Volume 10, No. 1, Art. 12 – Januar 2009
Rezension:
Anke Wischmann & Stephan Münte-Goussar
Martin Bittner (2008). Aufstand in den banlieues. Der Versuch einer Verbindung von Diskursanalyse und dokumentarischer Methode. Berlin: logos, 163 Seiten, ISBN 978-3-8325-1875-2, 14,80 Euro
Zusammenfassung: Martin BITTNER beschäftigt sich in seiner Studie, die aus seiner Diplomarbeit in der Erziehungswissenschaft hervorgegangen ist, mit den Jugendprotesten in Frankreich im Herbst 2005. Dabei geht es einerseits darum, aus einer erziehungswissenschaftlich-jugendsoziologischen Perspektive das Phänomen einzuordnen und zu analysieren. Andererseits soll ein hierfür geeignetes Analyseinstrument entwickelt werden. Dazu wird eine Verbindung der dokumentarischen Methode (BOHNSACK 2007) und der Foucaultschen Diskursanalyse (FOUCAULT 2007, 1981) versucht, indem beide Methodologien zunächst expliziert und mithilfe begrifflicher Übergänge in Bezug zueinander gesetzt werden.
Im Zentrum der Studie steht die Interpretation jener massenmedialen Strategien und Praktiken, die den sich um die Jugendaufstände formierenden Diskurs ausmachten. Zunächst werden die Aufstände in ihrem spezifischen sozialen und historischen Kontext dargestellt. Dabei wird zum einen deutlich, dass es sich um ein gewachsenes Phänomen handelt, das sich zum anderen in seiner Qualität von vorherigen Unruhen in Frankreich zu unterscheiden scheint. Als Zugang zum Gegenstand in seiner sozialen Bedeutsamkeit wird die Berichterstattung in deutschen Printmedien gewählt. Damit wird eine spezifisch deutsche Perspektive auf die Jugendproteste in Frankreich gewählt.
Keywords: Diskursanalyse; dokumentarische Methode; Migration; Konfliktforschung; Integration
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Gegenstand: Jugendproteste in Frankreich
3. Methodik und Methodologie
4. Empirische Studie
5. Ergebnisse/Abschließende Kommentare
6. Fazit
Martin BITTNER legt hier eine interessante Studie vor, die auf unterschiedlichen Ebenen aktuelle Themen und auch Schwierigkeiten der Sozialwissenschaften aufgreift. Die eine Ebene betrifft den Gegenstand, nämlich die Frage nach Entstehung und Bedeutsamkeit neuer sozialer Konflikte, wie sie sich in den banlieues Ende 2005 ereignet haben. Diese Proteste sind aus verschiedenen disziplinären Perspektiven von Interesse, beispielsweise aus pädagogischer, aber auch aus soziologischer Sicht. Jugendphänomene werden häufig als gesamtgesellschaftlich bedeutsame Entwicklungen interpretiert, da sich in modernen Gesellschaften nicht mehr nur eine traditionelle Übergabe sozialer Positionen vollzieht, sondern immer auch potenziell etwas Neues entsteht und die Generationendynamik sich verändert (KING 2004). Um nun die Diskursivität der Ereignisse in den Blick zu bekommen, wird auf einer anderen Ebene die Analyse von Zeitungsartikeln als Zugang zum Thema gewählt, denn es sind, so die These BITTNERs, die Medien, die Ereignissen gesellschaftliche Bedeutungen verleihen. In diesem Fall handelt es sich um deutsche Printmedien, die sich mit den Ereignissen in Frankreich beschäftigten, was die Komplexität noch steigert, denn es geht nicht nur um unterschiedliche Diskurse, sondern wiederum um deren Bezüge auf Diskurse am anderen Ort. [1]
Gewagt und nahe liegend zugleich erscheint die Verbindung der dokumentarischen Methode (BOHNSACK 2007) mit der Diskursanalyse im Anschluss an FOUCAULT. Nahe liegend deshalb, weil die dokumentarische Methode nicht wie andere rekonstruktive Verfahren am Fall arbeitet, sondern es geht ihr darum, kollektive Wissensbestände in ihrer Diskursivität in den Blick zu bekommen. Gewagt ist die Verbindung, weil aufgrund der unterschiedlichen Verwendung des Diskursbegriffs bei BOHNSACK und FOUCAULT – auf die BITTNER selbst verweist – fraglich bleiben muss, ob ein solcher Versuch der Herstellung eines Zusammenhangs gelingen kann. BITTNER begründet seinen Versuch mit dem Argument, dass beide Verfahren einer rekonstruktiven Logik folgen. Die Aktualität dieses Ansatzes ist nicht von der Hand zu weisen, denn es hat momentan Konjunktur, diskursanalytisch vorzugehen (vgl. DIAZ-BONE 1999, 2003; JÄGER 2001; LÜDERS 2007) – gerade in Bezug auf Medienanalysen. Es wird in der Auseinandersetzung allerdings auch deutlich, dass keine Einigkeit bezüglich methodischer und methodologischer Prämissen besteht (vgl. JÄGER 2007). Die größte Schwierigkeit der Arbeit besteht folglich darin, einen "angemessenen" Anschluss an FOUCAULT zu finden. [2]
Es stellen sich nun folgende Fragen an die Studie BITTNERs: Ist das methodische Vorgehen dem Gegenstand, der Fragestellung angemessen? Gelingt ihm der Spagat zwischen den Methoden, ohne dabei der einen oder der anderen Methode nicht gerecht werden zu können? [3]
2. Der Gegenstand: Jugendproteste in Frankreich
Mithilfe ausgewählter soziologischer Theorien nähert sich BITTNER zunächst seiner Fragestellung und begründet deren Relevanz: Es geht ihm um die Bedeutung der Lebenswelt von Jugendlichen (LOCH 2005), die in einem Umfeld mangelnder sozialer Anerkennung heranwachsen, um die Prozesshaftigkeit sozialer Konflikte (WIILLEMS 1997), die Bedeutung von Ethnizität (DUBET & LAPEYRONNIE 1994), die Bedingungen von Integration und Desintegration in sogenannten problematischen Stadtvierteln (SIMMEL 1984; PARK 1967; HEITMEYER 1998) und schließlich um die Bedeutung der Medien, denen eine Schlüsselrolle zugewiesen wird, weil sie gesellschaftliches Wissen konstruierten, wobei sie spezifischen diskursiven Regeln folgten. [4]
Damit gelingt es BITTNER, den von ihm gewählten Zugang über die Analyse von Printmedien plausibel werden zu lassen. Medien werden in ihrer Produktivität gesehen, indem ihnen zugesprochen wird, einen entscheidenden Ort im diskursiven Feld einzunehmen, dem sie sich zum einen unterwerfen und den sie zum anderen selbst hervorbringen. [5]
Dennoch werden die zurate gezogenen soziologischen Theorien in der detaillierten Analyse der medialen Berichterstattung an keiner Stelle – zumindest nicht explizit – wieder aufgegriffen. BITTNER unterlässt vollständig den Versuch, die in den Zeitungen aufgefundenen Aussagen und Diskursfragmente in Bezug auf den von ihm nachgezeichneten soziologischen Diskurs zu verorten und mit diesem zu kontextualisieren. Dies ist nicht zuletzt deshalb bedauerlich, da es BITTNER dadurch hätte gelingen können, den von ihm durch die Auswahl der Zeitungsartikel sehr eng gesteckten Ausschnitt des Diskurses zu jugendlichem Protest und sozialer Ungleichheit zumindest skizzenhaft zu weiten und mit anderen, umfassenden Diskurssträngen zu verbinden. [6]
BITTNER stellt im Weiteren zunächst den methodologischen Hintergrund der rekonstruktiven Sozialforschung dar, wobei er betont, dass es ihm eben nicht um die Rekonstruktion individuellen Erlebens geht, sondern vielmehr um die kommunikativen Strukturen, innerhalb derer das Subjekt sich im Text zeige. Entscheidend sei dabei, zwischen "Wissen als konjunktive[m] und kommunikative[m] Erfahrungswissen zu unterscheiden" (S.34), sowie zwischen (intuitivem) Verstehen und (reflexivem) Interpretieren. BITTNER konstatiert, dass sich sowohl das Verfahren der dokumentarischen Methode als auch das der Diskursanalyse unter dem Dach der rekonstruktiven Sozialforschung vereinen lasse (S.35). [7]
In der nun folgenden Darstellung der Foucaultschen Diskursanalyse wird argumentiert, dass es sich hierbei keineswegs um eine stringente und festgelegte Methode handele, sondern dass FOUCAULT durch sein spezifisches Denken des Diskurses eine bestimmte Sicht auf die Verfasstheit sozialer Wirklichkeit impliziere. BITTNER hält sich in seinen Ausführungen vor allem an die "Ordnung des Diskurses" (FOUCAULT 2007) und "Die Archäologie des Wissens" (FOUCAULT 1981). Diskurse seien zu verstehen als ein System von Aussagen, welches bestimmten diskursiven Regeln folge. Aussagen innerhalb eines Diskurses – im Sinne seriöser Sprechakte – könnten nur nach Maßgabe einer spezifischen Formation in Erscheinung treten. Die diskursive Praxis des Diskurses wirke somit strukturierend. [8]
Ein Diskurs könne FOUCAULT zufolge in vier Richtungen analysiert werden, die BITTNER ausführlich darlegt: Es könnten 1. die Objekte bzw. Gegenstände betrachtet werden, die der Diskurs hervorbringt, 2. die ihm eingeschriebenen Äußerungsmodalitäten bzw. die Modalität des Hervortretens der Subjekte, 3. die Formation der Begriffe und 4. die Strategien des Diskurses (S.37-40). Im Diskurs würden unterschiedliche Prozeduren wirksam, die die (spezifische) Ordnung des Diskurses ausmachten. In der Analyse müsse es darum gehen, diese Dimensionen und Prozeduren in den Blick zu nehmen. Da ein konsistentes, methodisches Vorgehen im Sinne der qualitativen Sozialforschung nach FOUCAULT nun weitgehend offen bleibe, wie BITTNER im Anschluss an KELLER (2004) annimmt, zieht er zusätzlich die dokumentarische Methode heran. [9]
Die dokumentarische Methode (BOHNSACK 2007) wird von BITTNER dargestellt als ein rekonstruktives Verfahren, welches vor allem zur Analyse von Gruppendiskussionen in der qualitativen Sozialforschung angewendet werde, wobei es mittlerweile auch in vielen weiteren Gebieten zum Einsatz komme, wie etwa in der Analyse von Einzelinterviews. Es lehnt sich an die praxeologische Wissenssoziologie Karl MANNHEIMs an. BITTNER skizziert die beiden Schritte der dokumentarischen Methode: zunächst die formulierende Interpretation, in der es vor allem darum gehe, die Themen, also die relevanten Inhalte herauszuarbeiten, und daran anschließend die reflektierende Interpretation, die sich vom Dokument in zunehmender Abstraktion entfernt und die Strukturen und Mechanismen der Interaktion bzw. Darstellung herausarbeitet. Während der Interpretation werden die Ergebnisse mit denen anderer Dokumente kontrastiert, sodass sich über den Kontrast eine typische Struktur herausarbeiten lässt. [10]
Zu guter Letzt geht BITTNER noch einmal auf die Verwendung des Diskursbegriffs ein und kommt zu dem Schluss, dass es zulässig sei, eine Verknüpfung herzustellen, denn das Wissen, das die dokumentarische Methode zu rekonstruieren versucht, werde diskursiv hervorgebracht, folge diskursiven Regeln, welche sich gleichsam in der Struktur des Textes zeigten und somit wiederum rekonstruierbar seien. [11]
Dennoch überkommt einen nach der Lektüre des methodologischen Kapitels der Verdacht, dass durch den Zusammenschluss der Foucaultschen Perspektive mit der dokumentarischen Methode gerade die Radikalität des Foucaultschen Denkens verloren zu gehen droht. Diese besteht zum einen in FOUCAULTs konsequenter Ablehnung, sich bei der Analyse empirischer – in seinen eigenen Analysen vornehmlich historischer – Dokumente von als prädiskursiv angenommenen Objekten und Gegenständen leiten zu lassen. Zum anderen aber lehnt FOUCAULT insbesondere die Vorstellung eines prädiskursiven, intentionalen, dem Diskurs Bedeutung und Sinn verleihenden Subjekts ab, d.h. er kritisiert die "Autorfunktion". BTTNER selbst formuliert im Anschluss an FOUCAULT: "Ein Rückgriff auf ein transzendentales Subjekt oder eine psychologische Subjektivität liegt nicht nahe, wenn es um die Definition des Systems seiner [des Diskurses, AW/SM-G] Äußerungen geht" (S.39). Dennoch bleibt der Verdacht, und er bestätigt sich sogar in der von BITTNER im Folgenden vorgelegten empirischen Untersuchung ausgewählter Zeitungsartikel. [12]
Das empirische Vorgehen sei, so BITTNER, als Prozess zu verstehen, "der sich aus der Untersuchung selbst ergibt" (S.50). Es wurden drei auflagenstarke deutsche Wochenzeitungen ausgewählt, die als Untersuchungsfeld dienten, die Zeit, der Rheinische Merkur und die Berliner Zeitung Freitag. Nach inhaltlichen Kriterien wurden aus den jeweiligen Zeitungen die Artikel ausgewählt, die sich mit dem Thema der Jugendproteste in Frankreich intensiv befassten. Die Artikel wurden thematisch gegliedert und dann zunächst einer formulierenden Interpretation im Sinne der dokumentarischen Methode unterzogen, wobei es vor allem darum ging, die behandelten Ober- und Unterthemen herauszuarbeiten. Die Artikel, die BITTNER bei seiner Untersuchung in den Mittelpunkt stellt, "markieren zumeist den Beginn eines diskursiven Ereignisses" (S.51) in dem jeweiligen Medium. Es gehe um den deutschen Diskurs bzw. deutsche Diskurse, die die Berichterstattung über die Ereignisse in Frankreich strukturierten. [13]
Man kann schon an dieser Stelle fragen, ob die Artikel tatsächlich ein und dasselbe diskursive Ereignis markieren, oder ob diese Einheit nicht eher durch die Auswahl der Artikel schon vor jeglicher Analyse unterstellt wird. Wie BITTNERs folgende Ausführungen nämlich zeigen, versammeln die Artikel eine Vielzahl verschiedener, zumeist widerstreitender Aussagen, also verstreute diskursive Ereignisse, und stimmen allein darin überein, dass sie die Existenz eines jugendlichen Protestes bestätigen und miteinander darum ringen, wahre Aussagen über eben diesen zu produzieren. Durch die Auswahl gruppiert sich der Diskurs also von vornherein um ein als existent angenommenes Objekt: den jugendlichen Protest, dessen Verfertigung doch eigentlich erst nachgezeichnet werden sollte. [14]
Im nächsten Schritt werden die einzelnen Artikel von BITTNER einer reflektierenden Interpretation unterzogen, wobei die sich dokumentierenden Orientierungen, Erklärungsmuster, Aussageformationen und Ausschlusskriterien rekonstruiert werden sollten. Das Vorgehen und die Ergebnisse werden in Fallbeschreibungen dargestellt. Letztlich wird eine Diskursbetrachtung vorgenommen. [15]
Die Artikel werden zudem bezüglich ihrer Gestaltung und Darstellung untersucht, sodass deutlich wird, an welchem Ort (z.B. Rubrik) sie in welchem Layout erschienen. Dann wird die Berichterstattung zu den Aufständen in den banlieues in den drei Zeitungen mit den Mitteln der dokumentarischen Methode rekonstruiert. [16]
In der Zeit habe das Ereignis der Aufstände als Anlass für eine Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen der Jugendlichen in den französischen Vorstädten gedient. "Geld ist nichts, Respekt ist alles", so laute die Überschrift des im Mittelpunkt der Analyse stehenden Artikels. Den primären Diskurs, so BITTNER, stelle in der Berichterstattung die Komplexität eines Macht- und Gewaltdiskurses dar, welcher das Leben der Jugendlichen bestimme und sie als vollwertige Mitglieder der französischen Gesellschaft nicht anerkannt sein lasse. Es gehe um die verschiedenen Mechanismen, die zur Eskalation der Situation geführt hätten und um für sie bedeutungsvolle soziale und politische Entwicklungen. [17]
Der Rheinische Merkur thematisierte die Jugendproteste im Wirtschaftsressort, was bereits eine Differenz zu im Politikressort erscheinenden Artikeln bedeute. Der Artikel stehe in dieser Zeitung nicht am Anfang der Berichterstattung über das Thema – wie in den anderen Zeitungen, auf die BITTNER sich bezieht –, deute jedoch auf eine "Verlagerung des Wissens" innerhalb des Diskurses hin. Es stellte sich heraus, dass sich die Fokussierung auf den wirtschaftlichen Diskurs auch in anderen Artikeln zum Thema in anderen Ressorts widerspiegelte. Die wirtschaftlich-liberale Orientierung lasse sich inhaltlich und strategisch nachzeichnen. Dabei rücke die Eigenverantwortlichkeit des oder der Einzelnen in den Vordergrund; so werde etwa durch den Verweis auf ein Beispiel "gelungener Integration" eines jungen Franco-Maghrebiners gezeigt, dass eine gesellschaftliche Teilhabe und damit verbundener Erfolg und Anerkennung potenziell erreichbar seien. [18]
"Krieg der Steine" betitele der Freitag den im Mittelpunkt der Untersuchung dieser Zeitung stehenden Artikel, welcher, wie bereits in der Zeit, den Beginn des diskursiven Ereignisses markiere. In dem Diskurs des Freitag, der in dem Artikel rekonstruiert werden könne, gehe es vor allem darum, sich von der französischen Gesellschaft abzugrenzen und die Ereignisse in einen historischen Kontext zu stellen. Der von BITTNER als primär rekonstruierte Diskurs ist ein innen- bzw. sozialpolitischer. Es gehe um die generellen Auswirkungen von "Chancenlosigkeit und Ungleichheit der Bewohner der Vorstädte" (S.132), welche ein Gewaltpotenzial hervorbrächten, dem – und hier zeige sich der Diskurs als normativ – nicht in sinnvoller Weise mit repressiven Mitteln begegnet werden könne, sondern vielmehr mit sozialpädagogischen, für die jedoch immer weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Im Hinblick auf die so genannten Krawalle argumentiere der Freitag, diese könnten in eine "französische Konfliktlösungskultur" (S.133) eingeordnet werden. Allerdings zeige sich auch ein Bruch bezüglich der Identifizierungsmuster und -möglichkeiten der Jugendlichen in der Generationenfolge, denn diese Jugendlichen bezeichneten sich selbst als Franzosen. Immer wieder werde in dem Artikel der Vergleich der französischen und der deutschen Gesellschaft bezüglich unterschiedlicher Integrationsdiskurse herangezogen. [19]
Abschließend wird von BITTNER eine Diskursbetrachtung vorgenommen, welche nicht den Anspruch einer Abgeschlossenheit hat, jedoch versucht, die bedeutsamen öffentlichen Debatten in Deutschland, die sich in den bearbeiteten Zeitungen zeigten, in den Blick zu nehmen. Dabei soll auch die Konflikthaftigkeit der unterschiedlichen Diskurse deutlich werden."Der gesellschaftliche Konflikt kann als die Folge eines Bruches innerhalb der diskursiven Praktiken gesehen werden. Auf den Bruch folgt eine Veränderung der diskursiven Praxis, mit der auch eine Etablierung bzw. Aktualisierung von Diskursen einhergeht" (S.135). [20]
Durch die Berichterstattung über die französischen Jugendproteste tritt also, so BITTNER, ein Bruch in der diskursiven Praxis zutage. Der Bruch zeige sich in allen drei Zeitungen und beziehe sich auf einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Es gehe dabei um die Veränderung und eine immer offensichtlichere Diskrepanz von Integrationsmechanismen von Gesellschaften einerseits und die Selbstverortung und Ansprüche der Jugendlichen in den Vorstädten andererseits; vor allem bezüglich ethnischer Differenzen. [21]
In allen Artikeln gehe es immer um die Darstellung eines gesellschaftlichen Konflikts, welcher in unterschiedlicher Art und Weise beschrieben und gedeutet werde. Die diskursiven Bezüge der drei Zeitungen differieren: Im Rheinischen Merkur dokumentiere sich ein wirtschaftlicher Diskurs, in der Zeit gehe es um die Veränderung von Wertorientierungen im Kontext von Macht- und Gewaltstrukturen, und im Freitag zeige sich primär ein pädagogischer Diskurs, wobei bei den beiden letzteren zudem ein sozialpolitischer Diskurs rekonstruiert werden könne. [22]
Die Aussagen, die BITTNER den untersuchten Zeitungen bzgl. der Jugendproteste und deren sozialpolitischen und ökonomischen Kontexten entnimmt und zu jeweils einheitlichen Diskursen verdichtet, sind durchaus aufschlussreich. Gleichwohl bleiben sie weit hinter jenen soziologischen Ansätzen zurück, deren Differenziertheit und Tiefe BITTNER in seinem kurzen Referat eingangs angedeutet hatte, die er aber nicht wieder aufgreift. [23]
Grundsätzlich bleibt undeutlich, ob BITTNER Zusammenhänge, Erklärungsversuche, Reaktionen bzgl. der Lebenslagen und Wertorientierungen der protestierenden Jugendlichen klären bzw. mit BITTNERs Worten: einen "gesamtgesellschaftlichen Diskurs" (S.136) nachzeichnen will, und zwar vermittelt durch die Analyse der ausgewählten Artikel, oder ob es ihm um die Diskursproduktion und -strategien eben jener untersuchten Zeitschriften geht. Anders ausgedrückt: BITTNER versucht durch die interpretierten Printmedien hindurch einen Diskurs zu rekonstruieren – einen Diskurs, der eben die sozialen, pädagogischen, ökonomischen und religiösen Kontexte, Bedingungen und Wertorientierungen der Proteste thematisiert und von Innenminister/innen, Sozialpädagog/innen, Bürgermeister/innen, Imamen und nicht zuletzt den Jugendlichen selbst geführt wird –, aber gerade die Medien, die BITTNER untersucht, scheinen auf eigentümliche Weise außerhalb dieser Diskursproduktion zu stehen. Sie führen – so unser Eindruck – ihren eigenen, völlig unabhängigen Diskurs, quasi einen Metadiskurs, dem es erlaubt scheint, unberührt und folgenlos über jenen Diskurs zu sprechen. Man möchte meinen, der analysierte mediale Diskurs gibt einer jenseits von ihm existenten – ihrerseits diskursiven – Wirklichkeit eine Bedeutung oder umgekehrt: er entschlüsselt diese; der Zeitungsdiskurs ist in jedem Fall als etwas von dieser Wirklichkeit Verschiedenes zu behandeln. [24]
Dadurch bleibt stets unklar, was eigentlich BITTNERs Gegenstand ist: Sind es die Strategien und Praktiken der Medien, also deren eigener Diskurs, oder jener Diskurs, von dem diese Praktiken zeugen und der sich vermeintlich jenseits dieser Praktiken formiert, aber inmitten dieser gefunden und analysiert werden kann. In BITTNERs Analyse scheinen Diskurs (der Printmedien) und (diskursive, gesamtgesellschaftliche) Wirklichkeit als etwas Getrenntes, und sie werden dennoch in der Darstellung laufend vermischt. Für mehr Klarheit hätte eine Haltung BITTNERs gesorgt, die den Diskurs als einzig möglichen Zugang zur Wirklichkeit begreift. [25]
Dass BITTNER hier hinter die im methodischen Kapitel selbst formulierten Annahmen zum Vorgehen der Diskursanalyse zurückfällt, zeigt sich u.a. auch daran, dass er die Autor/innen der gewählten Zeitschriften unentwegt als eben diese anspricht. Zudem folgt er konsequent, Zeile um Zeile, deren Argumentations- und Gedankengang. Der sich hier entfaltende Diskurs wird also im Rückgriff auf eine psychologische Subjektivität rekonstruiert, die so als "autonomer Urheber" eines Diskurses erscheint, der seinerseits verschiedene Diskursstränge und -teilnehmenden auftreten lässt. Eine diskursive Formation, deren Elemente bestimmten, individuell nicht beherrschbaren Regelmäßigkeiten folgen, kommt so nicht in den Blick. [26]
5. Ergebnisse/Abschließende Kommentare
Im Schlusskapitel verweist BITTNER noch einmal darauf, dass in der Rekonstruktion eines deutschen Diskurses über die französischen Aufstände im Sinne sozialer Konflikte deutlich geworden sei, dass eine Benachteiligung von Einwanderer/innen in Frankreich, die immer im Kontext des spezifischen Raumes der Vorstädte zu betrachten sei, auch in der der dritten Generation noch wirksam sei. Allerdings habe mit den Protesten eine Veränderung stattgefunden, sodass BITTNER einen Bruch in der diskursiven Praxis rekonstruiert: Das republikanische, nationalstaatlich fundierte Integrationsmodell der französischen Gesellschaft könne nicht länger unbefragte Geltung beanspruchen. [27]
Das empirische Vorgehen im Sinne der Diskursanalyse mit der dokumentarischen Methode habe sich als Herausforderung erwiesen. Nichts desto trotz habe es sich gelohnt, denn es habe sich plausibilisieren lassen, dass die Rekonstruktion des konjunktiven Erfahrungswissens, Strukturen und Orientierungsmuster herausarbeiten lasse, welche wiederum im Kontext der Dimensionen der Diskurse zu verstehen seien. Es sei eine "gegenseitige methodische Annäherung vollzogen" (S.145) worden. Sicherlich beinhalte der Umfang der Arbeit gewisse Probleme bezüglich der in den Blick zu nehmenden Dimension, nämlich lediglich der Perspektive der Zeitungsartikel, aber es lasse sich, so BITTNER, von den gewonnenen Erkenntnissen aus gewinnbringend ein Weiterverfolgen dieser methodischen Kombination in Betracht ziehen. [28]
Indem es Martin BITTNER gelingt, einen Bruch in der Berichterstattung und damit im Diskurs über soziale Konflikte, soziale Ungleichheit und Integration aufzuzeigen, eröffnen sich interessante Anknüpfungspunkte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, die sich den dominanten Diskursen, die sich in der Berichterstattung der Wochenzeitungen dokumentierten, zuordnen lassen: die pädagogische, die soziologische, die politische und die ökonomische. Dies lohnt sich weiterzuverfolgen. Um diese Theorie zu erhärten, wäre es von Interesse, den Vergleichshorizont früherer Berichterstattungen heranzuziehen, zumal ein solches Vorgehen in der Diskursanalyse unerlässlich erscheint (SCHWAB-TRAPP 2003). [29]
Medien verleigen Ereignissen gesellschaftliche Bedeutungen, so die Annahme, wobei in ihrer Berichterstattung hegemoniale Diskurse wirksam werden – und dies, wie sehr deutlich wurde, in unterschiedlicher Weise. Nun lässt sich jedoch vermuten, dass die Komplexität der Wirksamkeit der Medien mit ihren diskursiven Praktiken mit BITTNERs Untersuchung noch nicht erschöpfend untersucht worden ist. Die Praktiken der Medien selbst und ihre Verflochtenheit in den Diskurs, über den sie berichten, kommt – wie ausgeführt – in BITTNERs Analyse leider nicht wirklich in den Blick. Die Medien erscheinen hier als souveräne, über dem wirklichen Diskurs schwebende Diskursverwalter. [30]
Auch und gerade hinsichtlich eines diskursanalytisches Vorgehens müssten sich zudem die von BITTNER nur ganz kurz erwähnten Mechanismen der Macht und des Begehrens noch tiefer gehend untersuchen lassen. So könnte die Funktion der jeweiligen Medien bei der Analyse bestimmter Ereignisse – denen sie ja nach BITTNER Bedeutung verleihen – innerhalb wirksamer diskursiver Machtstrukturen mit in Betracht gezogen oder zunächst einmal aufgedeckt werden. [31]
Hier schließt sich die Frage nach der Methode an, die sich in BITTNERs Arbeit, in Bezug auf sein Anliegen, als plausibel und sinnvoll erwiesen hat. Mit FOUCAULT wäre zunächst einmal zu fragen, ob es ausreichend sein kann, einen derart begrenzten Ausschnitt als Grundlage einer Diskursanalyse gelten zu lassen, oder ob nicht das Feld der Untersuchung in der Breite und auch in der Historie ausgeweitet werden müsste. Das ist eine grundsätzliche Frage. Allerdings würde dies die Methode an sich nicht in Frage stellen, sondern lediglich die Begrenztheit einer solchen Qualifikationsarbeit. [32]
Wie bereits angeführt – und BITTNER verweist in seiner Arbeit selbst darauf – herrscht bezüglich der Anwendung der Diskursanalyse im sozialwissenschaftlichen Feld alles Andere als Einigkeit, und bisher erschien jeder Versuch einer Anbindung der Foucaultschen Theorie an ein konkretes methodisches Vorgehen unzureichend. Sicherlich bleibt auch bei dieser Erprobung der Verbindung von Diskursanalyse und dokumentarischer Methode die eine oder andere Frage offen, aber die bisherigen Ergebnisse lassen, wie der Autor selbst konstatiert, eine weitere Auseinandersetzung gewinnbringend erscheinen. [33]
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Anke WISCHMANN, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Sektion 1; Allgemeine, interkulturelle und international vergleichende Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs-, Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse in der Adoleszenz.
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Stephan MÜNTE-GOUSSAR, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Sektion 1; Allgemeine, interkulturelle und international vergleichende Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Bildung und Ökonomie, Ökonomisierung der Bildung, Selbsttechnologien.
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Stephan Münte-Goussar
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Wischmann, Anke & Münte-Goussar, Stephan (2008). Review: Martin Bittner (2008). Aufstand in den banlieues. Der Versuch einer Verbindung von Diskursanalyse und dokumentarischer Methode [33 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(1), Art. 12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0901126.