subjektkonstituierende Wirkung eher vernachlässigt (vgl. TUIDER 2007). Erst in den letzten Jahren hat es erste methodologische Überlegungen hinsichtlich einer Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung gegeben (SCHÄFER & VÖLTER 2005; TUIDER 2007), und es sind einige empirische Arbeiten entstanden, die einen diskursiven Aspekt bzw. auch eigene Diskursanalysen in die Analyse biografischer Interviews einbeziehen (z. B. GUTIERREZ RODRIGUEZ 1999; FREITAG 2005; ÇELIK 2006; KARL 2006). [1]

Weitgehenden Konsens scheint es in der Biografieforschung inzwischen dahingehend zu geben, "dass ein Autobiograph sich nicht allein auf der Basis seiner subjektiven Gewordenheit bzw. aufgrund von sozialen Zwängen so und so verhält, einschätzt, selbstverständigt oder darstellt, sondern dass er dabei auch Diskursen unterliegt" (SCHÄFER & VÖLTER 2005, S.178). Es wird also eine "Verwobenheit von Biographie, Diskurs und Subjektivität" (DAUSIEN, LUTZ, ROSENTHAL & VÖLTER 2005, S.12) angenommen und davon ausgegangen, dass Diskurse sowohl die erlebte als auch die erzählte Lebensgeschichte beeinflussen: "Gesellschaftliche, institutionelle und gruppenspezifische Regeln bzw. die Regeln unterschiedlicher Diskurse geben vor, was, wie, wann und in welchen Kontexten thematisiert werden darf und was nicht" (ROSENTHAL 2008, S.171f.; Hervorh. im Orig.; vgl. auch PLODER 2009). [2]

Eine erzählte Lebensgeschichte lässt sich dementsprechend beschreiben als ein Zusammenwirken gesellschaftlicher Diskursregeln und den aus ihnen resultierenden Rahmungen in der gegenwärtigen Situation des Interviews, in der Vergangenheit des biografischen Erlebens sowie in Situationen, in denen zu einem anderen Zeitpunkt schon einmal über das Erlebte gesprochen oder nachgedacht wurde (vgl. ROSENTHAL 2005; SCHÄFER & VÖLTER 2005). Dies bedeutet, dass Biografien nur unter Berücksichtigung dessen, was zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext gesagt (oder nicht gesagt) werden konnte, analysiert werden können. [3]

Damit stellt sich jedoch recht schnell die Frage nach der biografischen Wirkmächtigkeit von Diskursen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Diskurs, Subjekt und biografischen Erzählungen? Ist das Subjekt dem Diskurs vorgängig oder sind alle Subjektpositionen, die eingenommen werden können, hervorgegangen aus Diskursen? Sind Subjekte also nur als Effekte von Diskursen zu verstehen? Oder gibt es eine Möglichkeit der Handlungsmacht, die sich dann auch in biografischen Erzählungen widerspiegelt? [4]

In der Biografieforschung sind bezüglich dieser Fragen FOUCAULTs Arbeiten – und hier vor allem seine genealogischen Schriften – von großem Einfluss. Diese können zu einem Verständnis des Verhältnisses zwischen Diskurs und Subjekt beitragen, hinterlassen jedoch – auf methodischer, aber auch auf theoretischer Ebene – fast ebenso viele offene Fragen (vgl. auch NONHOFF 2006). Vor allem wenn es um die Frage von Handlungsmacht bzw. von subversivem Potenzial in biografischen Lebensgeschichten geht, findet sich bei FOUCAULT nur wenig Weiterführendes. Bei empirischen Arbeiten wird hingegen immer wieder darauf hingewiesen wird, dass biografische Erzählungen zwar auf Diskurse verweisen, jedoch auch über diese hinausgehen und sie unterlaufen bzw. dass Diskurse im Interview strategisch verwendet und umgedeutet werden (vgl. KARL 2006; SPIES 2009; TUIDER 2007). Vonseiten der Biografieforschung wird daher bereits eine – z.B. empirisch unterstützte – Weiterentwicklung der FOUCAULTschen Diskurstheorie gefordert (vgl. SCHÄFER & VÖLTER 2005), deren Ziel darin besteht, das, was in empirischen Arbeiten beschrieben wird, auch theoretisch fassen zu können. Konkret geht es also um die Frage, wie Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht zusammen gedacht werden können. [5]

Mit dieser Frage möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Hierzu werde ich das Konzept der Artikulation vorstellen, das Stuart HALL in seinen Arbeiten verwendet, um den Zusammenhang zwischen Diskurs und Subjekt zu fassen. Stuart HALL hat sich vor allem ab Beginn der 1990er Jahre mit Fragen der (kulturellen) Identität1) auseinandergesetzt und hierbei ein Subjektverständnis entwickelt, das es ermöglicht, Subjekte nicht nur als Effekte von Diskursen zu verstehen, aber dennoch Diskurse in der Subjektkonzeption zu berücksichtigen. Er wurde im deutschsprachigen Raum bisher sowohl in der Biografie- als auch in der Diskursforschung wenig rezipiert, doch sein Konzept der Artikulation könnte möglicherweise eine Brücke von der Diskurs- zur Biografieforschung schlagen und auch für empirische Arbeiten anschlussfähig gemacht werden;2) auch wenn HALL – ebenso wie FOUCAULT – selbst nicht empirisch gearbeitet hat.3) [6]

2. Dezentrierung des Subjekts

Ausgangspunkt von HALLs Überlegungen zur (kulturellen) Identität ist die Dekonstruktion des souveränen Subjekts der Moderne. Dabei geht es um die Infragestellung der Einheitlichkeit und Abgeschlossenheit eines auf der Philosophie René DESCARTES beruhenden Subjektmodells, das sich mit der Aufklärung durchgesetzt hatte (vgl. DIETRICH 2000, S.11; SPIES 2005; SUPIK 2005). Dieses "Cartesianische Subjekt" beschreibt – von DESCARTES Grundsatz Cogito, ergo sum ausgehend – den Menschen als vollkommen zentriertes und vereinheitlichtes Individuum, das mit den Vermögen der Vernunft, des Bewusstseins und der Handlungsfähigkeit ausgestattet ist (vgl. HALL 1994b, S.181, 189). Es wird davon ausgegangen, dass das Subjekt der Aufklärung, wie HALL es nennt, aus einem inneren Kern besteht, der mit der Geburt des Subjekts entsteht und sich mit ihm entfaltet, aber im Wesentlichen während der ganzen Existenz des Individuums derselbe bleibt. Die Identität einer Person ist dieses essenzielle Zentrum des Ichs (vgl. HALL 1994a, S.181). Dabei wird von einem "wahren Ich" ausgegangen, einem "wirklichen Ich, das in uns vorhanden und in den Schalen all der zahlreichen falschen Ichs verborgen ist, die wir dem Rest der Welt präsentieren" (HALL 1994a, S.67; vgl. auch GROSSBERG 2002). [7]

Vom Subjekt der Aufklärung unterscheidet HALL das soziologische Subjekt, das eine Art Dezentrierung des Cartesianischen Subjekts darstellt. Das soziologische Subjekt beruht auf der Wahrnehmung, dass der innere Kern des Subjekts nicht autonom ist und sich selbst genügt, sondern im Verhältnis zu bedeutenden Anderen geformt wird (HALL 1994a, S.182). Diese Sicht, die u.a. von Georg Herbert MEAD und ganz allgemein im Symbolischen Interaktionismus seit den 1930er Jahren entwickelt wurde, ist zur klassischen soziologischen Konzeption von Identität geworden. Sie geht davon aus, dass Identität in der Interaktion zwischen einem Ich und der Gesellschaft gebildet wird, wobei das Subjekt – auch nach dieser Vorstellung noch – einen inneren Kern hat, der "das wirkliche Ich" ist. Allerdings steht dieses "Ich" in einem kontinuierlichen Dialog mit den kulturellen Welten "außerhalb" und wird dadurch gebildet und modifiziert. Die Kluft zwischen "Innen" und "Außen" wird so überbrückt, das Subjekt mit der Struktur verklammert (vgl. HALL 1994a, S.182, 191f.). [8]

Die endgültige Dezentrierung des Cartesianischen Subjekts erfolgte – nach HALL – jedoch erst in der Spätmoderne:4)

"Gegenüber dem Versprechen der Modernität von der großen Zukunft: 'Ich bin, ich bin der westliche Mensch, also weiß ich alles. Alles beginnt mit mir', sagt der Modernismus: 'Immer langsam. Was ist mit der Vergangenheit? Was ist mit den Sprachen, die du sprichst? Was ist mit dem unbewussten Leben, über das du nichts weißt? Was ist mit all den anderen Dingen, die dich sprechen?'" (HALL 1999, S.86)5) [9]

HALL spielt mit diesen Fragen auf MARX, FREUD und DE SAUSSURE an, deren Beiträge zur Gesellschaftstheorie und den Wissenschaften vom Menschen er als Dezentrierungen des modernen Subjekts bezeichnet. Der erste Anstoß zur Dezentrierung kam – so HALL – durch die Wiederentdeckung von Karl MARX' Werk in den 1960er Jahren. Besonders das Argument, dass Menschen zwar "Geschichte machen", aber unter Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben, erschütterte die gesellschaftliche Praxis. Denn dies wurde nun so interpretiert, dass individuelles Handeln unmöglich sei, da Individuen auf keine wirkliche Weise "Autor/innen" der Geschichte sein könnten (vgl. HALL 1994b, S.67f., 1994a, S.193f.). [10]

Die zweite große Dezentrierung folgte HALL zufolge mit Sigmund FREUDs Entdeckung des Unbewussten: "Wenn uns MARX von der Vergangenheit verdrängt hat, so hat uns FREUD von unten her verdrängt" (HALL 1999, S.85). FREUDs Theorie, dass Identitäten, Sexualität und die Strukturen des Begehrens auf der Grundlage der psychischen und symbolischen Prozesse des Unbewussten gebildet werden, die nach einer anderen "Logik" als der der Vernunft funktionieren, wirkte vernichtend auf das Konzept des wissenden und vernünftigen Subjekts mit seiner gesicherten und vereinheitlichten Identität (vgl. HALL 1994a, S.194). [11]

Die dritte Dezentrierung geht auf den Linguisten DE SAUSSURE zurück. Er hat – so HALL – mit unserem Common-Sense-Verständnis gebrochen, nach dem Sprache "aus uns heraus" kommt, und das sprechende bzw. schreibende Subjekt Autor/in des Gesagten ist. Nach DE SAUSSURE können wir Bedeutungen nur produzieren, indem wir uns nach den Regeln der Sprache und den Bedeutungen unserer Kultur positionieren. Eine Sprache zu sprechen beinhaltet demnach nicht nur, die eigenen Gedanken auszudrücken, sondern auch, "den weiten Spielraum an Bedeutungen zu aktivieren, die bereits in unseren sprachlichen und kulturellen Systemen eingebettet sind" (HALL 1994a, S.196). Der/die Autor/in entscheidet zwar, was er/sie sagen möchte, aber er/sie kann nicht entscheiden, ob er/sie die Regeln der Sprache benutzen möchte oder nicht (vgl. HALL 1997a, S.30ff.).6) [12]

Im Gegensatz zu anderen spricht HALL aufgrund dieser Dezentrierungen jedoch nicht vom "Tod des Subjekts":

"[D]er alte Diskurs des Subjekts [wurde] abgeschafft, in einen riesigen Container gesteckt und mit Beton übergossen, der eine Zerfallszeit von einer Million Jahren hat. Nie wieder wollen wir einen Blick an ihn verschwenden, und dann plötzlich, Teufel auch, innerhalb von fünf Minuten reden wir über Subjektivität und das Subjekt des Diskurses, und der Begriff ist mit Triumphgeheul zurückgekehrt." (HALL 1994b, S.72) [13]

Es sei durch die diskursive Perspektive geradezu zwingend "die subjektive Dimension in einer nicht-holistischen, nicht-einheitlichen Weise wieder einzuführen" (HALL 2000a, S.70). HALL macht sich daher an die Arbeit, das Subjekt neu zu konzeptualisieren. Eine erste Definition dessen, was nach den Dezentrierungen des Subjekts unter "Identität" verstanden werden kann, gibt HALL in Who needs identity? (1996). Er beschreibt hier Identität als einen Treffpunkt (meeting point) oder eine Nahtstelle (point of suture) zwischen Diskursen und Praktiken auf der einen und Subjektivierungsprozessen auf der anderen Seite. Es handele sich um temporäre Verbindungen mit Subjektpositionen, die aus diskursiven Praktiken hervorgehen (HALL 1996, S.5f.; vgl. SUPIK 2005, S.45):

"Identities are, as it were, the positions which the subject is obliged to take up while always 'knowing' […] that they are representations, that representation is always constructed across a 'lack', across a division, from the place of the Other, and thus can never be adequate – identical – to the subject processes which are invested in them." (HALL 1996, S.6)7) [14]

Dabei erfordere das "Vernähen" eines Subjekts in eine Subjektposition nicht nur, dass das Subjekt hineingerufen werde, sondern dass das Subjekt auch in die Subjektposition investiere. Das Vernähen müsse als Artikulation verstanden werden und nicht als einseitiger Prozess (HALL 1996, S.6). [15]

Es lässt sich hier bereits erkennen, dass HALLs Vorstellung von "Identität" aus einem diskurstheoretischen Kontext heraus entstanden ist. FOUCAULTs Schriften haben ihn stark beeinflusst, aber auch der Einfluss von LACLAUs und MOUFFEs Diskurstheorie ist hier ersichtlich. Es soll daher im Folgenden auf FOUCAULTs Diskurstheorie sowie die Subjektvorstellungen von LACLAU und MOUFFE eingegangen werden – zumindest insoweit sich HALL mit ihnen in der Konzeptualisierung seines Subjektbegriffs auseinandergesetzt hat –, um dann HALLs Subjektverständnis und vor allem sein Konzept der Artikulation (weiter) vorstellen zu können. [16]

3. Diskurstheoretischer Kontext

3.1 FOUCAULT

3.1.1 Subjekte als Effekte von Diskursen

FOUCAULT geht davon aus, dass jede Zeit ihr spezifisches Wissen habe, Strukturen des Erkennens, die beeinflussen, was zu einer bestimmten Zeit erforscht und sprachlich fixiert werden kann (vgl. KELLER 2004, S.16). Von beobachtbaren Regelmäßigkeiten in (wissenschaftlichen) Texten schließt FOUCAULT auf eine zugrunde liegende Regelstruktur. Er gräbt die Wissensordnungen vergangener Zeitalter aus und untersucht die materiale Existenz von Diskursen in Gestalt seriöser Sprechakte. Dabei versteht er in der Archäologie des Wissens Diskurse als "eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören" (FOUCAULT 1981, S.156) und geht davon aus, dass zu einer bestimmten Zeit immer nur eine begrenzte Menge an Aussagen möglich ist. Seine Frage lautet daher: "Wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?" (FOUCAULT 1981, S.42)8) Es geht ihm darum, die in einem Aussagenkorpus enthaltenen Denkkategorien und die im Diskurs errichtete "Ordnung der Dinge" sowie die zu einer bestimmten Zeit akzeptablen Sprechweisen zu rekonstruieren (vgl. DIAZ-BONE 2003; HALL 1997a, S.44). Dabei interessiert ihn "nicht das endlose 'Spiel' (Derrida) des Verweises von einem Signifikanten auf einen anderen und der nie abschließbare Sinn, sondern die historische Begrenztheit, die faktische 'Knappheit' einzelner existierender Aussagen und Aussageserien" (SARASIN 2001, S.61; vgl. auch DELEUZE 1987, S.12). Es beschäftigt ihn die Frage, warum eine bestimmte Aussage zu einer bestimmten Zeit auftauchte und nicht eine andere an ihrer Stelle. [17]

FOUCAULTs frühe materiale Analysen wie Wahnsinn und Gesellschaft (1999a, Orig. 1961), Die Geburt der Klinik (1999b, Orig. 1963) oder Die Ordnung der Dinge (1974, Orig. 1966) sind von dieser archäologischen Fragestellung geprägt. Seine Forschungsgegenstände betrachtet er nicht als selbstverständliche, ahistorische Gegebenheiten, sondern als kontingente Erscheinungen, die durch unterschiedliche Wissens- und Praxisformationen bedingt werden. Er geht davon aus, dass Diskurse zwar aus Zeichen bestehen, aber dass diese Zeichen innerhalb eines Diskurses nicht nur auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen. Diskurse sind ihm zufolge "Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen" (FOUCAULT 1981, S.74). So gibt es beispielsweise keinen "Wahnsinn" an sich, sondern nur historisch unterschiedliche Formen des Wissens, die ein bestimmtes Verhalten als "Wahnsinn" definieren und daraus resultierende Praktiken des Umgangs mit von "Wahnsinn" Betroffenen (vgl. HALL 1997a, S.44ff.; KELLER 2004, S.42f.; WEEDON 1990, S.138f.). [18]

Auch Subjekte sind für FOUCAULT demnach Effekte von Diskursen. Um sprechen zu können, muss innerhalb eines Diskurses eine Subjektposition eingenommen werden, die wiederum mithilfe von Formationsregeln und Äußerungsmodalitäten konstruiert wird (vgl. BARKER & GALASIŃSKI 2001, S.13; HALL 1996, S.10, 1997a, S.56). In diesem Zusammenhang ist der von ALTHUSSER (1977) geprägte Begriff der "Anrufung" (interpellation) zentral. Das Subjekt findet "seine" Subjektposition, indem es sich von einem diskursiven Ereignis anrufen lässt (vgl. ANGERMÜLLER 2005a). Es ist also dem Diskurs nicht vorgängig, sondern wird erst durch diesen hervorgebracht (vgl. auch BUTLER 1997, S.173ff., 1998, S.42f.; VILLA 2003, S.46f.). [19]

Für HALLs Subjektbegriff sind diese Überlegungen zentral. Auch HALL geht – beeinflusst durch FOUCAULT – davon aus, dass das Subjekt nicht das eigene Denken und Handeln bestimmt, sondern dass es vorher immer bereits Diskurse gibt, die das Subjekt in einem Subjektivierungsprozess erzeugen. Allerdings wirft HALL – wie andere Kritiker/innen auch9) – FOUCAULT einen zu weitgehenden Formalismus vor. Vor allem die Frage, wie es dazu kommt, dass Individuen auch tatsächlich die durch Diskurse vorgesehenen Subjektpositionen einnehmen, bleibt für ihn offen (vgl. SUPIK 2005, S.22):

"[FOUCAULT is] revealing little about why it is that certain individuals occupy some subject positions rather than others. By neglecting to analyse how the social positions of individuals interact with the construction of certain 'empty' discursive subject positions, Foucault reinscribes an antinomy between subject positions and the individuals who occupy them. Thus his archaeology provides a critical, but one-dimensional, formal account of the subject of discourse. Discursive subject positions become a priori categories which individuals seem to occupy in an unproblematic fashion." (HALL 1996, S.10) [20]

3.1.2 Macht und Wissen

Zu Beginn der 1970er Jahre verschiebt sich FOUCAULTs – zunächst noch stark strukturalistisch geprägtes – Analyseinteresse zugunsten einer genealogischen Perspektive.10) Er beschäftigt sich nun vermehrt mit den Regeln, Zwängen und Einflussmechanismen, die das, was gesagt wird und was sagbar ist, begrenzen und bedingen. So bemerkt FOUCAULT zu Beginn seiner Antrittsvorlesung am Collège de France:11)

"Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen." (FOUCAULT 2003, S.10f.) [21]

Macht12) wird zum zentralen Explikationsbegriff in FOUCAULTs genealogischen Studien. Er geht davon aus, dass Macht Elemente des sozialen Feldes nicht nur beeinflusst, sondern auch hervorbringt. Dies untersucht er in Überwachen und Strafen (FOUCAULT 1991) und in Der Wille zum Wissen (FOUCAULT 1997) am Beispiel des Körpers, des Wissens und des Subjekts, und es gelingt ihm, die drei – im Alltagsverständnis meist als natürlich gegeben erscheinenden – Gegenstände als Effekte realer, symbolischer und imaginärer Macht darzustellen (vgl. SAAR 2007, S.214ff.). [22]

Für HALL ist dies ein wichtiger Schritt in den Arbeiten FOUCAULTs. Dennoch hat er auch weiterhin Probleme mit der Vorstellung eines sich selbst regulierenden Subjekts, das durch Machtformen des Überwachens und Strafens hervorgebracht wird. Er sieht in FOUCAULTs Überlegung, dass die "Seele […] der aktuelle Bezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht über den Körper" (FOUCAULT 1991, S.41) ist, einen spannenden Ansatz, um die sogenannte "Materialität" des Körpers zu überdenken. Doch er kritisiert, dass die derart konstruierten Subjekte bei FOUCAULT dennoch als "fügsame Körper" (docile bodies) dargestellt werden, ohne zu berücksichtigen, was in irgendeiner Weise das reibungslose Einfügen des Individuums in die von den Diskursen konstruierten Subjektpositionen unterbrechen, verhindern oder stören könne (vgl. HALL 1996, S.11f.): "[T]here is no theorization of the psychic mechanism or interior processes by which these automatic 'interpellations' might be produced, or – more significantly – fail or be resisted or negotiated." (HALL 1996, S.12) [23]

3.1.3 Macht, Wissen und Subjekt

Tatsächlich schien FOUCAULTs Beschreibung des Subjekts als "Effekt" von Wissen und Macht zu suggerieren, dass vom Subjekt selbst kein Widerstand ausgehen könne. In seinem ersten Band zu Sexualität und Wahrheit (1997, Orig. 1976) räumt FOUCAULT daher selbst ein, dass es dort, wo es Macht gibt, auch Widerstand gebe, wobei der Widerstand niemals außerhalb der Macht liege (FOUCAULT 1997, S.116). Doch erst im zweiten und dritten Band, Der Gebrauch der Lüste (FOUCAULT 1986a) und Die Sorge um sich (FOUCAULT 1986b), die acht Jahre nach dem ersten Band veröffentlicht wurden, geht es nun nicht mehr nur um das "Gemachtsein" des Subjekts, sondern zum ersten Mal auch um die Frage der aktiven Beteiligung des Subjekts an seiner eigenen Subjektivierung. Es sind also nun nicht mehr nur Macht und Wissen, die Subjektivierungen hervorbringen, sondern Subjektivierungen können auch vom Individuum selbst ausgehen (vgl. SAAR 2007, S.249f.):

"Was vorher aufgrund der methodischen Vorentscheidung, Sexualität nur als 'Effekt' der Macht zu begreifen, nicht erfassbar war, war das subjektive Moment der sozialen Realitäten, d.h. die Tatsache, dass soziale Rollen mehr oder weniger bewusst von Individuen übernommen, dass Normen von Subjekten freiwillig befolgt und Wissen aktiv angeeignet wird." (SAAR 2007, S.251f.) [24]

Die Freiheit des Subjekts zur Veränderung und Gestaltung seines Selbst wird nun von FOUCAULT als Gegenpol zum Einfluss der Macht auf das Subjekt herausgearbeitet. Damit verschiebt sich – fast unmerklich – auch FOUCAULTs Begriff der Macht (vgl. SAAR 2007, S.276). Denn Macht – so wie sie von FOUCAULT in seinen Werken der 1970er Jahre verstanden wurde – hatte bisher keinen Raum für die Beteiligung und Eigeninitiative der Subjekte gelassen. Nun aber heißt es bei FOUCAULT: "Macht wird nur auf 'freie Subjekte' ausgeübt und nur sofern diese 'frei' sind" (1994, S.255). Dabei versteht er unter "freien Subjekten" "individuelle oder kollektive Subjekte […], vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere 'Führungen', mehrere Reaktionen und verschiedene Verhaltensweisen statthaben können" (FOUCAULT 1994, S.255). Das Subjekt ist also nun bei FOUCAULT nicht mehr nur als Ort der Unterwerfung zu verstehen, sondern muss auch als Ort der Widerständigkeit begriffen werden. [25]

HALL nimmt diese Verschiebung in FOUCAULTs Spätwerk zur Kenntnis und begrüßt, dass FOUCAULT nun die Existenz einer "inneren Landschaft" erwähne (HALL 1996, S.12f.; vgl. auch HALL 1997a, S.55). Dennoch – so die Kritik HALLs – fehle FOUCAULTs Subjektbegriff immer noch eine Vorstellung von Intentionalität und Handlungsmacht (agency) (vgl. SUPIK 2005, S.23f.):

"The question which remains is […] what the mechanisms are by which individuals as subjects identify (or do not identify) with the 'positions' to which they are summoned; as well as how they fashion, stylize, produce and 'perform' these positions, and why they never do so completely, for once and all time, and some never do, or are in a constant, agonistic process of struggling with, resisting, negotiating and accommodating the normative or regulative rules with which they confront and regulate themselves. In short, what remains is the requirement to think this relation of subject to discoursive formations as an articulation […]." (HALL 1996, S.13f., Hervorh. im Orig.)13) [26]

Stuart HALL beanstandet also die Leerstelle, die trotz der Verschiebungen in FOUCAULTs Spätwerk – die von Kritiker/innen teilweise als überraschende Rückkehr des totgesagten Subjekts wahrgenommen wurde – bleibt: nämlich die Frage, wie Widerstand funktionieren kann. Das Problem sieht HALL vor allem darin, dass FOUCAULT die Beziehung zwischen Subjekt und diskursiven Formationen nicht als Artikulation betrachtet. Dabei verwendet HALL den Begriff der Artikulation in Anlehnung an ALTHUSSER und verweist damit auf die Doppelbedeutung, die der Begriff im Englischen hat (vgl. KARVONEN & KOIVISTO 2001; DAVIS 2004, S.169). Zum einen bedeutet er – ähnlich wie im Deutschen – "ausdrücken, Sprache formen", zum anderen wird der Begriff im Englischen aber auch für einen "verkoppelten (articulated) Lastwagen" verwendet, "bei dem das Führerhaus mit einem Anhänger verkoppelt sein kann, aber nicht muss" (HALL 2000a, S.65): "Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist." (HALL 2000a, S.65) [27]

HALL versteht Subjekte als mit Diskursen verknüpft, aber als nicht für alle Zeiten mit diesen verbunden. Ebenso versteht er auch die "Einheit" eines Diskurses als "Artikulation verschiedener, unterschiedlicher Elemente, die in sehr unterschiedlicher Weise reartikuliert werden können, weil sie keine notwendige 'Zugehörigkeit' haben" (HALL 2000a, S.65). Damit knüpft er an die Diskurstheorie von Ernesto LACLAU und Chantal MOUFFE an, die ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf HALLs Arbeiten hat. [28]

3.2 LACLAU und MOUFFE

3.2.1 Praxis der Artikulation

Ernesto LACLAU und Chantal MOUFFE, beide aus der Politikwissenschaft kommend, haben seit Mitte der 1980er Jahre verschiedene Beiträge zu einer postmarxistischen und poststrukturalistischen Diskurstheorie vorgelegt. Dabei stehen sie in einer ähnlichen Theorietradition wie Stuart HALL und knüpfen an FOUCAULTs Diskursbegriff, ALTHUSSERs Ideologietheorie, GRAMSCIs Hegemoniekonzept, die Sprachphilosophie des späten WITTGENSTEINs sowie an LACANs Subjekttheorie und deren Weiterführung durch ŽIŽEK an (vgl. u.a. KELLER 2004, S.52; STÄHELI 1999, S.145).14) Für LACLAU und MOUFFE ist das, was in der modernen Sozialtheorie meist als das "Soziale" oder die "Gesellschaft" bezeichnet wird, nichts anderes als eine Agglomeration von Diskursen (vgl. RECKWITZ 2006a, S.341). Sie definieren "Diskurse" als "strukturierte, partiell geschlossene Formationen, die aus artikulatorischen Praktiken hervorgehen" (MOEBIUS 2003, S.4; vgl. LACLAU & MOUFFE 2006, S.141; MARCHART 1998, S.8). Dabei verstehen sie die "Praxis der Artikulation" als Fixierung eines Systems von Differenzen, also von internen und außenbezogenen Abgrenzungen, die vorübergehend gesellschaftlich-institutionell stabilisiert werden (vgl. KELLER 2004, S.52f.; STÄHELI 1999, S.146). Ein Diskurs ist somit als Bedeutungs- und Signifikationssystem zu betrachten. Die differenziellen Positionen bzw. "flottierenden Signifikanten" (vgl. MARCHART 1998, S.19), die innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen LACLAU und MOUFFE "Momente"; differenzielle Positionen, die nicht diskursiv artikuliert werden, nennen sie "Elemente" (LACLAU & MOUFFE 2006, S.141). Dabei gehen sie davon aus, dass der Übergang von den Elementen zu den Momenten niemals gänzlich vollzogen ist: "Es gibt kein einfaches Grundprinzip, das das ganze Feld der Differenzen fixiert und deshalb konstituiert. Die unauflösliche Spannung zwischen Interiorität und Exteriorität ist die Bedingung jeder sozialen Praxis: Notwendigkeit besteht nur als partielle Beschränkung des Feldes der Kontingenz." (LACLAU & MOUFFE 2006, S.148) [29]

Interne Abgrenzungen erfolgen – LACLAU und MOUFFE zufolge – nach der Logik der Differenz, wobei die einzelnen Elemente nicht von sich aus eine Bedeutung tragen, sondern sich diese erst durch die Beziehung zu anderen Elementen innerhalb des Diskurses konstituiert (vgl. STÄHELI 1999, S.146f.; KELLER 2004, S.53). Innerhalb eines nationalistischen Diskurses wird beispielsweise zwischen "Rechten" und "Linken", "Armen" und "Reichen", "Ossis" und "Wessis" unterschieden. Abgrenzungen nach Außen hingegen erfolgen nach der Logik der Äquivalenz. Klassen- und Geschlechterunterschiede, der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten sowie regionale Differenzen spielen dann keine Rolle mehr (vgl. HALL 1994c, S.204ff.; RÄTHZEL 1997, S.78).15) Durch diese Abgrenzung nach Außen wird der Diskurs konstituiert, oder – mit anderen Worten – "ein Diskurs 'kann nur die Bedingungen der Denkbarkeit bestimmter Objekte konstituieren durch die Konstruktion der Undenkbarkeit anderer Objekte'" (MARCHART 1998, S.14). Judith BUTLER beschreibt dies in einer Diskussion via E-Mail mit Ernesto LACLAU folgendermaßen: Es gibt "keine politische Ordnung, keine Gesellschaftlichkeit, kein Feld des Politischen […], ohne dass bereits bestimmte Arten von Ausschließung getroffen wurden – konstitutive Ausschließungen, die ein konstitutives Äußeres gegenüber jedem Ideal von Inklusivität produzieren". (BUTLER & LACLAU 1998, S.240) [30]

Jeder Diskurs besteht also aus einer Vielzahl miteinander verwobener Unterscheidungen. Diese werden in dem Moment obsolet, in dem sich der Diskurs nach außen hin abgrenzen muss. Die Differenzen werden dann durch eine übergreifende, notwendigerweise auch vereinfachende Identifizierung überformt, die wiederum nur durch die Konstruktion eines Außen ermöglicht wird (vgl. RECKWITZ 2006a, S.344).16) [31]

LACLAU und MOUFFE gehen davon aus, dass die Fixierung eines Systems von Differenzen durch die Praxis der Artikulation nicht bloß rein sprachliche Phänomene betrifft, sondern auch Institutionen, Rituale und Praxen durchdringt. Entgegen der Annahme eines geistigen Charakters des Diskurses bekräftigen sie also den materiellen Charakter jeder diskursiven Struktur (vgl. LACLAU & MOUFFE 2006, S.145f.). Sie verstehen unter einem Diskurs "nicht einfach eine Zusammenstellung von Gesprochenem und Geschriebenem […], sondern ein Ensemble, das in sich das Sprachliche und das Nicht-Sprachliche enthält" (MOUFFE 2001, S.13). In Anlehnung an WITTGENSTEINs Konzept des Sprachspiels nehmen sie an, dass ein physisches Objekt immer in gesellschaftlich erzeugte Regeln eingebettet ist. So könne ein Stein beispielsweise – je nachdem, innerhalb welcher diskursiven Konfiguration er betrachtet wird – ein Geschoss, ein Objekt künstlerischer Betrachtung oder aber auch ein religiöses Symbol sein (vgl. MOUFFE 2001, S.13). Dies bedeutet allerdings nicht, dass "die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens" bestritten wird, sondern es wird bestritten, dass sich die Gegenstände "außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten" (LACLAU & MOUFFE 2006, S.144). Für LACLAU und MOUFFE umfasst der Diskursbegriff also nicht nur sprachliche Elemente, sondern gründet auch den Charakter eines sogenannten "natürlichen" Objekts sowie die Subjektposition der gesellschaftlich Handelnden.17) [32]

3.2.2 Knotenpunkte

LACLAU und MOUFFE zufolge konstituiert sich jeder Diskurs "als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren" (LACLAU & MOUFFE 2006, S.150). Die diskursiven Punkte einer solchen partiellen Fixierung nennen LACLAU und MOUFFE in Anlehnung an LACAN Knotenpunkte (point de capiton). Ein solcher Knotenpunkt hat die Funktion einer zeitweisen Schließung des Diskurses, indem durch ihn die Bedeutung einer Signifikantenkette teilweise fixiert wird (LACLAU & MOUFFE 2006, S.150; vgl. MARCHART 1998, S.18f.; TORFING 1999, S.98). Dadurch bestimmen Knotenpunkte eine spezifische Definition der Realität mit dem ihr entsprechenden Common Sense (MOUFFE 2001, S.16). Dies bedeutet jedoch, ŽIŽEK zufolge, nicht

"that it is simply the 'richest' word, the word in which is condensed all the richness of meaning of the field it 'quilts': the point de capiton is rather the word which, as a word, on the level of the signifier itself, unifies a given field, constitutes its identity: it is, so speak, the word to which 'things' themselves refer to recognize themselves in their unity" (ŽIŽEK 1989, S.95f.; Hervorh. Im Orig.). [33]

Knotenpunkte sind Signifikanten, die sozusagen über sich hinausweisen. Sie symbolisieren die Äquivalenz der unterschiedlichen diskursiven Momente (vgl. STÄHELI 1999, S.149f.). Es sind leere Signifikanten, da sie ihrer Bedeutung entleert wurden und kein fixes Signifikat bezeichnen. Dadurch können sie als Platzhalter fungieren und für eine Fülle an Bedeutungen stehen, sozusagen "das reine Sein des Systems" repräsentieren (LACLAU 1994, S.159, 1996; vgl. auch BRODOCZ 2000; RECKWITZ 2006a, S.344). Welcher Signifikant für eine bestimmte Zeit die Rolle des leeren Signifikanten übernimmt und einen bestimmten Diskurs repräsentiert, ist immer Gegenstand hegemonieller Auseinandersetzung (MARCHART 1998, S.11; vgl. LACLAU 1994, S.162ff.; MOEBIUS 2003, S.7). D.h. die Institutionalisierung einer bestimmten Artikulation kann nur durch gewaltsame Unterdrückung erreicht werden. Dabei verdecken habituelle Wiederholungen die Spuren dieser Unterdrückung: "Hegemonie hängt nicht von Popularität ab, sie hängt von der Normalisierung der Idee ab, es gäbe keine Alternativen." (SMITH 1998, S.232) [34]

Ein Beispiel für einen leeren Signifikanten, der (u.a.) im nationalistischen Diskurs als Knotenpunkt fungiert, ist der Begriff Nation, denn er vereint unterschiedlichste und auch widersprüchliche Bedeutungen. Er steht für eine "vorgestellte politische Gemeinschaft" (ANDERSON 1996, S.15), die – obwohl eine recht junge Erscheinung – so behandelt wird, als hätte es sie schon immer gegeben (vgl. z.B. WALLERSTEIN 1990). Er beinhaltet bestimmte Traditionen, geschichtliche Ereignisse, Rituale sowie nationale Symbole und präsentiert das, was eigentlich ein ethnisches Durcheinander moderner Nationalitäten ist, als die urgeschichtliche Einheit "eines Volkes" (vgl. HALL 1995b, S.33): "The homogenization and substantialization of the empty signifier of the nation, which is a defining feature of nationalist discourse, undoubtedly invokes a totalitarian closure, a violent reduction of difference to sameness" (TORFING 1999, S.194). [35]

3.2.3 Subjektive Aneignung und Veränderung diskursiver Strukturen

Wenn LACLAU und MOUFFE von Subjekten sprechen, tun sie dies in Hegemonie und radikale Demokratie "im Sinne von 'Subjektpositionen' innerhalb einer diskursiven Struktur" (LACLAU & MOUFFE 2006, S.153). Sie verstehen Subjekte als die Artikulation einer Gesamtheit von Subjektpositionen, die innerhalb bestimmter Diskurse hergestellt werden (vgl. MOUFFE 1993). Subjektpositionen sind dabei diskursive Positionen, Effekte von Artikulationen (LACLAU & MOUFFE 2006, S.153; vgl. auch SMITH 1998, S.228; STÄHELI 1999, S.146). Ähnlich wie Judith BUTLER sehen LACLAU und MOUFFE Identitäten nicht "als Ausdruck eines zeitlosen Mechanismus oder Prinzips, sondern als Produkte der Einsetzung kontingenter Normen" (LACLAU 1998, S.258). Dabei kann kein Subjekt auf eine einzige Subjektposition reduziert werden. Der Vielfalt unterschiedlicher Diskurse entspricht eine mannigfaltige Anzahl an Subjektpositionen, wobei sich die einzelnen Positionen durchaus auch widersprechen können (vgl. ANGUS 1998):

"[…] erst wenn die Sicht aufgegeben wird, dass das Subjekt sich nur als rein rational handelndes einbringt und sich dabei selbst völlig transparent ist, und wenn auch nicht mehr an der vermeintlichen Einheit und Homogenität der Gesamtheit seiner Positionen festgehalten wird, kann die Vielfalt der Beziehungen theoretisch analysiert werden, welche als Ein- und Unterordnungsformen die Position eines jeden einzelnen Individuums vielschichtig charakterisieren, und nur so ist es möglich, die Tatsache zu erfassen, dass ein Individuum in der einen Beziehung eine herrschende Position einnehmen kann, in einer anderen aber der Herrschaft unterworfen ist" (MOUFFE 2001, S.18f.). [36]

Die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts wird zugunsten einer fragmentierten Identität aufgegeben, wobei – wie LACLAU und MOUFFE zurecht bemerken – Identitäten nur durch den Gegensatz zu einem ihre Einheit postulierenden Diskurs als fragmentiert erscheinen (vgl. LACLAU & MOUFFE 2006, S.131). Der/die Einzelne kann sich innerhalb eines bestimmten Diskurses z.B. als "Deutsche/r" bezeichnen, innerhalb eines anderen Diskurses von sich jedoch als "Türke/Türkin" sprechen; oder anders ausgedrückt: Eine Selbstverortung als "Türke/Türkin" bedeutet nicht, "dass man nur bezeichnet, was man ist, sondern dass man sich mit etwas identifiziert, obwohl man sich auch mit etwas anderem identifizieren könnte" (BRODOCZ 2000, S.38). Dabei ist jedoch nicht davon auszugehen, dass ein jedes partiell geschlossenes und fixiertes Differenzsystem seine jeweils eigenen Subjektpositionen produzieren würde, die unbeeinflusst von anderen Diskursen wären. Denn jede einzelne Subjektposition ist als Übereinanderschichtung von mehreren Signifikationssequenzen zu verstehen, die sich gegenseitig verstärken oder in Konkurrenz zueinander treten können und letztendlich jedem eindeutigen Sinn seine Beständigkeit nehmen (vgl. RECKWITZ 2006a, S.343). [37]

Im Gegensatz zu FOUCAULT sehen LACLAU und MOUFFE die Beziehung zwischen Subjekt und diskursiven Formationen als Artikulation. Sie liefern somit einen theoretischen Rahmen, mit dem unterschiedliche Selbstverortungen innerhalb einer biografischen Erzählung erklärt werden können. Allerdings wird auch mit dieser Vorstellung vom Subjekt einseitig davon ausgegangen, dass Diskurse die Selbstverortungen beeinflussen. Einen Spielraum, wie der/die Einzelne sich mit der Subjektposition, in die er/sie hineingerufen wurde, identifiziert, wie er/sie sie "performt" oder produziert bzw. warum manche Subjektpositionen bekämpft oder niemals komplett übernommen werden, scheint es nicht zu geben. Dies hatte HALL bereits bei FOUCAULT kritisiert (HALL 1996, S.13), und auch LACLAU und MOUFFE bieten – zumindest in Hegemonie und radikale Demokratie (2006, Orig. 1985) – hierfür (noch) keine Lösung. Das Subjekt wird "ausschließlich als Moment der diskursiven Struktur gedacht" (STÄHELI 1999, S.155); als "historisch-spezifisches Produkt der 'Subjektivation' durch den Diskurs" (RECKWITZ 2006a, S.341). [38]

Doch in LACLAUs späteren Arbeiten – vor allem in New reflections on the revolution of our time (1990) – erfolgt eine Präzisierung und Erweiterung seines Subjektbegriffes hin zu einer Konzeption des Subjekts als Handelnde/r (agent). LACLAU orientiert sich nun – vor allem in Reaktion auf eine durch Slavoj ŽIŽEK (1989) an ihn herangetragene Kritik – verstärkt an LACANs psychoanalytischer Subjekttheorie. [39]

So geht LACLAU nun – LACAN folgend – davon aus, dass ein Subjekt nicht erst dadurch entsteht, dass es in eine Subjektposition hineingerufen wird, sondern dass es schon vor dieser Anrufung existiert. Dieses (primordiale) Subjekt besteht jedoch aus einem Mangel, der vom Subjekt zu füllen versucht wird, indem es sich (hegemonialen) Diskursen unterwirft (vgl. RECKWITZ 2006a, S.346): "Wenn ich mich mit etwas identifizieren muss, dann deshalb, weil ich von Anfang an keine volle Identität besitze." (LACLAU 2002, S.135) [40]

Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich nun auch eine andere Sicht auf die Funktion bzw. den "Nutzen" hegemonialer Diskurse:

"Sie stellen sich als kulturelle Versuche dar, die Identitätshoffnungen des Subjekts zu befriedigen, sie stülpen dem Einzelnen nicht nur gesellschaftliche Subjektivationszumutungen über, sondern erweisen sich als attraktive, psychisch positiv aufgeladene, am Ende libidinös besetzte Projektionsflächen von Subjekten, als eine Serie 'ideologischer Fantasien' (Žižek), von Formen eines mythischen 'sozialen Imaginären'. Umgekehrt wird nun deutlich, dass die Abgrenzung von einem Außen, einem Anderen außerhalb der diskursiven Ordnung mit Ausschlussfantasien – bis hin zu Vernichtungsfantasien – verknüpft ist, da dieses Andere die Komplettierung der eigenen geschlossenen Identität zu bedrohen scheint." (RECKWITZ 2006a, S.347) [41]

LACLAU und MOUFFE gingen jedoch bereits in Hegemonie und radikale Demokratie auch davon aus, dass Diskurse nie geschlossen sind. Durch diese Unabschließbarkeit entstehen immer wieder Situationen, in denen das Außen des Diskurses in Form von Unentscheidbarkeiten auftaucht. Selbst äußerst rigide Diskurse produzieren solche Situationen der Unentscheidbarkeit. So gibt es im Apartheid-Diskurs beispielsweise Entscheidungsprobleme bei der Zuteilung Einzelner in bestimmte ethnische Kategorien, was gleichzeitig den konstruierten Charakter dieser Kategorien aufzeigt (vgl. STÄHELI 1999, S.152). LACLAU nennt solche Situationen der Unentscheidbarkeit, in denen Identitäten durch ein Außen zerrüttet werden, Dislokationen (LACLAU 1990, S.39; vgl. STÄHELI 1999, S.152): "From the point of view of the subject, 'the structure cannot ensure its own structurality' […], i.e. doesn't hold itself together giving its components a necessary meaning." (HUDSON 2006, S.306) [42]

Wenn nun aber die Struktur nicht vollständig geschlossen ist und es so etwas wie Kontingenz gibt, dann kann auch ein Subjekt nicht nur "eine bloße Subjektposition in der Struktur" sein (LACLAU 2002, S.134). Vielmehr handelt es sich um ein Wechselspiel: In einer Situation der Unentscheidbarkeit steht ein Subjekt, das aus einem Mangel besteht, zwischen einem Diskurs und seinem Außen. Es muss die Unentscheidbarkeit durch eine Entscheidung auflösen und sich mit einem bestimmten Inhalt identifizieren, um wieder zu einem Moment des Diskurses zu werden (vgl. LACLAU 2002, S.134f.; MOEBIUS 2003, S.8). Erst durch diese Identifizierung kommt es wieder zu einer Verfestigung der Subjektposition.

"[…] if dislocations disrupt identities and discourses, they also create a lack at the level of meaning that stimulates new discursive constructions, which attempt to suture the dislocated structure. In short, it is the 'failure' of the structure, and […] of those subject positions which are part of such a structure, that 'compels' the subject to act, to assert anew its subjectivity" (HOWARTH & STAVRAKAKIS 2000, S.13). [43]

Indem LACLAU in seinen Überlegungen die Unabgeschlossenheit von Diskursen berücksichtigt und Artikulationen als kontingent denkt, kann er eine Vorstellung vom Subjekt entwickeln, das die Möglichkeit der Handlungsmacht (agency) besitzt. Dabei ist völlig klar, dass das Subjekt nicht außerhalb der Differenzstruktur existieren kann. Es ist abhängig von der Struktur und der ihm darin gegebenen Möglichkeiten der Identifikation (vgl. HUDSON 2006, S.307). [44]

4. Das Konzept der Artikulation

Das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt lässt sich mit Bezug auf FOUCAULTs Diskurstheorie und vor allem mit Bezug auf die Überlegungen zur Subjektkonzeption von LACLAU und auch MOUFFE bereits näher bestimmen. Ein Teil der eingangs aufgeworfenen Fragen kann nun schon beantwortet werden. Innerhalb eines Diskurses entstehen unterschiedliche Subjektpositionen, in die das Subjekt hineingerufen wird. Diese Positionierungen bleiben jedoch nicht ein für alle Mal bestehen, denn durch die Unabschließbarkeit von Diskursen entstehen Dislokationen, wodurch Subjekte ihren Charakter als Momente im Diskurs verlieren und zu Elementen werden können, die innerhalb (neu) artikulierter Diskurse (neue) Subjektpositionen einnehmen. [45]

Dies bedeutet, dass ein Subjekt in eine bestimmte Position hineingerufen wird. Kommt es jedoch zu Verschiebungen innerhalb des Diskurses, kann sich das Subjekt auch mit einer anderen Position identifizieren. Gleichzeitig verortet sich ein Subjekt nicht nur innerhalb eines Diskurses, sondern es nimmt unterschiedliche Subjektpositionen innerhalb verschiedener, intersektionell verschränkter Diskurse18) an, wobei diese sich gegenseitig verstärken oder auch in Konkurrenz zueinander treten können. [46]

Mit dem Konzept der Artikulation wird eine solche Beziehung von Diskurs und Subjekt auf den Punkt gebracht. Es beschreibt eine Möglichkeit der Verknüpfung, die aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann; aber auch eine Verbindung, die nicht über alle Zeiten hinweg bestehen bleiben muss bzw. die sich auch verändern kann. Mithilfe des Konzeptes der Artikulation lässt sich jedoch nicht nur die Beziehung zwischen Subjekt und Diskurs denken, sondern auch die Möglichkeit der Handlungsmacht. [47]

4.1 Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht

HALL versteht Identität als das "Vernähen" des diskursiven "Außen" mit den "inneren" Prozessen von Subjektivität (vgl. BARKER & GALASIŃSKI 2001, S.36):

"[…] I understand identities as points of suture, points of temporary attachment, as a way of understanding the constant transformations of who one is or as Foucault put it, 'who one is to become'. You only discover who you are because of the identities you are required to take on, into which you are interpellated: but you must take up those positionalities, however temporarily, in order to act at all." (HALL 1995a, S.65; Hervorh. im Orig.) [48]

Ebenso wie LACLAU und MOUFFE spricht auch HALL von Identität als einem Prozess der Identifizierung. Dabei geht er davon aus, dass Identifizierung sich nicht ein für alle Mal ereignet, sondern abhängig ist von den Diskursen, die uns umgeben und die sich im Laufe der Zeit verändern. Identität wird darüber hinaus durch das Andere bzw. die Anderen konstituiert, durch das, was sie unterscheidet.19) Sie ist in den Blick des oder der Anderen eingeschrieben. Dadurch wird der oder die Andere ein Teil von uns selbst (vgl. HALL 1994b, S.73). Identität kann nur in Relation zu dem, was man nicht ist, dem constitutive outside konstruiert werden (vgl. HALL 1996, S.4). Sie "entsteht aus dem Mangel an Ganzheit, der in den Formen, in denen wir uns vorstellen, wie wir von anderen gesehen werden, von Außen erfüllt wird" (HALL 1994a, S.196). Dadurch zerreißt die Grenze zwischen Innen und Außen. [49]

HALLs Vorstellung vom Subjekt ist also ebenso wie die von LACLAU und MOUFFE ohne eine gesicherte, wesentliche oder lang anhaltende Identität konzipiert (vgl. HESS & LINDER 1997, S.37). Wir werden – so HALL – "mit einer verwirrenden, fließenden Vielfalt möglicher Identitäten konfrontiert, von denen wir uns zumindest zeitweilig mit jeder identifizieren könnten" (HALL 1994a, S.183). Die vereinheitlichte, kohärente Identität sei daher eine Illusion: "Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder 'Erzählung unseres Ich' über uns selbst konstruieren." (HALL 1994a, S.183) [50]

HALL veranschaulicht dies am Beispiel seiner eigenen Biografie.20) So erzählt er, dass er sich selbst lange nicht als Immigranten bezeichnete, obwohl er von Jamaika nach Großbritannien immigriert war und von den Engländer/innen so genannt wurde. Erst als er in den frühen 1960er Jahren nach Jamaika zurückkehrte, wurde ihm bewusst, dass die Bezeichnung "Immigrant" genau das ausdrückte, was er war; jemand der seine Heimat für immer verlassen hatte: "Ich ging nach England zurück und wurde, was man mich nannte. Sie hatten mich als Immigranten begrüßt. Jetzt hatte ich endlich entdeckt, wer ich war. Ich begann, mir die Geschichte meiner Migration zu erzählen." (HALL 1994b, S.81) [51]

Doch für HALL war das "Immigrant-Sein" keine Bezeichnung, mit der er lange leben konnte. Es war für ihn kein "haltbarer" Platz zum Sein (vgl. HALL 1997b, S.135) bzw. – wie er an anderer Stelle zu bedenken gibt – ist jede Identität, die er im Laufe seines Lebens hatte, eine Identität "nach dem Event". Denn meist sei es so, dass man schon lange im Namen einer bestimmten Identität gehandelt habe, bevor jemand sagt: "Das ist es, was du bist." Und man denke: "Mein Gott, das ist es, was ich bin." Genau in diesem Moment aber könne man ziemlich sicher sein, dass man etwas anderes wird (vgl. HALL 1995a, S.66). HALL blieb also nicht lange bei der Selbstbeschreibung als "Immigrant". Schon wenig später begann für ihn eine neue Identifikationsphase: der Weg durch die – wie er sie selbst nennt – lange, wichtige, politische Erziehung, durch die er herausfand, dass er "Schwarzer" sei (vgl. HALL 1997b, S.135f.).21) [52]

HALL beschreibt also hier – am Beispiel seiner eigenen Biografie – wie ein Subjekt in eine Positionierung hineingerufen wird. Dies geschieht – unter Umständen – ohne dass der/die Einzelne sich dieser Positionierung bewusst ist. Doch HALL denkt sein Subjekt nicht ohne Handlungsmacht. Es kann in die Positionierung investieren, indem es sich z.B. die Geschichte der eigenen Migration erzählt und so seine Positionierung festigt. Doch durch die Unabgeschlossenheit des Diskurses – hier durch den Einfluss des amerikanischen "Black is beautiful"-Diskurses markiert – können auch neue Subjektpositionierungen entstehen, die vom Subjekt eingenommen werden. Dies bedeutete in seinem Fall nicht, dass die Subjektpositionierung "Immigrant" gänzlich verschwinden würde oder in keiner Weise mehr eingenommen werden könnte. Denn neben der Verortung als "Schwarzer" ist auch immer noch eine Verortung als "Immigrant" möglich, wobei beide Positionierungen innerhalb unterschiedlicher Diskurse von einem einzigen Subjekt eingenommen werden können. [53]

Das Einnehmen einer Subjektposition erfordert also – HALL zufolge – nicht nur, dass das Subjekt innerhalb eines Diskurses in die Subjektposition hineingerufen wird, sondern dass es auch in die Position investiert. Dies kann durch ein einfaches sich Hineinfügen geschehen, aber auch durch eine kreative Ausgestaltung oder Veränderung der Position bzw. durch einen anhaltenden Kampf gegen die Position. HALLs entscheidende Ergänzung zum Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt ist die der Handlungsmacht. Diese wiederum ist nur denkbar, wenn das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt als Artikulation verstanden wird. [54]

4.2 Positioniert sein

Identitäten stellen sich HALL zufolge zwar als Einheit dar, sind aber Fragmentierungen, die sich aus mehreren, zum Teil widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammensetzen (vgl. LUTZ 2001, S.253). Sie sind mit Herrschaftsinteressen und sozialen Interessen unterschiedlicher subordinierter Gruppen verbunden und sind das Ergebnis eines naturalisierten Prozesses der Vereinheitlichung (vgl. HALL 1996, S.5, 2002, S.36). Differenz22) ist daher – für HALL – nicht das Gegenteil von Identität, sondern ihr essenzieller Bestandteil (vgl. HALL & MAHARAJ 2001, S.41; HALL 2002, S.36). [55]

Mit Bezug auf DERRIDA verabschiedet sich HALL von einem Identitätsverständnis, das Identität als abgeschlossene Einheit fasst. Allerdings distanziert sich HALL auch von DERRIDAs Vorstellung der différance und vor allem von deren Fortführung in der Literaturwissenschaft und Philosophie, die er als "ausgesprochen verfeinerten, verspielten Dekonstruktivismus, der nur noch ein endloses akademisches Spiel ist", bezeichnet (HALL 1994b, S.76). So grenzt sich HALL zwar einerseits von der Vorstellung fixierter Identitäten ab, wehrt sich aber auch gegen eine Vorstellung absoluter Nicht-Fixiertheit. Er tritt dafür ein, die Spannung zwischen dem auszuhalten, was platziert, aber dennoch nicht an seinem Platz festgeschrieben ist.

"Wir müssen daher über eine derartige Spielerei hinaus denken und uns der wirklich harten Aufgabe widmen, die das Spiel der Differenz für uns geschichtlich bedeutet. Denn wenn Sinnproduktion von der ständigen Neupositionierung ihrer differentiellen Ausdrücke abhängt, hängt auch die Bedeutung in jedem spezifischen Fall von einem kontingenten und arbiträren Punkt, einer notwendigen Unterbrechung ab." (HALL 1994b, S.76) [56]

Mit der Vorstellung einer solchen "Unterbrechung", durch die Bedeutung hergestellt werden kann, knüpft HALL wiederum an die Diskurstheorie LACLAUs und MOUFFEs an. Er geht davon aus, dass die Bedeutung einer Signifikantenkette teilweise fixiert werden muss, um überhaupt etwas sagen zu können. Die Unentscheidbarkeit muss durch eine Entscheidung aufgelöst werden. Das Subjekt muss sich mit einem bestimmten Inhalt identifizieren (vgl. LACLAU & ZAC 1994, S.31ff.; LACLAU 1996): [57]

"[…] to say anything at all in particular, you do have to stop talking. Of course every full stop is provisional. […] It is not forever, not totally universally true. It's not underpinned by any infinite guarantees. But just now, this is what I mean; this is who I am. […] Full stop. OK." (HALL 1997b, S.136) [58]

Ein solcher "full stop" ist – so HALL – keineswegs natürlich und dauerhaft. Er widerspreche daher auch nicht dem ursprünglichen Verständnis von différance. Jede Positionierung ist für HALL strategisch und arbiträr (vgl. HALL 1994d, S.34), aber – und das ist für HALL zentral – wir müssen positioniert sein, um etwas sagen zu können. In diesem Zusammenhang vergleicht HALL Identität mit einem Bus. Man könne nur irgendwo ankommen, indem man in den Bus einsteige. Dabei sei völlig klar, dass das Ticket, das man hierzu brauche, niemals die ganze Person verkörpere; dennoch müsse man ein Ticket kaufen, um den Bus benutzen zu können. In gleicher Weise müsse man eine Position einnehmen, um etwas sagen zu können (vgl. HALL 1995a, S.65f.). Selbst wenn wir uns nur positionieren, um diese Position später wieder aufzugeben, müssen wir "in die Sprache eintreten, um aus ihr herauszukommen" (HALL 1994b, S.77). [59]

Als Beispiel hierfür kann ein Zeitungsinterview aus dem Jahr 1995 mit dem Leichtathleten Linford CHRISTIE dienen, das HALL in seinem für eine Seminarreihe an der Open University aufbereiteten Lehrbuch Representation. Cultural representations and signifying practices (1997c) zitiert. CHRISTIE kommentiert hierin die an ihn gestellte Frage nach seiner kulturellen Identität und berichtet von seinen Kindheitserinnerungen an Jamaika, wo er bis zu seinem achten Lebensjahr lebte. Dennoch folgert er: "I've lived here [in the UK] for 28 [years]. I can't be anything other than British" (zit. n. HALL 1997d, S.230). Mit dieser Aussage positioniert sich CHRISTIE als Brite, obwohl durchaus auch andere Positionierungen denkbar und möglich gewesen wären. Die Formulierung: "Ich kann nichts anderes sein" deutet auf eine aktive Auseinandersetzung mit dieser Frage hin. CHRISTIE setzt für sich einen Punkt. Er trifft eine eindeutige Entscheidung, mit der er gleichzeitig deutlich macht, dass es sich nicht um eine selbstverständliche "Wahrheit" handelt (vgl. SUPIK 2005, S.87f.). Es wird eine Subjektposition eingenommen, aber dabei die Möglichkeit anderer Positionierungen nicht "vergessen". [60]

HALL geht davon aus, dass wir die Spuren einer Vergangenheit in uns tragen, wobei es sich bei dieser Vergangenheit nicht um eine reine Tatsache handle. Sie müsse wieder entdeckt, neu erfunden und in Erzählungen verwandelt werden (vgl. HALL 1994b, S.84f.). Kulturelle Identität sei daher nicht fixiert, sondern immer hybrid.23) Doch sie könne "eine 'Positionalität' konstituieren, die wir vorläufig Identität nennen" (HALL 2000b, S.32). Ausschlaggebend sei hierbei, welche Geschichten wir uns vom eigenen Ich erzählen.24)

"Identität ist innerhalb des Diskurses, innerhalb der Repräsentation. Sie wird zum Teil durch die Repräsentation konstruiert. Identität ist eine Erzählung (narrative) vom Selbst; sie ist die Geschichte (story), die wir uns vom Selbst erzählen, um zu erfahren, wer wir sind. Wir zwängen ihr eine Struktur auf." (HALL 1999, S.94; Hervorh. im Orig.) [61]

5. Analyse von Biografien als Artikulationen

HALL betont in seinen Arbeiten die Hybridität kultureller Identitäten, die uneindeutig, ambivalent und kontingent sind. Sie sind Bestandteil von Diskursen und werden durch Diskurse konstruiert (vgl. LUTTER & REISENLEITNER 2002, S.84f.; WINTER 2005, S.275). Subjekt und Diskurs sind also in HALLs Subjektkonzeption – so wie bereits bei FOUCAULT – eng miteinander verknüpft. Im Unterschied zu FOUCAULT betont HALL jedoch hierüber hinaus die Möglichkeit von Handlungsmacht (agency). Er geht – LACLAU und MOUFFE folgend – davon aus, dass ein Subjekt in verschiedenen diskursiven Kontexten unterschiedliche Identitäten annimmt. Insofern versteht er jede kulturelle Identität als Artikulation (vgl. HEPP 1999, S.55), als (zeitweilige oder mögliche) Identifikation mit einer bestimmten Position. Das Subjekt müsse nicht nur in eine Subjektposition hineingerufen werden, sondern auch in diese investieren. Dabei sei jede Positionierung als strategisch zu verstehen. Sie ist eine bewusste Entscheidung gegen frei flottierende Signifikanten und arbiträre Schließungen. Sie ist eine Intervention, eine Unterbrechung des diskursiven Flusses (vgl. DAVIS 2004, S.186). Die Unentscheidbarkeit wird durch eine Entscheidung aufgelöst. [62]

Folgt man den geschilderten Überlegungen, so müssten sich die Möglichkeiten der Artikulation auch oder sogar insbesondere in biografischen Erzählungen widerspiegeln. Denn beim Sprechen müssen Positionierungen eingenommen werden, wobei von Diskursen abhängig ist, welche Positionierungen zur Verfügung stehen. Werden Biografien nun als Artikulationen analysiert (vgl. LUTZ 2009/im Druck), müssten diese Positionierungen herausgearbeitet werden können. Gleichzeitig könnten hier Verortungen sichtbar werden, die den Artikulationscharakter des Zusammenhangs zwischen Diskurs und Subjekt sichtbar machen, wenn also z.B. eine Positionierung eingenommen, gleichzeitig jedoch auch auf die Möglichkeit alternativer Positionierungen verwiesen wird. Es ließe sich dann nicht nur rekonstruieren, welche Positionierungen eingenommen werden, sondern auch, auf welche Art und Weise dies geschieht. Dies würde bedeuten, dass gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen der Produktion von Biografien aus den Biografien heraus "mit Hilfe biographischer Einzelfallanalysen strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können" (DAUSIEN, LUTZ, ROSENTHAL & VÖLTER 2005, S.7f.). Jede Biografieanalyse wäre dementsprechend letztlich auch als Diskursanalyse zu verstehen (vgl. ROSENTHAL 2008, S.172). [63]

Mit dem Konzept der Artikulation ließe sich also eine Brücke von der Diskurs- zur Biografieforschung schlagen. Dies gelingt jedoch nur, wenn von einem nicht-identischen, dezentrierten oder fragmentierten Subjekt ausgegangen wird. Der Biografieforschung wird jedoch zum Teil vorgeworfen, sie produziere mithilfe des narrativ-biografischen Interviews "eine (potentiell) fixierbare Identität, eine vermeintlich 'tiefe Wahrheit des Selbst' " (SCHÄFER & VÖLTER 2005, S.170). [64]

Als problematisch führen Thomas SCHÄFER und Bettina VÖLTER in ihrem Aufsatz Subjekt-Positionen. Michel Foucault und die Biographieforschung (2005) beispielsweise an, dass Gabriele ROSENTHAL von einem "mit sich selbst identischen Subjekt" (ROSENTHAL 1995, S.133) ausgehe. ROSENTHAL verwerfe zwar die Vorstellung eines inneren Kerns des Subjekts bzw. eines Subjekts, das im Verlauf des Lebens der/die Gleiche bleibt, halte aber an der Idee der biografischen bzw. generativen Strukturen fest. Diese verstehe sie zwar "als solche, die sich im Prozess herausbilden und immer wieder (re)produzieren oder transformieren"; dennoch zeige sich hier eine Tendenz, das Subjekt als "übergreifende Einheit mit einer bestimmten (strukturalen) Identitäts- und Handlungslogik zu konzipieren" (SCHÄFER & VÖLTER 2005, S.175). [65]

Auch Wolfram FISCHER spricht von der Existenz "generativer Strukturen", die verstanden werden können "as principles that organise emergent events in the individual's life in order to enable him or her to achieve a consistent orientation" (FISCHER-ROSENTHAL 2000, S.119; vgl. SCHÄFER & VÖLTER 2005, S.174ff.). Bis zur Adoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter würden sich eine Gestalt und operationale biografische Struktur aufbauen, die im weiteren Verlauf des Lebens nicht wesentlich variiere. Als konsistente biografische Strukturierung setze sie sich nach dem frühen Erwachsenenalter ähnlich fort und bestimme Erfahrungs- und Handlungsstile; mache auf Dauer unser Selbst aus (vgl. FISCHER 2006). [66]

Dies bedeutet für Wolfram FISCHER jedoch nicht, dass das Selbst "von Innen" kommt. Stattdessen geht er davon aus, dass das Selbst in Interaktionen entsteht, "in denen es qua Positionierungen konstruiert wird und deren Anmutungen wir in der Beobachtung der anderen und von uns selbst in uns aufnehmen und im Laufe der Zeit daraus und in neuen Interaktionen das machen, wer wir selbst sind" (FISCHER 2006, S.316). Bereits Mitte der 1990er Jahre konstatierte er:

"A straightforward 'identity' in the sense of being able to identify one's self as 'This-is-who-I-am-and-this-is-who-I-am-not' are hopelessly inadequate. Identity is decentered [...]. What a person refers to as his or her 'identity' invariably belongs to myriad selves lost in the past as well as to the 'strange other'." (FISCHER-ROSENTHAL 1995, S.253) [67]

In diesem Zusammenhang forderte Wolfram FISCHER auch, von "Biografie" statt von "Identität" zu sprechen, da "der Identitätsbegriff als normativer, sinn- und einheitsstiftender Begriff" (FISCHER-ROSENTHAL 1999, S.155) seine Funktion nicht halten könne und wissenschaftlich angemessenere und komplexere Konzepte benötigt würden. Das Konzept der Biografie bringe den Vorteil, dass es gleichzeitig gesellschaftlich gegebene und präskriptive, selbst-erlebte und eigen-leibliche Beschreibungen ex-post und orientierend zusammenfassen und dabei Zeit verarbeiten sowie Temporalstrukturen produzieren und kommunizieren könne (vgl. FISCHER-ROSENTHAL 1999). Es verweise auf einen interpretativen, offenen Prozess des Werdens, wohingegen "Identität" einen fixierenden Status des Seins bzw. Habens fokussiere (vgl. FISCHER-ROSENTHAL 1995). [68]

Ein solcher Ansatz ist – so denke ich – fruchtbar für die Verknüpfung mit diskurstheoretischen Überlegungen zur Subjektkonzeption (vgl. auch LUTZ 2009/im Druck). Schwierigkeiten bereiten jedoch weiterhin die sogenannten generativen oder biografischen Strukturen, die mit einer diskurstheoretischen Perspektive schwer vereinbar scheinen; zumindest dann, wenn man der Biografieforschung vorwirft, dass sie einheitsstiftende Sinnlogiken unterstelle und von einem "semantische[n] Netz logischer Beziehungen" ausgehe, "in dem sich alle Handlungen, Gedanken oder Gefühle des/r BiographIn 'verfangen' " (SCHÄFER & VÖLTER 2005, S.178).25) SCHÄFER und VÖLTER schlagen daher eine Prämisse für die Biografieforschung vor. Sie plädieren dafür, zunächst einmal davon auszugehen,

"dass es bei den BiographInnen eine – je empirisch zu rekonstruierende – Vielfalt von subjektiven Handlungs- und Deutungsstrukturen bzw. von lebensgeschichtlichen oder biographischen Elementen und Diskursen geben kann, die punktuell ineinander fließen, strukturell, systematisch und regelhaft verbunden sein [können], die aber auch nebeneinander unverbunden existieren können" (SCHÄFER & VÖLTER 2005, S.177; Hervorh. im Orig.). [69]

Folgt man diesen Überlegungen, werden identitätslogische Zuschreibungen durch die Forschung vermieden. Es ließe sich dann tatsächlich eine diskurstheoretische Perspektive in die Biografieforschung integrieren. Denn eine Biografie wird nicht nur durch die individuelle Erfahrungsgeschichte und durch situative und kommunikative Bedingungen strukturiert, sondern eben auch durch Diskurse, die quer zu den übrigen Konstitutionsprozessen liegen. Wird außerdem der Zusammenhang zwischen Diskurs und Subjekt als Artikulation verstanden, so ließen sich die in biografischen Erzählungen rekonstruierbaren Formen der Handlungsmacht darüber hinaus nicht nur empirisch beschreiben, sondern auch theoretisch fassen. [70]

Anmerkungen

1) Für HALL gibt es kein Verständnis von Identität außerhalb von Kultur und Repräsentation, was er zum Teil durch die Bezeichnung "kulturelle Identität" verdeutlicht (vgl. PROCTER 2004, S.125). Er unterscheidet sich hierin deutlich von einem Kultur- und Identitätsbegriff, wie er in der deutschsprachigen Forschung meist üblich ist. <zurück>

2) Für meine Dissertation habe ich narrativ-biografische Interviews mit männlichen, jugendlichen Straftätern geführt, die eigene und/oder familiäre türkisch-deutsche Migrationserfahrung haben. Diese Interviews werte ich nach der strukturalen biografischen Fallrekonstruktion (vgl. FISCHER-ROSENTHAL & ROSENTHAL 1997, 2000) aus, die ich jedoch modifiziert habe, um vor allem die diskursiven Positionierungen der Jugendlichen analysieren zu können (vgl. auch SPIES 2009). <zurück>

3) HALL bezieht sich in seinen Arbeiten – die im Kontext der Cultural Studies entstanden sind – meist auf Bücher, Filme und Ausstellungen. Darüber hinaus spielen seine eigenen biografischen Erfahrungen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner theoretischen Konzepte (vgl. Abschnitt 4.1). <zurück>

4) HALL konzentriert sich hierbei auf die "Dezentrierungen im intellektuellen Leben und im westlichen Denken", wobei er einräumt, dass "historisch gesehen vieles die stabile Bedeutung von Identität […] verschoben oder dezentriert hat" (HALL 1999, S.84). <zurück>

5) "Modernität" steht in der hier zitierten deutschen Übersetzung für modernity, "Modernismus" für modernism. Üblicherweise wird modernity im Deutschen jedoch mit "Moderne" übersetzt und modernism mit Spätmoderne (vgl. SUPIK 2005, S.18). <zurück>

6) HALL benennt darüber hinaus meist eine vierte und fünfte Dezentrierung, die er FOUCAULT (vgl. HALL 1994a, S.197f.) bzw. der "Relativierung der westlichen Narration" (HALL 1994b, S.69) und dem Einfluss des Feminismus (vgl. HALL 1994a, S.198f.) zuschreibt. <zurück>

7) Bereits in einer früheren Diskussion mit Homi K. BHABHA und Jacqueline ROSE sprach HALL von Identitäten als "the forms in which we are obliged to act, while always knowing that they are representations which can never be adequate to the subject processes that are temporarily invested in them" (HALL 1995a, S.65). <zurück>

8) FOUCAULTs Interesse geht also über das der reinen Sprachanalyse hinaus. Für ihn bildet die Sprache ein System für mögliche Aussagen, wobei "eine endliche Menge von Regeln […] eine unendliche Zahl von Performanzen gestattet. Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen" (FOUCAULT 1981, S.42). Daher frage auch die Sprachanalyse lediglich, gemäß welchen Regeln eine bestimmte Aussage konstruiert worden ist. <zurück>

9) SARASIN kritisiert bspw., dass das Subjekt in der "Archäologie" seinen Platz legitimen Sprechens allein vom Diskurs zugewiesen bekam (SARASIN 2001, S.70). ANGERMÜLLER konstatiert, dass FOUCAULT nicht die diskursive Organisation von Subjektivität, also die Stellung des Individuums im Diskurs, näher untersucht hat (ANGERMÜLLER 2005b, S.9). HALL selbst bezieht sich vor allem auf die Kritik von Lois McNAY (1994). <zurück>

10) So schreibt FOUCAULT bspw. in der Archäologie des Wissens: "Zwar bestehen […] Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen" (FOUCAULT 1981, S.74). In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France wird er noch deutlicher und fordert die Aufhebung der "Souveränität des Signifikanten" (FOUCAULT 2003, S.33; vgl. auch SARASIN 2006, S.98f.). <zurück>

11) Diese Inauguralvorlesung vom 2. Dezember 1970 wird in der Sekundärliteratur meist als Beginn von FOUCAULTs genealogischer Phase gehandelt. FOUCAULT unternimmt allerdings nicht mehr den Versuch einer systematischen und methodischen Grundlegung seiner Vorgehensweise, die mit der "Archäologie" vergleichbar wäre (vgl. KELLER 2004, S.48). <zurück>

12) Das Thema der Macht tauchte bereits in FOUCAULTs früheren Schriften auf (z.B. in Wahnsinn und Gesellschaft [1999a] und in Die Geburt der Klinik [1999b]), doch ging es hier hauptsächlich um Äußerungen und deren Effekte, während die Umwelt der Äußerungen weitgehend ausgeblendet blieb (vgl. SAAR 2007, S.187). <zurück>

13) HALL steht mit dieser Kritik keinesfalls allein. Auch andere Theoretiker/innen kritisieren die mangelnde Handlungsmacht in FOUCAULTs Subjektkonzeption (vgl. BARKER & GALASIŃSKI 2001, S.45f.). <zurück>

14) RECKWITZ ordnet LACLAU einem dekonstruktiven Poststrukturalismus zu; im Gegensatz zu einem – in Deutschland vor allem durch die Rezeption der frühen Arbeiten FOUCAULTs geprägten – "strukturalistischen Poststrukturalismus": "Die Leitidee einer solchen dekonstruktiv-poststrukturalistisch informierten Sozialwissenschaft […] lautet, dass die Wissensordnungen, die Codes der Kultur, statt jene Eindeutigkeit und reproduzierte Routine zu schaffen, die sie intendieren, regelmäßig und unintendiert kulturelle Instabilität hervorbringen, Instabilitäten, die sich aus mehrdeutigen, paradoxen und selbstwidersprüchlichen Konstellationen der Differenz ergeben." (RECKWITZ 2006b, S.14) <zurück>

15) Andere Nationalstaaten dienen in diesem Zusammenhang als Spiegel, in dem die Nation ihr umgekehrtes Bild betrachten kann. Sie ist nicht das, was diese Anderen sind oder als was sie dargestellt werden (vgl. TERKESSIDIS 1998, S.213, 1995, S.68; TORFING 1999, S.193f.). <zurück>

16) LACLAU und MOUFFE gehen also davon aus, dass Bedeutungen nur in konstitutiven Verweisungszusammenhängen und durch eine Beziehung zum konstitutiven Außen erzeugt werden. Für MOEBIUS (2003) ist dies eine präzisere Ausarbeitung des FOUCAULTschen Diskursbegriffes (vgl. VIEHÖVER 2004). <zurück>

17) LACLAU und MOUFFE gehen insofern in ihrem diskurstheoretischen Ansatz über FOUCAULT hinaus und heben die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auf (vgl. MOEBIUS 2003, S.2; RECKWITZ 2006a, S.341f.; TORFING 1999, S.90, 94). <zurück>

18) Ich beziehe mich hier – ebenso wie Elisabeth TUIDER (2007) – auf das Konzept der Intersektionalität (intersectionality), bei dem davon ausgegangen wird, dass jede/r Einzelne im Schnittpunkt unterschiedlicher Kategorien positioniert ist, wobei diese Kategorien nicht als statische, sondern als flüssige und sich verschiebende Kategorien betrachtet werden (vgl. z.B. LUTZ & DAVIS 2005; CRENSHAW 1993; YUVAL-DAVIS 2006). <zurück>

19) HALL bezieht sich hier auf LACAN, der davon ausgeht, dass sich die disparate Identität eines Kleinkindes durch den Eintritt in das Spiegelstadium als Ganzes konstituiert. Die Wahrnehmung eines eigenen Ich wird durch das Andere im Spiegel ermöglicht. Das Spiegelstadium kann so als Identifikation verstanden werden, das durch die Aufnahme des Bildes eine Verwandlung des Subjekts auslöst (vgl. LACAN 1991). <zurück>

20) Für HALL spielen seine eigenen biografischen Erfahrungen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner theoretischen Konzepte. In der deutschsprachigen Forschung ist dies eher unüblich und würde vermutlich auch schnell mit dem Vorwurf mangelnder Objektivität konfrontiert werden. Im Bereich der Cultural, Postcolonial und auch Gender Studies ist solch ein Vorgehen jedoch durchaus üblich bzw. auch bewusst gewählt, da davon ausgegangen wird, dass es kein Wissen aus dem "Off" gibt, jedes Wissen also mit der eigenen Biografie verknüpft ist. Donna HARAWAY spricht in diesem Zusammenhang von "situiertem Wissen" (vgl. HARAWAY 1995). <zurück>

21) In dieser Phase, deren Verlauf HALL – im Nachhinein – als Identitätspolitik ersten Grades bezeichnet, ging es darum, sich selbst zu repräsentieren, anstatt immer nur durch die/den Anderen als Objekt repräsentiert zu werden. HALL spricht in diesem Zusammenhang von einem "gewaltige[n] Akt von […] imaginärer politischer Neu-Identifikation und Neu-Territoralisierung" (HALL 1994b, S.78): Immigrant/innen begannen, "die Sprache ihrer ursprünglichen Heimat zu sprechen" und verlorene Geschichten wieder zu entdecken (HALL 1994b, S.78). Dabei entstand eine Einheit, die allen oberflächlicheren Differenzen trotzte und die unabhängig von äußeren Einflüssen einen stabilen Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellte (vgl. HALL 1994d, S.27). Dies gelang zunächst einmal dadurch, dass man sich einen Namen gab: "Schwarz". Hierzu musste ein ganzes System an Bedeutungen verdrängt werden, das bereits in die Bezeichnung eingeschrieben war (vgl. HALL 1999, S.86). Indem der Signifikant "schwarz" von seinen ursprünglichen Bedeutungen gelöst wurde, konnte er zu einem "leeren Signifikanten" werden; zu einem Knotenpunkt, durch den diejenigen sich selbst repräsentieren konnten, über die bisher immer nur gesprochen wurde. <zurück>

22) HALLs Verständnis von Differenz wurde u.a. von DERRIDAs Begriff der différance beeinflusst. Différance verweist durch das Austauschen eines einzelnen Buchstabens (différance statt différence) darauf, dass Differenz nicht nur für "Unterschied" steht, sondern (im Französischen) auch für "Aufschub" bzw. "aufschieben". Das gewohnte Verständnis von Differenz wird von DERRIDA durch das regelwidrige "a" durcheinandergebracht (vgl. HALL 1994b, S.75). "Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt." (DERRIDA 1991, S.88) Bedeutungen können daher – DERRIDA zufolge – nie endgültig und abschließend fixiert werden. Während im Strukturalismus die einzelnen Elemente durch ihre Stellung im Beziehungsgeflecht eine Bedeutung erhalten, lässt sich für DERRIDA Bedeutung nicht fassen. Das endgültige Signifikat wird nie erreicht, da dieses fortwährend aufgeschoben und verzögert wird (vgl. PROCTER 2004, S.120). <zurück>

23) HALL greift hier das Konzept der Hybridität auf, das vor allem durch die Arbeiten von Homi K. BHABHA geprägt wurde (BHABHA 2000; vgl. auch SPIES 2005). <zurück>

24) Besonders deutlich zeige sich dies bei Menschen, die für immer aus ihren Heimatländern zerstreut wurden und starke Bindungen zu den Orten ihrer Herkunft erhalten, jedoch ohne die Illusion, zur Vergangenheit zurückkehren zu können. Sie trügen die Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich. Diese seien nicht einheitlich und würden sich auch nie im alten Sinne vereinheitlichen lassen, "weil sie unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinander greifender Geschichten und Kulturen sind" (HALL 1994a, S.218). Die Konstruktion alternativer lokaler Versionen von Geschichte und von Kulturen diene hierbei als Ressource. Mithilfe der Erfindung (und nicht nur Wiederentdeckung) von Traditionen konstruierten marginalisierte Menschen neue Identitäten und Erzählungen, "ohne die sie nicht überleben können" (HALL 2005, S.804): "Junge schwarze Männer und Frauen der dritten Generation wissen, dass sie von der Karibik kommen, dass sie schwarz und dass sie britisch sind. Sie möchten von allen drei Identitäten sprechen. Sie sind nicht dazu bereit, auch nur eine davon aufzugeben. […] Sie sind alle diese Identitäten zusammen." (HALL 1994b, S.86) In Anlehnung an Salman RUSHDIE bezeichnet HALL diese Männer und Frauen als "Übersetzer", als Produkte der neuen Diaspora, die lernen mussten, mindestens zwei Identitäten anzunehmen und zwei kulturelle Sprachen zu sprechen, um zwischen ihnen zu übersetzen und zu vermitteln (vgl. HALL 1994a, S.218, 1995b, S.41; RUSHDIE 1992, S.31). Sie leben – so HALL – mit "Differenz", anstatt sie einfach zu vergessen (vgl. HALL 2005, S.805). <zurück>

25) So beschreibt bspw. Monika WOHLRAB-SAHR (2006, S.88f.) Identität als "Organisation von Erfahrung", durch die eine Struktur hervorgebracht werde und die die "die Einheit der Person" repräsentiere. Durch Veränderungsprozesse und Instabilitäten im Verlauf gesellschaftlichen Wandels könne es bisweilen zu Strukturwandel kommen. Doch "auch in Zeiten massiver äußerer Veränderungen [greifen] einmal aufgebaute Formen der Strukturierung", sodass "ab einem bestimmten Punkt der Stabilisierung [...] eine unhintergehbare biographische 'Realität'" entstehe. <zurück>

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Zur Autorin

Tina SPIES, Soziologin M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Sozialwissenschaftliche Grundlegung von Fallanalysen Universität Kassel.

Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Cultural und Postcolonial Studies, Methoden qualitativer Sozialforschung, Migration, Geschlecht.

Kontakt:

Tina Spies

Universität Kassel
Fachbereich Sozialwesen
Arnold-Bode-Str. 10
D-34109 Kassel

E-Mail: tspies@uni-kassel.de

Zitation

Spies, Tina (2009). Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht. Zur Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung mithilfe des Konzepts der Artikulation [70 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(2), Art. 36, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0902369.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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