Volume 10, No. 1, Art. 5 – Januar 2009
Die Profession der Architekten
Rainer Schützeichel
Review Essay:
Oliver Schmidtke (2006). Architektur als professionalisierte Praxis. Soziologische Fallkonstruktionen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Architektur (Forschungsbeiträge aus der Objektiven Hermeneutik, Bd. 8). Frankfurt am Main: Humanities Online, 458 Seiten, ISBN 3-934157-45-9, EUR 36
Zusammenfassung: Das Review Essay befasst sich mit der Untersuchung von Oliver SCHMIDTKE über "Architektur als professionalisierte Praxis". Diese ist dem Nachweis gewidmet, dass die Architekten/Architektinnen eine Profession bilden und die Architektur eine professionalisierungsbedürftige Tätigkeit darstellt. Grundlage seiner Argumentation ist der einflussreiche professionstheoretische Ansatz von Ulrich OEVERMANN, nach dem solche Berufsgruppen Professionen bilden, die sich in einer stellvertretenden Weise mit spezifischen lebenspraktischen Krisen von Individuen und Vergemeinschaftungen auseinandersetzen. Architekten/Architektinnen stellen demzufolge deshalb eine Profession dar, weil sie sich mit dem professionalisierungsbedürftigen, lebenspraktischen Problem der Markierung von Innen-Außen-Grenzen in einem gemeinsamen Sozialraum befassen. Entsprechend untersucht SCHMIDTKE architektonische Werke daraufhin, wie lebenspraktische Krisen durch Architekt/innen ästhetisch übersetzt und in einer entsprechenden Formsprache materialisiert werden. Das besondere Augenmerk seiner Studie liegt auf den Konsequenzen, die sich aus der Professionalisierungsbedürftigkeit der architektonischen Praxis in Hinsicht auf die Position der Architekt/innen in ihrem Wettbewerb mit anderen Berufsgruppen ableiten lassen. Bei der Analyse solcher Entwicklungen werden jedoch auch die Grenzen dieses professionstheoretischen Ansatzes deutlich. Dennoch: SCHMIDTKEs Analyse des professionalen Handelns von Architekt/innen stellt einen bedeutsamen und sehr empfehlenswerten Beitrag für die Professions- wie für die Architektursoziologie dar.
Keywords: Architektur; Architekten; Architektinnen; Architektursoziologie; Profession; Professionssoziologie
Inhaltsverzeichnis
1. Professionen
2. Architekten/Architektinnen als Profession
3. Die ästhetische Dimension der architektonischen Praxis
4. Das professionale Arbeitsbündnis
5. Architekt/innen und andere Expert/innen
6. Die "Krisen" der Profession?
7. "Idealität" des Modells?
8. Würdigung
Die auf seiner Dissertation beruhende Arbeit von Oliver SCHMIDTKE über "Architektur als professionalisierte Praxis" ist in erster Linie eine professionssoziologische Studie. Sie befasst sich mit der Profession der Architekten/Architektinnen. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, inwiefern und wieso die Architekten/Architektinnen eine Profession bilden. Sie stellt aber auch eine raumsoziologisch fundierte Analyse von Architektur dar. Beide Themen verweisen notwendigerweise aufeinander, lässt sich doch nach SCHMIDTKE eine Analyse der Profession der Architekten/Architektinnen nicht ohne eine Analyse der konstitutiven Probleme des Architekt/innenhandelns und damit nicht ohne eine Analyse der Objektivierungen dieses Handelns in den architektonischen Werken betreiben. [1]
Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um professionssoziologische Grundlagen. Der der Studie zugrunde liegende Professionsbegriff wird erörtert, das damit verbundene zentrale Handlungsproblem der Profession der Architekten/Architektinnen analysiert und ein kurzer historischer Abriss über die Genese dieser Profession gegeben. Der zweite Teil beinhaltet die empirischen Fallrekonstruktionen. Der dritte Teil ist der Zusammenfassung und einem Ausblick vorbehalten. [2]
Die Studie ist aus dem Arbeitszusammenhang der "Frankfurter Professionssoziologie" um Ulrich OEVERMANN hervorgegangen. Sie versteht sich als eine Anwendung der analytischen Instrumentarien dieser Professionstheorie auf die Gruppe der Architekten/Architektinnen. Andere gegenwärtig prominente professionssoziologische Paradigmen (vgl. als Überblick SCHÜTZEICHEL 2007) wie der interaktionistische, der systemtheoretische, der neo-institutionalistische oder der pragmatistische von ABBOTT (1988) kommen nicht zur Sprache, allenfalls der machttheoretische Ansatz dient als eine negative Kontrastfolie der eigenen Argumentationen. [3]
Meinen Ausführungen voranstellen möchte ich zur besseren Einordnung eine kurze Einführung in die von SCHMIDTKE vertretene Frankfurter Professionssoziologie. Worin bestehen ihre konzeptionellen und theoretischen Grundlagen? Im Gegensatz zu "trait theories", die Professionen anhand einzelner und isolierter Merkmale wie der Verfügung über eine systematisch strukturierte Wissensbasis, durch das Vorhandensein einer Professionsethik oder das Vorliegen von internen Kontrollmechanismen gegenüber anderen Berufen abgrenzen wollen oder solchen Ansätzen, die Professionsbildungen auf Mechanismen sozialer Schließung und professionale Dominanzstrategien zurückführen, legt die "Frankfurter Professionssoziologie" eine funktionale Definition vor. Professionen sind solche Berufe, die die Aufgabe haben, lebenspraktische Krisen von Individuen oder Vergemeinschaftungen zu bearbeiten. Und diese Bearbeitung erfolgt in einem spezifischen Modus, nämlich in Form einer stellvertretenden Problem- oder Krisenbewältigung. Dieser Bestimmung liegt die zentrale Unterscheidung von lebenspraktischen Routinen und Krisen zugrunde. Viele Probleme in einer Lebenspraxis können auf der Basis von Rezeptwissen und Alltagsroutinen von den Betroffenen selbst gelöst werden. Diese geraten jedoch in eine Krise, wenn ihre eigene Kompetenz zur Lösung dieser Probleme nicht mehr ausreicht und sie sich an Personen mit einer besonderen Expertise wenden müssen. Als professionalisierungsbedürftig werden in der "Frankfurter Professionssoziologie" folgende Krisen benannt: (a) Krisen in der somato-psycho-sozialen Integrität einer partikularen Lebenspraxis, die beispielsweise von den Professionen der Mediziner/innen, der Psycholog/innen oder der Sozialarbeiter/innen in einem Arbeitsbündnis mit den Betroffenen bearbeitet werden, (b) Krisen der Erzeugung und Gewährleistung von Gerechtigkeit in einer Gemeinschaft, die exemplarisch durch Berufung auf formale Regeln von der Profession der Jurist/innen betreut werden, und (c) Krisen in der Geltung von Norm- und Wissensansprüchen eines "universe of discourse", derer sich Wissenschaftler/innen, Intellektuelle oder Künstler/innen annehmen (vgl. OEVERMANN 2005). [4]
Konstitutiv für die Professionen ist ihre einzelfallbezogene Orientierung. Die Nichtstandardisierbarkeit des Handelns ist der "Frankfurter Professionssoziologie" zufolge das charakteristische Merkmal einer jeden professionalen Praxis. Sie befassen sich mit den konkreten lebenspraktischen Problemen von Individuen oder Vergemeinschaftungen. Sie sind daran gebunden, lebenspraktische Probleme aus der Perspektive und den objektiven, mitunter latenten Sinnstrukturen dieser Praxis zu bestimmen. Dieser Einzelfallbezug schließt nicht aus, dass sie mit bestimmten Routinelösungen operieren, aber es wird ausgeschlossen, dass sie ihren "Einzelfall" mit Diagnosen und Lösungen traktieren, die sich nicht aus der Perspektive der Praxis selbst herleiten lassen. Aus diesem Grunde wird der interventionspraktische Modus der Professionen von einem ingenieuralen Modus der Expert/innen unterschieden (vgl. OEVERMANN 2005). Der ingenieurale Modus wird als eine pure Applikation von Expert/innenwissen bestimmt, in welchem ein Problem deduktiv auf der Grundlage rein technischer Lösungen betrachtet und behandelt wird. Dieser Modus der Wissensanwendung ist der "Frankfurter Professionssoziologie" zufolge konstitutiv für nicht-professionale Expert/innen bzw. für nicht-professionalisierungsbedürftige lebenspraktische Problemlagen. Auf der anderen Seite steht der interventionspraktische Modus der Professionen. Bei diesen wird das professionale Wissen dazu eingesetzt, um in eine Lebenspraxis zu intervenieren und Probleme zu lösen, die sich aus der gefährdeten Autonomie dieser Lebenspraxis erst als solche bestimmen lassen. [5]
Professionen sind im Rahmen der "Frankfurter Professionssoziologie" auch noch durch andere Kriterien bestimmbar. So stellt das Arbeitsbündnis zwischen dem/der Professionsvertreter/in und seinem/Klienten/seiner Klientin eine dritte Logik (vgl. FREIDSON 2001) neben der Marktlogik und der bürokratischen Logik dar. Diese dritte Logik gibt Raum für ein spezifisches Ethos seitens der Professionsvertreter/innen (vgl. OEVERMANN 2005). Und schließlich stellt auch die Expertise oder Wissenskomponente eine besondere Rolle dar. Professionale Tätigkeiten beruhen auf einer wissenschaftlichen Begründungsbasis, professionales Handeln ist ein Ort der Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen und praktischem Handeln. Professionales Handeln resultiert aber nicht aus einer puren Rezeption und Anwendung von wissenschaftlichem oder Expert/innenwissen, sondern es wird im Rahmen einer praktischen Einübung durch Erwerb eines spezifischen professionalen Habitus mithilfe von fallorientierten Kunstlehren und Kunstregeln erworben (vgl. OEVERMANN 1996, 2000). [6]
In der Untersuchung von SCHMIDTKE stehen aber nicht all diese Komponenten im Vordergrund, sondern er stützt sich, wie im Folgenden ausführlich dargestellt wird, auf folgende Aspekte: (a) Professionen werden funktional aus dem Vorliegen von professionalisierungsbedürftigen lebenspraktischen Krisen und Problemlagen abgeleitet. (b) Professionen betrachten die lebenspraktischen Probleme einzelfallspezifisch aus der Perspektive dieser Praxis. (c) Professionen versuchen, in Form einer stellvertretenden Bewältigung in diese Praxis zu intervenieren und dabei die Autonomie dieser Praxis wieder herzustellen. [7]
Zunächst aber noch ein Wort zur Methode: In den empirischen Fallrekonstruktionen werden von SCHMIDTKE Protokolle des architektonischen Handelns analysiert, wie sie in Gestalt von Gebäuden bzw. Gebäudeentwürfen, von programmatischen Stellungnahmen und Aufsätzen wie von Architekt/innenwettbewerben vorliegen. Er führt, wie ich im Abschnitt 3 näher darstellen werde, Werkanalysen von einschlägigen, signifikanten Gebäuden durch, er analysiert einen Briefwechsel zwischen Frank Lloyd WRIGHT und einem Auftraggeber, er interpretiert zwei Interviews und einen programmatischen Aufsatz zum Selbstverständnis von Architekt/innen, und er befasst sich mit dem Auslobungstext für einen architektonischen Wettbewerb. SCHMIDTKE bedient sich bei der Analyse dieses empirischen Materials der methodischen Prinzipien und Direktiven der Objektiven Hermeneutik. Bei der Analyse der Interviews und der schriftlichen Dokumente kommt die bewährte sequenzanalytische Vorgehensweise zum Einsatz. Methodisch innovativ ist der Verfasser hinsichtlich der Analyse der eigentlichen architektonischen Ausdrucksgestalten, der Gebäude. Diese wurden und werden in der Soziologie kaum zum Gegenstand empirischer Analysen gemacht. Gebäude, so SCHMIDTKE, liegen im Unterschied zu flüchtigen Medien wie der Musik oder der Sprache schon als eine fixierte Ausdrucksgestalt vor. Sie stellen also schon ein "Protokoll", einen "Text" dar. Aber für Zwecke der Interpretation und aus pragmatischen Gründen muss sich die Soziologie nach SCHMIDTKE "sekundärer Protokolle" bedienen, wie sie in Plänen, Zeichnungen, Fotos und sonstigen Dokumentationen der architektonischen Praxis vorliegen (SCHMIDTKE, S.121-124). Obzwar er seine Vorgehensweise eher in concreto demonstriert als in abstracto darstellt, werden diese sekundären Protokolle von SCHMIDTKE in ihrer Entwicklung bzw. Serialität ebenfalls in einer sequenzanalytischen Weise analysiert, also hinsichtlich der Frage, wie spezifische objektive Möglichkeiten der architektonischen Gestaltung in den architektonischen Entwürfen bzw. der architektonischen Praxis durch spezifische Formen und Gestalten geschlossen werden. In den methodischen Ausführungen gilt aber sein besonderes Augenmerk den Protokollen, weniger der interpretativen Praxis selbst. SCHMIDTKE stützt sich vornehmlich auf das in Architekturzeichnungen vorliegende Material. Er betrachtet diese in ihrem Fortgang als hypothetische Entwürfe von Gebäuden, als Dokument, in dem sich der Vollzug des Arbeitsbündnisses zwischen dem Architekten/der Architektin und ihrem Auftraggeber/ihrer Auftraggeberin in besonderer Weise manifestiert. [8]
2. Architekten/Architektinnen als Profession
Mit welcher lebenspraktischen Krise sind nun die Architekten/Architektinnen befasst? Sie beschäftigen sich mit Problemen der Strukturierung des sozialen Raumes. Der soziale Raum – auch hierbei baut SCHMIDTKE auf die entsprechenden Ausführungen von OEVERMANN auf – ist durch eine Vielfalt von Abgrenzungen zwischen Innen und Außen, Nähe und Distanz gegliedert, angefangen bei der Differenz zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umwelt bis hin zu den territorialen Grenzen zwischen politischen Organisationseinheiten. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die durch architektonische Einheiten markierten Orte ein, an denen Menschen sesshaft sind, also Gebäude oder Wohnungen. Diese architektonischen Einheiten verobjektivieren Innen-Außen-Abgrenzungen und strukturieren somit den sozialen Raum. Oder allgemein: "Architektur ist das Aufdauerstellen und Objektivieren der sozialen Innen-Außen-Abgrenzung einer Praxis" (SCHMIDTKE, S.52). Architektonische Einheiten markieren vor allem eine soziale Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung eines "Privaten" von einem "Öffentlichen"; Architektur grenzt die Privatheit einer Lebenspraxis gegen die Öffentlichkeit einer Siedlungsvergemeinschaftung ab. Die Profession der Architekten/Architektinnen muss also – so könnten über SCHMIDTKE hinaus die Kategorisierungen von OEVERMANN angewendet werden – zu der Professionsgruppe gerechnet werden, die sich mit Krisen bezüglich der somato-psycho-sozialen Integrität einer partikularen Lebenspraxis von Individuen befasst. Da ihre Tätigkeit jedoch in der Regel auch Probleme der Strukturierung des Sozialraums von Siedlungsgemeinschaften berührt, müssen sich Architekten/Architektinnen gegebenenfalls auch mit dem zweiten der oben genannten Krisentypen, also dem Problem der Gerechtigkeit in sozialen Gruppen, beschäftigen. [9]
Werden diese Unterscheidungen von innen/außen und privat/öffentlich reflexiv gehandhabt, so treten SCHMIDTKE zufolge mehr und mehr ästhetische Gesichtspunkte in Kraft, die nicht mehr von Betroffenen respektive den Bauherrn selbst getroffen werden können, sondern von mit Spezialwissen ausgestatteten Architekten/Architektinnen, die sich der Krise des Bauherrn als eines spezifischen Einzelfalls annehmen und diese Krise stellvertretend zu bewältigen suchen. Dabei liegt nach SCHMIDTKE die Betonung auf "stellvertretender Bewältigung". Denn es ist für den Architekten/die Architektin wie für alle anderen Professionen notwendig, einzelfallspezifisch vorzugehen, den jeweiligen Einzelfall zu rekonstruieren. Lebenspraktische Krisen lassen sich, so SCHMIDTKE, nicht durch eine pure Applikation von Standardwissen lösen, sondern es ist erforderlich, die sich in einer Krise befindliche Praxis zu interpretieren und zu rekonstruieren. Dies demonstriert SCHMIDTKE in besonders nachvollziehbarer Weise am Beispiel des Hagener "Hohenhofs", dessen architektonische Gestaltung durch Henry van de VELDE die biografischen und lebenspraktischen Krisen des Bauherrn Karl Ernst OSTHAUS "reflektiert". Architekten/Architektinnen, so SCHMIDTKE, versorgen ihre Klient/innen nicht nur mit Expert/innenwissen, ihre Tätigkeit kann nicht als eine pure Applikation von Expertise verstanden werden, sondern dieser Anwendung von professionalem Wissen geht eine Interpretation der Lebenspraxis des Bauherrn voraus. Ihre Tätigkeit beruht darauf, dass sie "in die Schuhe des Klienten treten" und stellvertretend für diesen agieren. Und aus eben diesem Grunde können Architekten/Architektinnen als eine Profession verstanden werden. [10]
Es kann dieser Bestimmung entgegengehalten werden, dass es die Architekten/Architektinnen als eine eigenständigen Profession erst seit dem 19. Jahrhundert gebe, wie SCHMIDTKE auch in interessanten Skizzen zur historischen Genese der Institutionalisierung der Profession herausarbeitet. Diesem Einwand begegnet SCHMIDTKE mit der Unterscheidung von "Professionalisiertheit" und "Professionalisierungsbedürftigkeit" (vgl. auch OEVERMANN 2002). Die Frage nach der "Professionalisiertheit" befasst sich mit den historisch-kontingenten Professionalisierungsprozessen einer Profession. Zentral ist für SCHMIDTKE jedoch die Frage nach der "Professionalisierungsbedürftigkeit". Sie ergibt sich aus dem universalen, sozialen Problem der sozialen Gliederung des Raumes. Sie resultiert aus den unhintergehbaren Handlungsproblemen und Krisenmomenten einer Lebenspraxis – ein funktional definiertes Problem, welches sich jedoch jeweils immer nur historisch-kontingent realisiert. Diese Lebenspraxis ist professionalisierungsbedürftig, und jede in einer stellvertretenden Weise vorgenommene Krisenlösung kann nach SCHMIDTKE soziologischerseits als eine professionale Tätigkeit bezeichnet werden, ob nun das Selbstverständnis dieser Tätigkeit als einer Profession vorliegt oder nicht. Mit dieser Unterscheidung versucht SCHMIDTKE, allen "empirizistisch" oder "historizistisch" argumentierenden Professionstheorien den Boden zu entziehen; dementsprechend lautet seine Kritik an den bisherigen Forschungen, dass diese bisher nicht zu einer soziologischen "Bestimmung der Professionalisierungsbedürftigkeit des Architektenhandelns" (SCHMIDTKE, S.19) beigetragen hätten. [11]
Architekten/Architektinnen befassen sich also mit einem objektiven, unausweichlichen Strukturproblem einer jeden lebensweltlichen Praxis, nämlich mit dem zentralen Problem der "Gestaltung baulicher Innen-Außen-Abgrenzungen, die die Sesshaftigkeit von Lebenspraxis an einen Ort binden" (SCHMIDTKE, S.13f.). Architektur findet sich dort, wo Menschen sesshaft werden und aus der Mitte ihrer Lebenspraxis den sozialen Raum gestalten müssen. Die Aufgabe des Architekten bzw. der Architektin ist es, mit den ihm/ihr zu Verfügung stehenden Stil- und Darstellungsmitteln die Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit in ihrer räumlichen Dimension im Sinne des Bauherrn zu gestalten. Wie wird architektonisch das Innen von einem Außen abgegrenzt? Wie wird im Innenbereich auf den Außenbereich Bezug genommen? Wie wird im Privaten das Öffentliche ein- und zugleich ausgeschlossen? Und wie wird im Bereich des Öffentlichen die Sphäre des Privaten architektonisch konstituiert? (Mithilfe eines systemtheoretischen Vokabulars ließe sich formulieren, dass die Aufgabe des Architekten/der Architektin darin besteht, die Formen "innen/außen" bzw. "privat/öffentlich" sowie die jeweiligen Re-Entrys dieser Unterscheidung, also den Eintritt der Unterscheidung von "innen/außen" in ein von einem "Außen" abgegrenztes "Innen", ästhetisch-räumlich auszugestalten.) Wie öffnet sich ein Gebäude hin zu seiner Umwelt? Wie schließt sich ein Gebäude gegenüber seiner Umwelt ab? Wie ist die Fassade gegliedert, wie sind Türen und Fenster angeordnet, wie sind die Baumassen gegliedert? Wie regulieren Eingänge die soziale Interaktion? Im Gegensatz zu den sonstigen soziologischen Analysen rückt in diesem Ansatz damit auch die ästhetische Praxis der Architektur selbst in den Mittelpunkt. Die ästhetische Dimension steht im Zentrum der architektonischen Praxis. Sie kann nicht auf das ideologische Eigeninteresse einer Professionsgruppe zurückgeführt werden, mithilfe derer sie sich gegen andere Gruppen abzugrenzen versucht, wie dies SCHMIDTKE zufolge häufig in soziologischen Studien unterstellt wird. Die ästhetische Dimension weist eigenlogische, autonome Sinnstrukturen auf, die es professionssoziologisch als stellvertretende Krisenbewältigungen zu rekonstruieren gilt. Dass die Professionssoziologie wie die Architektursoziologie diese ästhetischen Dimensionen bisher verkannt haben, ist nach SCHMIDTKE (S.20) eine der größten Mängel der diesbezüglichen soziologischen Forschung. [12]
3. Die ästhetische Dimension der architektonischen Praxis
Aus diesem Grunde untersucht die Studie auch die "Ausdrucksgestalten architektonischen Handelns", die stellvertretend erbrachten "Objektivierungen von ästhetischer Gestalt" (SCHMIDTKE, S.16). Der Verfasser analysiert dabei luzide verschiedene Gebäude, eine von dem Architekten Paul REINHOLD entworfene sächsische Fabrikantenvilla, den Hagener Hohenhof von Karl Ernst OSTHAUS, das von Mies van der ROHE entworfene und gebaute Wohnhaus "Villa Tugendhat" in Brünn, den ehemaligen Verwaltungssitz der I.G.-Farben in Frankfurt am Main, sowie das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Diese Analysen zeigen, wie die jeweiligen Gebäude als ästhetisch geronnene Lösungen jeweiliger sozialräumlicher Konstellationen verstanden werden können. Besonders anschaulich ist die Analyse des Hohenhofs. SCHMIDTKE arbeitet vor dem Hintergrund der lebenspraktischen Krise des Bauherrn Karl Ernst OSTHAUS heraus, dass und wieso die architektonische Gestaltung des Hohenhofs durch Henry van de VELDE als ästhetisch gelungene Ausbalancierung unterschiedlicher Innen-Außen-Gegensätze verstanden werden kann (SCHMIDTKE, S.184f.): der komplikationsreichen Abgrenzung und gleichzeitigen Zuwendung zu der Stadt Hagen und dem Versuch, eine Außengrenze zu dieser Stadt zu markieren und das industrielle Hagen mit seiner agrarisch-bäuerlichen Umgebung zu verbinden, seiner Positionierung auf einer Anhöhe, der Verwendung regionaler Materialien in Verbindung mit avantgardistischen Stilelementen, der Versuch, die Zweiflächigkeit der Fassade mit der Dreidimensionalität des Gebäude zu arrangieren. [13]
SCHMIDTKE kann zwar die Notwendigkeit einer autonomen ästhetischen Sinnstruktur der architektonischen Werke deutlich machen. Sie ergibt sich aus der Balance unterschiedlicher Differenzen, der Differenzen von Innen und Außen, von Lokalität und Umgebung. Er weist auch darauf hin, dass die architektonische Praxis stets dem Widerspruch von ästhetischem Entwurf und praktischem Zwang (vgl. SCHMIDTKE, S.20) ausgesetzt ist. Erstaunlich ist aber, dass er ansonsten auch in der Interpretation der Gebäude bzw. der Gebäudeentwürfe so wenig auf die ästhetischen Formen zu sprechen kommt, über die die Architekten/Architektinnen zu ihrer Zeit verfügen konnten und aus deren Rahmen sich schließlich die gewählten Formen ergeben mussten. Architekturgeschichtlich sind die Ausführungen von SCHMIDTKE nur wenig verankert, sieht man von einzelnen isolierten Stellungnahmen zum "Funktionalismus" und "Historismus" ab. [14]
Noch ein Wort zum Konzept der architektonischen Ästhetik von SCHMIDTKE. Dieses ist nicht ausführlich entwickelt und man sollte deshalb mit einer Bewertung entsprechend vorsichtig sein. Es scheint aber, als ob es sehr "intellektualistisch" eingefärbt ist. Aber: Räume werden nicht gedacht, sondern erlebt. Es ist von daher fraglich, ob die in den Analysen von SCHMIDTKE herausgearbeiteten Entsprechungen zwischen der ästhetischen Form der Innen-Außen-Abgrenzungen und der Lebenspraxis der Bauherrn tragen, wenn die ästhetische Form der Gebäude ohne Bezug auf das Erleben, ohne Bezug auf eine "Ästhetik der Atmosphären" (BÖHME 2006) formuliert wird. [15]
4. Das professionale Arbeitsbündnis
Die stellvertretende Krisenbewältigung als konstitutives Merkmal der Professionsbeziehung zwischen Architekt/in und Bauherrn zeitigt bestimmte Konsequenzen für das Arbeitsbündnis zwischen beiden Parteien. SCHMIDTKE demonstriert dies an einem Briefwechsel zwischen Frank Lloyd WRIGHT und seinen Klienten. Das Arbeitsbündnis zwischen dem Architekten und dem Bauherrn geht, so SCHMIDTKE, über spezifische, rollenförmige Beziehungen hinaus. Beide Parteien sind als "ganze Person" (SCHMIDTKE, S.276) involviert. Das Arbeitsbündnis integriert also auch diffuse Beziehungsanteile, wie man sie aus primären Sozialbeziehungen in Familien kennt. Diffuse Sozialbeziehungen werden im Rahmen der Objektiven Hermeneutik (vgl. OEVERMANN 2001) in einer eher traditionellen Weise von spezifischen Sozialbeziehungen unterschieden: Diffuse Sozialbeziehungen beruhen auf einem Reziprozitätsverhältnis ganzer Personen, die ein Recht darauf haben, alle sie betreffenden Themen zur Sprache zu bringen. Kein Thema kann also aus der Kommunikation ausgespart werden bzw. die Person, die ein Thema ausschließen will, ist begründungspflichtig. Spezifische, in der Regel vertragsförmige Sozialbeziehungen beruhen auf einen Reziprozitätsverhältnis von Rollen. In ihnen ist nicht der Ausschluss, sondern die Thematisierung von Sachverhalten begründungsbedürftig. Übertragen auf das Arbeitsbündnis zwischen dem Architekten/der Architektin und dem Bauherrn oder allgemein auf das Arbeitsbündnis zwischen den Professionsvertreter/innen und ihren Klient/innen heißt das nach SCHMIDTKE, dass dieses Arbeitsbündnis ob der in ihm vollzogenen stellvertretenden Krisenbewältigung niemals nur spezifische, also rollenförmige Beziehungsmuster aufweisen kann, sondern immer auch diffuse Komponenten integrieren muss. Beide Partner, so SCHMIDTKE, sind als "ganze Personen" integriert. Eine Reduktion auf spezifische Beziehungen kommt ebenso wie eine alleinige Verfolgung diffuser Beziehungsanteile einer Gefährdung dieses Arbeitsbündnisses gleich (vgl. SCHMIDTKE, S.276f.). Dieses so geartete, hoch voraussetzungsreiche Arbeitsbündnis zwischen dem Bauherrn und seinem Architekten bzw. seiner Architektin schafft zudem eine fragile Binnengrenze gegenüber allen anderen an Bauvorhaben involvierten Berufsständen, Geschäftspartner/innen oder sonstigen Personen. Wann misslingt die architektonische Praxis? SCHMIDTKE (S.434) gibt einige Kriterien an. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Arbeitsbündnis zwischen Architekt/in und Bauherrn aufgegeben werden muss oder wenn vonseiten des Architekten bzw. der Architektin entweder nur Standardentwürfe angeboten werden oder solche ästhetischen Formen vorgeschlagen werden, die an der Lebenspraxis des Bauherrn vorbeigehen oder sich nicht in eine Siedlungsstruktur einfügen lassen. [16]
5. Architekt/innen und andere Expert/innen
Neben den Analysen der architektonischen Ausdrucksgestalten rückt SCHMIDTKE eine weitere Fragestellung in den Vordergrund. Wie grenzt sich die architektonische Tätigkeit von den Tätigkeiten anderer Expert/innen- und Berufsgruppen ab, mit denen die Architekten/Architektinnen eng kooperieren (vgl. hierzu einführend auch CHAMPY 2001 und SCHÄFERS 2006)? SCHMIDTKE betrachtet dabei insbesondere das Verhältnis zu den Stadtplaner/innen, den Ingenieur/innen, den bildenden Künstler/innen und den Produktdesigner/innen. Die größte Nähe gibt es zu den Stadtplaner/innen, die ebenfalls eine Profession darstellen, da sie sich mit den Krisen einer Kommune, einer Vergemeinschaftung als ganzer Einheit befassen und ob der darin implizierten Rechts- und Gerechtigkeitsfragen hinsichtlich der Gliederung des kollektiven sozialen Raums eine gewisse Affinität zur Rechtsprofession aufweisen (SCHMIDTKE, S.418ff.). Von den übrigen Berufsgruppen grenzen sich die Architekten/Architektinnen zunächst durch ihren professionalen Charakter ab. Die Architekt/innen stellen unter diesen Gruppen die einzige Profession dar in dem Sinne, dass sie sich mit dem professionalisierungsbedürftigen Problem einer Lebenspraxis befassen und auf die Lösung dieses Problems bezogen sind. Gegenüber den Ingenieur/innen führt SCHMIDTKE das (vielfach bestrittene) OEVERMANNsche Argument an, diese würden aufgrund des "ingenieuralen Modus" ihrer Wissensanwendung keine Profession darstellen. SCHMIDTKE (S.424) schließt sich dieser Argumentation an und verweist darauf, dass das Ziel der Ingenieurstätigkeit in der – durchaus riskanten – Standardisierung und Standardisierbarkeit von Lösungen für praktische Probleme liegen müsse. Dies markiere den zentralen Unterschied zu der architektonischen Tätigkeit, bei welcher es sich um stellvertretende Krisenbewältigung in einem ästhetischen Modus und deshalb um nicht-standardisierbare Prozeduren handele. Dennoch stelle die Ingenieurskunst die wichtigste Dienstleistung für jegliches architektonische Handeln dar. Architektur sei ohne ingenieurale Dienstleistungen undenkbar. [17]
Architekten/Architektinnen haben in ihrem Selbstverständnis eine hohe Affinität zur bildenden Kunst. Sie verstehen sich selbst oft als bildende Künstler/Künstlerinnen. SCHMIDTKE versucht, dieses Bild zu korrigieren. Die ästhetische Autonomie der Architekten/Architektinnen ist gleichsam durch ihre Einbettung in den Kontext lebensweltlicher Krisen begrenzt. Die Werke der Architekten/Architektinnen spiegeln eine Praxis wider, während die Werke der Kunst in sich, so SCHMIDTKE (S.430), durch keine praktische Zwecksetzung gebunden sind und sich auf einem freien Kunstmarkt anpreisen lassen müssen. Er weist darauf hin, dass die Architekten/Architektinnen ihre Autonomie verspielen, wenn sie die Autonomie der bildenden Künstler/innen für sich reklamieren (vgl. SCHMIDTKE, S.431). Die Architekt/innen gewinnen ihre Autonomie in der Dienstleistung für eine autonome Lebenspraxis, die es zu erhalten gilt. Die sozialen Koordinationsformen zwischen Architekt/in und Künstler/in unterscheiden sich grundsätzlich – dominiert bei den Architekten/Architektinnen in Gestalt eines Arbeitsbündnisses mit ihren Bauherrn die dritte Logik der Professionen, so bei den Künstler/innen heutzutage die Logik des Marktes. Wenn die Architekten/Architektinnen also – häufig entgegen ihres Selbstverständnisses – keine Künstler/innen sind, sind sie dann Produktdesigner/innen? Auch dieses Bild versucht SCHMIDTKE zu korrigieren. Die Architekten/Architektinnen unterscheiden sich von den Designer/innen durch ihre professionale Aufgabe der ästhetischen Gestaltung von sozialräumlichen Innen-Außen-Abgrenzungen in einem Arbeitsbündnis mit ihren Klient/innen. [18]
Dass der professionale Charakter der Architekten/Architektinnen häufig so undeutlich bleibt, führt nach SCHMIDTKE dazu, dass keine andere Profession in Vergangenheit und Gegenwart als Profession so häufig infrage gestellt wird wie diejenige der Architekten/Architektinnen. Und in der Tat, die Auseinandersetzung mit anderen Berufsgruppen nimmt in den von SCHMIDTKE analysierten Interviews eine herausgehobene Rolle ein. Architekten/Architektinnen sahen und sehen sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob sie nicht durch andere Berufsgruppen, insbesondere die der Ingenieur/innen, ersetzbar seien. Ebenso umstritten ist ihre Position in der Gesamtheit der Berufe, mit denen sie kooperierend in der Gestaltung des sozialen Raumes beteiligt sind, wie beispielsweise den Stadtplaner/innen. Und auf der anderen Seite werden die Architekten/Architektinnen in das Lager der Designer/innen oder der bildenden Künstler/innen gerückt. Auch das Selbstbild und das Selbstverständnis der Architekten/Architektinnen schwankt mit dem Aufkommen der industriellen Gesellschaft zwischen einer "Ingenieuralisierung" einerseits und einem Selbstverständnis als bildende Künstler/innen andererseits. Mit der Technisierung, Verrechtlichung und Verwissenschaftlichung der Architekt/innentätigkeit, so kann über die Ausführungen von SCHMIDTKE hinaus festgestellt werden, war das Renaissance-Ideal der Architekten/Architektinnen als autonome Künstler/innenpersönlichkeiten nur schwer zu vereinbaren. Diese Ambivalenz zwischen Ingenieursausbildung und künstlerischer Orientierung war und ist auch maßgeblich für die Ausbildung der Architekten/Architektinnen, wie PFANNMATTER (1997) in seiner Studie über den Doppelcharakter der Ausbildung von Architekt/innen aufweist, in welcher die französische Entwicklung einer Spaltung zwischen der École Polytechnique und der École Centrale des Arts et Manufactures eine Vorreiterrolle bildet. [19]
SCHMIDTKE kann nun deutlich machen, dass diese Ambivalenz den Architekten/Architektinnen nur oberflächlich gerecht wird. Sie stellen weder das eine noch das andere dar, weder Ingenieur/innen noch bildende Künstler/innen, sondern eben eine genuine Profession mit eigenem Auftrag und eigener Funktion. Es bleibt aber eine Erklärungslücke. Den Umstand, dass die Architekten/Architektinnen selbst wie auch die konkurrierenden Berufsgruppen kaum ein Bewusstsein über den genuin professionalen Charakter ihrer Tätigkeit haben, klärt SCHMIDTKE nicht auf. Weshalb diese gravierenden Widersprüche zwischen dem defizitären Professionsverständnis und der von SCHMIDTKE diagnostizierten Professionalisierungsbedürftigkeit der architektonischen Praxis? So muss er anlässlich seiner Interpretation einer programmatischen Schrift von Meinhard von GERKAN und eines Interviews mit einer Architektin feststellen, dass bei diesen gerade nicht, wie von seiner Professionstheorie gefordert, die Klient/innen und die Auftraggeber/innen im Fokus der Reflexion ihrer Tätigkeit stehen, noch nicht einmal die Reflexion auf das ästhetische Gelingen ihrer Praxis, sondern einerseits das Beharren auf der subjektiven, kreativen Leistung der Architekten/Architektinnen, welche sie über die anderen Berufe hinaushebe (SCHMIDTKE, S.341), und andererseits der "ewige Kampf" mit den Ingenieur/innen und sonstigen Kooperationspartner/innen (SCHMIDTKE, S.411). Das ist natürlich ein problematischer Punkt: Die Praxis folgt gleichsam nicht der Theorie – liegt dies an der Praxis oder liegt es an der Theorie? Hierin zeigt sich das Problem einer jeden funktional ansetzenden soziologischen Bestimmung, die jenseits von historisch-kontingenten Erscheinungen und Manifestationen mit einer eigenen Strukturlogik arbeitet. [20]
Noch ein weiterer Punkt: Wie die befragten Architekt/innen, so ist auch SCHMIDTKE der Auffassung, in ihrer Domäne stellten die Architekten/Architektinnen die Leitprofession dar. Architekten/Architektinnen sind das koordinative Zentrum, dem die anderen beteiligten Berufsgruppen zuarbeiten. Sie bilden zudem, wie oben schon dargestellt, in ihrem Praxisbereich zusammen mit dem Bauherrn das dominante Arbeitsbündnis. Untersuchungen in anderen professionalen Arbeitsfeldern machen aber die Hypothese plausibel, dass die Zeit der Leitprofessionen zu ihrem Ende kommt (vgl. KURTZ 2005). In vielen professionalen Tätigkeitsfeldern wie beispielsweise der Medizin, der Seelsorge oder der Wissenschaft treten an die Stelle von Leitprofessionen kooperative Netzwerke von Spezialist/innen. In manchen Untersuchungen (als Überblick SCHÄFERS 2006) wird die These formuliert, dass dies nicht zuletzt aufgrund des Einzugs der eine hohe Spezialisierung herbeiführenden digitalen Konstruktionstechnik auch für den Bereich der Architektur zutreffen könnte. Wie aber würde das die Position der Architekten/Architektinnen verändern? Könnte dies – entgegen SCHMIDTKE – trotz aller "Professionalisierungsbedürftigkeit" den Abschied von der Architektur als einer Leitprofession markieren? [21]
6. Die "Krisen" der Profession?
Die "Frankfurter Professionssoziologie" operiert wie die Objektive Hermeneutik allgemein mit der zentralen Unterscheidung von Routine und Krise (vgl. auch die diesbezüglichen wissenssoziologischen Überlegungen von OEVERMANN 2006). Die Professionalisierungsbedürftigkeit einer Praxis ergibt sich aus ihrer Krisenanfälligkeit und dem Bedarf an professionaler Expertise. Diese Unterscheidung wird aber nur hinsichtlich der Analyse der Praxis eingesetzt, nicht oder nur sehr verhalten hinsichtlich der professionalen Tätigkeit selbst. Finden sich in der professionalen Arbeit nicht ebenso Routinen und Krisen? SCHMIDTKE unterscheidet zwischen Routinewissen und Standardlösungen. Routinewissen ist den Professionen eigen, die Verwendung von Standardlösungen aber nicht, da diese eben nicht einzelfallorientiert sind. Auch diese Unterscheidung ist kaum aufrechtzuerhalten. Woraus wird ein Routinewissen getragen, wenn nicht aus Standardlösungen? Von daher empfiehlt es sich, über die Frankfurter Professionssoziologie und SCHMIDTKE hinaus die Routinen und die Krisen der Professionen in wissenssoziologischer Hinsicht entsprechend durch zwei unterschiedliche Kognitionsstrategien zu beschreiben. In Routinesituationen wird der Einzelfall als ein "typischer Fall" behandelt. Erst dann, wenn diese Routinen mit ihren Standardlösungen versagen oder dem Einzelfall nicht gerecht werden, wird auf einen anderen Modus umgeschaltet, nämlich eine stärker induktive Einzelfallorientierung und eine Eruierung dessen, was denn wirklich "der Fall ist". Diese Unterscheidung lässt sich auch mit der kognitionswissenschaftlichen Unterscheidung von Top-Down-Modus und Bottom-Up-Modus beschreiben. Routine- oder Standardlösungen arbeiten in einem Top-Down-Modus – sie applizieren bewährte Problemlösungen auf einen Einzelfall, ohne diesen in seiner Spezifität näher auszuleuchten. Versagen diese Problemlösungen, so wird auf einen Bottom-Up-Modus umgeschaltet, nämlich auf eine reflexive Analyse der spezifischen Konstellationen eines Falls. Man könnte auch von einer Rekonstruktions- und einer Subsumtionslogik als sich ergänzenden und miteinander kompatiblen Formen und Phasen professionaler Praxis sprechen. Dass beide Formen – und nicht nur die Rekonstruktionslogik – integraler Bestandteil einer jeglichen professionalen Praxis sind, scheint bei einem Blick auf die ärztlichen, psychotherapeutischen und gerade auch die juristischen und wissenschaftlichen Professionen offensichtlich zu sein. Damit soll nicht behauptet werden, dass die professionale Praxis in irgendeiner Weise standardisierbar ist, wohl aber, dass Standardlösungen zu einer jeglichen solchen Praxis gehören. Die Tätigkeit von Professionen beruht auf einer Interpretation der konkreten Praxis ihrer Klient/innen, Patient/innen, Mandant/innen etc., aber diese kann sich eher routinisiert und subsumtionslogisch oder eher krisenhaft und rekonstruktionslogisch vollziehen. Die Frankfurter Professionssoziologie scheint es aufgrund des Einzelfallbezugs der professionalen Praxis für ausgeschlossen zu halten, dass das professionalisierte Handlungsproblem durch eine "reine Implementation standardisierbarer Wissensbestände bewältigt werden kann" (SCHMIDTKE, S.414). Wieso? Der professionale Charakter des architektonischen Handelns wird durch den Einzelfallbezug konstituiert, aber die "Lösungen" können doch durchaus standardisiert sein. Ob eine Problemlösung einen "Standard" darstellt, hängt nicht von dem professionalen Interventionsmodus ab, sondern von den Problemen der Einzelfälle, die ja durchaus standardisierter Natur sein können. [22]
Gelten die Ausführungen von SCHMIDTKE für die gesamte Bandbreite der Architekten/Architektinnen? Oder beschreiben sie ein Ideal, welchem sich nur wenige Architekten/Architektinnen (und nur wenige Bauherrn und Auftraggeber/innen) nähern? Zu diesen Fragen wird man an verschiedenen Stellen des Buches gedrängt, besonders im letzten Kapitel anlässlich der von SCHMIDTKE geäußerten Überlegungen hinsichtlich der Relevanz seiner Untersuchungen. So relativiert er unter der Hand die Bedeutung von personell in Erscheinung tretenden Bauherrn, die doch eher, wie SCHMIDTKE (S.413) selbst formuliert, hoch aggregierten, überpersonalen Organisationen und Praxen ähneln. Hat dies nicht zur Konsequenz, dass es sich doch um spezifische und nicht diffuse Arbeitsbeziehungen handelt? Führt dies nicht dazu, dass die Aufgabe der Architekten/Architektinnen nicht nur darin besteht, die Interessen des Bauherrn aufzunehmen, sondern sich auch um ihrer "Professionalität" willen von diesen Interessen möglicherweise zu distanzieren, also nicht nur stellvertretend zu handeln? In diesen Ausführungen tauchen auch nicht nur die Henry van de Veldes, Frank Lloyd Wrights und Meinhard von Gerkans der architektonischen Welt auf, sondern "normale Arbeiter im Berg des Herrn". Gelten auch für diese "gewöhnlichen" Professionsvertreter/innen die von SCHMIDTKE angeführten Eigenschaften der architektonischen Praxis? Würde SCHMIDTKE zu anderen Ergebnissen kommen, wenn er das Sampling "repräsentativer" ausgelegt und es nicht so sehr auf die Stararchitekten fokussiert hätte? Man kann beispielsweise ins Zweifeln geraten, wenn SCHMIDTKE buchstäblich auf der letzten Seite die enorme interne Differenzierung der Architekt/innen anspricht. Er unterscheidet zwischen "eher künstlerisch ausgerichteten Architekten" und "eher unternehmerisch ausgerichteten Architekten", zwischen "Stararchitekten" von "eher ohne öffentliche Aufmerksamkeit arbeitenden Architekten", freiberufliche von angestellten oder verbeamteten Architekt/innen (hierzu immer noch aufschlussreich: FELDHUSEN 1982). SCHMIDTKE ist sicherlich darin zuzustimmen, dass das von ihm identifizierte Problem der Professionalisierungsbedürftigkeit des architektonischen Handelns fundamental ist – erst auf dieser Basis lassen sich die Architekten/Architektinnen als eine Profession betrachten, und erst auf dieser Basis lassen sich diese internen Differenzierungen diskutieren. Aber, so muss die Frage lauten, gelten für alle die von SCHMIDTKE identifizierten Merkmale architektonischer Praxis? Muss nicht davon ausgegangen werden, dass das Arbeitsbündnis zwischen den Architekten/Architektinnen und ihren Klient/innen ganz entscheidend dadurch strukturiert wird, welche Position und welches Renommee der/die jeweilige Architekt/in hat? [23]
SCHMIDTKE scheint zudem zu unterstellen, dass das Arbeitsbündnis zwischen Architekt/in und Auftraggeber/in eines der Symmetrie und der Interessenkomplementarität ist. Repräsentieren die Entwürfe der Architekten/Architektinnen stets die ästhetischen Vorstellungen der Bauherrn? Und wenn es Konflikte gibt – wie werden diese gelöst? Können diese Arbeitsbündnis nicht eine antagonistische Gestalt annehmen, in welcher beide Seiten in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Ressourcen und Positionen um eine Deutungshoheit, um Kosten und ästhetische Entwürfe ringen? Ein solcher Antagonismus lässt sich vielfach in den Schriften und Manifesten oder allgemein in der Semantik von Architekt/innen finden, so beispielsweise bei Oswald Mathias UNGERS, der mit der Entgegensetzung von "tragender Idee" bzw. "Thema" und "Erfüllung von Bedürfnissen" (der Bauherrn) arbeitet: "Ein Bauwerk ohne ein Thema, ohne eine tragende Idee, ist Architektur ohne einen Gedanken. Bauwerke, die so entstehen, sind ohne Sinn; sie haben keine Bedeutung und dienen lediglich in trivialer Weise der Erfüllung von Bedürfnissen" (UNGERS 1983, S.10) – und "Bedürfnisse" meinen hier die Interessen der Auftraggebenden. Dabei handelt es sich um eine Dichotomie, die sich mit dem "digital turn" in der Architekturtheorie (vgl. GLEITER 2008) noch verstärken könnte, wird doch mit diesem die Variabilität der architektonischen Entwürfe und "tragenden Ideen" über die Bedürfnislagen der Klient/innen hinaus unter Umständen enorm gesteigert. [24]
Bedauerlich ist der Umstand, dass SCHMIDTKE die Arbeitsbündnisse zwischen Architekt/in und Bauherrn nicht umfassender untersucht hat. Man kann auf der Basis bisheriger Untersuchungen (vgl. beispielsweise RAMBOW 2007) vermuten, dass der Begriff des Arbeitsbündnisses normativ aufgeladen ist und zu wenig Raum lässt für die möglichen kommunikativen Strategien, die in der Interaktion zwischen Architekten/Architektinnen und ihren Klient/innen zum Tragen kommen. Man kann aber auch – wie auch schon in früheren Auseinandersetzungen mit der Professionstheorie der Objektiven Hermeneutik festgestellt – bezweifeln, ob die (bisherigen) analytischen Mittel der "Frankfurter Professionssoziologie" ausreichen, um diese Entwicklungen von Professionen über ihre Professionalisierungsbedürftigkeit hinaus hinreichend analysieren zu können. Hier könnten dann doch eher die von SCHMIDTKE auf Distanz gehaltenen macht- und differenzierungstheoretischen Ansätze zum Tragen kommen. [25]
Die Analyse des professionalen Handelns der Architekten/Architektinnen von Oliver SCHMIDTKE ist zu empfehlen. Die Professionssoziologie bereichert sie durch eine Darstellung und Anwendung der Theoreme der "Frankfurter Professionssoziologie" auf die bisher eher randständige Professionsgruppe der Architekten/Architektinnen. Der Architektursoziologie und verwandten Disziplinen ist die Untersuchung zu empfehlen, weil sie in einer herausragenden Weise die Architektur soziologisch zum Sprechen bringen kann. Und sie macht überzeugend geltend, dass die Architekten/Architektinnen nicht nur einen Beruf haben, wie dies ansonsten in der Architektursoziologie immer dargestellt wird, sondern eine Profession bilden. Die Untersuchung von SCHMIDTKE ist auch deshalb zu empfehlen, weil sie in ihrer strikten Konzentration auf den Untersuchungsgegenstand der Professionalisierungsbedürftigkeit des architektonischen Handelns und ihrer eindeutigen Orientierung an den theoretischen Prämissen der "Frankfurter Professionssoziologie" zu einer großen Prägnanz findet und so zu Widerspruch geradezu ermutigt. Neben einzelnen Punkten wie dem Ästhetik-Konzept oder dem doch recht "konfliktfrei" konzipierten professionalen Arbeitsbündnis werden in diesem Review Essay vor allem zwei Bedenken thematisiert: Ist das Arbeitsbündnis zwischen Architekten/Architektinnen und Bauherrn oder allgemein zwischen den Professionsvertreter/innen und ihren Klient/innen oder Patient/innen frei von jeglicher "Subsumtionslogik", also einer Unterordnung nicht nur unter Routinen, sondern auch unter standardisierte Verfahren der Krisenlösung? Ist die stellvertretende Krisenlösung also nicht nur durch eine Rekonstruktions-, sondern auch durch eine Subsumtionslogik geprägt? Und zweitens: Besitzt die von SCHMIDTKE vorausgesetzte Professionstheorie geeignete analytische Mittel, um auch historisch-kontingente Entwicklungen von Professionen rekonstruieren zu können? [26]
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Dr. Rainer SCHÜTZEICHEL vertritt nach Vertretungsprofessuren in Bielefeld und Bochum die Professur Mikrosoziologie und qualitative Methoden am Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen. Wichtige Arbeitsgebiete: Soziologische Theorie, Wissenssoziologie, Professionssoziologie.
Kontakt:
Dr. Rainer Schützeichel
FernUniversität in Hagen
Soziologie I, TGZ
Universitätsstr. 11
D-58084 Hagen
Tel.: 02331-987-2140
E-Mail: rainer.schuetzeichel@fernuni-hagen.de
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Revised 11/2008