Volume 10, No. 3, Art. 25 – September 2009
Räume sprechen, Diskurse verorten? Überlegungen zu einer transdisziplinären Ethnografie
Anne Huffschmid & Kathrin Wildner
Zusammenfassung: In dem Beitrag werden die Möglichkeiten und Erkenntnisgewinne einer transdisziplinären Verschränkung der analytischen Kategorien "Raum" und "Diskurs", insbesondere für die kulturwissenschaftliche Stadt- und Öffentlichkeitsforschung, ausgelotet. Ausgangspunkt dafür ist eine gemeinsame Forschungserfahrung der Autorinnen, die interdisziplinäre Ethnografie politischer Raumaneignungen in Mexiko-Stadt, bei der sich die jeweiligen Spezialisierungen (ethnografische Raumforschung bei WILDNER, semiotische Diskursanalyse bei HUFFSCHMID) kreuzten. Diese "Kreuzung" wird hier zunächst in ihren konzeptionellen Prämissen nachvollzogen und anschließend nach Lerneffekten für die analytische Praxis befragt. Ausgangspunkt dafür ist die Annahme der gegenseitigen Durchdrungenheit von Räumlichkeit und Diskursivität: kein Raum (im Sinne von LEFEBVRE) kann ohne seine diskursive Konfiguration gedacht werden, Diskurs (im Sinne FOUCAULTs) wiederum ereignet sich nicht im "luftleeren", sondern in einem sowohl materiell wie auch sozial konstruierten Raum.
Diskutiert werden die methodischen Ansätze der Beobachtung, Lektüre, Beschreibung und Analyse räumlicher wie diskursiver Praktiken und Materialitäten. Anhand des Fallbeispiels der Wahlkampfveranstaltung wird schließlich nach den Schnittstellen und möglichen Verschränkungen zwischen Raum- und Diskursforschung gefragt, die an den Begriffen Setting/Bühne/Inszenierung, Einschreibungen, Kontrolle/Macht expliziert werden.
Keywords: Diskursanalyse; Raumbegriff; Transdisziplinarität; Ethnografie; Mexiko-Stadt
Inhaltsverzeichnis
1. "Ich sehe was, was Du nicht siehst ..." Annäherung
2. Diskursive Räume, Diskurse des Raums
3. Methodische Verfahren und Schnittstellen
3.1 Ethnografische Raumanalyse
3.2 Diskurs – als Textanalyse im politischen Raum
3.3 Kreuzungen der Verfahren
3.3.1 "Datenerfassung": Beobachtung oder Lektüre?
3.3.2 "Datenverarbeitung": Beschreibung oder Analyse?
4. Räumlichkeit und Diskursivität: die Verschränkung der analytischen Praxis
4.1 Settings
4.2 Inszenierungen
4.3 Einschreibungen
4.4 Kontrolle und Macht
5. Ausblick: Mehr und ander(e)s sehen
1. "Ich sehe was, was Du nicht siehst ..." Annäherung
Es gibt ein altes deutsches Kinderspiel, das jede/r kennt und das sehr einfach ist: die Mitspieler/innen treffen sich an einem Ort, schauen herum, ohne jede Einschränkung. Wer dran ist, wählt ein Detail aus und fordert die Blicke der anderen heraus, indem er oder sie sagt: "ich sehe was, was ihr nicht seht, und das ist ...". Er oder sie nennt nur eine Farbe. Und die Mitspieler/innen beginnen, ihre Augen scharfzustellen und zu raten, was genau – in der unendlichen Menge von Details, die uns visuell umgeben, in allen Dimensionen, Vorder- oder Hintergründen – der oder die Betreffende wohl gemeint haben könnte. [1]
Es geht hier weder um Ratespiele noch ums Gewinnen. Aber eben doch um ein Spiel der Blicke, um die Art, wie wir unser Blickfeld in der Beobachtung eines Forschungsobjekts "scharfstellen", um die analytischen Optiken, die wir je nach methodologischem und theoretischem Terrain, auf dem wir uns bewegen, einsetzen. Und auch darum, uns bewusst zu werden, dass in einem einzigen Gegenstand, einer Blickrichtung, wir alle verschiedene Dinge sehen werden, abhängig vom Winkel und der Art unserer Optik – und dass jede Entscheidung über "Scharfstellen" und "Ausschnitt wählen" einen ganzen Fächer anderer Dimensionen außen vor lässt. Was also geschieht, wenn wir unsere Blicke kombinieren? Sind wir dann in der Lage, unser Blickfeld zu erweitern, mehr Details mit mehr Tiefenschärfe zu sehen? Und wenn wir noch ein wenig weitergehen und uns von der Art des Sehens der anderen anstecken lassen, entdecken wir dann womöglich nicht nur mehr Details, sondern auch andere Bedeutungen des Beobachteten? Von diesen Versuchen handeln die folgenden Überlegungen. [2]
Dieser Text stellt eine Grenzerkundung dar. Situiert ist er im weiten Feld der Kulturwissenschaften, zugleich aber bewegt er sich an den Grenzen des Disziplinären – und zwar im Grunde schon deshalb, weil er das multidisziplinäre Forschungsfeld "Stadtraum" in den Fokus nimmt. Die Urban Studies ermöglichen über die Vielfalt möglicher Forschungsgegenstände einen ganzen Fächer analytischer Blickachsen: Sie können die politische Kultur und den öffentlichen Raum in den Blick nehmen, sie können sich auf spezifische urbane Gruppierungen, auf einen konkreten Ort oder auf einen Konflikt konzentrieren, die räumlichen oder architektonischen Konfigurationen, das Alltagsleben und die Ausnahmezustände untersuchen (z.B. HANNERZ 1980; ROGERS & VERTOVEC 1995, AGUILAR, SEVILLA & VERGARA FIGUEROA 2001; IRAZÁBAL 2008; LOW 2005).1) [3]
Doch auch wenn ein einziger Gegenstand gewählt wird, wie wir es im Sommer 2006 bei einem "Workshop für Stadtethnographie" (Taller de Etnografia Urbana) in Mexiko-Stadt getan haben – es handelte sich um die ethnografische Untersuchung von drei Abschlusskundgebungen des mexikanischen Präsidentschaftswahlkampfes – ermöglicht dies die unterschiedlichsten disziplinären und methodologische Zugänge: vertreten im Dozent/innenteam war die Stadtsoziologie und die Stadtethnologie, die quantitative Sozialforschung und die visuelle Anthropologie, die Medienanalyse und die Diskursanalyse. Jede/r einzelne arbeitete zunächst mit dem eigenen methodischen Gepäck und der ihm oder ihr gemäßen analytischen Optik; in der gemeinsamen Auswertung und Publikation kam es schließlich zu interdisziplinären Querkopplungen.2) In diesem Text nun soll der Versuch unternommen werden, einen Schritt weiterzugehen und die Möglichkeiten einer transdisziplinären Verschränkung der Kategorien "Raum" und "Diskurs" auszuloten, die jeweils unsere zentralen Arbeitsbegriffe darstellen. [4]
Beide Kategorien, "Raum" und "Diskurs", durchdringen sich von Anfang an: Raum kann nicht ohne seine diskursive Konfiguration gedacht werden, also den Fächer an Bedeutungen, die er "aussendet" und die ihn kennzeichnen. Diskurs wiederum entfaltet sich nicht im luftleeren, sondern in einem mehrdimensionalen Raum, im physischen wie auch im übertragenen Sinne. Der Raum ist also keinesfalls das Gefäß, der Container oder die Form, der mit Diskurs als Inhalt gefüllt würde. Auch wenn die analytischen Ebenen Räume und Diskurse als untrennbar miteinander verquickt erkannt werden, so können diskursive Produktivität und die Produktion urbaner Räume selbstverständlich, wie wir dies in langjährigen Forschungsarbeiten jeweils getan haben, durchaus "separat" erkundet werden: beispielsweise in der stadtethnologischen Untersuchung des historischen Stadtkerns von Mexiko-Stadt und anderer urbaner Texturen (WILDNER 2003), oder in einer Studie über Diskurspolitiken sozialer Bewegungen wie der Zapatistenguerilla (HUFFSCHMID 2004). Der Gegenstand unserer gemeinsamen Forschung im Sommer 2006 – semiotisch komplexe Inszenierungen wie Wahlkampfveranstaltungen – bringt uns nun allerdings mehr als bislang dazu, beide Dimensionen in ihrer Durchdrungenheit zu denken. [5]
Im Zentrum unserer gekreuzten Erkundung steht die allgemeine Frage nach der Konstitution, Wahrnehmung, Aneignung und also Produktion von "Raum" und "Sinn" durch die unterschiedlichsten – diskursiven wie nicht-diskursiven – immer aber signifikanten Praktiken. Es geht darum, wie diskursive Räume und die Diskurse des Raums im Prozess der sozialen Semiose, der Produktion von "Sinn" in den Räumen des Sozialen (VERÓN 1996), angeeignet werden und wie dabei neue Räume und diskursive Kraftfelder entstehen. [6]
Der spezifische, empirische Kontext dieser transdisziplinären Ethnografie waren die Präsidentschaftswahlen in Mexiko im Sommer 2006, genauer die Abschlusskundgebungen der Präsidentschaftskandidaten in der mexikanischen Hauptstadt. Diese Veranstaltungen waren Höhepunkte des Wahlkampfes, die in den Medien, aber vor allem im physischen Raum der Stadt selbst eine enorme Präsenz hatten. Die Inszenierungen, bei denen zum Teil mehrere hunderttausend Menschen beteiligt waren, sind ein Ausdruck des Verteilungskampfes um die politische Macht und gelten als eines der Barometer für den Wahlausgang. Die oppositionelle Linkspartei PRD (Partido de la Revolución Democrática) – die seit 1997 den Bürgermeister der Hauptstadt stellte, bis dahin aber vergeblich (oder durch Wahlbetrug verhindert) um die Präsidentschaft gerungen hatte – rief bereits einige Wochen im Voraus zu ihrer Abschlusskundgebung am 28. Juni 2006 auf den riesigen Platz in der Mitte der historischen Altstadt, dem Zócalo, auf. Die beiden anderen großen Parteien gaben dagegen erst wenige Tage vor ihrer Kundgebung Datum und Ort der Veranstaltung bekannt. Da in den Jahren zuvor alle Parteien nacheinander den Zócalo, der als das politische Zentrum des Landes gilt, besetzten, war die Überraschung zunächst relativ groß, als die konservative Regierungspartei PAN (Partido Acción Nacional) das Fußballstadion Estadio Azteca als den Ort ihres Kampagnenabschlusses bestimmte. Die ehemalige Staatspartei PRI (Partido Revolucionario Instituicional), die sechs Jahre zuvor, nach über 70 Jahren Regierungszeit, von der PAN abgelöst worden war, wählte hingegen das Monument der Revolution als Bühne. Die Wahl der Kundgebungsorte, ihre Verortung im städtischen Gefüge verweist auf eine spezifische urbane Situation und eine besondere diskursive Dichte, die der Metropole Mexiko zu eigen ist.3) [7]
2. Diskursive Räume, Diskurse des Raums
Als Grundlage für unseren gemeinsamen Text bedarf zunächst der viel verwendete Begriff "Raum" einiger definitorischer Anmerkungen. "Raum" wird hier nicht als ein objektiv statisch festgelegter dreidimensionaler "Behälter" verstanden, sondern als ein komplexer, aktionsrelevanter und relationaler Orientierungsraum (vgl. LÄPPLE 1992). Raum verstehen wir als Geflecht von Beziehungen, als Netzwerk, das an einen physischen Ort gekoppelt sein kann, aber nicht muss, das also nicht begrenzt ist, gewissermaßen keine Decke und keinen Boden hat. Der Begriff "Raum" hat als theoretisches Konzept und Kategorie mehrere Bedeutungsebenen, die je nach sozialer Organisation und kultureller Interpretation definiert werden (WILDNER 2003, S.58). Mit Henri LEFEBVRE verstehen wir Raum als theoretisches Instrument und Denkmodell, das in der Lage ist, Nebeneinander, Ineinander, Gleichzeitigkeit des individuellen Handelns als Teil sozialer Prozesse und somit als Teil der Konstitution von Kultur abzubilden (LEFEBVRE 1994). Dieser qualitative Raumbegriff geht davon aus, dass Räume sozial und kulturell – durch Handlungen und Diskurse – konstruiert sind. Räume werden von Menschen erfahren, hergestellt, benutzt und verändert (vgl. LEFEBVRE 1990). Gleichzeitig beeinflusst die materielle Struktur von Orten die räumlichen Wahrnehmungen und Handlungen der Menschen. Raum ist demnach Bedingung und Ergebnis sozialen Handelns, ist an Alltagswelten und Erfahrungen des Individuums gekoppelt (vgl. BOURDIEU 1997; ROLSHOVEN 2003). [8]
Nach Martina LÖW ist die Entstehung von "Raum" selbst ein prozesshaftes Phänomen (LÖW 2001, S.15). Diesen Prozess beschreibt die Autorin als spacing, das als eine Anordnung oder auch Verortung von sozialen Gütern und Menschen an konkreten Orten zu verstehen ist.
"Die Konstitution von Raum bringt damit systematisch auch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen: Das Plazieren kann eine einmalige Handlung sein, kann aber auch fixierte Gebilde wie Häuser oder Ortsschilder hervorbringen. Diese entfalten eine symbolische Wirkung" (LÖW 2001, S.198). [9]
In diesem Sinn könnte man auch von kulturell konstruierten Orten sprechen. Die Orte sind Ergebnis räumlicher Strukturen, wie sie sich beispielsweise in gesellschaftlichen Regeln oder Institutionen manifestieren. In diesen Strukturen ist die Anordnung der sozialen Güter und Menschen festgeschrieben und durch Ressourcen abgesichert. Der Prozess der Anordnung oder auch der Lokalisierung der Objekte und Menschen geschieht durch Handlungen, die wiederum Diskursen, Ideologien und Machtinteressen unterliegen. Durch die Lokalisierung und Erzählungen, LÖW nennt sie "synthetisierende Prozesse", wird die Entstehung von Raum erst möglich (vgl. LÖW 2001, S.201). Die Entstehung von Raum ist demnach ein kontinuierlicher und dynamischer Prozess aus "relationalen An-Ordnungen raum-strukturierender Elemente und raum-produzierendem Handeln" (S.263). [10]
Aus einer Perspektive der empirischen Forschung lässt sich urbaner Raum auf drei Ebenen beschreiben: Materialität, soziale Interaktion und Repräsentation bzw. Diskurse. Diese triadischen Ebenen der Raumanalyse sind in einem dialektischen Geflecht miteinander verwoben (LEFEBVRE 1990, 1994). Raum materialisiert sich in Bauten, Plätzen und als Architektur oder erscheint in immaterieller Gestalt (z.B. politische Öffentlichkeit, temporäre Gemeinschaft, die virtuellen Gemeinschaften des Cyberspace, Imaginario4)). In beide Raumdimensionen fließen diskursive Konfigurationen ein: Der gebaute Raum ist immer das Ergebnis eines (auch diskursiv artikulierten) Aushandlungsprozesses bzw. Machtkampfes, der temporär generierte Raum ein diskursiver Effekt.5) [11]
Der Gegenstand unserer Untersuchung sind also die im genannten Sinne konstituierten und diskursiven Räume Zócalo, Fußballstadion und Revolutionsdenkmal; dabei bilden die jeweiligen physischen Orte einen Ausgangspunkt der Betrachtung. Es geht uns also weder um eine dichotome Gegenüberstellung konkreter Orte und abstrakter Räume, wie sie auch Doreen MASSEY (2008) kritisiert, noch um die Gegenüberstellung von identitätsstiftenden Orten und vermeintlichen Nicht-Orten, wie sie Marc AUGÉ (1994) unterscheidet. Wir wollen vielmehr die Konstituierung eines jeweils spezifischen urbanen Raumes erkunden, bei dem sich die Erfahrungen von Ereignissen in einen Ort "einschreiben" (als materielle, vor allem aber als Sinn- und Erinnerungsspuren), dabei auch gegenseitig überlagern und sich zusammen mit Erzählungen und Repräsentationen zu einem – temporären oder dauerhaften – "Raum" verknüpfen. [12]
Es zirkuliert bereits eine Reihe von Konzepten für diese, das Materielle transzendierende "Konstruiertheit". Zu nennen sind etwa der Begriff site, der über place hinaus auf einen Ort/lugar verweist oder auch der Begriff scape, der nicht einfach Raum oder Sphäre meint, sondern eher ein Feld oder eine Art semiotische Landschaft. Durch die globalen Transformationsprozesse und Migrationsbewegungen entstehen neue Räume, die über regionale oder nationale Grenzen hinaus eigene räumliche Sequenzen bilden. Arjun APPADURAI nennt diese "Landschaften von Gruppenidentitäten" ethnoscapes (1991, S.191ff.). Gleichzeitig verändert sich durch die enge Verflechtung lokaler und globaler Prozesse aber auch die Bedeutung konkreter Orte, an denen sich diese Prozesse manifestieren und materialisieren. Karen Fog OLWIG und Kirsten HASTRUP (1997) verwenden den Begriff cultural sites, um jene Orte (beispielsweise ein Landstück in Familienbesitz) zu bezeichnen, die durch bestimmte Erfahrungen, Alltagspraktiken, Lebensentwürfe und Vorstellungen geprägt sind. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass der Begriff site den großen Vorteil aufweist, sowohl die räumlichen wie auch diskursiven Kodierungen eines Ortes mit einzuschließen. Wir werden darauf abschließend noch zurückkommen. [13]
Auch "Diskurs" ist nicht gegeben, sondern wiederum ein Produkt (inter-) diskursiver Handlungen, also von Praktiken, in der Geschichte wie in der Gegenwart. Als Diskurs wird hier zunächst allgemein der Zusammenhang von gesellschaftlich verfügbaren Texten, Redeweisen und Sprachbildern zu einem Themenfeld verstanden, also die jeweilige "Menge des Sagbaren", die durch "interdiskursive" Flüsse (Medien, politische Reden, Kulturproduktion) miteinander verkoppelt sind (vgl. zur diskurstheoretischen Grundierung BUBLITZ, BÜHRMANN, HANKE & SEIER 1999; JÄGER 2001; LINK & LINK-HEER 1986; VERÓN 1996; BÜHRMANN et al. 2007).6) [14]
Diskurs erzeugt also die Welt, von der er spricht, und stattet diese mit Sinn und auch mit Machteffekten aus. In dem (meist medial vermittelten) "Interdiskurs" verflüssigen und verzweigen sich die Diskursströme und verflechten sich mit ikonischen Bildern und anderen Zeichensystemen zu Narrativen, die die Fülle von Zeichen zu sinnhaften Erzählungen bündeln. Diese sind nicht in einer hegemonialen Diskursordnung eingeschrieben, sondern können durchaus konkurrierend koexistieren: im Fall von Mexiko-Stadt etwa die Erzählung der historisch verwurzelten Stadt mit aztekischen Wurzeln, der modernen Hauptstadt als Bühne nationalstaatlicher Repräsentation, der Metropole als Labor der Postmoderne oder auch der alles Maß und alle Grenzen sprengenden, apokalyptisch überbordenden Megalopolis. [15]
Derartige Narrative speisen sich jeweils aus verschiedenen Diskursrepertoires, deren Versatzstücke in unterschiedlichen, oftmals in Spannung zueinander stehenden Formationen einander zugeordnet sind und sich – zusammen mit den bildlichen Anteilen – dann zu Imaginarios fügen. Diese sind weder als in sich geschlossene noch als in der Zeit unveränderbare Gebilde zu denken. Im Gegenteil, gerade politische Akteure verwenden einen beträchtlichen Teil ihrer Energie und Ressourcen darauf, in diesen semiotischen Disput (den sogenannten Kampf um die Köpfe) zu intervenieren. Wahlkampf ist eine Zeit expliziter Diskurskonkurrenz. [16]
Diskurs meint das Feld des Sagbaren (die Regeln und sogenannten Diskursformationen) wie auch des tatsächlich Gesagten, also die sprachlichen Handlungen. Wichtig dafür ist zum einen der Begriff der Diskursposition, also die Verortung in einem interdiskursiven Feld, wie auch der der Diskursstrategie, das Eingreifen in dieses Feld im Sinne diskursiver "Kopplungsmanöver" (LINK & LINK-HEER 1986, S.7), das Ein- oder auch Entkoppeln von bestehenden Diskursrepertoires. Diskursive Praktiken sind, im Unterschied zu nicht-diskursiven, all jene (Sprach-) Handlungen, die eine wie auch immer geartete Botschaft ("Statement") haben. Dabei ist die diskursive Dimension, wie oben schon gesehen, nicht auf die verbale Manifestation begrenzbar; eine gänzlich non-verbale Kommunikation wäre jedoch sinnvollerweise eher als semiotisch denn als diskursiv zu kennzeichnen. [17]
Wichtig ist: Diskursive Effekte lassen sich nicht direkt aus Intentionen ableiten, sondern können auch absichtslos generiert werden. Wenn beispielsweise aufgrund des Nieselregens bei einer Kundgebung bunte Regencapes gekauft und von den Teilnehmenden übergezogen werden, dann kreiert dieses ganz und gar nicht diskursive Tun gleichsam absichtslos das Bild einer dem Regen trotzenden, verschworenen Gemeinschaft, das in der Rezeption (als Selbst- und mediales Fremdbild) dann wiederum eindeutig als semiotischer Effekt ist. Es geht also in der Diskursanalyse um das Aufspüren von Funktionen und Effekten sprachlicher Handlungen, nicht um die Spekulation über eine Ebene des Ungesagten oder gar Unbewussten, der verborgenen oder versteckten Intentionen. [18]
Nirgendwo sonst wird die Verschränkung zwischen Diskursivität und Räumlichkeit so deutlich wie im urbanen Raum. Dieser ist ein wechselseitiges Zusammenspiel sich überlagernder und widersprüchlicher Beziehungen von Form, Praxis und Diskursen (vgl. LEFEBVRE 1990; HARVEY 1993). Urbaner Raum ist ein dynamisches Gefüge und kann somit nur in der Komplexität von Orten und Institutionen, Akteuren und Aktivitäten, Erfahrungen und Erzählungen betrachtet werden. Auf der physischen Ebene, der "gebauten Umwelt" (vgl. ROTENBERG 1993) der städtischen Architektur und Infrastruktur materialisieren sich Geschichte, Ideologien und Machtverhältnisse. Worum es uns hier geht ist zu erkunden, wie "urbane Öffentlichkeit" in ihren diskursiven und räumlichen Dimensionen produziert wird (vgl. auch DELGADO 1999, 2007). [19]
In den Raum des Öffentlichen fließen Raum und Diskurs ein, allerdings in unterschiedlicher Weise. Diskurs meint hier öffentliches Sprechen, also Textwirkung im öffentlichen Raum, in Abgrenzung zu nicht-öffentlicher Interaktion – was keine Dichotomie zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, sondern im Gegenteil, eine enge Verflochtenheit unterstellt. Urbane Räume sind nicht per se öffentlich, sondern ihre Öffentlichkeit ist ein – im Stadtraum zudem allerorten zunehmend umkämpftes – Produkt gesellschaftlicher Interaktion. Private Aneignungen unterschiedlichster Art, Abschottungen, Zugangsbegrenzungen von städtischem Raum sind eines der zentralen Spannungsfelder urbaner Dispute und Konflikte (vgl. z.B. für Mexiko-Stadt DUHAU & GIGLIA 2008). Zugleich gilt es, sich von einem lange vorherrschenden idealtypischen und eurozentristischen Begriff einer "räsonnierenden", für alle gleichermaßen zugänglichen Öffentlichkeit als Arena für im Habermasschen Sinne konsensuale Aushandlungen und "Marktplatz der Meinungen" zu verabschieden. Vielmehr muss Öffentlichkeit gerade – aber nicht nur – im hochpolarisierten Lateinamerika als eine von Asymmetrien durchgezogene, fragmentierte und umkämpfte Sphäre gedacht werden, die von Zugangsbarrieren, Exklusionen, Kodierungen und Machtkämpfen geprägt ist.7) [20]
Noch einmal zu dem, was Raum- und Diskursanalyse für sich genommen jeweils leisten können: Die Raumanalyse fragt nach dem relationalen Raum, der sich an konkreten Orten (etwa im Rahmen einer temporären Inszenierung wie einer Wahlkampfkundgebung) herausbildet; ein Raum, in dem sich eine politische, die konkrete Veranstaltung transzendierende "Identität" manifestiert und auf weitere soziale und kulturelle Räume verweist. Eine ethnografische Annäherung erkundet die konkrete bauliche Materialität, die realisierten Inter/aktionen wie auch die Dramaturgie der Veranstaltung und interpretiert diese im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse. Die Diskursforschung ihrerseits untersucht, wie – etwa bei einer öffentlichen Veranstaltung des politischen Wettbewerbs – vor dem Hintergrund existierender und konkurrierender Diskursformationen diskursive Kapitale (Legitimation, Popularität etc.) generiert, akkumuliert und eingesetzt werden, welche diskursiven und semiotischen Strategien zum Einsatz kommen, welche Spannungen und semiotischen Effekte dabei generiert werden. In Bezug auf den Raum fragt sie, wie dieser sich in Resonanzboden und Diskursbühne verwandelt. Bevor wir anhand des konkreten Beispiels Berührungen der beiden Ansätze vorstellen, werden wir zunächst methodische und konzeptuelle Prämissen der jeweiligen Disziplin beschreiben sowie eine Reihe von möglichen Kreuzungen vorstellen. [21]
3. Methodische Verfahren und Schnittstellen
3.1 Ethnografische Raumanalyse
Wenn man davon ausgeht, dass Raum ein Prozess ist, der durch gesellschaftliche Strukturen bestimmt wird und sich durch Handeln herstellt, lässt sich als forschungsleitende These festhalten: Die Entstehung von Räumen ist relational und dynamisch und manifestiert sich in temporären Ereignissen an konkreten Orten. [22]
Politische Inszenierungen an solchen konkreten städtischen Orten wie den hier betrachteten Wahlkampfveranstaltungen beschreiben ein Feld, das geeignet ist, die Konstituierung von Raum empirisch zu untersuchen. In dem untersuchten Fallbeispiel stellt sich die Frage, inwieweit an den Orten Aztekenstadion, Monument der Revolution und Zócalo im Zuge der temporären Inszenierung ein Raum entsteht, in dem sich politische "Identität" manifestiert, die über das konkrete Ereignis hinaus auf einen gesellschaftlichen Raum verweist (vgl. WILDNER 2007). [23]
Die ethnografische Raumanalyse konzentriert sich zunächst auf die Orte selbst, ihre Beschaffenheit, Materialität und Architektur; aber auch auf den sozialen Raum der Interaktion und Handlungen und die Dramaturgie der Ereignisse. Systematische und teilnehmende Beobachtungen geben Aufschluss über die physische Struktur (Größe und Gestalt des Platzes), die Infrastruktur und Materialität der gebauten Umwelt sowie die beteiligten Akteure, ihre Interaktionen und Organisationsformen. Temporäre Elemente (urbane Möblierung, mobile Verkaufsstände und Toiletten, Bühnen, Absperrungen, technische Installationen usw.) und Spuren spontaner Aneignungsformen (wie Graffities, Plakate, Transparente) werden dokumentiert und als Formen der Unterstützung der politischen Inszenierung analysiert. Über reflektierte subjektive Wahrnehmungsspaziergänge lassen sich auch Merkmale des Ambientes (klimatische Bedingungen, Geräusche, Gerüche) und unsichtbare strukturierende Raumelemente (Knotenpunkte, Grenzen, Zonen, nach Kevin LYNCH 1975) erfassen. Gleichzeitig wählten die Beobachtenden eine oder mehrere Perspektiven auf die Veranstaltung und verorten sich selbst in dem konkreten Umfeld des Ereignisses im städtischen Raum. [24]
3.2 Diskurs – als Textanalyse im politischen Raum
Politisches Kapital, also etwa Präsenz, Popularität und Legitimation, wird (unter anderem) diskursiv, also in allererster Linie sprachlich, generiert. Die Sprache dient dabei nicht der bloßen Repräsentation oder Übersetzung vor- oder außersprachlich existierender "Gegenstände" (Absichten, Gedanken, Interessen, Ideologien), sondern generiert diese erst als symbolisch-diskursives Kapital, in dem – besonders in einem explizit politischen Wettbewerb – Sinn- und Machteffekte miteinander fusionieren. Wenn Sprache also Sinnkonstellationen und politische Macht entscheidend mitproduziert, gilt es, dieses Produktionsmittel näher zu beleuchten: der Vorteil einer textbasierten, also linguistischen Diskursanalyse ist es, dass sie über analytische Mittel verfügt, der sprachlichen Textur des Gesagten auf die Spur zu kommen. Hingegen kann, sehr verkürzt gesagt, eine eher "soziologische" Diskursanalyse zwar im Sinne FOUCAULT's die Genese und die Funktionen diskursiver Formationen (vgl. etwa BUBLITZ et al. 1999) herausarbeiten, bleibt in Bezug auf sprachliche Handlungen aber eher stumm bzw. auf semantische Verallgemeinerungen (z.B. Genese von "Begriffen") angewiesen. Das konkrete Funktionieren von Sprechen und Sprache wird erst mittels eines textanalytischen Verfahrens beleuchtet, das verschiedene Stadien durchläuft (Materialfeld, Korpusbildung, Kontextualisierung) und dessen entscheidendes Instrument aber stets die analytische "Lektüre" ist (vgl. dazu CARBÓ 2001; JÄGER 2001; HUFFSCHMID 2007). [25]
Diese Lektüre stellt eine Art "Befragung" einer sprachlichen Äußerung dar, die wiederum in verschiedene linguistische Dimensionen übersetzt wird. So kann etwa die Leitfrage nach Wir-Identitäten, Allianzen und Feindbildern mit der Analyse von Pronominalkonstruktionen beantwortet werden: wie wird die eigene Sprecher/innenposition (ich/wir) konstruiert, wer ist das angesprochene Gegenüber (du/ihr), wer das abgespaltene Dritte (sie)? Bei der Frage nach den jeweiligen zentralen Topoi und Argumentationsmustern gilt es, die semantischen Felder, Diskursrepertoires (Interdiskursivität, Intertextualität), argumentativen Verkettungen und rhetorischen Mittel (z.B. Antonyme) zu untersuchen. Ein weiteres wichtiges Element ist schließlich die Präsenz metaphorischer Konzepte, die unser Sprechen-Denken wesentlich strukturieren (LAKOFF & JOHNSON 1980). Diese semantischen und syntaktischen Eigenheiten von textlichen Äußerungen werden dabei stets mit ihrem Kontext "zurückgekoppelt", also auch ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen (VERÓN 1996). [26]
Wovon wir nach dem bisher Gesagten ausgehen können: Text ist mehr als (verbaler) Text, Raum ist mehr als Kontext. Räume lassen sich "lesen" und Texte lassen sich "verorten". Was aber genau ist der Raum für den Text: eine Bühne, auf der sich der Text abspielt, ein Resonanzboden, in dem der Text widerhallt? Raum ist ja zugleich in sich, auch ohne Text, eine diskursive Konfiguration, die mit Sinnschichten aufgeladen ist, und auf die Textwirkung/-funktion zurückwirkt. Dabei sind, auch das ist deutlich geworden, physische Materialität, soziale und diskursive Dimension niemals wirklich zu trennen. Denn die Materialisierung ist immer schon Teil und Produkt einer sozialen und auch diskursiven Formation und Interaktion. Sehr knapp gesagt: Ob auf dem Berliner Schlossplatz (k)ein Stadtschloss stehen wird oder nach dem Palast der Republik doch nur eine grüne Wiese, ist Ergebnis und zugleich Teil eines Diskurses. Dass jener DDR-Palast nach einem mehrjährigen zähen "Rückbau" nunmehr verschwunden ist, ist das Resultat eines diskursiven Prozesses. Der Diskurs macht den Ort zum Ort. Ohne Diskurs wäre das Brandenburger Tor ein Haufen Stein. [27]
Wir fragen also weiter, wie Raum und Diskurs auf- und miteinander wirken. Wie wirkt der Raum auf den Diskurs, wie wiederum entfaltet sich diskursive Wirkung im Raum? Und wie schreibt sich diese Wirkung in den Raum ein? Was tragen sprachliche Äußerungen und andere semiotische Praktiken zur diskursiven Kodierung eines Raumes bei? Und daran anknüpfend noch eine weitere Frage: Sprechen die Orte, tragen oder produzieren sie einen Diskurs? Auch wenn wir davon ausgehen, dass die Orte "an sich" nicht sprechen (obwohl sie natürlich diskursiv konfiguriert sind), so glauben wir, dass die neu generierten Räume, die aufgrund der beobachteten und registrierten Praktiken entstanden sind, durchaus etwas zu sagen haben. Was bedeutet all dies schließlich für die analytischen Praktiken? Um Räume zu lesen und Texte zu verorten: Wie lassen sich Methoden kreuzen und was können bei diesen Kreuzungen womöglich lernen? [28]
3.3.1 "Datenerfassung": Beobachtung oder Lektüre?
Raum und Diskurs in dem hier umrissenen Sinne haben etwas gemein: Man kann sie mit dem bloßen Auge nicht sehen und auch nicht be/greifen, sie liegen nicht auf der Hand. Registrieren lassen sich hingegen allerlei Elemente von Räumlichkeit und Texttexturen. Diese Merkmale und Fragmente sind zunächst einmal systematisch zu registrieren. Auch wenn es so scheint, als sei die Beobachtung der Ausgangspunkt aller Analyse, so ist doch festzuhalten, dass dieser viele Setzungen vorausgehen: denn es wird ja festgelegt, was genau beobachtet bzw. registriert werden soll, welche Merkmale räumlicher Materialität, welche Merkmale sprachlicher Materialität. [29]
Wichtige Voraussetzung für eine erkenntnisträchtige Beobachtung ist die Fähigkeit zur Selbstverortung, nicht als selbstreferenzielle "Egozentrik", sondern als Bewusstmachung der eigenen Blickperspektive, sowohl biografisch wie vor allem in Hinblick auf die "theoretische Heimat" und den methodologischen Fundus, aus dem man schöpft. Diese Selbstverortung dient der Schaffung von Transparenz, also der Offenlegung der Tatsache, dass es natürlich keine objektive Beobachtung gibt, wir es aber auch nicht einfach mit Willkür oder Zufall zu tun haben. Es geht vielmehr darum zu explizieren, warum welche Blickrichtungen gewählt, welche Entscheidungen getroffen, welche Kategorien verwendet wurden. Von dieser "ethnografischen Haltung", der Bereitschaft zur subjektiven Selbstverortung und Prüfung der Voraussetzungen des eigenen Schauens, kann die Diskursanalyse womöglich lernen. Denn auch hier geht es darum, den eigenen Lektürestandort zu explizieren und ihn – gerade auch gegen strukturalistische Annahmen einer linguistischen Objektivierbarkeit oder semiotischer Automatismen – zum Ausgangspunkt der Entzifferung von Sinneffekten zu machen, einschließlich Befremdungseffekten und Irritationen.8) Somit wird die Beobachtung (von Text und Raum) zu einer Art erstem Resonanzboden der Lektüre. [30]
Auf eine solche systematisch-selektive Beobachtung folgt eine systematische Beschreibung des Beobachteten, also ein Register. In der Aufbereitung dieser Register ähneln und unterscheiden sich ethnografische Raum- und Diskursanalyse. [31]
Der raumanalytische Datenkorpus (Flanieren, assoziative Wahrnehmungsspaziergänge, systematisches Registrieren, Kartierung und Systematisierung) wird in einem folgenden Schritt in einem weiter gesteckten Kontext interpretiert: beispielsweise die Lesart einer bestimmten baulichen Materialität, die Rückschlüsse auf den Zweck eines Platzes oder eines Gebäudes erlaubt oder aber die Verlautbarungen und Identitätszuschreibungen auf den Transparenten politischer Gruppierungen, die sich im Kontext sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Umstrukturierungsprozesse verorten lassen. [32]
Qualitative diskursanalytische Verfahren kennen zwar eine Reihe von Textregistern, aber keine reine Diskursbeschreibung, sondern nur verschiedene Durchgänge der Lektüre, verstanden als sinnstiftendes/-gebendes Prozedere, mit jeweils unterschiedlichen Filtern und Optiken. Zunächst geht es um die Erstellung von Archiven von Textäußerungen ("Flanieren durch die Texte", um sich einen Überblick zu verschaffen). In die Konstruktion des Korpus fließt dann schon eine systematisierte Lektüre ein (Auswahlkriterien, linguistische Merkmale und Dimensionen der Textbefragung). Auch in der weiteren Textanalyse bleibt die Lektüre das zentrale Instrument, "reading, seen as a communicable, structured and formal sense-making activity" (CARBÓ 2001, S.59). In einer Raum-/Diskursbetrachtung wäre eine solche zweidimensionale Lektüre, die stets den Kontext (die Produktiv- und Rezeptionsbedingungen, VERÓN 1996) mitliest, nun um eine Perspektive zu erweitern, die das Gelesene zudem im dreidimensionalen Raum verortet und kontextualisieren kann. [33]
Denn was genau betrachtet die Text- als Diskursanalyse: die Konfiguration des Gesagten. Sie kann also sehen, wie sich Be-Deutung sprachlich manifestiert und materialisiert. Sie analysiert die diskursiven (über das rein Textliche hinaus: semiotischen) Praktiken, mit denen ein Raum "bespielt" wird, hier als öffentliches Sprechen, und kann dabei untersuchen, wie sich die Sprechenden auf diesen Raum und das in ihm materialisierte symbolische Kapital beziehen. Was sie nicht sieht, zumindest nicht "auf den ersten Blick": wie dieser Text im räumlichen Kontext verortet ist und wie (und aus was) sich dieser Raum mitsamt seines symbolischen Kapitals überhaupt konstituiert, durch diskursive und nicht-diskursive Praktiken, wie also das Sprechen (und andere Tätigkeiten) auf den Raum zurückwirken. Was ihr fehlt, sind Instrumente für die Lektüre und Entzifferung des Räumlichen, des Mehrdimensionalen. [34]
Ein weiterer Unterschied ist, dass der diskursanalytische Blick das öffentliche Wort fokussiert, bei einer Wahlkampfveranstaltung also das, was sich diskursiv und öffentlich artikuliert, sowohl bei den Veranstaltern als auch in den verbalen Äußerungen der anwesenden Menschengruppen. Was auf diese Weise nicht, zumindest nicht unmittelbar, erfasst wird, ist die interaktive Beziehung, also wie die Inszenierung des öffentlichen Wortes bei den Zuhörenden rezipiert wird. Diese Reaktion wird lediglich als Reflex registriert (Applaus, Zwischenrufe), aber nicht als diskursive Wechselbeziehung. Die wichtige Frage nach Enttäuschungen, Erwartungen, Spannungen und Gewichtungen wäre nun ergänzend ethnografisch zu erkunden, mittels Beobachtung von Zuhörer/innenreaktionen und -haltung (z.B. konzentriertes Zuhören, Langeweile etc.) und von direkter, nicht-öffentlicher Interaktion (Interviews vor Ort oder zu einem späteren Zeitpunkt). Dabei würde Textmaterial generiert, das dann durchaus wieder diskursanalytisch durchleuchtet werden könnte. [35]
3.3.2 "Datenverarbeitung": Beschreibung oder Analyse?
In einer qualitativ ausgerichteten Textlektüre wird nur dann "beschrieben" bzw. "gezählt", wenn dem bestimmte Interessen oder Vermutungen, Fragen oder schon Hypothesen vorangehen. Es wird also beispielsweise nicht einfach gezählt, wie oft eine textliche Äußerung "WIR" sagt, sondern eher gefragt, wer ist "WIR" und wie ist es jeweils semantisiert? Es gibt kein unspezifisches und quantitatives Registrieren von Textmerkmalen, vielmehr werden auf der Grundlage von Kontextwissen (diskursive und kulturelle Voreinstellungen) und ersten Lektüreeindrücken Vermutungen über signifikante Merkmale angestellt, die dann als Lesebrille dem Abtasten der Textkörper dienen – dann auch, wo sinnvoll, durchaus präzise quantifiziert. Einerseits geht es also um die präzise Registrierung der sprachlichen Textur des Gesagten (davon ausgehend, dass nichts daran zufällig ist), andererseits entstehen zeitgleich, gewissermaßen als erste Lektüreeffekte, Vermutungen über den Sinngehalt dieser Texturen – die selbstverständlich jederzeit revidierbar sein müssen. [36]
Als "ethnografisch" wäre hingegen ein beschreibendes Vorgehen zu bezeichnen, das eine Reihe von Merkmalen registriert, ohne dass diesem notwendig eine Hypothesenbildung oder auch nur Vermutung über die dahinter stehenden Sinnkonstellationen vorangeht. Eine Prämisse ethnologischen Arbeitens ist ja gerade, vom (Noch-) Nicht-Verstehen der "beobachteten Kultur" auszugehen: also offen auch für das zu sein, was auf den ersten Blick keinen Sinn zu ergeben scheint. Es geht darum, erst einmal möglichst genau, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu registrieren und zu beschreiben, was da und zu sehen ist. Und zwar auch abseits der offenkundig semiotisch verdichteten Merkmale. [37]
Es wurde schon festgestellt, dass auch diesem systematischen Register eine Reihe von Setzungen vorangehen, die wiederum aus anderen assoziativen Methoden stammen, bei denen es um die Subjektivität der Akteur/innen, ihrer Raumwahrnehmung und -deutung geht. Neben Flanieren, mental maps und freelists fließen hier auch subjektive Beobachtungen der Forschenden ein, um daraus einen Korpus aus Orten, Fragen und weiteren Ausgangspunkten zu bilden (vgl. WILDNER 2003). Aus dieser ethnografisch "offenen" Perspektive, die auf einem induktiven Verfahren beruht, wäre in Richtung der Diskursanalyse zu fragen, ob und wie die in diskursanalytischen Verfahren gebildeten Kategorien, Hypothesen und Ergebnisse (eben die Sinneffekte) mit der Subjektivität der Akteur/innen rückgekoppelt bzw. "überprüft" werden? Woher "weiß" die Diskursanalyse, dass ihre analytischen Kategorien und die herausgefilterten semiotischen Effekte von den Akteur/innen getragen werden? Eine gewissermaßen "ethnografische Lösung" wäre die Rückkehr an denselben Ort: also die Lektüreergebnisse in einer zweiten Forschungsphase noch einmal einzuspeisen, sowohl in Interaktion mit den Akteur/innen wie auch dem Datenmaterial. [38]
Umgekehrt stellt sich mit Blick auf diskursanalytische Lektüreverfahren, die keine strenge Trennung zwischen Deskription und Analyse kennen, die Frage nach dem Verhältnis zwischen objektiver, quantitativer "Beschreibung" und qualitativer "Lektüre" in der Raumanalyse: Ab welchem Punkt beginnt die sinnstiftende Lektüre der registrierten Raumelemente? Und ist diese von den Verfahren der Registrierung, die doch auf einer ganzen Reihe von Vorannahmen über die Beschaffenheit dieser Räume beruht, tatsächlich zu trennen? Inwiefern fließt Kontextwissen in die ethnografische Annäherung an räumliche Orte und Situationen ein? Tatsächlich gehen auch einem solchen offenen Register eine Reihe von Setzungen voraus, also etwa Kategorien für die systematische Beobachtung, die allerdings immer erweiterbar sind und bleiben sollten. [39]
In diesem Zusammenhang werden auch die Schwierigkeiten einer Ethnografie temporärer, einmaliger Ereignisse deutlich. Ein Merkmal ethnografischer Erkundungen ist ja das Wiederkommen, das kontinuierliche Aufsuchen eines Ortes – nicht zuletzt, um Kategorien und Vermutungen für die systematische Beobachtung zu entwickeln, zu überprüfen und gegebenenfalls auch wieder zu verwerfen. Bei der flanierenden oder auch systematisch beobachtenden Aneignung eines Raumes geht es also genau genommen um die Identifikation von signifikanten Orten, an denen "etwas passiert", mit dem man so womöglich nicht gerechnet hätte. Wenn dieser ausfindig gemacht ist, wäre die Blickperspektive dann auch zu ändern: nicht mehr das äußerliche, quantitative Registrieren aus der Vogelperspektive, sondern das Hineinbegeben in die Binnenstruktur des Orts oder der Situation. In Begriffen der Diskursanalyse entspricht ein solches Hineinbegeben dem close reading. Die Fusion beider Verfahren ließe sich womöglich als "dichte analytische Beschreibung" von räumlichen und diskursiven Materialitäten bezeichnen. [40]
4. Räumlichkeit und Diskursivität: die Verschränkung der analytischen Praxis
Wo aber berühren sich nun beide Ansätze? Wo können mögliche Kreuzungen und gegenseitige Lerneffekte identifiziert werden? Auf der Basis der zuvor entwickelten Parameter der jeweiligen methodischen Herangehensweisen und möglichen Kreuzungen, werden wir im folgenden Abschnitt Beispiele aus der Ethnografie der Wahlveranstaltung vorstellen, an denen sich die enge Verschränkung zwischen Raum- und Diskursforschung zeigen und innerhalb der semantischen Felder Setting, Inszenierung, Einschreibungen, Kontrolle und Macht expliziert werden. [41]
Um Raum und Diskurs in der Analyse verschränken zu können, gilt es, die jeweilige "Bühne", auf der ein Text gesagt wird, als diskursives Setting zu entziffern, also die Bedeutungsschichten (historisch, kulturell, politisch) freizulegen, die sich im materiellen (gebauten) und immateriellen (symbolischen) Raum manifestieren und überlagern. Auf die hier untersuchten Orte bezogen: Wie wird der Platz zum "Zócalo"? Oder auch: Wie das Fußballstadion zum "Estadio Azteca", die Denkmalruine zum "Monumento de la Revolución"? Die Frage gilt sowohl der baulichen und physischen Materialität wie der Genese als genutzter Platz und den Bedeutungen, die ihm von Diskursträger/innen und Akteuren zugeschrieben werden. [42]
Das Azteken-Stadion, eines der größten Fußballstadien der Welt und an der südlichen Peripherie zwischen Stadtautobahnen gelegen, ist ein kolossaler Betonbau im architektonischen Stil der Moderne aus den 1960er Jahren. Es ist ein gewaltiger baulicher Komplex, der deutlich in ein Innen und Außen unterteilt und nur über streng kontrollierte Zugänge erreichbar ist. Seit einigen Jahren ist das Stadion Eigentum des privaten transnationalen Medienunternehmens Televisa. Daher ist es genau genommen kein öffentlicher, sondern ein privater Raum, der sich nur unter bestimmten Restriktionen dem Publikum öffnet. Die Abschlusskundgebung war das erste politische Großereignis im Stadion, woraus sich zugleich die semiotische Verkopplung zweier jeweils mächtiger Repertoires ergab: die konservative Parteipolitik und der Fußball, exakt zeitgleich zur Fußballweltmeisterschaft. Die heute amtierende Regierungspartei PAN bezieht aus dieser Einkopplung in das Fußballrepertoire, in der Politik als Sport (Spiel, Wettbewerb, Gewinner-Ideologie) metaphorisiert ist, politisch-diskursive Energie, die über den Tag der Veranstaltung hinauswirkt. Der Rekurs auf die Sportmetapher im politischen Wettkampf ist – vor allem, aber nicht nur von konservativer Seite – eine beliebte Diskursstrategie. Deren Wirkung wird nun durch eine räumliche Strategie, die eines der größten Stadien der Welt mit 120.000 Parteigänger/innen füllt und entsprechende Bilder davon generiert und verbreitet, noch potenziert. Auch gänzlich unmetaphorische Kontextdaten prägen diese Verkopplung, wie etwa die ökonomische Verbindung zwischen der rechten PAN-Partei und dem TV-Konzern Televisa, der früher noch auf die bis zur Jahrtausendwende amtierende Quasi-Staatspartei PRI gesetzt hatte, oder auch das Engagement von Mitgliedern der mexikanischen Nationalmannschaft als Werbeträger im PAN-Wahlkampf. Dass diskursive Settings und ihre Effekte nie restlos planbar sind, zeigt die Tatsache, dass genau am Vortag der Kundgebung die mexikanische Nationalmannschaft aus der Weltmeisterschaft ausgeschieden war – und somit die PAN-Inszenierung weit weniger auf sportlichen Teamgeist und "Gewinner-Mentalität" rekurrierte als in einer solchen Kulisse erwartbar gewesen wäre. [43]
Das Denkmal und der Platz der Revolution bilden einen urbanen Raum, der vor allem mit einer spezifischen Periode der mexikanischen Geschichte assoziiert ist, nämlich dem Aufbau der postrevolutionären Institutionen nach dem offiziell deklarierten Ende der Revolutionskämpfe im Jahr 1917. Es ist ein offener Platz mit einigen kleineren Parkanlagen um das gigantische Monument der Revolution. Die monströs anmutende, offene Kuppel war einst als Fundament eines neuen Parlamentsgebäudes zum Gedenken der Hundertjahresfeier der mexikanischen Unabhängigkeit (1910) gedacht, blieb nach Ausbruch der Revolutionskämpfe im selben Jahr aber unvollendet und wurde in den 1930er Jahren architektonisch wie auch semantisch umgewidmet: nämlich vom Unabhängigkeits- zum Revolutionsdenkmal. Der Platz selbst ist durch eine funktionale Architektur geprägt und wird gesäumt von einer Reihe von Bürohäusern parteinaher Organisationen der PRI, darunter Gewerkschaften und Sozialvereine. Dass die – bei den Wahlen wenig aussichtsreiche – PRI sich hierhin "zurückgezogen" hatte, ist eine interessante räumlich-diskursive Entscheidung: Das Monumento a la Revolución liegt zwar am nördlichen Rande des Historischen Zentrums und damit außerhalb der symbolischen Mitte der Stadt, ist für dessen semiotische Textur als historische, gleichsam "zeitlose" Markierung aber dennoch überaus signifikant. [44]
Der Zócalo im historischen Zentrum der Stadt ist gänzlich anders konnotiert. Es ist ein riesenhafter Platz, der von repräsentativen Gebäuden umgeben ist, die auf die Geschichte und kulturellen Werte Mexikos verweisen – als mythischer Ursprungsort der Stadt und als Bühne für eine Vielzahl von historischen und aktuellen Ereignissen ist er sowohl in der individuellen als auch der kollektiven Erinnerung der Stadtbewohner/innen als urbane Mitte fest verankert. Es ist sowohl ein Ort der Alltagspraxis wie auch der Repräsentation/en von politischer Macht, ein identitätsstiftender Ort der Stadt und sogar der Nation (vgl. WILDNER 2003). Der Zócalo ist ein räumlich offener Platz, der auch bei der Abschlusskundgebung der PRD nur durch wenige architektonische Elemente gegliedert war. Die Partei machte sich die Zuschreibungen dieses Platzes als allgemein zugänglicher Versammlungs- und Demonstrationsplatz ("plaza de todos", Platz für alle) zunutze und unterstrich dies durch die horizontale Struktur des Veranstaltungsaufbaus. Somit inszenierte sich die Partei als zugänglich und demokratisch. Im Gegensatz zu dem Azteken-Stadion gab es auf dem Zócalo keine eindeutige Unterscheidung zwischen innen und außen, die Versammlung erstreckte sich ohne physische Grenzen ausgehend von dem gefüllten Platz über die umliegenden Straßenzüge auf weitere Teile des Zentrums. [45]
Im Begriff der Inszenierung lässt sich die Verschränkung von Räumlichkeit und Diskursivität womöglich am besten veranschaulichen: Er verweist auf die räumliche Bühne, die eine unauflösliche Verbindung mit der diskursiven Dimension, nämlich dem gesprochenen Text, eingeht. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein Theaterstück niemals getrennt vom Bühnenbild, der gebauten Kulisse und auch der Raumausstattung zu denken ist und erst diese Dimensionen zusammen die Aufführung ausmachen. Die weit verbreitete Metapher des "politischen Theaters" beschreibt genau diese Verkopplung verschiedener Dimensionen einer theatralen Inszenierung: das Schauspielhaus mit seiner eigenen Tradition, die Intendanz und auch die Verwaltung, das konkrete Stück, an dem alle möglichen Akteur/innen beteiligt sind, der Bühnenbau und die Hinterbühne, Beleuchter/innen, Schauspieler/innen, Dramaturg/innen, das Publikum. [46]
Somit lassen sich auch in jeder der hier untersuchten Inszenierungen Schlüsselelemente der politischen Theatralisierung finden. Ein Beispiel, das im Folgenden beschrieben sei, ist der Auftritt des jeweiligen Hauptprotagonisten und seine Beziehung mit räumlichen Merkmalen seiner jeweiligen "Bühne". [47]
Der PAN-Kandidat Felipe Calderón steigt zu der auf dem Spielfeld montierten Bühne buchstäblich hinab, durch die engen Gänge des Stadions, nicht leibhaftig sichtbar für das wartende Publikum, dafür begleitet von einer Videokamera. Die Bühne ist eine große leere Fläche in Form eines gigantischen, angekreuzten Wahlzettels in der Mitte des sonstigen Fußballfeldes, ohne weitere Mobiliarelemente. Am Bühnenrand schüttelt Calderón, gefolgt von seiner Frau und zwei Kindern, vereinzelt Hände. Bis auf diesen ersten körperlichen Kontakt bleibt er während seiner Rede allein auf der Bühne und schreitet sie, in der Art eines Sportmoderators, ununterbrochen von einem Ende zum anderen ab. [48]
Hingegen hat die PRI auf dem Platz der Revolution eine Art langen Laufsteg quer durch die Menge zur Bühne installiert, der zwar leicht erhöht ist (je nach Körpergröße auf Kopf- oder Schulterhöhe), aber keine unüberwindbare Absperrung darstellt. Auf seinem Weg beugt sich der Kandidat Roberto Madrazo nicht nur herab und schüttelt Hände, sondern er lässt es auch zu, dass Leute sich zu ihm hochschwingen. Im Unterschied zur Sterilität seines konservativen Gegenspielers lässt er sich anfassen und stellt so etwas wie Intimität her. Die Bühne selbst ist durch eine Videoleinwand begrenzt, die im Hintergrund den Blick auf das historische Zentrum verstellt, den Vordergrund schmücken aufwändige Blumengestecke. [49]
Der linke Kandidat López Obrador schließlich kommt "von unten" nach einem längeren Fußweg durch die Menge – die hinter Absperrgittern zurückgehalten wird – auf die Bühne, wo schon eine Art lebende Kulisse, bestehend aus mehr als hundert aufgereihten Menschen, auf ihn wartet. Diese Kulisse ist ein besonderer szenischer Effekt: Etwa eine halbe Stunde, bevor der Kandidat selbst die blumengeschmückte Bühne betritt, füllt sich diese allmählich mit Frauen und Männern, darunter einige wenige sehr bekannte, aber auch viele unbekannte Gesichter. Alle stellen sich nebeneinander in eine lange Reihe, in mehreren Linien voreinander, den Blick vergleichsweise starr nach vorne gerichtet. Diese demonstrativ ausgestellte Präsenz der Körper mutet in ihrer Stummheit für einen politischen Bühnenauftritt geradezu paradox an: die Anwesenden sprechen, ohne zu sprechen, sie verkörpern ihre Botschaft, die eindeutig scheint und doch unterschiedlich gelesen werden kann. "Wir sind viele", scheinen sie zu sagen, aber auch "er ist nicht alleine", vor dem Hintergrund der Angstkampagnen gegen links wie wohl auch mit Blick auf die auch intern kritisierte Monopol- oder Caudillostellung des Kandidaten. Die "Botschaft" selbst ist mehrdeutig: Zum einen ergibt sich ein "demokratischer Effekt" des zwischen vielen geteilten Bühnenraums und der Summe individueller Statements, die mit ihrem exponierten Körper Solidarität mit dem hart attackierten Kandidaten zur Sprache bringen. Zum anderen verwandelt das stumme Da-Sein im Rücken des Kandidaten diese Präsenz in eine Art erwartungsvollen Resonanzboden und konterkariert somit wieder die "szenische Demokratie": Das Diskursmonopol bleibt, sogar gestärkt, unangefochten bei ihm. So ist die Botschaft letztlich eine doppelte: Er spricht im Namen von uns allen. Doch nur er ist es, der sprechen wird. [50]
Dabei ist allgemein zu fragen, an welches Publikum die Redenden sich jeweils richten. Im Fall der PRI ist von einer diskursiven Arbeitsteilung auszugehen: der "hemdsärmelige" Madrazo erfüllte die Erwartungen der Anwesenden mit einer Aneinanderreihung von Refrains und Slogans, nachdem zuvor seine ehemalige parteiinterne Gegenspielerin Beatriz Paredes die Rolle der großen Erzählerin übernommen und dabei gerade nicht primär zu den physisch Anwesenden gesprochen hatte, sondern vielmehr zur Presse, zur politischen Klasse, vor allem aber zu den Kultureliten des Landes.9) Während Felipe Calderón sich in erster Linie an die elektronischen Medien gewandt haben dürfte – da beispielsweise im Stadion das Bühnenbild eines gekreuzten Wahlzettels in seiner Gesamtheit nur für die Fernsehkameras von oben erkennbar war – sprach López Obrador hingegen eindeutig zuerst zu den auf dem Zócalo Anwesenden: "Auf dass es alle hören, auch aus der Ferne", lautet eine seiner Ankündigungen. [51]
Wenn Raum und Diskurs zusammen ein Szenario ergeben, so lässt sich fragen, ob und welche unterschiedlichen Sinneffekte entstehen, wenn das Gleiche in verschiedenen Szenarien gesagt wird? Ein Beispiel ist die Behauptung "wir haben schon gewonnen" (ya ganamos), die alle drei Kandidaten als eine Art Refrain in ihre Abschlusskundgebung einbauten – und der in allen einen gänzlichen anderen Klang und Sinn annahm. [52]
Im Aztekenstadion verortete sich der Slogan, wie oben bemerkt, im Setting eines sportlichen Wettkampfs und damit auch vor der unfreiwilligen Diskurskulisse der fußballerischen Niederlage am Vortag. Es war also eine Art Anfeuern: "Wir wollen gewinnen, wir sind zuversichtlich, aber wir wissen auch, Niederlagen sind möglich, man muss sich also anstrengen." Am Revolutionsdenkmal wurde von den Anhänger/innen der PRI gleichfalls ya ganamos skandiert, jedoch mit gänzlich anderem Klang: nämlich in der nahezu absoluten Gewissheit, dass man zumindest diese Wahlen wohl nicht gewinnen werde. Es war also ein gleichsam trotziger Ton, der hier mitschwingt: wir sind die historischen Sieger, wir haben ein Monopol auf die mexikanische Geschichte, auch wenn wir in der unmittelbaren Gegenwart keine Wahlen gewinnen. Geradezu entgegengesetzt war das "wir haben schon gewonnen" wiederum am Zócalo konnotiert: der Slogan ist Ausdruck der festen – und von Umfragen gestützten – Überzeugung, dass dieses tatsächlich der Fall sein wird. Der politische Wettkampf galt, anders als bei der PAN, als beendet, es gab keinen Gegner mehr, den es noch zu bezwingen gäbe. Entsprechend präsentierte sich López Obrador im Unterschied zu seinen Mitbewerbern in streng formalem Outfit, ohne sich jemals das Jackett auszuziehen: Er sprach nicht als (Wahl-) Kämpfer, sondern schon als Staatsmann. [53]
Urbane Praktiken können vielerlei Gestalt annehmen. Räumliche Praktiken heißt, dass Menschen im Raum agieren, sich in ihm positionieren, ihn nutzen und "bedeuten". Letzteres zeigt die Schnittstellen zu diskursiven oder auch semiotischen Praktiken an: dies wären (be-) deutende oder sinnstiftende Praktiken, die das eigene Tun im Raum mit einer "Botschaft" versehen. Säuberlich zu trennen sind beide, das scheint auf der Hand zu liegen, nicht. Wir begreifen urbane Praktiken (im Sinne von: städtischem Handeln) als Prozesse von Aneignung, Deutung und Bedeutungszuschreibung, also letztlich als raumproduzierendes Handeln. Treffend dafür ist die spanischsprachige Kategorie der significación: Gemeint ist damit vor allem, dass einer urbanen Situation Bedeutung zugeschrieben, also Sinn generiert wird, und nicht primär das Verstehen bzw. Interpretieren schon existenter Bedeutungen. Zu unterscheiden sind zudem zwei Arten diskursiver Praktiken, die im urbanen Raum Sinn generieren: das Sprechen im Stadtraum und das Sprechen über den Raum (z.B. berühmte Stadtmetaphern wie Bühne oder Labor, Narrative wie Hauptstadt- oder Metropolwerdung). Bei den folgenden Überlegungen wird es, ausgehend von der genannten Forschungserfahrung, vor allem um Ersteres gehen. [54]
Wie schreiben sich nun diese – stets temporären – Praktiken in den Raum ein, wie verändern sie ihn, wie kondensieren sie sich im Imaginario? Gibt es ein Gedächtnis des Ortes oder des Raums, das sich am Ort selbst – über so offensichtliche und temporäre Spuren wie Graffiti hinaus – materialisiert? [55]
Dieses sind keine einfach zu beantwortenden Fragen, denn die Mehrzahl der Einschreibungen ist weder physisch noch räumlich markiert. Eine Ausnahme bilden eindeutig definierte Erinnerungsorte, wie in Mexiko-Stadt der Platz der Drei Kulturen, an dem eine steinerne Stele an ein Massaker nach einer friedlichen Protestkundgebung 1968 erinnert.10) An einem so vielschichtigen Ort wie dem Zócalo gestaltet sich die Frage nach den Einschreibungen der Ereignisse allerdings kompliziert. Ohnehin materialisieren sich Einschreibungen in der Regel nicht im sichtbaren Raum, sondern vielmehr in den Imaginarios, den Vorstellungswelten und Narrativen, die die Bedeutung eines Platzes konstituieren. Ein Beispiel hierfür ist, dass der Zócalo während der Regierungszeit der linken PRD von dieser intensiv als Ort verschiedenster kultureller Veranstaltungen genutzt wurde (Gratis-Konzerte, Buchmessen). Dabei hat sich derart symbolisches Kapital akkumuliert, dass die beiden anderen Parteien sich offenbar entschieden hatten, nicht mit diesem Kapital in Konkurrenz zu treten und ihre letzten Wahlkampfveranstaltungen im Jahre 2006 – im Unterschied zu dem Wahlkampf 2000 – an anderen Orten abzuhalten. Dennoch bleiben die Imaginarios bei einem auch materiell so mehrdeutig aufgeladenen Platz wie dem Zócalo stets umkämpft und widersprüchlich. Die linke Stadtregierung hält nicht das semiotische Monopol über den Platz, an den mit dem Regierungspalast auch der Sitz der Zentralregierung grenzt11) sowie – als alles überragendes Bauwerk mit dem vermutlich höchsten Wiedererkennungseffekt – die gigantische Kathedrale, ein mächtiges Diskursbollwerk der Konservativen. [56]
Gleichzeitig wird seit einigen Jahren das rundherum an den Zócalo angrenzende Centro Histórico von privaten Investoren neu überschrieben. Unter dem Banner der Revitalisierung und Restaurierung – und durchaus in Abstimmung mit der "linken" Stadtregierung –, werden permanent neue Lokalitäten zum Kaufen und Konsumieren in die Stadtlandschaft eingeflochten. Diese Prozesse der Gentrifizierung erzeugen notwendigerweise Rekonfigurationen des Raumes. Interessanterweise haben diese Prozesse bisher nicht den Zócalo selbst erreicht: Obwohl es eine Reihe von Ausschreibungen und Plänen zur Neustrukturierung des Platzes schon seit den 1990er Jahren gab, wurden diese – bis auf die Errichtung eines neuen Fahnenmastes 1996 – auch unter der PRD-Regierung nie realisiert. Man könnte schlussfolgern, dass diese Nicht-Intervention sich in der räumlichen Entscheidungspolitik der PRD-Regierung begründet, die offene Fläche als einen freien Raum ohne Begrenzungen, als Bühne der Möglichkeiten und als Projektionsfläche eines demokratischen Ortes zu erhalten (vgl. WILDNER 2003). [57]
Auch an der materiellen Gestalt des Estadio Azteca wird sich aller Voraussicht nichts verändern. Aber es ist durchaus möglich, dass die Inszenierung der PAN, die erste politische Veranstaltung in dem Stadion, ihre Spuren im Imaginario des Raumes hinterlässt. Um das herauszufinden, böte sich eine qualitative Umfrage an, mit offenen Fragen etwa über die Bilder, die die Menschen mit dem Stadion assoziieren oder nach den städtischen Orten, die mit der PAN assoziiert werden. Dabei würde, so ließe sich als sozialräumliche Hypothese formulieren, womöglich auch die relativ geringe Verortung der konservativen Partei im Stadtraum zutage trete.12) Dies dürfte sowohl der Tatsache geschuldet sein, dass die Stadt seit ihren ersten freien Bürgermeisterwahlen 1997 vom politischen Gegner regiert wird, als auch der sozialen Konfiguration ihrer Klientel, die sich weniger als die unteren Schichten (sectores populares) im öffentlichen Raum aufhält und eher andere urbane Aneignungspraktiken entwickelt. Ein Beispiel waren die Siegesfeiern nach Bekanntgabe der offiziellen Auszählergebnisse im Juli 2007: Nach einer Versammlung vor dem PAN-Hauptquartier zogen hupende Autokolonnen durch die Stadt, aus den Autofenstern lehnten sich Fähnchen schwenkende Menschen. Zu Fuß gingen die PAN-Anhänger/innen nicht. [58]
Eine zentrale räumliche Praxis ist die der Kontrolle, also die Auf- und Einteilung sowie die Überwachung des Raumes. Unmittelbar sichtbar manifestierte sich das etwa in Zugangskontrollen, zum Stadion oder zum Zócalo, was zugleich einen klaren semiotischen Effekt zeitigte: das Inszenieren von Sicherheit – und damit von Macht. Aber auch in den Einzäunungen, Abgrenzungen, den Sichtachsen etc. wird der materielle Raum wie auch der temporäre Raum der Veranstaltung von den Veranstaltenden kontrolliert. In diesen Kontrolldispositiven ist Macht unmittelbar an Raum gebunden. Anders gesagt: Ist Macht als primär diskursive Kategorie, so wäre Kontrolle als ihr räumliches Pendant zu verstehen. [59]
Dieser Kontrollimpetus ist wiederum nicht ohne sein Gegenstück – el descontrol – zu denken. Gemeint ist mit diesem schwer übersetzbaren Begriff jener Anteil, der sich bei einer derart dichten und aufgeladenen Veranstaltung den Kontrollversuchen entzieht: Bei der PAN waren dies zum Beispiel die Massen an Menschen, die zwar aufwändig herangefahren wurden, aber dennoch vor den Stadiontoren blieben, obwohl drinnen durchaus noch Sitzplätze waren. Dies kann allerdings durchaus auch Teil einer inszenatorischen Absicht gewesen sein: die In-Szene-Setzung eines "überbordenden" Stadions, was sich zumindest als Effekt in der Beobachtung einstellt. Am deutlichsten fiel der descontrol bei der PRI-Veranstaltung ins Auge, bei der sich zwei Gruppen um die vorhandenen Stühle prügelten und die somit zugewiesene territoriale Kontrolle infrage stellten. [60]
Auffällig ist, dass sich ein beachtlicher Anteil des Kontrollaufwands bei allen drei Veranstaltungen glich: etwa, wenn die Animateure die Menschenmenge aufforderten, die Arme von einer Seite zur anderen zu schwingen oder die jeweiligen Slogans gemeinsam zu skandieren. Es sind wohl vor allem diese semiotisch aufgeladenen Kontrolldispositive, die über Parteigrenzen hinweg strukturelle Ähnlichkeiten in der Konstitution politischer Räume in Mexiko heute erkennen lassen. Ausdruck finden diese räumlich und diskursiv funktionierenden Mechanismen etwa in der Schaffung einer Erlösererwartung an die jeweilige "überlebensgroße" Führungsfigur, in der Lancierung von "Marken" im politischen Wettbewerb oder eben im Versuch der Homogenisierung der jeweiligen Anhänger/innenschaft. [61]
5. Ausblick: Mehr und ander(e)s sehen
Die Kreuzung der ethnografischen Analyse mit der analytischen Lektüre des Diskursiven erlaubt uns, die Entstehung neuer (hier: temporärer) Räumlichkeiten in der Stadt zu konstatieren und zu verstehen. Es sind weder die Eigenschaften des Textes noch die des Raums "an sich", sondern die Verknüpfung von beiden, die uns von einem neuen öffentlichen Raums sprechen lassen, an dem sich politische "Identitäten" (oder: Zugehörigkeiten, Gemeinschaften) konstituieren und artikulieren, die über die Besonderheiten einer bestimmten Veranstaltung hinausgehen (TAMAYO & WILDNER 2005). Darauf wirken die räumlichen ebenso wie diskursiven Praktiken ein, die Art der Inszenierung wie auch die Konfiguration der jeweiligen Bühnen. Die drei spezifischen Räume, die wir in dieser kleinen Fallstudie untersucht haben, haben sich diesbezüglich als denkbar unterschiedlich erwiesen: oben haben wir dargelegt, wie "dieselben Worte" in jedem einzelnen dieser drei Orte und Kontexte jeweils einen völlig unterschiedliche Sinn-Effekt erzielten.13) Das hat mit den unterschiedlichen materiellen Beschaffenheiten ebenso zu tun wie mit dem kontextuellen Wissen, die jede der drei Inszenierungen prägen. [62]
Hier schließt sich der Kreis zwischen qualitativen raum- und diskursanalytischen Verfahren. In beiden geht es letztlich nicht um quantitative Inventarisierung oder Kartierung von registriertem Datenmaterial, sondern um das Herausfiltern von Sinnkonstellationen. In diesen Sinnkartografien (mapas de sentido) sind, das hoffen wir gezeigt zu haben, diskursive, semiotische und räumliche Dimension untrennbar miteinander verschränkt. [63]
Zur Erweiterung des analytischen Blickfeldes zwei Schlussbemerkungen, die sich auf der Diskurs- und auch der Raumanalyse jeweils anverwandte Felder beziehen: zum einen Überlegungen zu einer Text überschreitenden semiotischen Perspektive, in dem auch zwei weitere Dimensionen soziale Semiose berücksichtigt würden, die Körper und die Bilder. zum anderen aus der Perspektive der ethnografischen Raumanalyse die Frage nach den Möglichkeiten und Problemen einer multidimensionalen Ausdehnung der Ethnografie. [64]
Zum ersten Punkt: Wichtig für die Bedeutung des materiellen Raums, gerade in Zeiten einer zunehmend deterritorialisierten, virtualisierten und mediatisierten Politik, ist die Frage nach einer weiteren Dimension des Räumlichen, nämlich die Anwesenheit der Körper. Wie positionieren sich diese Körper im Raum, wie teilen sie den Raum unter sich auf, wie wird dabei der jeweils Andere wahrgenommen? Aber auch: Wie wird der eigene Leib als "Diskursplattform", als leibgewordenes Statement, eingesetzt (etwa beim T-Shirt)? Wie "spricht" der Körper – in individualisierten Räumen, aber auch in der "Menge"? Und im Anschluss daran ist zu fragen, welche Bilder aus dieser leibhaftigen Verteilung – und Erfahrung – der Körper im Raum entstehen? Zum einen also die Frage, welche Bilder (Ausschnitte, Fragmente) in der medialen Resonanz vom physischen Geschehen (die materielle Substanz, das Sprechen, die Körper) geprägt werden. Zum anderen ist dies die eher ethnografisch geprägte Frage nach den Bildern, die sich bei den An- und Abwesenden (Medienkonsument/innen) bilden, wie sich das Geschehen also in die Imaginarios einspeist, die gerade für die Konstitution neuer, immaterieller Räume von Bedeutung sind, da sie Sinn oder auch "Identität" stiften (vgl. BELTING 2001). [65]
Die zweite Überlegung zielt auf methodologische wie epistemologische Fragen zu dem Feld der Ethnografie. Muss angesichts der hier vorgeschlagenen disziplinübergreifenden Betrachtung temporärer städtischer Ereignisse der Begriff erweitert oder gar neu definiert werden? Üblicherweise konzentrieren sich ethnografische (Langzeit-) Forschungen auf die Betrachtung des Alltäglichen und somit auf eine gewisse Kontinuität. Lässt sich nun in der Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen auch der Ausnahmezustand ethnografisch untersuchen? Kann es eine Ethnografie des Flüchtigen bzw. des Außerordentlichen geben oder ergeben sich womöglich gerade durch die Betrachtung von temporären Ereignissen neue Einsichten hinsichtlich der Entstehungsprozesse urbaner Räume? In diesem Sinn möchten wir das Konzept der sites noch einmal aufgreifen und es als Begriff, der sowohl die räumlichen und diskursiven Verschränkungen von Erfahrung, Praktiken und Vorstellungen urbaner Ereignisse als auch den Ort der disziplinübergreifenden ethnografischen Betrachtung selbst (multi-sited ethnography) erfassen kann, erneut ins Spiel bringen. [66]
Dies sind nicht mehr als erste Gehversuche in dem oftmals nebulösen Terrain des Transdisziplinären, so oft evoziert und so selten in der Forschungspraxis expliziert. Gemeint ist mehr als nur "über den Gartenzaun" oder den "Tellerrand" zu schauen, sondern sich leibhaftig zum Anderen hinbewegen, sich anstecken lassen, etwas riskieren. Dieser Schauen soll und kann nicht bedeuten, das eigene, weit vertrautere Terrain aus dem Blick zu verlieren. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, etwas mehr als nur die Summe der verschiedenen Perspektiven zu erhalten, eine qualitative Anreicherung, die uns erlaubt, gemeinsam mehr und Anderes zu entdecken. Denn nur darum kann es ja gehen im Spiel zwischen den Disziplinen: zusammenzukommen, um mehr und besser zu sehen. Und damit auch auf Dinge scharfzustellen, die zuvor außerhalb unseres Blickfeldes lagen. [67]
1) Bzgl. eines notwendigen Zusammendenkens von "Raum" und "Diskurs" siehe beispielsweise die aktuelle Ansätze von BAURIEDL (2007) und MASSEY (2006, 2008). <zurück>
2) Ergebnisse dieser "multidisziplinären Ethnografie" werden in dem Band Apropiación Política del Espacio Público. Una etnografia multidimensional de las campañas electorales en la Ciudad de México vorgestellt (hrsg. von Sergio TAMAYO und Nicolasa LÓPEZ, Erscheinen für Sommer 2009 geplant). Darin sind Einzelbeiträge von uns sowie der gemeinsam verfasste Text "Leer el espacio, situar el discurso. ¿Hacia una etnografia transdisciplinaria?" enthalten, der die Grundlage für die vorliegende, deutschsprachige Fassung bildet. <zurück>
3) Zu dieser Dichte und allgemein zum heterogenen Forschungsgegenstand "Mexiko Stadt" siehe beispielsweise den Band von BECKER, BURKERT, DOOSE, JACHNOW und POPPITZ (2008), PARNREITER (2006, 2007), aber auch zentrale Autor/innen aus der mexikanischen Stadtforschung wie GARCIA CANCLINI (1998, 2005), LINDON, AGUILAR und HIERNAUX (2006), DUHAU und GIGLIA (2008). <zurück>
4) Dieser Begriff, in dem die Ebene einer kollektiven, sozialen (und in diesem Fall: urbanen) Subjektivität fassbar wird, ist aus unserer Sicht ein wesentlicher Beitrag der lateinamerikanischen zu einer zunehmend transnational ausgerichteten Stadtforschung, vgl. dazu etwa die Bände von GARCIA CANCLINI (1997), LINDON (2007), SILVA (2003) und VERGARA FIGUEROA(2001). <zurück>
5) Das Diskursive ist hier in einem weiteren Sinne gemeint, umfasst also eigentlich eine semiotische, neben Texten auch Räume und Bilder einschließende Sinndimension; die Kategorie Bildlichkeit bzw. Bildsemiotik wird hier jedoch ausgespart und nur im Ausblick unten angerissen; vgl. dazu auch LINK und PARR (1997). <zurück>
6) Vgl. zu diesen Grundannahmen auch HUFFSCHMID (2004, S.46-71). <zurück>
7) Vgl. für Lateinamerika BRAIG und HUFFSCHMID (i.Druck), als prägnante HABERMAS-Kritik allgemein FRASER (1999). <zurück>
8) Vgl. dazu CARBÓ (2001, S.66) und HUFFSCHMID (2007). <zurück>
9) Vgl. zu diesem Beispiel und allgemein zur Inszenierung öffentlicher Weiblichkeit in Mexiko-Stadt HUFFSCHMID (2008). <zurück>
10) Gemeint ist das Massaker von Tlatelolco, das der mexikanischen Studierendenbewegung am 2. Oktober 1968 ein jähes blutiges Ende setzte. <zurück>
11) Allerdings fungiert der Palacio de Gobierno, der Regierungspalast, seit langer Zeit eher als repräsentative Fassade denn als funktionaler Regierungsort: regiert – und gewohnt – wird an einem anderen Ort. <zurück>
12) Als einer dieser wenigen urbanen Orte hat sich der Angel de la Independencia, an dem die Partei traditionsgemäß ihre Siegesfeiern abhält, herauskristallisiert. Interessanterweise ist dies seit vielen Jahren zugleich der Treffpunkt für Siegesfeiern nach bedeutsamen Sportereignissen. <zurück>
13) Die Frage nach neuen Räumlichkeiten lässt sich auch umkehren, indem wir fragen, wie verschiedene Akteur/innen sich ein und dieselbe Plaza aneignen; vgl. dazu die Studie zu den Wahlkampfkundgebungen im Jahr 2000, als alle Parteien auf dem Zócalo ihre Abschlusskundgebung abhielten (TAMAYO 2002). <zurück>
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Anne HUFFSCHMID ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf Diskursforschung, Öffentlichkeit und Urbanität. Gegenwärtig lehrt und forscht sie am Lateinamerika-Institut (LAI) der FU Berlin zu Erinnerungskulturen und -konflikten in lateinamerikanischen Megastädten.
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Dr. Anne Huffschmid
Lateinamerika-Institut der FU Berlin
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Kathrin WILDNER ist Stadtethnologin und hat sich vor allem mit urbaner Ethnografie und öffentlichem Raum beschäftigt. Derzeit lehrt und forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, zu städtischen Transformationsprozessen und transnationalen Räumen.
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Dr. Kathrin Wildner
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