Volume 10, No. 1, Art. 17 – Januar 2009
Unsere Regeln lassen Hintertüren offen – Herzstücke der immer unfertigen Psychoanalyse
Michael Langenbach
Review Essay:
Andreas Stratkötter (2004). Konformität und Eigenständigkeit. Eine qualitative Analyse psychoanalytischer Praxiskonzepte und Berufsbiographien. Münster: Lit Verlag, 256 Seiten, ISBN 3-8258-7929-1, EUR 19,90
Zusammenfassung: Die praktische Arbeit in der psychoanalytischen Praxis ist ein Kernbestandteil des psychoanalytischen Wissenszuwachses. Dennoch ist sie ein dunkles Kapitel in der Forschungsgeschichte der Psychoanalyse. Was in der Praxis tatsächlich geschieht, wird selten erforscht. Das besprochene Buch von Andreas STRATKÖTTER macht die psychoanalytische Praxis zur empirischen Basis einer umfangreichen qualitativen Studie. Die interviewten Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen stellen ihre Indikationskriterien, die Praxisrelevanz zentraler psychoanalytischer Konzepte und ihren beruflichen Werdegang nach der psychoanalytischen Ausbildung dar. Die Untersuchung von STRATKÖTTER kann als Beleg für Forderungen nach Verbesserungen der psychoanalytischen Ausbildungskultur und für eine Weiterentwicklung von qualitativen Forschungsansätzen in der Psychoanalyse gelesen werden.
Keywords: Berufsbiografie; Praxis; Psychoanalyse; Psychotherapie; qualitative Forschung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Die Praxis als Herzstück der psychoanalytischen Therapie
2. Besprechung: Wie nehmen Psychoanalytiker/innen psychoanalytische Therapie in der Praxis wahr
2.1 Zum Buch
2.2 Kernthesen des Buches
3. Einige unfertige Gedanken zum Text
4. Folgen für Forschung, Praxis und Ausbildung in der Psychoanalyse
4.1 Folgen für die psychoanalytische Forschung
4.2 Folgen für die Ausbildung
4.3 Folgen für die Praxis
1. Einleitung: Die Praxis als Herzstück der psychoanalytischen Therapie
Die Psychoanalyse "tastet sich an der Erfahrung weiter, ist immer unfertig, immer bereit, ihre Lehren zurechtzurücken oder abzuändern" (FREUD 1923a, S.229).
"Um eine Praxis festzulegen, genügen nicht Regeln, sondern man braucht Beispiele. Unsere Regeln lassen Hintertüren offen und die Praxis muss für sich selbst sprechen" (WITTGENSTEIN 1984, S.149).
Die praktische Arbeit ist wiederholt als Herzstück der psychoanalytischen Therapie und wesentlicher Bestandteil des Forschungsprozesses der Psychoanalyse bezeichnet worden. Helmut THOMÄ und Horst KÄCHELE widmen dem Verhältnis von Theorie und Praxis in ihrem weit verbreiteten Lehrbuch, das international viel Anerkennung und Zuspruch in der psychoanalytischen Community gefunden hat, ein eigenes Kapitel (2006, S.369ff.). Analytiker/innen, die in ihrem klinischen Alltag mit Patient/innen arbeiten, erarbeiten sich damit auch ihre persönliche Praxis, die sie immer wieder neu an den spezifischen Bedürfnissen ihrer Patient/innen vor dem Hintergrund des theoretisch verfügbaren Erfahrungsschatzes analytischen Wissens justieren müssen. Ihre Arbeitstechnik wird sich damit verfeinern, differenzieren und von der in der Ausbildung als Kandidat/in der Psychoanalyse erlernten Theorie auch entfernen. THOMÄ und KÄCHELE haben das Verhältnis von Praxis und Theorie als "eines der größten theoretisch und praktisch bedeutsamen Probleme der psychoanalytischen Behandlungslehre" (2006, S.XVI) bezeichnet. Sigmund FREUD stellte bereits 1922 seine "Preisfrage", "inwiefern die Technik die Theorie beeinflusst hat und inwieweit die beiden einander gegenwärtig fördern oder behindern" (FREUD 1922d1), S.527), was Otto RANK und Sándor FERENCZI zum Plädoyer für ein empirisch gestütztes deduktives Vorgehen veranlasste: "diese Art gegenseitiger Kontrolle der Erkenntnis durch die Erfahrung (Empirie, Induktion) und der Erfahrung durch vorhergehende Erkenntnis (Systemisierung, Deduktion) [ist] die einzige …, die eine Wissenschaft davor behüten kann, in die Irre zu gehen" (FERENCZI & RANK 1924, S.47). [1]
Angesichts der so bereits in den frühen Jahren der Konsolidierung psychoanalytischer Wissensbestände konstatierten Bedeutung der Praxis für die Entwicklung der Theorie ist es erstaunlich, dass die Praxis der Psychoanalytiker/innen dennoch ein dunkles Kapitel geblieben ist. Sie spielt sich im Schatten der öffentlichen Therapiediskussionen ab, in denen viel mehr Licht auf die Theorien der psychoanalytischen Behandlung geworfen wird. Die Frage danach, was die Psychoanalytikerin und der Psychoanalytiker eigentlich tatsächlich in ihrer Praxis tun, findet wenig empirisch fundierte Antworten (mittlerweile wurde 2007, drei Jahre nach Erscheinen des hier rezensierten Buches, ein Psyche-Doppelheft dem "Analytiker bei der Arbeit" gewidmet). [2]
Dies ist nicht nur ein theoretisch interessantes Problem; auch die Analytiker/innen müssen sich im therapeutischen Alltag fragen, ob ihre "Behandlungstechnik sowohl für die Aufstellung neuer Hypothesen und die Vertiefung des psychoanalytischen Wissens als auch für die Förderung des Heilungsprozesses geeignet ist" (THOMÄ & KÄCHELE 2006, S.385). Häufig zweifeln Psychoanalytiker/innen selbst daran, ob sie tatsächlich psychoanalytisch arbeiten oder die psychoanalytische Theorie "richtig" anwenden (RUDOLF 2006). Offenbar besteht Unsicherheit darüber, was gutes psychoanalytisches Arbeiten ausmacht und was essenzielle Kriterien psychoanalytischer Kompetenz sind (WILL 2006). Solange Ausbildungskandidat/innen "im Wesentlichen durch Dauer und Stundenfrequenz der Lehranalysen" (THOMÄ & KÄCHELE 2006, S.41) beurteilt werden, bleibt eine inhaltliche Bestimmung der Erfassung psychoanalytischer Kompetenz schon auf der Ebene der Ausbildung weitgehend offen. Vielleicht helfen hier die Vorschläge David TUCKETTs (2005) und Herbert WILLs (2006), um einen Bezugsrahmen für die Beurteilung von Ausbildungsprogrammen, Abschlussberichten und Supervisionen der psychoanalytischen Institute zu entwickeln, der von möglichst vielen Psychoanalytiker/innen anerkannt werden kann. Ein "disziplinierter psychoanalytischer Pluralismus" (THOMÄ & KÄCHELE 2006, S.41) mit Festlegung von Kernbestandteilen der psychoanalytischen Haltung und ihrer Techniken könnte auch dem viel diskutierten Widerspruch zwischen öffentlichen und privaten Theorien in den Psychoanalysen einen Bezugsrahmen geben (TUCKETT 2007). [3]
Der Blick in die real existierende psychoanalytische Praxis und ihren Pluralismus der Methoden kann hier ein wichtiger Schritt sein, um Bezugsgrößen zu finden und zu verifizieren. Wenn die Praxis so viel Bedeutung für die Entwicklung der Theorie hat, ist es nämlich nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, einen Blick auf das tatsächliche Wirken der Psychoanalytiker/innen zu werfen (der Impuls ist ja übrigens lange bekannt und hat z.B. dazu geführt, dem Gründervater "über die Schulter zu schauen", s. CREMERIUS 1980). Tatsächlich gibt es aber nur wenige empirische Untersuchungen zum praktischen Selbstverständnis von Psychoanalytiker/innen (STREECK 1995). Andreas STRATKÖTTER hat dies in seiner 2004 veröffentlichten, qualitativen Untersuchung von Interviews mit elf Psychoanalytiker/innen umfangreich und ambitioniert geleistet. [4]
2. Besprechung: Wie nehmen Psychoanalytiker/innen psychoanalytische Therapie in der Praxis wahr
Der Titel seines Buches mit dem griffigen Oppositionspaar vom Konformen und Eigenständigen markiert ein Spannungsfeld. Psychoanalytische Praxis ist geprägt von der Spannung zwischen verborgener und geheimnisvoller Praxis in der Exklusivität einer therapeutischen Zweierbeziehung und dem oft apodiktisch vorgetragenen "Du sollst" von Praxisanleitungen aus den in der Literatur und der Ausbildung in den Instituten vorgegebenen Lehrmeinungen. Die empirisch fundierte Therapieforschung allerdings orientiert sich vorzugsweise daran, Nachweise für die Wirksamkeit der beforschten Therapiearten zu liefern. Therapieforschung hat überdies in den letzten Jahren eine stark politisch gefärbte Dimension angenommen, da die zunehmende Knappheit finanzieller Mittel die Erstattung von Behandlungskosten begrenzt. Damit wird aber die Frage nach dem, was in der konkreten psychotherapeutischen Praxis tatsächlich gemacht wird, gar nicht mehr gestellt. [5]
Es ist also reizvoll, wie es in der vorliegenden Arbeit getan wird, danach zu fragen, wie die durch therapeutische Exklusivität und forschungspolitische Ignoranz verborgene Praxis aussieht, und zwar nicht nur zu fragen, was von der Theorie tatsächlich in der Praxis ankommt bzw. umgesetzt wird, sondern auch, ob Praxis etwas genuin davon Verschiedenes ist und ob dort eventuell Innovationspotenzial für die Theorie steckt. An dieser Frage setzt STRATKÖTTERs Buch an. [6]
Die als Dissertation entstandene Arbeit, erschienen als Band 4 der "Psychologischen Erkundungen – Studien zur qualitativen Sozialwissenschaft" (herausgegeben von Jarg BERGOLD, FU Berlin, Franz BREUER, WWU Münster, und Heiner LEGEWIE, TU Berlin)2), unternimmt den Versuch, die tägliche Arbeit von Psychoanalytiker/innen empirisch in Selbstberichten zu erfassen und das Spannungsverhältnis von "persönlichen Affinitäten" und "theoretischen Grundannahmen" zu beschreiben. Damit schließt die Arbeit (ganz bewusst?) an die Reihe der Erkundungen der Psychoanalyse durch Psychoanalytiker/innen (CREMERIUS 1980) an, jedoch vom Blickwinkel eines Außenstehenden. (Andreas STRATKÖTTER bezeichnet sich selbst als nicht-psychoanalytischen Psychotherapeuten.) Somit wird Praxiswissen über psychoanalytische Modifikationen erforscht, unter dem Anspruch, hier erstmalig den Blick in die Praxis mittels narrativer Interviews zu tun. STRATKÖTTER hat elf jeweils rund zweistündige teilstrukturiert-narrative Interviews mit Psychoanalytiker/innen und eines mit zwei Psychiater/innen, die bei entsprechender Indikation zu psychoanalytischer Therapie zuweisen, geführt, wobei er Alter, Geschlecht, Berufserfahrung, akademische Ausbildung (Arzt – Psychologe) und Zugehörigkeit zu psychoanalytischen Gesellschaften (DPG, DPV) variierte und Analytiker/innen mit zusätzlichen Ausbildungen (z.B. Familientherapie, Verhaltenstherapie und Bioenergetik) hinzuzog. Die Gespräche wurden audiographiert und transkribiert. Er hat die Transkripte dann einem aufwändigen Auswertungsverfahren unterworfen, das sich am open coding gemäß der Grounded Theory Methodology nach GLASER und STRAUSS (STRAUSS 1987) orientiert. Auf der Basis von Kodierungen und Memos gruppiert STRATKÖTTER sein Material inhaltlich-kategorial, um es anschließend axial zu kodieren. [7]
Bei der Kategorienbildung gelingt es dem Autor, induktiv-modellgenerierend vorgehend, mit Geschick das oft heterogene bzw. überreich wirkende Material einem Ordnungsprozess zu unterwerfen und jeweils übergreifende Kategorien zu bilden, die er in einem weiteren Auswertungsschritt der psychoanalytischen Literatur kontrastiert. [8]
Das Buch ist folgendermaßen gegliedert: zwei Einführungskapiteln, die Aufbau des Buches, Vorgehen und Fragestellung der Arbeit vorstellen und begründen (und die auch einen Eindruck von der subjektiven Mühe des Auswertungsprozesses vermitteln und die "allparteiliche" Position des Autors, seine Überraschungen und Enttäuschungen am gewonnenen Material darstellen), lässt STRATKÖTTER je ein Kapitel zur Beschreibung der Methodik und zur Vorstellung seiner Interviewpartner/innen folgen. In den nächsten sechs Kapiteln beschreibt der Autor die entwickelten Auswertungsschwerpunkte – Indikation von psychoanalytischen Langzeitbehandlungen, Praxiskonzepte der psychoanalytischen Behandlung (Setting und Begriffe, mit denen psychoanalytische Behandlung beschrieben wird) und Entwicklung der Berufsbiografie von Psychoanalytiker/innen – jeweils zunächst in den aus den Schilderungen der untersuchten Interviewpartner/innen gewonnenen Kernkategorien und dann in jeweils einem themenbezogenen kurzen Literaturrundblick. Das elfte und letzte Kapitel beschließt mit einer Zusammenfassung der gesamten Untersuchung das Buch. [9]
a) Was die Indikationsstellung von Langzeitbehandlungen angeht, kann STRATKÖTTER aus seinem Material zwei Gruppen formeller Indikationskriterien herausarbeiten: zum einen "Eignungskriterien", die beschreiben, welche Patient/innen sich aufgrund besonderer Merkmale für die psychoanalytische Methode eignen, und zum anderen "Notwendigkeitskriterien", die angeben, welche Patient/innen eine psychoanalytische Behandlung nötig haben. Bei den Eignungskriterien werden von den befragten Analytiker/innen bevorzugt Faktoren genannt, die den berüchtigten "YARVIS"-Kriterien (Young, Attractive, Rich, Verbal, Intelligent, Sociable) nahekommen, bei den Notwendigkeitskriterien werden vor allem stärker beeinträchtigte Ich-Funktionen ("frühgestört", "Borderline", "mangelnde Beziehungskontinuität") angeführt, die eine intensivere Therapie verlangen. Hier argumentieren die befragten Analytiker/innen, dass bei schwereren strukturellen Störungen langfristige, Halt gebende Behandlungszeiten und eine intensivere therapeutische Beziehung erforderlich seien, um im Behandlungsprozess "innere Repräsentanzen" aufbauen zu können. [10]
Die Indikationsregeln und die Indikationsentscheidungen klaffen bei den befragten Analytiker/innen anscheinend auseinander: STRATKÖTTER erwähnt 30 "auswertbare" Fallberichte aus den Interviews, in denen sich die Eignungskriterien offenbar nicht wiederfinden. Tatsächlich behandeln die Therapeut/innen ganz überwiegend "frühgestörte", ichstrukturell stark beeinträchtigte Patient/innen mit analytischer Psychotherapie, also gemäß den "Notwendigkeitskriterien". [11]
Neben den formellen Indikationsstellungen spielen in der Praxis aus Sicht der Psychoanalytiker/innen aber auch die Wünsche, Ängste und Erwartungen der Patient/innen eine gewichtige Rolle. Es gibt Patient/innen, die gezielt eine Psychoanalyse suchen oder gezielt etwas anderes als Psychoanalyse wollen. Zudem spielen nach Angaben der untersuchten Psychoanalytiker/innen informelle Kriterien bei der Indikationsstellung auch eine Rolle, so Art und Umfang der Krankenversicherung, Sympathie, Vorlieben und Abneigungen, pragmatische Kriterien (freier Behandlungsplatz oder nicht, Lebensplanung des Patient/innen) und institutionelle Bedingungen. [12]
Zusammenfassend benennt STRATKÖTTER den Prozess der Indikationsstellung als einen komplexen Vorgang, der vielen variablen Modifikationen unterliegt ("adaptive" Indikation). STRATKÖTTER war in seinem Forschungsinteresse ursprünglich von der Frage ausgegangen, wie in der Indikationsstellung differenziert wird zwischen tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie, die beide auf der Krankheits- und Behandlungstheorie der Psychoanalyse beruhen. Im Vergleich zur analytischen Psychotherapie (Langzeittherapie mit 240-300 Therapiesitzungen und zwei bis vier Therapiesitzungen pro Woche unter Nutzung der sich entwickelnden intensiven Übertragungsbeziehung und der Regression) tritt die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit dem Ziel an, in begrenzter Zeit (Höchstanzahl der Therapiesitzungen meist unter 100 Stunden, eine Therapiesitzung pro Woche oder weniger) abgegrenzte Zielsetzungen (Symptomminderung, Einsicht in bestimmte innere Kernkonflikte) zu bearbeiten. In den Interview-Rückmeldungen gaben die Praktiker/innen an, dass ihnen diese Differenzialindikation anscheinend nicht so wichtig ist, sondern ihnen andere Fragestellungen relevanter erscheinen. [13]
So berichten die Analytiker/innen in den Interviews, dass in ihrer Praxis offenbar vorrangig schwer gestörte Patient/innen mit psychoanalytischer Psychotherapie behandelt werden. Die Sorge, in Zukunft könnten die Kostenträger immer mehr bestrebt sein, gerade auch stärker gestörte Patient/innen über (wie eigentlich?) geschulte "Berater/innen" in "kostengünstigere" Behandlungen zu schleusen und so die Indikationsstellung zu beeinflussen, wird in einigen Interviews aus meiner Sicht mit Recht geäußert. Diesen Kostenargumenten ist bereits an dieser Stelle entgegenzuhalten, dass die in der Untersuchung befragten Psychoanalytiker/innen in ihrer Praxis offenbar sehr selten nach dem Modus der psychoanalytischen Langzeit-Psychotherapie und weitaus häufiger nach dem Modus der "tiefenpsychologisch fundierten" Psychotherapie behandeln und anscheinend sehr differenzierte Indikationen für ihre Behandlungen stellen. Langfristige intensive analytische Behandlung wird nur den sehr schweren Fällen vorbehalten. Diese Folgerung aus den Interviews bestätigt die Ergebnisse einer länger bekannten Prognos-Studie über psychoanalytische Tätigkeit in der alten BRD (SCHMID 1991). [14]
b) Im zweiten Themenkomplex, der die Praxiskonzepte der psychoanalytischen Behandlung betrifft, entwickelt STRATKÖTTER aus den Interviews überwiegend antagonistisch gefasste Konzepte der psychoanalytischen Therapie. Er konstruiert aus den Interviews der Psychoanalytiker/innen unter der schon implizit antagonistisch gehaltenen Überschrift "Analyse bedeutet nicht unbedingt, …" die Kernkategorie "Konformität–Eigenständigkeit" und kontrastiert unter dieser Überschrift verschiedene gegenpolige Begriffe, die die Analytiker/innen als zentral für ihre Behandlungspraxis begreifen. STRATKÖTTER fasst diese in seiner Auswertung als "dialektische Prozesskonstrukte" ("Ende-offen-Analyse"–kassenfinanzierte zeitlimitierte psychoanalytische Psychotherapie, Regression–Progression, Übertragung–Realität und Widerstand–Fähigkeit, sich zu widersetzen) und als "Interventionsantagonismen" (negative und positive Übertragung, Aushalten und Deuten sowie Konfrontieren und Schonen) zusammen. Dabei entwerfen die Analytiker/innen in der Sicht des Autors ihre Praxis jeweils aber als offenbar nicht (vollständig) regelkonform, in irgendeiner Weise "modifiziert" und einem bestimmten historischen Typus von Psychoanalyse zugehörig. (Die "nachdenklich-skeptische" Analytikerin Frau B. beschreibt ihre eigene Position z.B. in Abgrenzung von einer zugespitzten Gegenposition: "Früher war ja in der Psychoanalyse der Drang so, dass man sagt, alles ist Übertragung, lassen wir die Realität weg. Das halte ich für 'ne Verkürzung", S.136.) So wird das subjektive und anscheinend die einzelnen Psychoanalytiker/innen in ihrer psychoanalytischen Identität (Stichwort: Schulengebundenheit) sogar erschütternde Moment der psychoanalytischen Praxis deutlich, was bei einer Auffassung der Psychoanalyse als einer "Schule" oder "Familie" bis zur "Identitätskrise" des Psychoanalytikers bzw. der Psychoanalytikerin führen kann (THOMÄ 2004). Jedenfalls präsentieren sich die interviewten Psychoanalytiker/innen in ihrer Praxis als unverkrampft eklektisch in ihren Behandlungskonzepten, um "den Patienten gerecht zu werden" (S.118). [15]
c) Damit sind wir beim dritten Auswertungsschwerpunkt, den STRATKÖTTER ausführlich ausgearbeitet hat. Was die Entwicklung der Berufsbiographie von Psychoanalytiker/innen angeht (unter der Überschrift "Schritte, wo ich mich selber entwickle"), konstatiert STRATKÖTTER bei seinen Interviewpartner/innen eine regelhaft erfolgende Verselbständigungsbewegung mit den Schritten "strenge Regelorientierung" mit Starrheit und Unsicherheit (Ausbildungsphase), zunehmende Erfahrung aus der Tätigkeit als Behandler/in (in der Phase der psychoanalytischen Praxis) hin zu verminderter Schulorientierung, einem mehr "intuitiven", subjektiven und selektiven Vorgehen und mit der Suche nach neuen Tätigkeitsfeldern (zweite Ausbildung, Supervision, Gesundheitspolitik) in der Phase der "erweiterten Praxis". Mit dieser Entwicklung einhergehend ist aus Sicht der interviewten Psychoanalytiker/innen in der Interpretation von STRATKÖTTER die Bewegung von der Konformität (starke, ungebrochene Identifikation mit der Psychoanalyse) über Symptome wie Erschöpfung und Anstrengung (besonders bei den Analytikerinnen), Monotonie, Einsamkeit und Enttäuschung (besonders bei den männlichen Interviewpartnern) hin zu einer Position der subjektiv empfundenen Eigenständigkeit mit Kritik, Erweiterung und Modifikation der psychoanalytischen Praxis. Rückblickend üben die interviewten Psychoanalytiker/innen häufig Kritik an der analytischen Ausbildung; sie sei praxisfern, starr und orientiert an einem unrealistischen Ideal und führe zu Abhängigkeitsverhältnissen, insbesondere vom Lehranalytiker/von der Lehranalytikerin. (Die "kritische" Analytikerin Frau L. spricht von "antiemanzipatorischen Bedingungen", S.190.) [16]
3. Einige unfertige Gedanken zum Text
Der Prämisse STRATKÖTTERs, dass psychoanalytische Praxis "keineswegs als einfache Anwendung von (psychoanalytischer) Theorie", sondern als "eigenständige epistemische Größe anzusehen" (S.1) sei, ist sicher zuzustimmen, die Prämisse verkennt den Stellenwert der Praxis für die psychoanalytische Theorie vielleicht sogar noch: Es hieße geradezu die Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse von den Füßen auf den Kopf zu stellen, wenn man davon absähe, dass immer die Klinik und die Praxis im Vordergrund der Weiterentwicklung, Umwerfung und Modifizierung der Psychoanalyse standen. Es sind, von FREUD und Dora angefangen, immer die klinische Praxis und der dyadenspezifische Erkenntniszugewinn gewesen, die Fortschritt zustande gebracht und neue Entwicklungen angestoßen haben (vgl. GREEN 2005); im Formulieren und Reformulieren der psychoanalytischen Theorie und Metatheorie musste immer wieder versucht werden, Antworten zu finden auf Fragen, die andersartige Patient/innen, sich verändernde gesellschaftliche Entwicklungen und neue technische Herausforderungen an sie stellten. Die klinische Praxis wurde somit von Anfang an zum Motor der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie: die Theorie ist wohl eigentlich ein Versuch, die klinische Praxis im Nachhinein zu verstehen und für zukünftige Behandlungen nutzbar zu machen. Insofern ist die psychoanalytische Praxis allerdings auch "der empirischen Untersuchung wert", wie der Autor konstatiert (S.1). [17]
Es ist dann allerdings bekanntermaßen schwierig zu definieren, was eine psychoanalytische Behandlung charakteristischerweise denn nun ausmacht. Versuche, dies anhand formaler Kriterien zu beantworten, reduzieren Psychoanalyse schnell auf äußere Merkmale, wie die unsägliche Frequenzdebatte3) zeigt. In einem Versuch, die Psychoanalyse inhaltlich zu definieren, hat Karl-Albrecht DREYER (2006) im Anschluss an Leo RANGELLs Kriterien die psychoanalytische Behandlung kürzlich ganz allgemein als eine Behandlung beschrieben, die die Entwicklung einer Übertragungsneurose begünstige, die Auflösung der Übertragung aus ihren infantilen und aktuellen Quellen erreiche und eine bessere Adaptation des psychischen Apparats der Patient/innen herbeiführe. Die Haltung der Analytiker/innen sei dabei, ständig den Behandlungsprozess zu reflektieren. Dem würden wahrscheinlich die meisten (alle?) Psychoanalytiker/innen zustimmen (vgl. Werner BOHLEBERs Editorial zum erwähnten Psyche-Doppelheft 2007a). In STRATKÖTTERs Untersuchung entziehen sich die Psychoanalytiker/innen merklich der Definition der Psychoanalyse, werden ausweichend und äußern ihre Abneigung, die Psychoanalyse als Behandlungssetting zu definieren. [18]
Der hohe Anspruch STRATKÖTTERs, psychoanalytische Praxiskonzepte zu reformulieren (S.1), führt so überraschenderweise zum Gegenteil. Statt der Reformulierung eines streng kodifizierten Regelsystems, das durch die fraglose Idealisierung der Standardtechnik oft Denkhemmungen ausgelöst hat, werden "weichere" Prozesse benannt, mit denen in der Analyse praktisch gearbeitet wird, so beim "Timing und Dosieren ... nicht überwältigend" sein, beim Aushalten und "Durchackern" negativer Übertragungen nichts "wegzudeuten", beim "Oszillieren" zwischen "Schonen" und "Konfrontieren" die Kränkbarkeit der Patient/innen beachten, oder die Rolle "interaktioneller" Anteile betreffend (STRATKÖTTER 139ff.). Man könnte somit schließen, dass für die Auswahl der interviewten Analytiker/innen (vielleicht handelt es sich hier auch um besonders "atheoretisch" veranlagte Praktiker/innen?) anscheinend vor allem der offene Raum der Begegnung mit dem Patienten/der Patientin die Beschreibung ihrer Arbeit prägt, jedenfalls stärker als theoretische und metatheoretische Festlegungen. Der Analytiker Herr E. sagt z.B.: "Jede einzelne Behandlung ist ein eigener Forschungsprozess" (S.112). [19]
Die interviewten Psychoanalytiker/innen betonen sowohl in ihren Beschreibungen der Indikationsstellung als auch der psychoanalytischen Praxiskonzepte die Bedeutung der Intersubjektivität der analytischen Begegnung und beschreiben ihre Haltung als geprägt von Neugier und Forschergeist (z.B. S.112). Darin nehmen sie zugleich das alte Junktim von "Forschen" und "Heilen" in der praktischen Arbeit auf (vgl. LEUZINGER-BOHLEBER 2007). [20]
Wenn man von dem Modell einer narrativen kontrollierten Intersubjektivität in der psychoanalytischen Praxis ausgeht, ist von vornherein nicht zu erwarten, dass der Anspruch auf Reformulierung der Psychoanalyse eingelöst werden kann. Abgesehen von der prinzipiellen Unbestimmbarkeit der jeweiligen individuellen Begegnung von Analytiker/in und Patient/in mit ihren jeweiligen Idiosynkrasien und Überraschungen sind ja auch die theoretischen Konzepte sehr vielfältig: es herrscht ein Multiperspektivismus unter den Theoremen der Psychoanalyse vor, wie er häufig seit Robert WALLERSTEINs Rede 1984 (RICHARDS 1984) beschrieben worden ist (STRENGER 1991; CAVELL 1998). Merton GILL hatte dies 1994 als "Psychoanalyse im Übergang" bzw. "in Auflösung" bezeichnet (GILL 1997). Dies bestätigen die interviewten Psychoanalytiker/innen mit den ständigen Verweisen, dass sie eine "modifizierte" Version von Psychoanalyse vertreten, und den Abgrenzungen gegenüber historisch vergangenen und verlassenen Positionen. Was den zur Sprache kommenden Analytiker/innen in der Untersuchung offenbar überwiegend als ein persönliches Problem erscheint, ist tatsächlich ein zeittypisches überpersönliches der Analyse: der Konflikt zwischen öffentlichen und privaten Theorien, der Zustand des verlorenen "common ground" (BOHLEBER 2007b), der Zustand der Psychoanalyse als einem im Prozess der Veränderung stehenden Konglomerat verschiedener Theorieanteile, die sich z.T. erst empirisch bewähren müssen (THOMÄ & KÄCHELE 2006, S.46). [21]
Das Buch von STRATKÖTTER spricht in diesem Zusammenhang immer auch die Frage nach der Gültigkeit und den Geltungsanspruch der psychoanalytischen Theorien und Theoreme an. Offenbar "funktioniert" die Psychoanalyse empirisch im Bereich der Praxen der befragten Psychoanalytiker/innen ja gut und hilfreich für die Patient/innen. Gerade die Betonung der Subjektivität der Praxis durch STRATKÖTTER (in der Buchdiktion als "Eigenständigkeit") gegenüber einem geschlossenen Theoriegebäude ("Konformität") bringt aber die Frage ins Spiel, wie trotz der Subjektabhängigkeit der (persönlichen) Theorien des Psychoanalytikers bzw. der Psychoanalytikerin eine Behandlung zustande kommen kann, die mit Fug und Recht und gültig als psychoanalytische Behandlung bezeichnet werden kann. In der Psychoanalysehistorie Informierte denken hier vielleicht unmittelbar an die Studie von Sydney PULVER (1987a und b) zurück, der Verbatimprotokolle von mehreren analytischen Sitzungen Psychoanalytiker/innen verschiedener Schulen vorlegte, die diese Sitzungen in unterschiedlicher Weise kommentierten und zum Teil dazu neigten, nur ihre eigene Meinung als wahr anzusetzen. Eine ähnliche Untersuchung von Ulrich STREECK (1995) stellte angesichts der Variabilität der analytischen Deutungen durch verschiedene Psychoanalytiker/innen die grundsätzliche Annahme, dass es eine "richtige" Auffassung von Psychoanalyse überhaupt gebe, eine "eigentliche" Psychoanalyse sozusagen, in Abrede. Er legte das Verbatimprotokoll einer psychoanalytischen Behandlungsstunde vier unterschiedlichen Lehr- und Kontrollanalytiker/innen vor, deren Stellungnahmen wiederum wörtlich transkribiert wurden. Die Vielfalt der Interpretationen der Psychoanalytiker/innen nimmt STREECK zum Anlass, klarzustellen, dass die Vorstellung von einem "richtigen" Vorgehen der Psychoanalytiker/innen nicht angemessen sein könne. Psychoanalytische Therapie sei vielmehr ein "Gespräch", das dadurch ausgezeichnet sei, dass der hergestellte Sinn ein gemeinsam konstruierter Sinn sei. Jede/r der interpretierenden Psychoanalytiker/innen macht aus dem Protokoll eine andere sinnvolle Geschichte, der Sinn wird jeweils interaktiv zwischen Psychoanalytiker/in und Patient/in hergestellt. Dies ist eine Überlegung, die die intersubjektive Theorie der Psychoanalyse weiterentwickelt hat, so kürzlich erst Owen RENIK (2006). [22]
In der praktischen Arbeit mit Patient/innen kann der Eigenbeitrag, das "Eigenständige" des Analytikers/der Analytikerin nicht aus der analytischen Situation herausgefiltert, gewissermaßen "wegkonformiert" werden. Eine narrative, auf die wechselseitige emotionale Arbeit der beiden beteiligten Personen abhebende Auffassung von Psychoanalyse scheint in vielen der Interviews durch. So gehen die von STRATKÖTTER untersuchten Analytiker/innen offenbar auch mehrheitlich davon aus, dass die psychoanalytische Praxis zu Analytiker/in und Patient/in passen und die Passung sich immer neu herstellen müsse. Insofern kann das Buch auch als eine praktisch-empirische Demonstration der konstruktivistischen Thesen von Antonino FERRO (2006) und Thomas H. OGDEN (2005) gelesen werden. Nach FERRO und OGDEN sprechen die Patient/innen während der psychoanalytischen Behandlung ständig und unaufhörlich von ihren vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen und geben damit den Analytiker/innen die Möglichkeit, ihre emotionale und kognitive Beteiligung nach einem roten Faden zu modulieren und mit den Patient/innen ein gemeinsames Narrativ mit neuen Bedeutungen zu konstruieren. Dazu benutzen die Analytiker/innen natürlich auch ihre Fähigkeiten, psychoanalytische Konzepte zum Verständnis der Patient/innen heranzuziehen. [23]
Einige kleinere kritische Randbemerkungen zu den Interviews:
STRATKÖTTER hebt meiner Meinung nach in seinen auswertenden Kondensierungsschritten zu einseitig ab auf die als Kernkategorie empfundene Gegensätzlichkeit von "Konformität vs. Eigenständigkeit", das den gefundenen Kategorien manchmal zu stark Gewalt antut. (Vielleicht kann die "Fähigkeit, sich zu widersetzen" noch relativ zwanglos der Kernkategorie "Eigenständigkeit" zugeordnet werden, wenn dabei ein autoritatives, auf die Dialektik von Unterwerfung und Trotz abzielendes Modell zugrunde gelegt wird, aber wohin gehören denn "negative Übertragung" oder "Schonen" als Kategorie, wohin "Übertragung vs. Realität"?) Es verkürzt die Inhalte der Interviews denn doch erheblich, dass der Autor die gewonnenen reichhaltigen Kategorien auf eine Kernthese bzw. Kernkategorie verschmelzen möchte, nämlich die der beruflichen Autonomie, die in meinem Lesen des Textes an wichtigen Informationen der Interviewten vorbeigeht: zwar ist das Thema der eigenen Autonomieentwicklung der Therapeut/innen als Therapeut/innen und auch die ihrer Patient/innen anscheinend ein wichtiges Thema der Interviews, doch scheint mir die Zuspitzung STRATKÖTTERs, dass die Bewegung von Konformität zu Eigenständigkeit das wesentliche Kernthema der Interviews sei, doch interpretatorisch verkürzt. Mich hat die eigentümlich schwebende Haltung der Interviewten mit ihrem Vermeiden fester Definitionen und ihrer Neigung, ambivalente Konstrukte zu entwickeln, mehr beeindruckt, kommt darin doch aus meiner Sicht eine zentrale Ambivalenz zur Sprache, die tatsächlich eine wesentliche Komponente der psychoanalytischen Behandlung ist, was STRATKÖTTER auch selbst in einem kurzen Exkurs zur Metapherntheorie (S.177ff., im Anschluss an LAKOFF und JOHNSON 1980 sowie CARVETH 1993) ausführt: das Unabgeschlossene, das in der intersubjektiven Begegnung begründete Erkenntnisoffene und die Spannung von Wissen und Nicht-Wissen (s.u.).
Auffällig ist für mich auch der offenkundige Eklektizismus und "Schwebezustand" der Interviewten, was ihren Gebrauch von Theorie in Bezug auf die Behandlung angeht. Hier erscheint eine andere Fokusbildung interessant und möglich, die STRATKÖTTER in seiner Auswertung nicht weiter verfolgt: Oft hatte ich beim Lesen den Eindruck, dass die Interviewten betonten, in den analytischen Behandlungen vollziehe sich etwas, das den Raum des Expliziten und Narrativen überschreitet und mehr in der unmittelbaren Interaktion mit den Patient/innen zu suchen ist, auf das sie sich durch ihre Ausbildung nicht richtig vorbereitet fühlten und von dem sie den Eindruck hatten, es spiele in den Diskussionen der analytischen Community nicht die wichtige Rolle, die ihm eigentlich zukomme. Dieses den Interviewten offenbar sehr wirksam vorkommende Element der psychoanalytischen Behandlung, das z.B. auch in der Körperhaltung ablesbar wird und in der Interaktion ein Gefühl von Gemeinsamkeit oder einer unendlichen Entfernung voneinander entstehen lässt, ist nach meiner Lesart dem klinischen Prozess auf der "lokalen Ebene" und dem "impliziten Beziehungswissen" zuzuordnen, wie es die Boston Change Process Study Group (2004) beschrieben hat. Hier wäre eine Fokusbildung und eine Generierung weiterer Kategorien aus den Interviews möglicherweise sehr fruchtbar geworden, beschreibt die "lokale Ebene" doch gerade einen wichtigen personalen Faktor in der Interaktion zwischen Psychoanalytiker/in und Patient/in, der ein "Etwas-Mehr als Deutung" darstellt und wahrscheinlich wesentlich an der Herstellung von Veränderung beteiligt ist (Boston Change Process Study Group 2004). Gerade die qualitative Methodik der Interviewauswertung hat sich als hilfreich erwiesen für das Verständnis von Mikrostrukturen in der Behandlung und von der Art und Weise, wie sich ein persönlicher Stil aus überpersönlichen Theorien herstellt. Hier könnte ein Forschungsanliegen für weitere qualitative Untersuchungen psychoanalytischer Praxis zu sehen sein.
Erstaunlich ist für mich, dass die Interviewten nur selten die Rolle von Selbsterfahrung und von Supervision für die eigene Entwicklung ansprechen. In der groß angelegten, seit 1989 laufenden Studie der Society for Therapy Research (STR) über die Erfahrungen von Psychotherapeut/innen mit ihrer therapeutischen Arbeit und ihrer beruflichen Entwicklung, deren Ergebnisse David ORLINSKY und Michael RØNNESTAD in ihrem Buch How Psychotherapists Develop veröffentlicht haben (ORLINSKY & RØNNESTAD 2005, gekürzte Fassung der Ergebnisse in RØNNESTAD & ORLINSKY 2006), zeigte sich, dass Supervision und Selbsterfahrung durchgängig identifizierbare Hauptquellen des beruflichen Wachstums aller Therapeut/innen waren. Sie fördern offenbar Motivation und professionelle und persönliche Weiterentwicklung. Fachliche Verbesserung verdankt sich gemäß dieser Untersuchung hauptsächlich dem durch Supervision unterstützten Prozess der kontinuierlichen beruflichen Reflexion. Supervision ist ein "klassisches" (schon wieder!) Mittel, um Theorie und Praxis miteinander zu vermitteln und das Persönliche, Individuelle mit der allgemeinen Theorie in Berührung zu bringen. Hierzu fand ich in den dargestellten Interviewausschnitten keine Belege. Haben die interviewten Psychoanalytiker/innen davon nicht gesprochen? Wären kontinuierliche Super- und Intervision nicht auch Wege aus der von den Interviewten beklagten Einsamkeit und Erschöpfung heraus?
Dem Autor scheint es ein wichtiges Anliegen zu sein, mit seinem Buch implizit und vorrangig gegen eine psychoanalytische "Doxa" zu kämpfen, die in den Äußerungen der interviewten Psychoanalytiker/innen allerdings nur schwer zu identifizieren ist. Kämpft der Autor hier gegen Windmühlenflügel? Ich habe mich beim Lesen oft gefragt, was der von STRATKÖTTER immer wieder beschworene "Offizialdiskurs" der Psychoanalyse eigentlich ist: angesichts der vielen Schulen und Meinungen ist oft die Verständigung unter Psychoanalytiker/innen selbst erschwert, so dass André GREEN auch von "babylonischer Sprachverwirrung" (GREEN 2005) gesprochen hat. Gelegentlich wird auch das Verschwinden eines "Offizialdiskurses" ausdrücklich beklagt und die vermeintliche Klarheit der frühesten Psychoanalyseentwicklung idealisiert (WALLERSTEIN 2005). Man könnte beim Lesen auch vermuten, dass die interviewten Psychoanalytiker/innen heimlich einer solchen (von FREUD vermittelten) "Klarheit" nachtrauern. Möglicherweise kommt dabei ein "romantisches" Motiv zum Tragen. In der Berufswahl der Psychoanalytiker/innen mag manches Moment der romantischen Tradition mitspielen, an die, wie Heinz SCHOTT gezeigt hat, FREUDs hermeneutische Methode mit der Suche nach dem verborgenen Sinn im primär unsinnig Scheinenden anknüpft. Wer im Unbewussten poetische Kräfte am Werk sieht, die mit Traum, Fehlleistungen und Symptomen sinnvolle Gebilde hervorbringen, die Psychoanalytiker/innen lesen und entschlüsseln können, der steht tatsächlich in der Tradition der romantischen Naturphilosophie (SCHOTT 2006). Möglicherweise spricht diese romantische Tradition der Freudschen Lehre auch heutige Psychoanalytiker/innen noch in ihrer Berufswerdung an. Insofern belegen die im Buch zu Wort kommenden Analytiker/innen auch typische und unvermeidliche Desillusionierungsgeschichten: von den von einer die Entschlüsselung des Verborgenen versprechenden Lehre inspirierten Dechiffrierer/innen geheimer Botschaften zu pragmatisch und empirisch vorgehenden Praktiker/innen, die zusehen müssen, was in der jeweiligen therapeutischen Zweierbeziehung dem Patienten bzw. der Patientin helfen kann.
Die psychoanalytische Praxis mit ihrem Unfertigen und oft Mühsamen, an die das FREUD-Zitat am Anfang meines Essays gemahnt, begleitet den Weg der Psychoanalyse von Beginn an und kann die praktizierenden Analytiker/innen ratlos machen, wenn es um wissenschaftliche Begründung und Verstehen des eigenen Tun geht (vielleicht meint die herzlich lachende Interviewpartnerin Frau H. das, wenn sie sich als "unsystematische Praktikerin" bezeichnet, S.44). In der Geschichte der Psychoanalyse hat die Ratlosigkeit dem eigenen Tun gegenüber oft Tendenzen zu einer Petrifizierung von Theoremen befördert, da sie Halt boten. Das herzliche Lachen der Praktikerin H. und ihre lebhaften Fallgeschichten, die den Interviewer staunend und neugierig zu weiterem Fragen anregen, sind aber beredte Beispiele dafür, wie inspirierend die Praxis in allem Unfertigen und Unabgeschlossenen anscheinend sein kann. Die theoretische Veränderungsbereitschaft kann sich an der Praxis bedienen, hier ist die Front für das Erarbeiten neuer Erkenntnisse. Insofern können die Interviews in STRATKÖTTERs Buch auch ermutigen: offensichtlich entwickeln Psychoanalytiker/innen vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Kompetenz und in Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen immer wieder neue Formen der Behandlung, kombinieren, passen an, stellen sich auf veränderte Anforderungen von Patient/innen ein und erleben dieses Tun als erfolgreiche Strategie zu therapieren, auch wenn es sie von Zeit zu Zeit zu verwirren scheint und sie nach Absicherungen suchen. Unter epistemologischem Blickwinkel unterstützt diese in der Untersuchung STRATKÖTTERs immer wieder imponierende Haltung der Analytiker/innen zwischen Praxis und Theorie zentrale Annahmen von Donald L. CARVETH (1993), der stark auf die jeweilige subjektive Gültigkeit der narrativen Praxis und gerade nicht auf eine überzeitliche Doxa abgehoben hat und für das "Deliteralisieren" und Dekonstruieren der psychoanalytischen Theoreme und Metatheoreme plädiert hat. Die Theoreme bleiben als Grundlage der psychoanalytischen Haltung und der psychoanalytischen Reflexionsfähigkeit unabdingbar. Die Rückbeziehung der Praxis auf die Theorie muss durch vertiefte Fallstudien und Falldiskussionen immer wieder geübt (z.B. durch Ankerbeispiele, wie sie WILL 2006 dargestellt hat) und die Theorie dadurch lebendig gehalten, erneuert und erweitert werden.
Darstellungen psychoanalytischer Theorie und Praxis sind häufig von berufspolitischer Rhetorik überlagert, sodass nicht nur zwischen Theorie und Praxis, Konformität und Eigenständigkeit, sondern auch zwischen Rhetorik und Praxis zu unterscheiden ist. Wegen der Vielzahl der involvierten Interessen (Berufs- und Versorgungspolitik, Verteilungskämpfe, ideologische Schulenkämpfe, Abgrenzungsinteressen) wird häufig ideologisch argumentiert. So kommt eine "Doxa" natürlich auch durch Berufspolitik und Verteilungskämpfe zustande, also wenn es um Rechtfertigung von Praxis nach außen geht. Es ist STRATKÖTTER sehr zu danken, wie unverkrampft und auskunftsbereit er die Interviewpartner/innen zum Sprechen bringt. Sie sind erfreulich offen und wirken in ihren Darstellungen ehrlich und anschaulich. Ihre Beschreibungen belegen die Bedeutung der subjektiven, "weichen" Faktoren für eine lebendige therapeutische Beziehung. Die Darstellung im Buch ist lebhaft und farbig und vermittelt einen guten Einblick auch in die affektive Seite der beruflichen Praxis der Analytiker/innen. Umso mehr hatte ich an vielen Stellen den Wunsch, mehr Originalzitate und den Kontext der oft nur kurzen zitierten Bruchstücke der Interviewten nachlesen zu können. Mir erscheint es bei solchen Untersuchungen wünschenswert, auch bei Berücksichtigung der obligatorischen Platzprobleme die Originalinterviews einsehen zu können (z.B. durch Einstellen der Interviews ins Internet). [24]
4. Folgen für Forschung, Praxis und Ausbildung in der Psychoanalyse
Mögliche Konsequenzen der Untersuchung von STRATKÖTTER berühren aus meiner Sicht besonders die Felder Forschung, Praxis und Ausbildung in der Psychoanalyse. [25]
4.1 Folgen für die psychoanalytische Forschung
Die psychoanalytische Haltung zwischen Konformität und Eigenständigkeit (vielleicht könnte man sie, wenn man sie in ein Oppositionspaar zwängen will, mit Tilmann MOSER – in seiner Besprechung des Ulmer Lehrbuchs – sogar noch schärfer als "zwischen Rigidität und Anarchie" oder "zwischen Beharrung und Revolte" fassen [nach THOMÄ & KÄCHELE 2006, S.VII]) entspricht auf der praktischen Ebene der "Unfertigkeit" einer Theorie, die sich ständig weiter entwickelt. Das "Zwischen", das die von STRATKÖTTER interviewten Psychoanalytiker/innen in der Beschreibung ihrer Berufspraxis und Berufsidentität so lebhaft zum Ausdruck bringen, repräsentiert den epistemologischen und berufspraktischen Status der modernen Psychoanalyse, die keine "Identität" mehr verleiht, sondern eine bestimmte professionelle "Haltung" verlangt, die empirisch überprüfbar ist (THOMÄ 2004). THOMÄ begreift die Problematik der "Identität" der Psychoanalyse und ihrer Vertreter/innen als ein historisch in der über viele Jahre (auch aufgrund heftiger Anfeindungen und Verfolgungen) orthodoxen psychoanalytischen Bewegung begründetes Thema. Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV) hat ihm zufolge allerdings in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren erfolgreich versucht, wissenschaftliche Untersuchungen auf den Weg zu bringen und empirisch vorgehende Projekte zu fördern. THOMÄ erwartet, dass, sollte sich "der Widerstand einflussreicher Analytiker gegen die empirische Forschung weiter abschwächen, die psychoanalytische Bewegung und ihre ungünstigen Begleiterscheinungen der Vergangenheit angehören" (THOMÄ 2004, S.133). Wenn Selbstkritik und die Ergebnisse empirischer Forschung die praktische Arbeit bestimmen, kann auch der Beruf der Analytiker/innen zu einem "normalen" Beruf werden, der nicht durch Kontroversen über die Identität belastet wird, sondern eine professionelle Haltung erfordert, die sich konkret bewähren muss und für Neues offen ist. [26]
Noch fehlen weitgehend Daten, die das Verständnis der konkreten Umstände, der Wirkfaktoren und des Selbstverständnisses psychoanalytischer Praxis empirisch auch in Einzelheiten unterstützen können. Die Untersuchung von STRATKÖTTER kann als ein Beleg dafür herangezogen werden, dass diese empirischen Daten nicht durch eine kritiklose Übernahme von EST-Kriterien (Empirically Supported Therapy) gewonnen werden können, die die handelnden Personen ausblenden, die wiederum zum "Besten [gehören], was in der Psychotherapie zu haben ist", wie Michael BUCHHOLZ (2003, S.5) emphatisch ausführt. Wie solches Verstehen des interpersonellen Prozesses in der psychoanalytischen Behandlung durch empirische Forschung befördert werden kann und wie das Verhältnis von Praxis und Empirie näher zu bestimmen ist, zeigt Jörg FROMMER (2007) in seinem lesenswerten Aufsatz zum Verhältnis von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften mit einem entschiedenen Plädoyer für die empirische Forschung in der Psychoanalyse. Nach seiner Auffassung ist psychoanalytische Forschung vor allem Einzelfallforschung, die sich von den qualitativen Forschungsansätzen, die in den Sozialwissenschaften entwickelt worden sind, "substantiellen Erkenntniszugewinn" versprechen darf (FROMMER 2007, S.782f.). Im Sinne der "doppelten Hermeneutik" im Forschungsprozess müssen die psychoanalytischen Einzelfallforscher/innen sowohl das biografische Selbstverständnis der Beforschten als auch sich selbst reflexiv verstehen, um damit der Zweipersonenperspektive der psychoanalytischen Behandlung Rechnung zu tragen (FROMMER 2007, S.787). [27]
Wissenschaftlich relevant ist, dass "aus dem Behandlungszimmer stammende Daten", die "der psychoanalytischen Situation angepasst" sind, intersubjektiv nachvollzogen und validiert werden können (WALLERSTEIN 1989, S.146), was Ulrich STUHR "qualitative Triangulation" genannt hat (STUHR 2007, S.960). Dazu leistet aus der Perspektive der Analytiker/innen STRATKÖTTERs Buch einen Beitrag: es stellt zur Diskussion, was Analytiker/innen zu tun meinen und belegt, wie wichtig empirische Forschung nicht nur für die Theorie der Psychoanalyse und ihrer Wirkfaktoren, sondern auch für die praktische Arbeit und das professionelle Selbstverständnis der Psychoanalytiker/innen ist. [28]
Die meisten der von STRATKÖTTER interviewten Psychoanalytiker/innen haben offenbar, wie sie in den Erzählungen über ihre Berufsbiografie mitteilen, schlechte Erfahrungen mit einer als autoritär erlebten Ausbildung gemacht – sie scheinen sich erst im Verlauf ihrer Berufspraxis von einer als bloß normativ empfundenen Orthodoxie weitgehend gelöst zu haben. Otto KERNBERG hat mehrfach auf die doktrinären Machtstrukturen in den analytischen Ausbildungsinstituten mit ihren vielfachen Abhängigkeitsbeziehungen hingewiesen und den Ausbildungsstrukturen eine
"tendency to infantilise psychoanalytic candidates, a persisting trend towards isolation from the scientific community, a lack of consistent concern for the total educational experience of candidates, authoritarian management and a denial of the effects of external, social reality on psychoanalytic education [vorgeworfen]" (KERNBERG 2000, S.97). [29]
Zur Überwindung der Missstände schlägt er unter anderem kontinuierliche Evaluationsprozesse, die schrittweise die Fortschritte der Kandidat/innen messen, eine weitere Stärkung der Rolle der Supervision, eine systematische Erforschung der psychoanalytischen Methode und ihrer Anwendungen und ihre Integration in das Lehren analytischer Forschung vor. [30]
Eine Ausbildung, die sich weniger auf institutionell verankerte Autoritäten und Orthodoxie beruft und mehr eine systematische Verselbständigung des analytischen Denkens unter den Auspizien einer empirisch gesicherten Kompetenz fördert, braucht auch eine Demokratisierung der Diskussionskultur in der Ausbildung. Dies würde auch die Entwicklungsnotwendigkeiten ernster nehmen, die die in STRATKÖTTERs Buch interviewten Psychoanalytiker/innen in ihrer Berufsgeschichte erlebt haben, nämlich dass das überpersönliche, tradierte Wissen selbst angeeignet und zu etwas Persönlichem gemacht werden muss. Dies hat kürzlich Thomas OGDEN in einem Aufsatz über das Lehren von Psychoanalyse so beschrieben: "[L]earning to overcome what one thought one knew about conducting analytic work, i.e. learning to forget what one has learned" (OGDEN 2006, S.1069). [31]
Bei OGDEN kommt an dieser Stelle nicht zufällig der Verweis auf Wilfred BION (1962), der ihm vermittelt habe, wie über das laute Lesen von Texten im Unterricht, um die eigenen Gefühle beim Lesen und Verstehen der Texte zu begreifen, eine persönliche Qualität in das psychoanalytische Wissen komme. [32]
Für die Ausbildung könnte eine Konsequenz sein, den Ausbildungsteilnehmer/innen im Rahmen ihres Curriculums zugleich auch eine "Forschungskultur" zu ermöglichen und auf der Basis von systematischen, versorgungsnahen Beschreibungen von Fallgeschichten mit ihrer vielfältigen Verflechtung von Symptomatik, Übertragungsgeschehen und Beziehungsprozess Diskursgruppen zu etablieren, die die konkrete psychoanalytische Arbeit mit den Patient/innen veranschaulichen (STUHR 2007). [33]
Eine solche zufriedenstellende Diskussionskultur am Fallmaterial (z.B. im Zusammenhang von Supervisionen oder Fallkonferenzen) fordert auch David TUCKETT (2007), um die Standards der klinischen psychoanalytischen Arbeit und Ausbildung zu sichern oder zu erhöhen. Stellvertretend für eine Arbeitsgruppe der Europäischen Psychoanalytischen Föderation (EPF) propagiert er eine zeitintensive "Methode der zwei Schritte", um einen Fall in einer pluralistischen, möglichst heterogenen Gruppe von Analytiker/innen zu diskutieren und gemeinsam zu verstehen, wie die Arbeitsweise und die Interventionen des oder der Vortragenden gewirkt und "funktioniert" haben. Der erste Schritt fokussiert somit auf das Verhalten des Analytikers bzw. der Analytikerin. Im zweiten Schritt konzentriert sich die Diskussion auf das analytische Explanationsmodell der Vorgänge in Patient oder Patientin (die implizite Theorie des Analytikers/der Analytikerin) und die Situation zwischen Analytiker/in und Patient/in. TUCKETT präsentiert so einen kreativen – wenn auch sehr zeitaufwändigen (ca. 10-12 Stunden je Fall!) – Ansatz, der analytische Praxis transparenter und sinnhafter zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machen kann. [34]
Historisch hat die Psychoanalyse längst die Richtung weg von einer "Bewegung" mit orthodoxem Glaubensbestand hin zu einer auch empirisch zunehmend gesicherten Methode der Behandlung genommen. Offenbar betrachten sich auch die praktisch tätigen Psychoanalytiker/innen in STRATKÖTTERs Buch nicht als Teil einer Bewegung (allenfalls als dissident zu einer imaginierten orthodoxalen), sondern als eigenständig und non-konform (auch wenn sie dies gelegentlich zu betrauern scheinen und sich andererseits auch manchmal orthodoxale Tendenzen in den analytischen Gesellschaften und ihren Fraktionen regen). Dies steht in der guten Tradition der Psychoanalyse, sich selbst und die eigene Methode immer mit zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen und empirische Befunde zur Therapie aufzunehmen, auch wenn es zuweilen Ansätze zu einer orthodoxalen Normativität gab und gibt (z.B. die "Doxa", dass eine "richtige" psychoanalytische Behandlung mit einer Behandlungsfrequenz von vier Stunden/Woche oder mehr durchzuführen sei). Arthur VALENSTEIN (1979) hat überzeugend ausgeführt, dass es eine "klassische" Theorie und Praxis der Psychoanalyse nicht geben kann: zum Bild der "klassischen Technik", d.h. dem "tendenzlosen" erinnernden Rekonstruieren, gehört die Abweichung, die Modifikation, die Berücksichtigung von jeweiliger Beziehung und jeweiligem Erleben. [35]
STRATKÖTTERs Buch kann praktizierenden Psychoanalytiker/innen als Anregung zur empirischen Überprüfung von Theoremen der eigenen Praxis empfohlen werden. Die interviewten Analytiker/innen belegen die Wichtigkeit von etwas, was BION (1975, S.63-64) das "binokulare Sehen" genannt hat: er empfahl den Analytiker/innen, ein Auge auf das zu halten, was sie im Prozess der Analyse bereits kennen oder zu kennen glauben (was also mit dem theoretischen Wissen des Analytikers bzw. der Analytikerin zu tun hat); mit dem anderen Auge sollten sie aber dem zu folgen versuchen, was sie noch nicht verstehen. Die Spannung zwischen dem Gewussten und dem Unbekannten kann und muss kreativ genutzt werden zum Wohle der Patient/innen. Für die Berufsbiografie kann der Bionsche Rat umformuliert ebenfalls gelten: fördere dein eigenes Wachstum so, dass du Bekanntes und Tradiertes (aus der Theorie) und Neues (aus deiner Arbeit mit deinen Patient/innen) für deinen eigenen Reifungsprozess als Therapeut/in zu nutzen verstehst. Morris EAGLE hat vor einigen Jahren die ständige Erhaltung der eigenen Lernfähigkeit (und damit in der STRATKÖTTERschen Diktion die Dialektik von Konformität und Eigenständigkeit) als grundlegende Eigenschaft von Therapeut/innen mit folgenden Worten beschrieben:
"I suggest that the way therapists change is not unlike the way other people change in their work. They learn more and become more skilled and more confident. In addition to knowledge and skill, however, when things go well. They maintain an interest and enthusiasm and an openness to new experiences, all of which are aspects of their growth as a person" (EAGLE 2001, S.50). [36]
Die Spannung zwischen öffentlichen und privaten Theorien haben schon die Psychoanalytiker/innen der ersten Generation gespürt und beschrieben. FERENCZI und RANK beschrieben in ihrer erwähnten Beantwortung der FREUDschen Preisfrage die "regelrechte Psychoanalyse" nicht von ungefähr als einen "sozialen Vorgang" (1924, S.38). Die Psychoanalytiker/innen können viel von den Sozialwissenschaften lernen, wenn es um die Begründung ihrer Praxis aus empirischen Befunden geht (FROMMER 2007). STRATKÖTTER gibt hierfür in seinem lesenswerten und zum Nachdenken anregenden Buch beredte Beispiele. Rücken wir uns und unsere Lehren also immer wieder zurecht und versuchen wir (mit den Worten THOMÄs und KÄCHELEs), unsere "jeweils eigenständige und flexible psychoanalytische Haltung" zu finden, eine Eigenständigkeit also, die bloßen Konformismus hinter sich lässt, aber in Diskussion und Auseinandersetzung mit Patient/innen und Fachkolleg/innen ihr Objekt vor dem Hintergrund der erworbenen theoretischen und praktischen Kompetenzen findet. [37]
1) Hier wie bei dem FREUD-Zitat zu Beginn des Abschnitts folgt die Jahresangabe nicht der FQS-Manuskriptgestaltung, sondern den fachwissenschaftlichen Zitationsgepflogenheiten. <zurück>
2) Teile des Buches sind unter http://books.google.de/books?id=M_U9xv2yGIwC&printsec=frontcover&dq=Andreas+Strark%C3%B6tter&sig=-pJemXwccS95exh-5qyYZ6tO2QQ#PPP1,M1 zugänglich. <zurück>
3) Damit ist die langjährig besonders in IPV (Internationale Psychoanalytische Vereinigung) und DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) geführte Debatte gemeint, ob auch psychoanalytische Behandlungen mit einer Therapiefrequenz unterhalb von vier oder fünf Sitzungen pro Woche als vollgültige psychoanalytische Therapien anzusehen seien. <zurück>
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Michael LANGENBACH ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Psychoanalytiker (DGPT, DPG). Er leitet die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des St. Marien-Hospitals Bonn.
Kontakt:
PD Dr. Michael Langenbach
Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
St. Marien-Hospital Bonn
Robert-Koch-Str. 1
D-53115 Bonn
Tel.: ++49 (0)228 9238 211
Fax: ++49 (0)228 9238 224
E-Mail: michael.langenbach@marien-hospital-bonn.de
URL: http://www.marien-hospital-bonn.de/
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