Volume 9, No. 3, Art. 34 – September 2008
Soziologischer Film – theoretische und praktische Aspekte
Jerzy Kaczmarek
Zusammenfassung: Der Artikel beschäftigt sich mit einem neuen Begriff in der visuellen Soziologie, dem soziologischen Film. Er ist definiert als autonome wissenschaftliche Arbeit, die soziale Wirklichkeit mithilfe soziologischen Wissens analysiert. Es werden die charakteristischen Merkmale und eine Typologie des soziologischen Films dargestellt. Analysiert wird auch der spezifische soziale Prozess des Filmens, in dem die Kamera einen Einfluss auf das Verhalten der gefilmten Personen ausübt. Einen integralen Teil des Artikels bilden drei beigefügte Filme als Beispiele für verschiedene Kategorien soziologischer Filme.
Keywords: soziologischer Film; visuelle Soziologie; Videoforschung; qualitative Sozialforschung; ethnografischer Film
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zwei Definitionen des soziologischen Films
3. Charakteristik des soziologischen Films
4. Vom Footage zum Spielfilm
5. Filmen als sozialer Prozess
6. Schlussfolgerungen
Liste der im Text erwähnten Filme
Der soziologische Film ist noch immer ein neuer Begriff, der ebenso viele Diskussionen erregt wie Zweifel weckt, ob tatsächlich so etwas wie "der soziologische Film" überhaupt existiert und wofür er eigentlich gebraucht wird. An dieser Stelle muss der ethnografische Film erwähnt werden, der in der Anthropologie schon seit Langem anerkannt ist. Er ist eine der Quellen des soziologischen Films, ebenso wie die visuelle Anthropologie eine Vorgängerin der visuellen Soziologie darstellt. Diese Entwicklung: visuelle Anthropologie – visuelle Soziologie betrifft auch das Paar: ethnografischer Film – soziologischer Film. Wie schnell soziologische Filme eine Anerkennung als vollberechtigte wissenschaftliche Darstellungsmittel erlangen werden, hängt sowohl von denjenigen Soziolog/innen ab, die solche Filme herstellen, als auch von denen, die sie anschließend einsetzen (könnten). Allerdings stehen viele der letzteren der visuellen Soziologie noch skeptisch gegenüber. [1]
Eine weitere Quelle des soziologischen wie auch des ethnografischen Films ist der Dokumentarfilm. Der ethnografische Film wird übrigens oft als Variante des Dokumentarfilms bezeichnet (PRZYLIPIAK 2004, S.179). Viele Dokumentarfilme weisen dabei ein sehr großes soziologisches Potenzial auf. Hier ist eine ganze Reihe von Dokumentarfilmer/innen mit guter soziologischer Vorstellungskraft zu erwähnen, deren Filme durchaus in der universitären Lehre eingesetzt werden könnten. Ich denke etwa an Strömungen des Dokumentarfilmes wie direct cinema oder cinéma vérité oder an Filmemacher wie beispielsweise Walter RUTTMANN, Klaus WILDENHAHN, Winfried JUNGE, Fernando BIRRI oder Kazimierz KARABASZ. Letzterer wird zur sog. soziologischen Richtung im polnischen Dokumentarfilm gezählt. [2]
2. Zwei Definitionen des soziologischen Films
Der soziologische Film kann auf zwei Weisen definiert werden, obschon man diese Definitionen auch als die Pole eines Kontinuums verstehen kann, zwischen denen – je nach angenommenem Paradigma – weitere Definitionen existieren können. Einerseits lässt sich der soziologische Film ganz breit definieren, d.h. ein soziologischer Film wäre potenziell jeder Film mit gesellschaftlichen Inhalten. Es kann allerdings angenommen werden, dass alle Filme gesellschaftliche Inhalte aufweisen, weil – um mit Sol WORTH zu sprechen – jeder das "Dokument einer Kultur (record of culture)" oder das "Dokument über eine Kultur (record about culture)" ist (zit. nach SCHÄNDLINGER 1998, S.330f). Mitunter stellen Filmemacher/innen soziale Probleme direkt dar oder ihre Filme sind, wissenssoziologisch gesprochen, unbewusster Ausdruck eines bestimmten kollektiven Bewusstseins. Der soziologische Film umspannt also in diesem Sinne als Genre sowohl den wissenschaftlichen Film als auch den Dokumentar- oder gar den Spielfilm. Diese breite Bezeichnung knüpft an die Definition des ethnografischen Films von WORTH an, der konstatiert, dass "jeder Film aufgrund seines Ziels oder Gebrauchs ein ethnographischer Film werden kann" (zit. nach HOHENBERGER 1998, S.139). Eva HOHENBERGER (1998, S.139) kritisiert eine solche Bezeichnung des ethnografischen Films allerdings als "Anti-Definition". Wenn wir unsere Erwägungen dieser breiten Definition folgend auf den Bereich des soziologischen Films übertragen, müssten wir feststellen, dass die Intention derer, die einen solchen Film in ihrer Forschung als hilfreich erachten, letztlich darüber entscheidet, was ein soziologischer Film ist. [3]
Die oben angeführte Definition scheint indes zu umfangreich und folglich wissenschaftlich wenig tauglich zu sein. Sie erweckt zudem den Anschein, als könnten visuelle Soziolog/innen ihren Forschungsbereich nicht präzise bestimmen. Ich würde deshalb eine engere Definition vorschlagen, die besser erlaubt, die Eigenart des soziologischen Films zu erfassen. Er stellt nämlich eine autonome wissenschaftliche Arbeit dar, welche die soziale Wirklichkeit mithilfe soziologischen Wissens analysiert. Diese Arbeit ist eine klar strukturierte, sorgfältig interpretierte und bewusst zugeschnittene Aussageform. Den soziologischen Film betrachte ich als eine wissenschaftliche Ausdrucksform, die analog zu anderen, textförmigen wissenschaftlichen Schriftgattungen behandelt werden sollte. Im Fall des Films wird natürlich eine andere "Sprache" verwendet. Außerdem unterscheidet sich der Entstehungsprozess soziologischer Texte vom Prozess des Filmemachens. Peter Ian CRAWFORD (1993, S.73) stellt dazu in seinem ethnografischen Text eine "fundamental difference between the process of ethnographic writing (data → textualisation → text) and filming (footage → editing → film)" fest. Eingedenk dieses grundlegenden Produktionsunterschiedes möchte ich jedoch die Möglichkeit aufzeigen, den soziologischen Film analog zu textlichen, soziologische Aussagen in Form von Büchern oder Artikeln zu behandeln. Um diese Möglichkeit vollkommen auszuschöpfen, ist im Hinblick auf die Entfaltung einer Methodologie der visuellen Soziologie noch viel zu leisten. Aber eine wachsende Zahl von Soziolog/innen versucht, diesen noch nicht gebahnten Weg zu verfolgen. [4]
Außerdem soll der soziologische Film eine Aussage machen, die die soziale Wirklichkeit betrifft, und deshalb müssen seine Autor/innen soziologische Kompetenz besitzen. Diese Kompetenz hebt allgemein die wissenschaftliche von einer alltäglichen oder vorwissenschaftlichen Ausdrucksweise deutlich ab. Genauso verhält es sich mit dem soziologischen Film, der folglich zum Genre des wissenschaftlichen Films gehört. Der soziologische Film muss, ebenso wie andere Formen wissenschaftlicher Aussagen, eine entsprechende Struktur haben, die im Fall des Films zusätzlich mit dem Problem des Schnitts verbunden ist, welcher eine andere Strukturierung erfordert als im Falle von schriftlichen Ausdrucksformen. [5]
Schließlich ist der soziologische Film eine Interpretation der sozialen Wirklichkeit, wie auch überhaupt Soziologie eine Interpretation des sozialen Handelns von Menschen ist. Im Film gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Interpretation, weil mündliche Kommentare, Einblendungen, Musik, entsprechende Aufnahmen, Schnitt und sogar spezielle Effekte angewendet werden können, um soziales Wissen einzuarbeiten, das auf soziologische Reflexion gegründet und durch konkrete Theorien gestützt ist. [6]
Obgleich der soziologische Film ein recht junger Begriff innerhalb der visuellen Soziologie ist, lässt er sich in diesem Bereich gut verorten. So unterscheidet KNOBLAUCH (2004, S.126) mit Bezug auf die Videoanalyse folgende sieben Datensorten in der Videoforschung:
wissenschaftlich aufgezeichnete natürliche soziale Situationen
wissenschaftlich aufgezeichnete experimentelle Situationen
Interviews (Softwaretests, Feldinterviews)
von Akteuren aufgezeichnete natürliche soziale Situationen (Überwachung, Selbstaufzeichnung)
von Akteuren aufgezeichnete gestellte Situationen (Videotagebuch)
von Akteuren aufgezeichnete und bearbeitete Situationen (Hochzeitsvideos)
von Akteuren aufgezeichnete und professionell bearbeitete Situationen (Hochzeitsvideos, Dokumentationen, Selbstdarstellungen) [7]
Die vorgenannten Datensorten lassen noch Platz für eine weitere Kategorie, und zwar "wissenschaftlich aufgezeichnete und professionell bearbeitete Situationen". Dieser Kategorie wäre dann der soziologische Film zuzuordnen als wissenschaftliche audiovisuelle Aussageform, die auf der Basis soziologischen Wissens angefertigt wird. [8]
3. Charakteristik des soziologischen Films
Die schon seit Langem vor dem Hintergrund theoretischer Modelle angestellten Erwägungen über den ethnografischen Film können recht nützlich sein, um auch den soziologischen Film zu charakterisieren. Von besonderer Relevanz dürfte hier etwa Karl HEIDERs Konzeption des ethnografischen Films sein, der verschiedene Kriterien zur Beurteilung der ethnografischen Qualität eines Filmdokuments anführt, die er als "Ethnografizität" bezeichnet: ethnografische Kompetenz, Verhältnis zu gedrucktem Material, ganze Handlungen, ganze Körper, Erklärung und Bewertung der verschiedenen Störungen, grundsätzliche technische Kompetenz, Angemessenheit des Tons, Angemessenheit des Kommentars, Anwesenheit des Ethnologen/der Ethnologin, Kontextualisierung, ganze Menschen, Unterbrechungen der Filmaufnahme, Unterbrechung der Kontinuität, unbeabsichtigte Verhaltensstörungen, beabsichtige Verhaltensstörungen (n. HOHENBERGER 1988, S.144). Diese Attribute können in einem ethnografischen Film auf drei Arten erfüllt werden: minimal, mittel und maximal. Ein Film kann also dann in vollem Maße als ethnografischer Film bezeichnet werden, wenn dessen Produzent/innen eine hohe ethnografische Kompetenz besitzen, er zudem in einem vollständigen Zusammenhang mit gedrucktem Material steht1), ganze Handlungen und ganze Körper gezeigt und alle Störungen adäquat erklärt werden. Hinzukommt, dass die Filmemacher/innen eine hohe technische Kompetenz besitzen, ausschließlich natürlicher Synchronton verwendet wird, der als optimal entschlüsselnder Kommentar für die Bilder dient, und der Ethnologe/die Ethnologin sichtbar in Interaktion und Datensammlung erscheint, in dem der Kontext gut erkennbar ist. Ein solcher Film zeigt eine Gruppe als ein aus Individuen bestehendes Kollektiv und nicht als namenlose Masse. Der Film dokumentiert das Geschehen in Realzeit und behält tatsächliche Sequenzen bei. Unbeabsichtigte und beabsichtigte Verhaltensstörungen müssen minimal sein. Diese Kriterien HEIDERs lassen sich auf eine Charakterisierung des soziologischen Films übertragen, weil manche der Attribute der "Ethnografizität" für die Kategorienbildung des soziologischen Films verwenden werden können, die analog als sein Maß an "Soziologiezität" bezeichnet werden könnte. [9]
Versucht man zu beschreiben, was der soziologische Film ist, lassen sich einige charakteristische Merkmale nennen: Erstens behandelt er ein Thema, das – was vielleicht banal klingt – ein soziologisches Thema sein sollte, also soziale Wirklichkeit in verschiedenen Dimensionen berühren muss. Zweitens ist soziologische Kompetenz unerlässlich. Dabei geht es nicht um die radikale Vorbedingung, dass ein soziologischer Film lediglich ein ausschließlich von Soziolog/innen gedrehter Film sein kann. Aber die Filmschaffenden müssen Elementarkenntnisse über die Gesellschaft und über soziologische Theorien besitzen sowie soziologische Methoden beherrschen. Denn wer soziales Verhalten analysieren will, sollte die Mechanismen dieses Verhaltens hinlänglich kennen. Solche Kenntnisse vermittelt die Soziologie. Die dritte Eigenschaft des soziologischen Films besteht in der Angemessenheit der Bilder, des Tons, des Kommentars und des Themas. Das bedeutet, dass diese einzelnen Elemente miteinander harmonieren müssen und keines von ihnen die dargestellte Wirklichkeit verfälschen darf. Ton oder Kommentar dürfen Wirklichkeit nicht auf verzerrte Weise darstellen, und es sollte deshalb eher auf beides verzichtet werden, sofern sie sich als überflüssig erweisen oder vom Thema abzulenken drohen. Ebenso wesentlich ist technische Kompetenz: Um einen Film zu drehen, muss selbstverständlich eine Kamera bedient werden können. Soziolog/innen sollten folglich grundlegende technische Fertigkeiten in der Bedienung von Aufnahmegeräten und Kenntnisse über deren Aufzeichnungsmöglichkeiten haben. Dazu kommen noch Grundlagenkenntnisse über den Umgang mit Computerprogrammen oder mit speziellen Geräten zum Schneiden, sofern der Filmschnitt selbst gemacht werden soll. Soziolog/innen benötigen keine umfassenden professionellen Kenntnisse auf dem Gebiet des Filmemachens (zur Bedienung der Kamera oder zum Schneiden), sollten aber zumindest über Grundfertigkeiten verfügen. Ein weiteres Merkmal des soziologischen Films bezieht sich auf die Erfordernis, den Kontext und eventuelle "Verhaltensstörungen" der gefilmten Personen zu erläutern sowie Erklärung über Unterbrechungen der Filmaufnahme und die Kontinuität der Sequenzen beizufügen. Diese Erläuterungen und Erklärungen sind nötig, sofern sie einen wesentlichen Einfluss auf bestimmte Situationen ausüben und eine Bedeutung für die Rezeption dieser Situation durch die Zuschauer haben könnten. Die nächste Eigenschaft betrifft das Vermeiden von Inszenierungen, die nur ausnahmsweise zugelassen werden (z.B. im Falle eines Experiments) bzw. im Film ausdrücklich erwähnt werden sollten. Die letzte Eigenschaft des soziologischen Films besteht in der Sicherstellung der Möglichkeit, dass die gefilmten Personen sich vollumfänglich und ohne Unterbrechung ausdrücken dürfen. Die vor der Kamera sprechenden oder handelnden Menschen sollten sogar dann nicht unterbrochen werden, wenn wir meinen, dass sie nichts Interessantes zu unserer Forschung beizutragen hätten. Denn in der Aufnahmesituation ist nur schwer feststellbar, ob dies überhaupt zutrifft, und selbst wenn es so wäre, könnte nach einer kurzen Weile doch eine noch sehr wichtige Szene erscheinen. Es lohnt sich also zu warten und die Aufnahmezeit maximal auszunutzen. [10]
Die hier skizzierte Charakteristik des soziologischen Films wird sicher in dem Zuge vervollständigt und präzisiert werden, in dem er methodisch weiter reflektiert wird. Vor allem aber sollte versucht werden, diese wissenschaftlichen Kriterien dadurch umzusetzen, dass man selbst soziologische Filme anfertigt, um damit an ihrer Etablierung als wissenschaftlicher Aussageform weiter zu arbeiten. [11]
Typologisch nähert sich der soziologische Film der Variante an, die CRAWFORD (1993, S.74) in seiner Typologie des ethnografischen Films als "Forschungsfilm" bezeichnet, d.h. einem auf wissenschaftliche Zwecken zugeschnittenen und für ein Universitätspublikum vorgesehenen Film. CRAWFORD nennt demgegenüber seinen ersten Typus "Footage", also ein noch nicht geschnittenes Material. Außer als Grundstoff der Filmproduktion kann solches Material auch zu wissenschaftlichen Zwecken als Aufnahme sozialer Wirklichkeit verwendet werden, die soziologisch analysiert werden soll. Es können weitere Filmkategorien soziologischen Inhalts gebildet werden, aber ich würde sie nicht als soziologische, sondern eher als soziologisierende Filme bezeichnen. Dazu zählen beispielsweise für das breite Publikum vorgesehene Erziehungs- und populärwissenschaftliche Filme mit gesellschaftsbezogenen Inhalten. Außerdem gehören zum soziologisierenden Filme auch andere nichtfiktionale und sogar fiktionale Filme, die einen klaren sozialen Inhaltsbezug haben. [12]
Sucht man direkte Vorläufer des soziologischen Films, können mehrere wichtige Namen und Titel erwähnt werden: An erste Stelle die "Chronik eines Sommers" von Jean ROUCH und Edgar MORIN aus dem Jahr 1961. Dieser von einem Ethnologen und einem Soziologen gemeinsam gedrehte Film war ausdrücklich, wie MORIN formuliert, als "soziologisches Fresko" intendiert (nach PETERMANN 1984, S.41). Robert SCHÄNDLINGER erwähnt einen weiteren Soziologen, über dessen wissenschaftliche Lehr- und Forschungstätigkeit mithilfe des Films folgendes berichtet wird:
"Vor allem die von Leonard Henny am Soziologischen Institut der Universität Utrecht durchgeführten Seminare zur Arbeit mit Video in den Sozialwissenschaften lassen die konzeptionelle Orientierung an der Aktionsforschung erkennen. Entsprechend dem Selbstverständnis dieses Ansatzes sahen die Seminare vor, daß sich die Studierenden längerfristig intensiv theoretisch in ein sozialpolitisches Thema einarbeiten, Feldkontakte aufnehmen und Videofilme mit dem Anspruch erarbeiten, zur Lösung ökonomischer, sozialer und politischer Probleme in Kooperation mit den Betroffenen beizutragen. Auf diese Weise entstand seit Anfang der siebziger Jahre eine Reihe von Filmen zu Themen wie Arbeitsmigration, Stadtsanierung, Kinder- und Jugendschutz" (SCHÄNDLINGER 1998, S.224). [13]
Kategorien des soziologischen Films:
Video 1: "Przystanek" (Straßenbahnhaltestelle), Film von M. KRAJEWSKI, M. KLEBAN, M. LEOŃSKI und Ł. ROGOWSKI2)
Video 2: "Tunnel" (der Tunnel), Film von M. FRĄCKOWIAK
Video 3: "Selekcja" (Selektion), Film von A. SKRZYPCZAK und M. WIĘCKOWSKA [14]
Wenn es um typische soziologische Filme geht, sollten mindestens vier Kategorien unterschieden werden: Zu der ersten Kategorie zählen Filme, die sich in ihrer Darstellungsweise dem Dokumentarfilm nähern und oft ausschließlich aus Monologen und Dialogen bestehen. Als Beispiele dafür können Arbeiten angeführt werden, die im Rahmen der Werkstatt für visuelle Soziologie des soziologischen Instituts der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań oder im Rahmen der Vorlesung "Geschichte des soziologischen Films" entstanden sind, wie "Es lebe der 1. Mai!" (A. GIERSZEWSKI, S. HADRYAN, J. KACZMAREK, M. KRAJEWSKI & E. NADOLNA), "Obdachlosigkeit" (P. DRUTEL & Ł. KĘBŁOWSKI), "Selektion" (A. SKRZYPCZAK & M. WIĘCKOWSKA), "Mit leidenschaftlicher Hingabe" (P. CIESIELSKI & K. SŁOMIŃSKI), "Demonstration" (J. KRUSZYŃSKI). Die zweite Kategorie bilden Filme, die nicht nur eine bestimmte Aussage verfolgen, sondern ebenso eine Forschungsmethode hervorbringen und in der die Kamera zum Forschungsinstrument wird. Ungeschnittenes Material wird analysiert und die Ergebnisse werden als geschnittener Film dargestellt. Beispiele dafür wären: "Straßenbahnhaltestelle" (M. KRAJEWSKI, M. KLEBAN, M. LEOŃSKI & Ł. ROGOWSKI) und "Tunnel" (M. FRĄCKOWIAK). Zur dritten Kategorie gehören autoreflexive Filme, die darauf beruhen, sich selbst und die eigene Gruppe als eine Form der Selbstbeobachtung filmisch zu erfassen. Beispiele wären: "Der Sinn des Lebens nach Homo ludens" (A. CHORYŃSKI, Z. FIAŁKIEWICZ, P. KRĘŻLEWSKI, A. STEFAŃSKA, A. SZELĄG & P. ŻÓŁTOWSKI) und "Soziologenball" (A. BŁASZCZYŃSKA, K. HULEWICZ & M. OLIWA). Die vierte Kategorie bilden alle experimentellen Filme, wie z.B. Zeichentrickfilme. Ein Beispiel dafür ist "Redefreiheit" (M. FRĄCKOWIAK). [15]
5. Filmen als sozialer Prozess
Ein im Bereich des Dokumentar- und ethnografischen Films sehr wichtiges und seit langem diskutiertes Problem ist die Anwesenheit der Kamera und ihr Einfluss auf das Verhalten der gefilmten Personen. In dieser Diskussion lassen sich zwei Standpunkte unterscheiden: Der erste verlangt nach maximaler Reduzierung des Einflusses der Kamera und der zweite betrachtet Kamera als ein Element, das sich nicht vom Prozess des Filmens trennen lässt. David MacDOUGALL beschreibt diese zwei Einstellungen (vgl. SCHÄNDLINGER 1998, S.88-102) und bezeichnet sie als Gegenüberstellung von "beobachtendem" und "partizipierendem" Film. Der erste zielt auf eine Beobachtung der Wirklichkeit, und deswegen soll hier den Einfluss der Filmemacher/innen auf die gefilmte Wirklichkeit maximal reduziert werden. MacDOUGALL fordert in diesem Kontext, der Filmemacher/innen sollten sich wie "die Fliege an der Wand" verhalten (vgl. SCHÄNDLINGER 1998, S.89). Es wird angenommen, dass die im Film gezeigten Ereignisse sich so abspielen, wie sie sich ohne Anwesenheit der Kamera ereignen würden. Außerdem wird auf Kommentare und Interviews verzichtet, und die Filmemacher/innen sind lediglich Beobachter/innen ohne Recht, einen Einfluss auf die gefilmten Personen auszuüben. Den zweiten Standpunkt nennt MacDOUGALL demgegenüber "partizipierenden" Film, in dem der Anwesenheit der Filmemacher/innen und der Kamera im Prozess des Filmens eine wichtige Rolle beigemessen wird. Deren Anwesenheit kann bestimmte Verhaltensweisen der gefilmten Personen auslösen. Die Situation des Filmens ist selbst schon ein sozialer Prozess und bringt dadurch bestimmte Interaktionen hervor, die sich für den Film positiv nutzen lassen. [16]
MacDOUGALL ist Anhänger des partizipierenden Films, dessen Konzeption er in seinen Schriften entwickelt. In einem berühmten Artikel unterscheidet er zwei Kamerastile: den "privilegierten" und den "nichtprivilegierten" (MacDOUGALL 1984). Der erste beruht auf dem Gebrauch der allwissenden und allgegenwärtigen Kamera, die außerdem solche Bilder hervorbringt, die man im Alltagsleben nicht sehen kann. Als Beispiel dafür erwähnt er die "Einstellung vom Schoß eines dicken Mannes aus mit Blickrichtung auf seine Nasenlöcher" (MacDOUGALL 1984, S.75). Der privilegierte Kamerastil beruht auf der Darstellung der Ereignisse aus der Perspektive eines idealen Beobachters bzw. einer idealen Beobachterin und impliziert, dass die Zuschauenden sich mit dem Kamerablick identifizieren. Der zweite, nichtprivilegierte Stil beruht darauf, dass Film als Produkt der sozialen und physischen Interaktion zwischen dem Filmemacher/der Filmemacherin und den gefilmten Personen verstanden wird, zwischen denen zudem die Distanz eliminiert wird. Die Filmemacher/innen werden hier so betrachtet, als ob sie selbst Mitglied der gefilmten Gemeinschaft wären. MacDOUGALL empfiehlt sogar diesen Einbezug in die Gruppe, um zu vermeiden, dass der Kameramann/die Kamerafrau um jeden Preis eine günstigste Kameraposition sucht und damit die Natürlichkeit der Situation zerstört. Die oben genannten Voraussetzungen des privilegierten oder nichtprivilegierten Kamerastils haben wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise des Filmens und damit ebenso auf die spätere Gestalt des Films. Sie sind die methodologische Basis für das Werk. Wer einen ethnografischen oder soziologischen Film zu machen beginnt, muss folglich eine bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Paradigma treffen und die daraus folgenden Konsequenzen akzeptieren. MacDOUGALL (1984, S.77) formuliert diese Konsequenz sehr treffend, wenn er schreibt: "Jeder Kamerastil enthält implizit eine Erkenntnistheorie": [17]
In der Theorie des ethnografischen wie des Dokumentarfilms ist sehr viel über den Einfluss der Kamera auf das Verhalten der Anwesenden geschrieben worden. Manche Autor/innen überlegen, wie sich dieser das Verhalten "deformierende" Einfluss neutralisieren lässt. Beispiel hierfür ist etwa Irenäus EIBL-EIBESFELDT als Konstrukteur eines Geräts, dessen Winkelobjektiv vermeidet, dass die Kamera direkt auf die gefilmten Personen gerichtet wird und dennoch Aufnahmen von ihnen angefertigt werden. Demgegenüber vertritt eine zweite Gruppe den Standpunkt, dass Filmen selbst schon eine soziale Situation darstellt und deswegen eine völlig leidenschaftslose und neutrale Beobachtung überhaupt unmöglich sei. Selbst wenn eine versteckte Kamera benutzt wird, würde das zusätzliche technische und ethische Probleme hervorrufen. In der Tat kann das Filmen mitunter die Abläufe in der Alltagswirklichkeit stören. Personen, die wir aufnehmen möchten, sollten deshalb dienlicherweise zunächst an die Kamera gewöhnt werden. Aber oft haben wir es mit der umgekehrten Situation zu tun, d.h. die Anwesenheit der Kamera hilft, interessante Daten zu finden oder löst ein bestimmtes, vielleicht seit langem reprimiertes Verhalten aus, ohne dass sie es einfach erzeugen würde. Vielmehr "provoziert" die Kamera es – im positiven Sinne – und erleichtert damit den Zugang zur vollen Wahrheit über die Wirklichkeit. [18]
Ein anderer Fall der Wirklichkeitsdeformation ist eigentlich die Situation des Filmens der Mitglieder einer Gruppe durch Mitglieder einer anderen Gruppe. Schon die Pioniere des ethnografischen Films bemerkten, dass ihr Blick auf anderen Kulturen nicht unbedingt damit übereinstimmen muss, wie deren Mitglieder selbst auf ihre Kultur blicken. Von dieser Einsicht ausgehend verteilten Sol WORTH und John ADAIR in ihrer Untersuchung über die Navajo Kameras an die Indianer/innen, damit diese ihre eigene Gruppe selbst filmen konnten (vgl. SCHAENDLINGER 1998, S.19). Diese Filme zeigten wesentliche Unterschiede in der Wirklichkeitswahrnehmung der verschiedenen Kulturen. Richard CHALFEN nutzte diese Konzeption in seiner Jugendforschung aus. Ein Teil der Forschung bestand darin, dass verschiedene Gruppen von Jugendlichen selbst Filme anfertigten. Aus den durch CHALFEN durchgeführten Analysen ergab sich, "dass ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen den Filmen und den sozialen Erfahrungen der Jugendlichen bestand" (SCHÄNDLINGER 1998, S.19). Die Erfahrungen hingen von dem Alter, dem Geschlecht, der Schichtzugehörigkeit und der Nationalität der Jugendlichen ab. [19]
Schließlich muss noch ein wichtiges Problem erwähnt werden, und zwar die Möglichkeit der Ausnutzung fertiger Materialien im wissenschaftlichen Film, d.h. von Aufnahmen, die eine andere Person als der Autor/die Autorin des Films angefertigt hat. Das ist natürlich erlaubt, sofern es nicht die Privatsphäre anderer Personen oder Autor/innenrechte verletzt. Die Nutzung solchen Materialien kann zu sehr interessanten soziologischen Analysen führen. In der Gegenwart wird eine Riesenmenge Filmmaterialien produziert, etwa in den verschiedenen Überwachungskameras. Es würde sich lohnen, dies in der Forschungsarbeit visueller Soziolog/innen sowie beim Schaffen soziologischer Filme zu verwenden. [20]
Der Film erregte das Interesse der Soziolog/innen schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals entstand ein neuer Zweig der Soziologie, welcher Soziologie des Kinos oder des Films genannt wurde. Film wurde hier als Dokument betrachtet, das einen sozialen Inhalt besitzt, oder als ein Faktor, der einen Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Als später Videokameras immer populärer wurden, griffen Soziolog/innen selbst zur Kamera und versuchten, sie in der Forschung auszunutzen. Besonders geeignet sind sie solche Aufnahmen für das Anfertigen audiovisueller Beobachtungsprotokolle und für Interviews. Es gibt immer mehr soziologische Untersuchungen, die auf Filmaufnahmen basieren, und es ist zu vermuten, dass sich dies in Zukunft noch weiter entwickeln wird. [21]
Der "soziologische Film" ist die jüngste Verwendungsweise des Films in der Soziologie. Es könnte eingewendet werden, ob er überhaupt nötig ist und ob sich nicht dasselbe ebenso schriftlich publizieren lässt. Dasselbe lässt sich natürlich nicht aufschreiben, weil die Bildsprache etwas anderes als die Schriftsprache ist. Die Verwendung von Bildern – und insbesondere bewegter Bilder – gibt der Soziologie völlig neue Möglichkeiten. So lässt sich etwa das, was interessiert, sehr viel schneller und besser zeigen. Außerdem erklären sich die im Film enthaltenen Bilder und Sequenzen gegenseitig. Das, was Wörter nicht abbilden können, vermögen Bilder. [22]
"Demonstration", J. Kruszyński, Poznań 2004.
"Der Sinn des Lebens nach Homo ludens", A. Choryński, Z. Fiałkiewicz, P. Krężlewski, A. Stefańska, A. Szeląg & P. Żółtowski, Poznań 2006.
"Es lebe der 1. Mai!", A. Gierszewski, S. Hadryan, J. Kaczmarek, M. Krajewski & E. Nadolna, Poznań 2002.
"Mit leidenschaftlicher Hingabe", P. Ciesielski & K. Słomiński, Poznań 2007.
"Obdachlosigkeit", P. Drutel & Ł. Kębłowski, Poznań 2005.
"Redefreiheit", M. Frąckowiak, Poznań 2006.
"Selektion", A. Skrzypczak & M. Więckowska, Poznań 2007.
"Soziologenball", A. Błaszczyńska, K. Hulewicz & M. Oliwa, Poznań 2006.
"Strassenbahnhaltestelle", M. Krajewski, M. Kleban, M. Leoński & Ł. Rogowski, Poznań 2005.
"Tunnel", M. Frąckowiak, Poznań 2005.
1) Manche Ethnolog/innen, die ethnografische Filme machen, verlangen, damit jeden Film gedrucktes Material begleitet, z.B. eine Broschüre. Das Material muss inhaltlich mit dem Film übereinstimmen. <zurück>
2) Alle Autor/innen der hier gezeigten Filme haben deren Wiedergabe gestattet. <zurück>
Crawford, Peter Ian (1993). Film as discourse: The invention of anthropological realities. In Peter Ian Crawford & David Turton (Hrsg.), Film as ethnography (S.66-82). Manchester: Manchester University Press.
Hohenberger, Eva (1988). Die Wirklichkeit des Films – Dokumentarfilm – Ethnographischer Film – Jean Rouch. Hildesheim: Georg Olms Verlag.
Knoblauch, Hubert (2004). Die Video-Interaktions-Analyse. Sozialer sinn, 1, 123-138.
MacDougall, David (1984). Ein nichtprivilegierter Kamerastil. In Margarete Friedrich, A. Hagemann-Doubia, R. Kapfer, W. Petermann, R. Thomas, M.-J. van der Loo (Hrsg.), Die Fremden sehen (S.73-83). München: Trickster.
Petermann, Werner (1984). Geschichte des ethnographischen Films. Ein Überblick. In Margarete Friedrich, A. Hagemann-Doubia, R. Kapfer, W. Petermann, R. Thomas, M.-J. van der Loo (Hrsg.), Die Fremden sehen (S.17-53). München: Trickster.
Przylipiak, Mirosław (2004). Poetyka kina dokumentalnego. Gdańsk-Słupsk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, Wydawnictwo Pomorskiej Akademii Pedagogicznej w Słupsku.
Schändlinger, Robert (1998). Erfahrungsbilder: visuelle Soziologie und dokumentarischer Film. Konstanz: UVK Medien.
Videos
Video_1: http://medien.cedis.fu-berlin.de/stream01/cedis/fqs/3-09/Kaczmarek_Przystanek.flv (425 x 355)
Video_2: http://medien.cedis.fu-berlin.de/stream01/cedis/fqs/3-09/Kaczmarek_Tunnel.flv (425 x 355)
Video_3: http://medien.cedis.fu-berlin.de/stream01/cedis/fqs/3-09/Kaczmarek_Selekcja.flv (425 x 355)
Jerzy KACZMAREK, geboren 1964 in Jarocin. Studium der Soziologie und Kunstgeschichte an der Adam Mickiewicz Universität in Poznan. Er arbeitet dort am soziologischen Institut. 2001 veröffentlichte er das erste polnische Buch über Joseph BEUYS unter dem Titel "Joseph Beuys. Od sztuki do spolecznej utopii" ["Joseph Beuys. Von der Kunst bis zur sozialen Utopie"]. Er beschäftigt sich mit der visuellen Soziologie, der Geschichte der Soziologie und der deutsch-polnischen Grenzproblematik.
Kontakt:
Dr. Jerzy Kaczmarek
Instytut Socjologii
Uniwersytet Adama Mickiewicza
Ul. Szamarzewskiego 89
60-568 Poznań
Polen
Tel. +61 8292139
E-Mail: jkaczmar@amu.edu.pl
Kaczmarek, Jerzy (2008). Soziologischer Film – theoretische und praktische Aspekte [22 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(3), Art. 34, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0803343.