Volume 10, No. 1, Art. 47 – Januar 2009
Die dokumentarische Methode in interkulturellen Forschungsszenarien
Henrike Evers
Zusammenfassung: Die dokumentarische Methode erscheint besonders geeignet, um möglichen Ethnozentrismen in der Interpretation von Daten in der rekonstruktiven Forschung sowie den Einschränkungen durch ein statisches und normatives Kultur-Konzept vorzubeugen. Zur Erläuterung dieser These stellt der vorliegende Beitrag eine Untersuchung der Hochschule Bremen vor, in der die Auswirkungen eines Begegnungsprogramms zwischen internationalen Studierenden und deutschen Patenfamilien untersucht werden. Insbesondere geht es hier um die Frage nach emotionalen und kognitiven Veränderungen der Studierenden, wie sie die Erziehungswissenschaft mit dem Konzept "Bildung" fasst. Es werden der theoretische und methodologische Hintergrund und exemplarische Ergebnisse der Studie vorgestellt.
Keywords: Bildung; Entwicklungsaufgabe; Interkultur; Kultur; dokumentarische Methode; Orientierungsrahmen; episodisches Interview
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fragestellung und theoretischer Rahmen
2.1 Gegenstand und Fragestellung
2.1.1 Theoretischer Hintergrund 1: Bildung
2.1.2 Theoretischer Hintergrund 2: Kultur
3. Vorgehensweise
3.1 Erhebungsmethode: Episodisches Interview
3.2 Analysewerkzeug: Dokumentarische Methode
3.3 Rolle des Patenprogramms für den Aspekt "Kälte der Deutschen"
4. Fazit
Die Kulturwissenschaften als transdisziplinäres Forschungsfeld bedienen sich der Methoden verschiedener Bezugsdisziplinen. Zentrales Auswahlkriterium für die Methodenvielfalt ist das Prinzip der Gegenstandsangemessenheit (FLICK 1999). Diese Passung von Gegenstand, Fragestellung und Methode muss durch geeignete Auswahlendscheidungen für jede Untersuchung individuell hergestellt werden. Im Sinne einer praxeologischen Methodologie (BOHNSACK 2003) erweist sich die Richtigkeit dieser Entscheidungen erst im Forschungsprozess, und die Darstellung des Gesamtzusammenhangs ist erst rekonstruktiv am Ende des Forschungsprozesses möglich. [1]
Der vorliegende Text stellt – in groben Zügen – das Ergebnis einer solchen Rekonstruktion vor. Dabei wird sich zeigen, dass die dokumentarische Methode nach BOHNSACK (2003) wie auch das episodische Interview nach FLICK (1999) besonders gut geeignet sind, um kognitive und emotionale Entwicklungen in biografische Zusammenhänge zu stellen und um Prozesse und Effekte interkultureller Erfahrungen zu erfassen. Es werden zentrale Aspekte der beiden Methoden (Interview und Analyse) vorgestellt und diese These begründet. Als Beispiel für eine konkrete Anwendung wird das Forschungsvorhaben "Bildung durch interkulturelle Begegnung", das seit 2005 und voraussichtlich bis 2009 an der Hochschule Bremen durchgeführt wird, in Grundzügen dargestellt. Zur Erläuterung der dargestellten These wird ein Beispiel der empirischen Analyse besprochen. [2]
Die Globalisierung und ihre Folgen, wie z.B. eine zunehmende Internationalität/Diversität vielfältiger Lebensbereiche, ist inzwischen eine viel zitierte Realität geworden. Im Bereich der Hochschulbildung bedeutet dies u.a., dass die Studierenden bereits während ihres Studiums den Umgang mit sozialer Heterogenität lernen sollten. Dazu bieten ein Auslandsaufenthalt und hier insbesondere die Teilnahme an einem Begegnungsprogramm eine sehr gute Gelegenheit. Bestehende Untersuchungen fokussieren den Gesamtaufenthalt in einem fremden Land, nicht aber den Moment der organisierten interkulturellen Begegnung. Zudem beziehen sie sich in der Regel auf frühere Entwicklungsphasen (vgl. CUSHNER & KARIM 2004; HAMMER 2005; THOMAS 1999). Die vorliegende Untersuchung hat demgegenüber den Moment der interkulturellen Begegnung im Fokus und untersucht, welche Prozesse hier ablaufen. [3]
Ich werde im Folgenden zunächst die Fragestellung und den theoretischen Rahmen skizzieren. Letzterer umfasst die Konzepte "Bildung" und "Kultur". Hier werde ich einen Brückenschlag zu aktuellen Kulturtheorien (SPERBER 1996) versuchen. Anschließend werde ich unter dem Aspekt der Auswahl für eine interkulturelle Fragestellung den methodischen Ansatz des episodischen Interviews als Erhebungsinstrument sowie insbesondere die dokumentarische Methode als Auswertungsmethode darstellen und begründen, weshalb diese für die Erfassung der kognitiven und emotionalen Effekte interkultureller Erfahrungen besonders geeignet sind. Dabei werde ich auch darauf eingehen, welche Eigenschaften der dokumentarischen Methode diese als besonders geeignet erscheinen lassen, um mögliche Ethnozentrismen zu minimieren. Abschließend werde ich exemplarisch bisherige Ergebnisse der Studie vorstellen. [4]
2. Fragestellung und theoretischer Rahmen
Um die Vorgehensweise zu verdeutlichen, möchte ich zunächst Gegenstand und Fragestellung der Untersuchung vorstellen. Anschließend werde ich erläutern, mit welchen theoretischen Konzepten die bei den Studierenden zu erwartenden Effekte erfasst werden. [5]
2.1 Gegenstand und Fragestellung
Im Zentrum der Untersuchung stehen Austauschstudierende, die an einem Begegnungsprogramm mit deutschen Familien teilnehmen. Die Familien übernehmen eine "Patenschaft" für eine/n ausländische/n Studierende/n, d.h. sie lassen ihn/sie an ihrem Alltagsleben teilhaben und zeigen ihnen Dinge, die sie für relevant erachten. Die Studierenden wohnen nicht bei den Familien, auch gibt es keine Vorgaben für die Art und Häufigkeit des Kontaktes. Beides wird individuell vereinbart. Konkret bedeutet dies, dass es Situationen gibt, in denen sich Patenfamilie und Studierende/r sehr häufig sehen, gemeinsam in Urlaub fahren o.ä. Demgegenüber gibt es auch Konstellationen, in denen der Kontakt abbricht oder verebbt. In die vorliegende Untersuchung sind verschiedene Konstellationen eingeflossen (sehr intensiver Kontakt – abgebrochener Kontakt). [6]
Es soll herausgearbeitet werden, welche Effekte ein solches Begegnungsprogramm hat. Die daraus resultierende Fragestellung könnte wie folgt zusammengefasst werden: Welche emotionalen und kognitiven Veränderungen können bei den Studierenden im Laufe eines halben Jahres in Bremen festgestellt werden? Welche Anteile davon können auf die Teilnahme am Patenprogramm zurückgeführt werden? [7]
2.1.1 Theoretischer Hintergrund 1: Bildung
Im Zusammenhang mit dieser Untersuchung von einem theoretischen "Hintergrund" und nicht von einem Modell oder gar von einer Theorie zu sprechen, verweist auf den von mir gewählten Forschungsstil. Im "rekonstruktiven" Paradigma (vgl. BOHNSACK 2003), zu dem auch meine Untersuchung gehört, wird theoretisches Wissen sehr wohl vor Beginn und im Laufe der empirischen Phase intensiv rezipiert. Es wird aber nicht wie im Paradigma der Hypothesenprüfung dazu verwendet, deduktiv Modelle und Hypothesen abzuleiten, diese zu operationalisieren und dann zu testen. Vielmehr dient das erarbeitete theoretische Wissen dazu, eine "theoretische Sensibilität" (vgl. WAGNER 1999) aufzubauen, die gewährleistet, dass die Datenkonstruktion und -analyse nicht bei Beschreibungen verbleibt, sondern zur Ebene gegenstandsbezogener Theoriebildung vordringt. [8]
Die emotionalen und kognitiven Veränderungen werden durch das Konzept der "Bildung" gefasst, wie es sich insbesondere in den Erziehungswissenschaften in den vergangenen 20 Jahren durchgesetzt hat (vgl. KOKEMOHR 2007; MAROTZKI 1990). Dieser Begriff wird in verschiedenen Teilbereichen der Erziehungswissenschaft unterschiedlich verstanden, und gleichzeitig existieren in der empirischen Sozialforschung verwandte Konzepte unter anderem Namen. Daher wird die Erfassung von möglichen Bildungsprozessen der Studierenden in dieser Untersuchung durch eine Methodentriangulation auf theoretischer und methodologischer Ebene realisiert. Dabei kommen drei Konzepte zum Einsatz. Erstens werden die Bildungsprozesse als potenzielle Veränderungen des "Orientierungsrahmens" als zentrale Konstituente der dokumentarischen Methode erfasst. Zweitens wird das Konzept der "Bildung" nach KOKEMOHR (2007) und MAROTZKI (1990) an die Daten herangetragen, indem Bildung als Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses verstanden wird. Drittens kommt die Bildungsgangforschung zum Einsatz, die Bildungsprozesse als Bearbeitung von "Entwicklungsaufgaben" (HERICKS 2006) versteht. Es wird geprüft, inwieweit die drei Herangehensweisen übereinstimmende Ergebnisse erzielen oder ob hier Abweichungen zu beobachten sind. [9]
Der Orientierungsrahmen in der dokumentarischen Methode erfasst die grundlegenden Verhaltens- und Denkstrukturen eines Menschen. Im Orientierungsrahmen können "jene Orientierungen zu Tage kommen, die die Erfahrungen von Menschen strukturieren" (NOHL 2006, S.11). Diese Orientierungen sind in der Regel nicht bewusst, sie werden daher auch als "atheoretisches Wissen" bezeichnet: "Atheoretisch ist dieses Wissen, weil wir in unserer Handlungspraxis darüber verfügen, ohne dass wir es alltagstheoretisch auf den Punkt bringen und explizieren müssten (…)" (NOHL 2006, S.10). Verändern sich diese grundlegenden Verhaltens- und Denkstrukturen eines Menschen, so handelt es sich um einen Bildungsprozess. [10]
Auch MAROTZKI (1990, S.41) verwendet den Begriff des (Orientierungs-) Rahmens, der die Erfahrungen des Subjektes organisiert. Als Rahmen bezeichnet er bestimmte Muster eines Menschen, die Welt wahrzunehmen, zu analysieren, zu ordnen und zu verarbeiten (vgl. MAROTZKI 1990, S.33). Werden diese zugrunde liegenden Muster verändert, so spricht MAROTZKI von einem Bildungsprozess: "Solche Lernprozesse, die sich auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung beziehen, möchte ich Bildungsprozesse nennen" (1990, S.41). [11]
Diese Bildungsprozesse unterscheidet MAROTZKI von Lernprozessen, bei denen neue Informationen in bestehende Kategorien oder existierende zugrunde liegende Muster eingeordnet werden. Nach MAROTZKI verändert sich bei einem Bildungsprozess aber nicht nur das Verhältnis eines Menschen zur Welt, sondern auch zu sich selbst: "Ein gesteigerter Selbstbezug ist vielmehr ein solcher, in dem das Subjekt aufgrund seiner interaktiven Vermitteltheit sich selbst als Autor begreifen kann, sich selbst als denjenigen kennen lernt, der die Welt immer schon in einer bestimmten Weise aufordnet" (1990, S.43ff.). Zusammenfassend handelt es sich für MAROTZKI somit bei einem Bildungsprozess um eine Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses. KOKEMOHR (2007, S.21) wiederum definiert einen Bildungsprozess als "Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen (…), die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen" und der "eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt". [12]
Unter Entwicklungsaufgaben werden jene Aufgaben verstanden, die eine Gesellschaft in verschiedenen Altersgruppen an Individuen stellt und die diese subjektiv ausgestalten. Beispiele sind nach HAVIGHURST (1972), der dieses Konzept eingeführt hat, für Jugendliche u.a. die Entwicklungsaufgaben "Beruf", "Körper", "Peer", "Partner", "Werte". HERICKS (2006, S.60) schreibt:
"Entwicklungsaufgaben sind gesellschaftliche Anforderungen an Menschen in je spezifischen Lebenssituationen, die individuell als Aufgaben eigener Entwicklung gedeutet werden können. Entwicklungsaufgaben sind unhintergehbar, d.h. sie müssen wahrgenommen und bearbeitet werden, wenn es zu einer Progression von Kompetenz und zur Stabilisierung von Identität kommen soll" (Hervorh. im Original). [13]
2.1.2 Theoretischer Hintergrund 2: Kultur
Könnte zunächst angenommen werden, dass ein auf individuelle Entwicklungsprozesse fokussiertes Konzept wie "Bildung" und ein auf kollektive Orientierungen abzielendes Konzept wie "Kultur" keine Berührungspunkte haben, so ergeben sich bei einer genaueren Begriffsanalyse intensive Wechselbeziehungen. Ich möchte dies im Folgenden exemplarisch für BOHNSACKs (2003) Theorie diskutieren. [14]
Das Konzept der "Kultur" findet sich bei ihm in den "konjunktiven Erfahrungsräumen", d.h. in den von mehreren Personen geteilten Erlebenswelten, die zur Ausbildung von dem Erleben zugrunde liegenden gemeinsamen Orientierungen führen. Da diese Erfahrungsräume bestimmten Milieus zugeordnet werden, kann BOHNSACKs Konzept erklären, wie durch individuelles Erleben kollektive Orientierungen und damit Kultur entstehen. D.h. die Gruppe, die bei BOHNSACK ein Milieu bzw. eine "Kultur" wäre, wird nicht von außen (Nationalität, Hautfarbe o.ä.) definiert, sondern zeichnet sich durch innere Übereinstimmung und geteilte Erfahrung aus. Von dieser Perspektive aus ergeben sich interessante Ausblicke auf bestehende Modelle interkultureller Kommunikation und deren prägende Eigenschaften. Während HOFSTEDEs Metapher der "kollektiven Programmierung" (2001) zu stark normativ erscheint, könnte SPERBERs "epidemiologisches Modell" (1996) Erklärungen für die Prozesse im kollektiven Erfahrungsraum liefern. Diesen Gedanken möchte ich im Folgenden vertiefen. [15]
Wie bereits dargestellt, geht BOHNSACK von einem "geteilten Erleben" als Voraussetzung für ein bestimmtes Milieu aus. Dieses Milieu (= der konjunktive Erfahrungsraum) kann als "Kultur" einer Gruppe begriffen werden. Da BOHNSACK selbst sein Modell nicht primär für kulturwissenschaftliche Fragestellungen entwickelt hat und den Begriff der Kultur nicht verwendet, stellt sich die Frage nach der transdisziplinären Anschlussstelle. Hier bietet sich das epidemiologische Modell SPERBERs an, das davon ausgeht, dass es sich bei Kultur um von Menschen geteilte Ideen handelt, die durch Kommunikation weiter gegeben werden. Neben den Ideen rechnet er auch materielle Auswirkungen wie Schriftstücke, Werkzeuge oder Kunst, die zur Verbreitung der Ideen beitragen, einer Kultur zu. SPERBER und BOHNSACK gehen somit beide davon aus, dass sich kulturelle Räume durch eine innere Übereinstimmung auszeichnen und nicht durch äußere Faktoren wie z.B. Nationalität. Für die Verbreitung von Ideen verwendet SPERBER in Analogie zur Weitergabe von Krankheiten die Metapher der Epidemie: Die "ansteckendsten" Ideen setzen sich durch und werden weitergegeben. "Kultur" zu erklären bestünde demnach darin zu erklären, weshalb einige Ideen "ansteckender" zu sein scheinen als andere. Dabei entstehen mentale "kulturelle Repräsentationen", die von mehreren Individuen oder einer Gruppe geteilt werden. Auch hier findet sich also das Konzept der von einer Gruppe geteilten Ideen und Überzeugungen. Sowohl SPERBER als auch BOHNSACK gehen somit davon aus, dass sich kulturelle Räume bilden, in denen Deutungsmuster übereinstimmen. [16]
Gemeinsam ist beiden Ansätzen zudem, dass sie zwischen "öffentlich sichtbaren" Äußerungen und ihnen zugrunde liegenden, zunächst nicht sichtbaren Strukturen unterscheiden. Die Überführung der latenten in die explizite Form wird durch die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens eines Menschen bzw. einer Gruppe von Menschen geleistet. Dieser Orientierungsrahmen, also die zugrunde liegenden Anschauungen und Überzeugungen, muss aus den Äußerungen bzw. aus dem Handeln rekonstruiert und kann dann auch bewusst gemacht werden, wenn er oder sie damit konfrontiert wird. SPERBER wiederum unterscheidet zwischen öffentlichen und mentalen Repräsentationen. Die öffentlichen entsprechen den sichtbaren Äußerungen und Verhaltensweisen bei BOHNSACK. Die mentalen Repräsentationen bezeichnen die mentalen Muster bzw. die Tatsache, dass alle Menschen über Kategoriensysteme verfügen, mit denen sie aus wahrgenommenen Lautfolgen Botschaften konstruieren, und die den eigenen Botschaften zugrunde liegen1). Die Parallelen zwischen beiden Modellen sind augenscheinlich: Legt man beide Konzept übereinander, so entspricht BOHNSACKs Orientierungsrahmen der Repräsentation bei SPERBER. SPERBERs Kategoriensystem wiederum kann als Verknüpfung mehrerer Orientierungsrahmen gedacht werden. Indem SPERBER das Zustandekommen der Kategoriensysteme erklärt, liefert er aufgrund der Analogie der Konzepte auch Anhaltspunkte dafür, welche Prozesse bei der Entstehung der konjunktiven Erfahrungsräume ablaufen müssen. [17]
Unterschiedlich zwischen beiden Ansätzen ist, dass BOHNSACKs konjunktive Erfahrungsräume zunächst einmal von einer gleichartigen Erfahrung und gleichem Erleben ausgehen. Demgegenüber betont SPERBER, dass es nie eine identische Weitergabe von Ideen geben kann. Es werden immer nur potenziell ähnliche Gedankenwelten in dem oder der Anderen erzeugt – möglich sei maximal eine Ähnlichkeit der Idee, möglich sei aber auch ein totaler Verlust von Informationen. Unterschiedlich ist auch, dass es SPERBER um die Frage geht, wie Kultur entsteht. Demgegenüber richtet BOHNSACK den Fokus auf die Rekonstruktion der verschiedenen kulturellen Räume und weniger auf deren Genese. Zusammenfassend lassen sich somit folgende Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede feststellen:
Gemeinsamkeiten |
|
Sowohl SPERBER als auch BOHNSACK gehen von der Existenz kultureller Räume aus, in denen Deutungsmuster übereinstimmen. Beide unterscheiden öffentliche, sichtbare und zugrunde liegende Strukturen (SPERBER: mentale vs. öffentliche Repräsentationen, BOHNSACK: immanenter vs. Dokumentsinn). |
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Unterschiede |
|
BOHNSACK |
SPERBER |
Gleichartiges Erleben und Erfahren in konjunktiven Erfahrungsräumen |
Es gibt nie eine Eins-zu-eins-Weitergabe von Ideen. Maximal möglich ist eine potenzielle Ähnlichkeit, möglich ist auch ein kompletter Verlust von Informationen. |
Fokus liegt auf der Rekonstruktion der verschiedenen kulturellen Räume |
Fokus liegt auf der Genese von Kultur |
Tabelle 1: Vergleich der Bezugskonzepte von BOHNSACK und SPERBER [18]
Bei der Weitergabe der Informationen unterscheidet SPERBER zwischen intuitiven und reflexiven Überzeugungen. Beide werden auf unterschiedliche Art und Weise weitergegeben. Intuitive Überzeugungen sind in der Regel das Produkt von unbewussten Wahrnehmungen wie z.B. Annahmen über Bewegungen eines Körpers, die Existenz von "Wahrheit" oder die Zählbarkeit von Dingen. Diese erschließen sich von selbst, sie sind in der Regel das Produkt von spontanen und unbewussten Wahrnehmungen. Sie ähneln sich über alle Kulturen hinweg, und es gibt keinen bewussten Lern- und Lehrprozess. Reflexive Überzeugungen hingegen bezeichnen die Interpretation der mentalen Repräsentationen. Es gibt normalerweise eine Autorität, die sie vermittelt, ohne dass sie genau verstanden werden müssen. SPERBER führt als Beispiel die Situation an, dass einem Kind erklärt wird, Pflanzen hätten ein Geschlecht. Das Kind akzeptiert dies, da die Information von einer Autorität vermittelt wurde, ohne es aber genau zu verstehen, da es das Konzept "Geschlecht" bislang lediglich auf Menschen bezogen kannte. Diese reflexiven Überzeugungen unterscheiden sich von Kultur zu Kultur, da Menschen verschiedenen Quellen vertrauen. Reflexive Überzeugungen werden somit bewusst weitergegeben. [19]
SPERBER ist in seiner Definition von "intuitiven" und "reflexiven" Überzeugungen z.T. unscharf. Insbesondere führt er an, dass reflexive Überzeugungen zu intuitiven werden können, wenn Erstere vollständig verstanden werden. Dies widerspricht jedoch zum einen seiner Darstellung der Weitergabe von intuitiven Informationen (ohne Lehr- und Lernprozess). Diese hat dann sehr wohl stattgefunden, wird aber von ihm nicht weiter untersucht. Vor allem aber führt er als Beispiele für intuitive Überzeugungen eher abstrakte Kategorien wie "Zählbarkeit" oder Konzepte von "Raum und Zeit" an. Eine reflexive Überzeugung, die zu einer intuitiven wird, ist jedoch in höchstem Maße konkret und komplex – folglich das Gegenteil der Charakteristika für intuitive Überzeugungen. [20]
Trotz dieser Einschränkungen ist grundsätzlich die Trennung zwischen verschiedenen Überzeugungen bestechend, von denen eine Gruppe kulturspezifisch (reflexiv) und die andere kulturallgemein (intuitiv) ist. Lediglich Erstere führt in kulturellen Konfrontationssituationen zu Irritationen. Letztere hingegen bieten einen allgemeingültigen "Boden" für gelingende Interaktion. Dies entspricht SPERBERs Anliegen, die kulturrelative These zu entkräften, dass es ebenso viele Realitäten wie Gesellschaften und dass es keine objektive Wahrheit gebe. Es gelingt ihm damit, ein differenziertes Bild kultureller Differenz zu zeichnen. [21]
Abschließend lässt sich sagen, dass es mit BOHNSACKs fallvergleichender Vorgehensweise zur Rekonstruktion der Orientierungsrahmen möglich wird, SPERBERs Modell empirisch zu prüfen. Durch den fallübergreifenden Vergleich kann festgestellt werden, ob sich bei zunehmender Proband/innenzahl die Unterscheidung von intuitiven und kulturspezifischen reflexiven Repräsentationen belegen lässt. Während BOHNSACK unklar lässt, durch welchen Prozess in den konjunktiven Erfahrungsräumen analoge Orientierungsrahmen entstehen, zeigt SPERBER dieses Geschehen eindeutig als kommunikativen Prozess. Dies wiederum erklärt, warum in den Gruppendiskussionen, die BOHNSACK für seine Methode ursprünglich ausschließlich verwendete, umfangreiche kollektive Deutungstätigkeiten ablaufen, bevor gemeinsame Orientierungsrahmen in den sogenannten Fokussierungsmetaphern auf der Gesprächsoberfläche sichtbar werden. Nimmt man SPERBER ernst, kann davon ausgegangen werden, dass diese zumindest teilweise in der Diskussionssituation erst entstehen. [22]
Vor dem oben dargestellten theoretischen Hintergrund wurde eine sechsmonatige empirische Untersuchung durchgeführt. Um eine mögliche Veränderung im Sinne eines zuvor skizzierten Bildungsprozesses zu konstatieren, wurden die Student/innen zu Beginn und zum Ende ihres Aufenthaltes in episodischen Interviews (nach FLICK 1999) befragt, die mit der dokumentarischen Methode nach BOHNSACK (2003) ausgewertet wurden. Nachdem die während des Auslandsaufenthaltes zu beobachtenden Bildungs- und sonstigen Prozesse erfasst wurden, wurde geprüft, ob und inwieweit diese auf die Teilnahme am Patenprogramm zurückzuführen sind. [23]
Im Folgenden werde ich die Erhebungs- und Auswertungsmethode genauer betrachten und herausarbeiten, inwiefern diese Methoden für die Kulturforschung geeignet sind. [24]
3.1 Erhebungsmethode: Episodisches Interview
Für die Wahl eines Interviews mit möglichst hohen narrativen Anteilen spricht zunächst einmal die grundlegende Skepsis, inwieweit subjektive Erfahrungen in interkulturellen Fragestellungen in einem geschlossenen Frage-Antwort-Schema von Interviews erschlossen werden können. Ein solches Frage-Antwort-Schema würde vorrangig den (kulturellen) Vorannahmen der Interviewenden entsprechen und birgt somit die Gefahr sowohl einer normierenden Selektion der Informationen als auch einer ethnozentrischen Perspektivierung durch den/die Interviewer/in. [25]
Darüber hinaus ist für die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens die möglichst umfangreiche Generierung von Erzählungen notwendig. Diese bieten einen umfassenden Zugang zur Erfahrungswelt und insbesondere zum atheoretischen Wissen der Interviewpartner/innen, das für die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens essenziell ist. Eine längere Erzählung, wie sie z.B. beim narrativen Interview generiert wird, kann in einer Fremdsprache jedoch problematisch sein, da sie den Erzählfluss möglicherweise behindert. [26]
Episodische Interviews bieten den Forschenden zudem die Möglichkeit, diese i.d.R. kürzeren narrativen Passagen, in denen konkrete Situationen in ihrem jeweiligen Kontext dargestellt werden (Konstruktion von "narrativ-episodischem Wissen"), durch analytische Nachfragen (Konstruktion von "semantischem Wissen") zu ergänzen. Bei letzterer Wissensform geht es um verallgemeinerte Annahmen und Zusammenhänge, die von den konkreten Situationen abstrahiert und verallgemeinert wurden.2) Beide Teile des Interviews sollten systematisch aufeinander Bezug nehmen, um Übereinstimmungen festzustellen, aber auch mögliche Diskrepanzen aufzudecken (z.B. Gegenüberstellung von der Behauptung, "interkulturell kompetent" geworden zu sein, mit der Darstellung konkreter Situationen). Das episodische Interview ist offen für individuelle Relevanzsetzungen durch die Interviewten und damit eine geeignete Erhebungsmethode, um ein relativ neues Forschungsfeld (interkulturelle Begegnungsprogramme) zu sondieren und eine erste gegenstandsbezogene Theoriebildung zu ermöglichen, ohne in den kulturellen Vorannahmen des Interviewers/der Interviewerin gefangen zu bleiben. [27]
3.2 Analysewerkzeug: Dokumentarische Methode
Auch für das rekonstruktive Analysewerkzeug der dokumentarischen Methode (BOHNSACK 2003) gilt, dass diese offen für individuelle Relevanzsetzungen (durch die Interviewten) ist. Damit macht sie keine (kulturell determinierten) normierenden Vorgaben, wie dies z.B. in Hypothesen prüfenden Verfahren in Form von Kategorien, die an den Text herangetragen werden, geschehen kann. Mögliche latente Ethnozentrismen lassen sich zudem durch das in der dokumentarischen Methode zentrale Konzept des "Fallvergleichs" begrenzen. Dieser bezieht sich bereits auf einer sehr frühen Interpretationsstufe auf den fallinternen und den fallübergreifenden Vergleich sowie auf die Erfassung des Vergleichshorizontes der Interviewenden. Um dies zu verdeutlichen, sollen im Folgenden die grundlegenden Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode kurz skizziert werden, um das Element des Fallvergleichs dann anhand eines Beispiels zu erläutern. [28]
Konkret umfasst die Analyse mit der dokumentarischen Methode zunächst die formulierende Interpretation (bestehend aus Gliederung und detaillierter Paraphrase). Bei dieser fassen die Interpret/innen die Äußerungen der Beforschten in deren Worten zusammen ("Was" wird gesagt?). Nach BOHNSACK beginnt die formulierende Interpretation vor der Transkription. Der/die Forscher/in hört die Aufnahmen ab und trifft eine Auswahl über die relevanten Passagen, die transkribiert werden sollen. Dieses Vorgehen birgt jedoch insbesondere in interkulturellen Untersuchungssituationen die Gefahr der (kulturell geprägten) Relevanzsetzung durch die Interpret/innen. Um dem vorzubeugen, wurden in der vorliegenden Untersuchung die gesamten Aufnahmen transkribiert und in die Auswertung mit einbezogen. [29]
Im anschließenden Schritt der reflektierenden Interpretation geht es darum herauszuarbeiten, wie die angesprochenen Themen dargestellt werden. Dabei wird zunächst formal die Diskursorganisation analysiert: Es wird untersucht, ob es sich um eine Beschreibung, eine Argumentation oder eine Erzählung handelt und wie die Sprecher/innen aufeinander Bezug nehmen. Zentral für die reflektierende Interpretation ist zudem "die Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird, auf die Art und Weise, wie, d.h. mit Bezug auf (…) welchen Orientierungsrahmen das Thema behandelt wird" (BOHNSACK 2003, S.135, Hervorhebung im Original). Es wird dabei davon ausgegangen, dass sich Orientierungsrahmen in Passagen hoher erzählerischer und metaphorischer Dichte zeigen. SCHÄFFER (2003, S.77) schreibt dazu: "Metaphorisch sind diese Passagen deshalb, weil sie aktuelle Handlungs- und Orientierungsprobleme nicht explizit (wörtlich), sondern in der erzählerischen oder beschreibenden Darstellung von Szenerien, also bildhaft zum Ausdruck bringen." Hier kommt somit die bereits angesprochene Relevanz des narrativen Elementes im Interview zum Tragen. Darüber hinaus werden den sogenannten positiven Horizonten – wie sie die Interviewten entwerfen – potenzielle oder tatsächliche negative Gegenhorizonte gegenübergestellt. [30]
Wesentlich ist hier, dass bereits auf dieser zweiten Interpretationsstufe, der reflektierenden Interpretation, sowohl ein fallinterner als auch ein fallübergreifender Vergleich einsetzt. BOHNSACK (2003, S.38) bemerkt dazu: "Eine Reflexionsleistung, die empirisch-methodisch kontrolliert vollzogen werden soll, muss sich auf empirisch fundierte und nachvollziehbare Gegenhorizonte stützen." Der Fallvergleich ist für ihn damit Kernstück der dokumentarischen Methode. Die letztendliche Analyse und Rekonstruktion der Fälle kann nur im Vergleich mit anderen Fällen geschehen. Der Fallvergleich soll somit die Intersubjektivierung der Ergebnisse sicherstellen. Dabei müssen auch die Interpret/innen ihre eigenen Horizonte sichtbar machen. Geschieht dieser fallübergreifende Vergleich nicht, besteht die Gefahr, dass sie in ihrer eigenen Normalitätserwartungen gefangen bleiben und damit kulturelle Normen an die Daten herantragen, die diesen nicht gerecht werden. Bei richtiger Anwendung gewährleistet die Methode allerdings, dass genau diese Subsumtion der Daten unter die Deutungsmuster der Interpret/innen nicht stattfinden kann, da die Vergleichshorizonte durch andere Fälle konstruiert werden und damit immer potenziell über den Horizont der Interpret/innen hinausgehen. [31]
Erst nach dieser Phase schließt sich der folgende Schritt der Fallbeschreibung an. In der Fallbeschreibung werden die wesentlichen rekonstruierten Elemente zusammenfassend für eine Öffentlichkeit dargestellt: "Die Fallbeschreibung hat primär die Aufgabe der vermittelnden Darstellung, Zusammenfassung und Verdichtung der Ergebnisse im Zuge ihrer Veröffentlichung" (BOHNSACK 2003, S.139). In dieser Fallbeschreibung wird der fallinterne und -übergreifende Vergleich wieder aufgegriffen. Damit wird auch deutlich, dass die Fallbeschreibung keinesfalls auf einer deskriptiven Ebene bleibt, sondern durch die Zusammenfassung der Analyseergebnisse die Struktur des Falles darstellt. [32]
Beispiel:
Zur Illustration für einen fallübergreifenden Vergleich soll ein Beispiel aus der vorliegenden Untersuchung dargestellt werden, in der es um die von den mexikanischen Studierenden vorgenommene Einschätzung der Deutschen als "kalt" geht. In diesem Beispiel zeigt sich, wie verschiedene Proband/innen ausgehend von einem nahezu identischen Konzept, das sie nach Deutschland mitbrachten, ganz unterschiedliche Konzeptualisierungen der ihnen entgegengebrachten Haltungen und Einstellungen während ihres Auslandsaufenthaltes erzeugen. Diese unterschiedlichen Konzeptualisierungen – SPERBER (1996) würde hier von Überzeugungen sprechen – wurden im Laufe der Analyse durch sukzessiven Fallvergleich herausgearbeitet und illustrieren damit den Aspekt des Aufbaus von Gegenhorizonten bei BOHNSACK (2003). [33]
Die Studierenden äußern sich zu Beginn ihres Aufenthaltes übereinstimmend darüber, dass es ein mexikanisches Bild der Deutschen gebe, das diese im Wesentlichen als "kalt" bis hin zu "rassistisch" darstelle. In dieser die Fälle quer durchlaufenden Konzeptualisierung sind jedoch Unterschiede zu beobachten, die sich in der diachronen Entwicklung der Studierenden ebenfalls individuell ausdifferenzieren. Sowohl bei Sol3) als auch bei Juan sind Entwicklungsprozesse zu beobachten. Zwar handelt es sich im Sinne der KOKEMOHRschen (2007) Definition nicht um Bildungsprozesse, es können hier jedoch unterschiedliche Vorstufen bzw. Niveaustufen von Bildungsprozessen beobachtet werden. [34]
Juan löst das Konzept der kalten Deutschen dahingehend auf, dass er zum Ende seines Aufenthaltes unterscheidet zwischen körperlicher Freundlichkeit, wie sie in Mexiko z.B. in Form von Umarmungen zu finden ist, und Freundlichkeit, die sich zum Beispiel in Gesprächen, praktischen Unterstützungsangeboten und Versuchen von Kontaktaufnahmen ausdrückt. Letztere, die hier mit "verbaler Freundlichkeit" umschrieben werden soll, finde sich in Deutschland:
"my experience is that all the germans who that I have met they are really (…) friendly in the sense not like the mexican way or the american way that is physical contact when you are like oh hallo and handshake and all those stuff well they are in the way that ok I'm interested in you like I would like to have some coffee with you just to know you where are you from and what you do (…) also you have my home whenever you want to (…) come back to (…) germany or if I can help you in something or I if you need something oh I have one in my home I can borrow it to you or there they are friendly and they try to be connected with you" (2. Interview, Z.310-322). [35]
Auch unter Verwendung des neuen Konzepts begegnet Juan allerdings unfreundlichen Menschen. Sie bilden den negativen Gegenhorizont der "deutschen Autoritäten", wie sie sich z.B. in Zugschaffnern oder Polizisten verkörpern. Diese empfindet er als sehr unfreundlich und barsch. Auch wenn er sich somit nach wie vor auf der linearen Linie "freundlich – unfreundlich" bewegt (kein Bildungsprozess), hat für Juan daneben eine grundlegende Kategorienverschiebung stattgefunden (körperlich vs. anders ausgedrückte Freundlichkeit). Letzteres würde wiederum einem Bildungsprozess entsprechen. Es können daher die bei Juan zu beobachtenden Niveaustufen von Bildung in Bezug auf den Aspekt "Kälte / Wärme" folgendermaßen zusammengefasst werden: [36]
Zu Beginn seines Aufenthaltes ist das Erleben von Wärme, das er inhaltlich mit Herzlichkeit/Freundlichkeit füllt, ausschließlich an körperliche Freundlichkeit gebunden, d.h. er nimmt seine mexikanische Vorstellung von Freundlichkeit als Maßstab auch für Deutsche. Zum Ende seines Aufenthaltes hat er neue Kategorien für das Konzept "Freundlichkeit" entwickelt. Freundlichkeit" werde in Mexiko körperlich ausgedrückt, in Deutschland finde sie andere Ausdrucksformen (z.B. verbal). Er entwickelt somit Kultursensitivität. [37]
Manolo hingegen hebt die Nationenbindung auf. Auch er empfindet zwar die Deutschen als eher ruhig und zurückhaltend. In seiner Darstellung wird jedoch zum einen deutlich, dass er sich der Subjektivität seiner Wahrnehmung bewusst ist und diese nicht als universelle "Wahrheit" darstellt. Zum anderen weist er darauf hin, dass es überall auf der Welt "solche und solche" Menschen gebe: "I cannot make a brush about all the people" (2. Interview, Z.97). Damit ergibt sich hier eine zweite Möglichkeit, das Konzept der "kalten Deutschen" weiterzuentwickeln: Charaktereigenschaften sind nicht an Nationen gebunden. [38]
Während bei Juan eine Kategorienverschiebung von körperlicher zu verbaler Freundlichkeit stattgefunden hat, vollzieht sich bei Manolo die Verschiebung von "kalt / warm" hin zu "es gibt überall solche und solche Menschen". Auch dies kann nach KOKEMOHR (2007) und MAROTZKI (1990) als Bildungsprozess interpretiert werden. Verwendet man das Konzept der Entwicklungsaufgabe, so kann nur teilweise von einem Bildungsprozess gesprochen werden. Zwar vollzieht sich ein Kategorienwechsel, wodurch die Entwicklungsaufgabe "kulturelle Orientierung entwickeln" bearbeitet wird. Da dies Manolo nicht bewusst ist, fehlt das ebenfalls zum Konzept der Entwicklungsaufgabe gehörende Moment der Reflexivität (d.h. sich der Aufgabe bewusst sein). [39]
Sol hingegen erhält ihre ursprüngliche Konzeptualisierung fast vollständig aufrecht – wobei selbst bei ihr die Vorstellungen ins Fließen kommen. Für Sol sind und bleiben alle Deutschen "kalt" bzw. "vom Stil her kalt":
"ok german people are warm but they are in style cold (…) their style of being because the way they were brought up and so seems cold to me but in reality they're warm people (…) so I think germans are very nice but they're just brought up (…) a bit cold" (2. Interview, Z.909-918). [40]
Alle Deutschen, die sie kennenlernt und als freundlich und lustig erlebt, bezeichnet sie als "Ausnahmen". Allerdings deutet ihr Suchen, was eigentlich die "Kälte" ausmacht, darauf hin, dass sich hier u.U. ein Bildungsprozess anbahnt, da sie nicht mehr eindeutige Kategorien zur Verfügung hat. [41]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass keine/r der Studierenden das Konzept "kalt" / "warm" grundlegend in Frage stellt. Eine vollständig reflektierte interkulturelle Herangehensweise würde bedeuten, dieses Konzept zu hinterfragen bzw. sich zu verdeutlichen, was als "kalt" / "warm" empfunden wird. So könnten die Studierenden z.B. einen eher beschreibenden Ansatz wählen und anstelle der normativen Klassifizierung "kalt" eine deskriptive Charakterisierung wie z.B. "eher introvertiert" verwenden. Eine weitere und ebenfalls interkulturell reflektierte Möglichkeit wäre, die Klassifizierung "kalt" als relativ zur beobachtenden Person darzustellen. Dann könnten die Studierenden weiterhin von den Deutschen als "kalt" sprechen, sie würden aber jeweils hinzufügen, dass diese "Kälte" zunächst einmal ihre persönliche Empfindung sei und dass durchaus andere, von ihnen bislang noch nicht verstandene Mitteilungsformen existieren können, durch die "Wärme" ausgedrückt wird. [42]
3.3 Rolle des Patenprogramms für den Aspekt "Kälte der Deutschen"
Betrachtet man die Rolle des Patenprogramms für die Entwicklung der Studierenden in Bezug auf den Aspekt "Kälte der Deutschen", so zeigt sich eine große Bandbreite von Wirkungen. Ich möchte dies hier anhand der beiden in dieser Hinsicht als Eckfälle zu betrachtenden Studierenden Juan und Sol verdeutlichen. Das Patenprogramm hat für Sol keine zentrale Rolle gespielt. Zwar beschreibt sie die Patenfamilie als sehr herzlich, hilfsbereit und offen. Sie kategorisiert die Familie jedoch unter die Rubrik "Ausnahmen", unter die sie alle freundlichen Deutschen subsumiert. Bei ihren Bemühungen um eine inhaltliche Definition von "kalt" nimmt Sol eher auf ihre Kommiliton/innen Bezug, die z.B. nicht tanzen könnten. Lediglich jene Aspekte, die sie bei der Patenfamilie negativ bewertet – wie z.B. die Angst der Patenmutter um ihren Schlüssel oder deren in ihren Augen furchtbares Aussehen – führt sie auf deren "Deutschsein" zurück. Hier wird deutlich, wie hartnäckig sich Stereotype halten, insbesondere, wenn diese nicht klar definiert sind. Je unklarer die Kriterien – je mehr Deutungsspielraum sie lassen –, umso schwieriger ist auch eine Revision anhand von konkreten Erlebnissen in der Realität. [43]
Juan hatte hingegen die Kategorie einer körperlichen vs. einer "anderen Form" von Freundlichkeit eingeführt. Diese andere Freundlichkeit äußere sich u.a. darin, dass man viel miteinander rede und verbal in Kontakt trete oder sich helfe. Im Patenprogramm hatte er zahlreiche Gelegenheiten, ausführlich mit den Pateneltern zu sprechen. So bemerkt er: "we are just like talking talking talking talking talking talking (…)" (2. Interview, Z.724-726). Insbesondere die Wiederholungen deuten darauf hin, dass dieser Aspekt für ihn sehr wichtig ist. Die Familie habe ihm zudem angeboten, bei ihnen zu wohnen, wenn er wiederkomme. Damit erscheint es plausibel, dass ihm insbesondere das Patenprogramm die Möglichkeit gab, diese Konzeptualisierung zu entwickeln. Und auch in seinen weiteren Beschreibungen werden das Interesse der Familie an ihm und deren Sympathie für ihn deutlich (z.B. indem sie ihn zu gemeinsamen Ferien einlädt). Das Patenprogramm hat somit durch den intensiven verbalen Austausch und das Interessebekunden vonseiten der Familie starken Einfluss auf seinen hier dargestellten Lern- und Bildungsprozess genommen. [44]
Das Patenprogramm scheint somit in beiden Fällen einen positiven Gegenhorizont zum mitgebrachten Stereotyp zu liefern. Dies wird einmal als Ausnahme und einmal als auch für andere Deutsche gültiges Modell interpretiert. Damit ist das Patenprogramm in beiden Fällen bildungsrelevant. [45]
Als letzter Schritt der dokumentarischen Methode schließt sich dann die Typenbildung an, die eine systematische Verallgemeinerung der in den Einzelfällen gefundenen Charakteristika darstellt. Bei der sinngenetischen Typenbildung werden alle Fälle, die ein tertium comparationis mit demselben Orientierungsrahmen bearbeiten, zu einem Typ zusammengefasst. Bei der darauf aufbauenden soziogentischen Typenbildung geht es darum, "die sozialen Zusammenhänge aufzuklären, innerhalb derer die sinngenetisch entwickelten Typen des Phasenablaufs stehen" (NOHL 2006, S.112). Dazu werden Fälle gesucht, die im Hinblick auf Orientierungsrahmen zu mehreren Themen übereinstimmen. Die soziogenetische Interpretation bleibt damit nicht beim Vergleich eines Themas innerhalb zweier oder mehrerer Interviews stehen, sondern vergleicht verschiedene tertia comparationis innerhalb mehrerer Dokumente. Eine weitere soziogenetische Typenbildung der Erfahrungen im Patenprogramm könnte zeigen, welche Faktoren für die unterschiedlichen Interpretationen (Paten sind Ausnahme / Paten sind stellvertretend für andere Deutsche) verantwortlich sind. [46]
Kulturelle Orientierungen und interkulturelle Kompetenz sind ausgesprochen komplexe Phänomene, die im Wechselspiel von kollektiver Interaktion und individueller Sinnkonstruktion entstehen. Dies erfordert einen Forschungsansatz, der beide Anteile fassen und empirisch in den Blick nehmen kann. Die hier vorgestellte Kombination unterschiedlicher Theorien leistet genau dies. Die individuelle Seite wird mit Hilfe des erziehungswissenschaftlichen Konzepts "Bildung" erfasst. Dazu werden zwei Bezugstheorien, nämlich die Biografieforschung (MAROTZKI 1990) mit ihrer Vorstellung einer Änderung des Selbst- und Weltverhältnisses und die Bildungsgangforschung mit ihrem Konzept der Entwicklungsaufgabe (HERICKS 2006) herangezogen. Die kollektive Seite wird mithilfe eines anthropologischen epidemiologischen Kulturmodells (SPERBER 1996) verdeutlicht. Dabei tritt besonders der Aspekt der Weitergabe kultureller Orientierungen in den Vordergrund. [47]
Mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung kann der Blick auf Kultur und interkulturelle Kompetenz empirisch gefasst werden. Die Kombination aus episodischem Interview (FLICK 1999) und dokumentarischer Methode (BOHNSACK 2003) erlaubt es bei Längsschnittanlage der Untersuchung, die Entstehung kultureller Orientierungen zu rekonstruieren. Dazu werden die Konzepte "Orientierungsrahmen" und "konjunktiver Erfahrungsraum" verwendet, die sich an die einbezogenen bildungs- und kulturtheoretischen Modelle anschließen lassen. Die methodische Strenge des Ansatzes mit seinem konsequenten Fallvergleich ist dabei ein besonderer Pluspunkt, da sie die bei empirischen Untersuchungen zu Kultur immer gegebene Gefahr des Ethnozentrismus stark reduziert. Außerdem erlaubt sie den Interpret/innen, ihren eigenen begrenzten und kulturell geprägten Horizont zu überwinden. Die nur in minimalen Auszügen referierten empirischen Zwischenergebnisse der hier vorgestellten Studie zeigen bereits, dass die gewählte interdisziplinäre Kombination von Bildungs- und Kulturtheorie mit empirischer Sozialforschung außerordentlich fruchtbar ist. [48]
1) Bisherige Kommunikationsmodelle betrachten in der Regel lediglich die öffentlichen Repräsentationen (Sender – Botschaft – Empfänger) oder ziehen noch den Beziehungs- und Selbstoffenbarungs- und Appellaspekt hinzu (vgl. SCHULZ VON THUN 2001). <zurück>
2) Diese Fragen können sich auf subjektive Definitionen beziehen ("Was verbinden Sie mit dem Wort 'Familie''?"), sie können nach abstrakten Zusammenhängen fragen ("Wer sollte die Verantwortung übernehmen?") oder sich auf Phantasien hinsichtlich erwarteter oder befürchteter Veränderungen beziehen ("Welche Entwicklungen erwarten sie?"). <zurück>
3) Die Daten der Studierenden wurden anonymisiert. <zurück>
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Henrike EVERS, M.A. unterrichtet als freie Trainerin "Interkulturelle Kommunikation" und "Interkulturelles Management" und ist als "Beauftragte für Internationales" an der Universität Bremen tätig. Neben diesen Tätigkeiten forscht sie zu angrenzenden Themen im Bereich der Kultur und der interkulturellen Fragestellungen. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf ihrem Dissertationsprojekt "Bildung durch Interkulturelle Begegnung". Als Anglistin und Hispanistin hat sie in Spanien studiert und in Argentinien und den USA gearbeitet. In Deutschland war sie in verschiedenen internationalen Bereichen tätig, u.a. im internationalen Kulturmanagement und für die Bertelsmann Stiftung. Die hier gewonnenen praktischen Erfahrungen fließen ergänzend in ihre theoretische Arbeit ein.
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Henrike Evers
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E-Mail: henrike_evers@yahoo.com
Evers, Henrike (2009). Die dokumentarische Methode in interkulturellen Forschungsszenarien [48 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(1), Art. 47, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0901478.