Volume 10, No. 2, Art. 2 – Mai 2009

Schwankende Gestalten drücken die Schulbank. Subjektanalyse im Anschluss an Andreas Reckwitz

Johannes Twardella

Review Essay:

Andreas Reckwitz (2008). Subjekt. Bielefeld: transcript Verlag, 160 Seiten, ISBN 3-89942-570-7, EUR 15,80

Zusammenfassung: Der Kulturwissenschaftler Andreas RECKWITZ beschäftigt sich in seinem Buch mit dem Titel "Subjekt" dergestalt mit einer Reihe von strukturalistischen bzw. poststrukturalistischen Autor/innen, dass er ihre Werke als Beiträge zu einer Analyse des Subjekts in der Moderne interpretiert. In dem vorliegenden Aufsatz werden nun nicht nur diese Interpretationen in groben Zügen wiedergegeben, sondern es wird auch der Versuch unternommen, ihre die Empirie aufschließende "Kraft" zu "prüfen". In dem Bezug auf einen Ausschnitt aus dem Alltag der Schule, einer Unterrichtsstunde im Fach Deutsch, zeigt sich, wie diese unterschiedlichen "subjekttheoretischen Analysestrategien" zu jeweils anderen, interessanten und aufschlussreichen Interpretationen führen können. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass auf die Vorstellung von Subjektivität – und damit auch von Bildung und Mündigkeit – nicht verzichtet werden kann. Ohne diese Vorstellung wäre die pädagogische Praxis zynisch – und ihr Verständnis unmöglich.

Keywords: Subjektivität; Subjektanalyse; Strukturalismus; Unterrichtsforschung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zu FOUCAULT

3. Zu BOURDIEU

4. Zu LACLAU

5. Zu LACAN

6. Zu BUTLER

7. Zu LATOUR

8. Zu weiteren Autoren

8. Würdigung

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

"Schwankende Gestalten: Die Analyse von Subjekten im Zeitalter ihrer Dezentrierung" lautet die Überschrift zur Einleitung des neuen Buches von Andreas RECKWITZ mit dem kurzen und vielversprechenden Titel "Subjekt". Das Bild, welches RECKWITZ in dieser Überschrift verwendet, stammt aus dem "Faust". In seiner "Zueignung" schreibt GOETHE (1998, Bd. 3, S.9) zu Beginn des Dramas:

"Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,

Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt." [1]

Wer sind diese "schwankenden Gestalten"? Folgt man den literaturwissenschaftlichen Interpret/innen, meint GOETHE jene literarischen Figuren, die im Laufe des Dramas sich mehrfach verändern – z.B. den Protagonisten Faust selbst, der sich in der Szene "Hexenküche" verjüngt – und die sich der Autor immer wieder in Erinnerung rufen, also vor sein geistiges Auge führen musste, wenn er an ihnen – in einem sich über Jahrzehnte erstreckenden Schaffensprozess – arbeitete. Wie GOETHE sich über seinen Text neigte und versuchte, seine literarischen Figuren "festzuhalten", so können RECKWITZ zufolge Wissenschaftler/innen sich der gesamten "Kultur" zuwenden, um jene Figuren zu fixieren, welche in dieser Kultur (genauer gesagt, in der modernen Kultur) als "Subjekte" bezeichnet werden. Nicht nur Faust als literarische Figur, sondern alle, die sich in der Moderne als Subjekte sehen bzw. als solche wahrgenommen werden, sind, so lautet die grundlegende These von RECKWITZ, "schwankende Gestalten". Das Subjekt, genauer gesagt: die Vorstellung vom Subjekt, ist eine Konstruktion – genauso wie eine literarische Figur –; das Subjekt "an sich", als "Wesen", gibt es nicht, ist eine Illusion. [2]

Das Bild von den "schwankenden Gestalten" lässt sich jedoch auch noch auf eine andere Weise verstehen, denn RECKWITZ führt in seinem Buch nicht nur in die kulturwissenschaftliche Analyse von Subjektivität ein, sondern beschäftigt sich auch – und vor allem – mit einer Reihe von Wissenschaftler/innen, die er aus dem "Dunst und Nebel" der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wieder hervortreten lässt, und deren "Zauberhauch" den "Busen" jener Lesenden, welche in jenen Jahren bereits die Debatten in den Geisteswissenschaften verfolgten, "jugendlich erschüttern" lässt: Michel FOUCAULT, Pierre BOURDIEU, Jacques LACAN, Ernesto LACLAU, Judith BUTLER und viele andere. [3]

"Es war einmal ein Subjekt", so beginnt die "Erzählung", an die RECKWITZ die Lesenden erinnert, und dieses wurde von "Meisterdenkern" wie MARX, NIETZSCHE und FREUD destruiert. Heute, so endet diese Geschichte, können wir an das Subjekt nicht mehr glauben, aber wir können sehen und analysieren, wie es entstanden ist, wie es durch "Diskurse und Praktiken" konstruiert wurde und wie seine "Schatten" überall fortgeistern. Doch will uns RECKWITZ in seinem Buch nicht zeigen, wie man sich konkret, empirisch das Schattendasein des Subjekts vorstellen soll. Auch tritt er nicht an zu erklären, warum das Subjekt, obwohl es schon vor langer Zeit zu Grabe getragen wurde, immer noch quicklebendig zu sein scheint. Vielmehr ist es seine Absicht, in einem "Abriss über aktuelle subjekttheoretische Analysestrategien" (S.21) jene "schwankenden Gestalten" den Lesenden zu vergegenwärtigen, deren Subjektivität sich darin erwies, dem Subjekt scheinbar den letzten Stoß verabreicht zu haben. Diese Wissenschaftler/innen verbindet, sich dabei weitgehend identischer Mittel bedient zu haben, nämlich des Instrumentariums des Strukturalismus, wie es von DE SAUSSURE geschaffen wurde. [4]

Wie gelingt es RECKWITZ nun, diesen Gestalten wieder Leben einzuhauchen? Er lässt sie wieder aufleben, indem er – sehr systematisch und klar – ihr "Werk" auswertet als einen Beitrag zur Theorie und Methode der Subjektanalyse. Doch die Lebendigkeit von wissenschaftlichen Ansätzen erweist sich vor allem dann, wenn deutlich wird, wie sie dazu in der Lage sind, Wirklichkeit perspektivisch neu aufzuschließen und zu ihrem Verständnis beizutragen. Im Folgenden soll deswegen der Versuch unternommen werden, RECKWITZ' Vergegenwärtigung strukturalistischer bzw. poststrukturalistischer Autor/innen nicht nur – knapp und gebündelt – wiederzugeben, sondern sie auch dazu zu nutzen, ein "Stück Wirklichkeit" zu erschließen, genauer gesagt, einen Ausschnitt aus einer Wirklichkeit, die wir alle kennen, aus dem Alltag der Schule.1) Auf diese Weise wird nicht nur veranschaulicht, wie die theoretischen Überlegungen, welche RECKWITZ aus seiner systematischen Perspektive heraus referiert, verstanden werden können, werden nicht nur diese plausibilisiert, sondern es wird darüber hinaus auch deutlich, wo deren Grenzen liegen. [5]

2. Zu FOUCAULT

In den Arbeiten FOUCAULTs, die – so die These von RECKWITZ – als "Bausteine zu einem kulturwissenschaftlichen Projekt verstanden werden können, welches man als das einer 'Geschichte des Subjekts' umschreiben könnte" (S.24), finden sich vier für dieses Projekt zentrale Konzepte: 1. das des Diskurses, 2. das des Dispositivs, 3. dasjenige der Gouvernementalität und schließlich 4. das Konzept der "Technologien des Selbst". Diese Konzepte seien als Elemente eines "kulturwissenschaftlichen Entzauberungsprogramms" (S.25) zu verstehen, in dessen Rahmen Universalien "als historische Partikularien kleingearbeitet" (ebd.) werden und sich zeige, wie scheinbar natürliche Begebenheiten "Korrelate hochspezifischer alltäglicher 'Technologien' " (ebd.) sind. Mit Ausnahme des vierten lassen sich diese Konzepte allesamt an dem von mir ausgewählten Beispiel veranschaulichen. [6]

Ohne Frage ist die Schule eine Institution, in der Subjekte konstruiert werden. Darin liegt die Voraussetzung dafür, dass sie eine ihrer gesellschaftlichen Funktionen erfüllen kann, die der Verankerung des Leistungsprinzips in den Individuen.2) Dieses setzt voraus, dass Leistungen individuell zugeschrieben werden, dass es also ein Subjekt gibt, das für sie verantwortlich gemacht werden kann. [7]

Wie im Diskurs das Subjekt konstruiert wird, lässt sich an dem ausgewählten Beispiel der Unterrichtsstunde im Fach Deutsch schon in den ersten Zeilen beobachten. Die Stunde beginnt mit einer wechselseitigen Begrüßung zwischen der (weiblichen) Lehrperson und den Schülerinnen und Schülern3), die – von einigen Details, die hier vernachlässigt werden können, einmal abgesehen – als vollkommen normgerecht, ja, ritualisiert ablaufend bezeichnet werden kann: Auf das "Guten Morgen" der Lehrerin folgt das "Guten Morgen" der SuS – im Chor. Doch dann heißt es völlig unvermittelt:

Lw4): SmD, ich wills nicht hundertmal sagen. [8]

Ein Schüler wird unmittelbar adressiert, wird dadurch zu einem Subjekt gemacht, dass ihm eine Tat zugeschrieben wird, die er hätte unterlassen sollen. D.h. der Schüler SmD wird modelliert als ein Subjekt, das sich abweichend verhält, als ein "Delinquent", welcher sich eine Normverletzung hat zu Schulden kommen lassen – und dies, so wird implizit behauptet, nicht zum ersten Mal. Vielmehr ist er, so die Unterstellung, ein "Wiederholungstäter", und zwar ein solcher, der unbelehrbar zu sein scheint, genauer gesagt, der schon häufig auf sein Fehlverhalten hingewiesen worden ist und nun eine letzte Warnung erhält. Was er getan hat, lässt sich nicht erkennen – wie sich auch nicht sagen lässt, was geschehen wird, wenn er auf die Ermahnung der Lehrerin nicht hört. (Gerade dadurch, so scheint es, dass die Drohung abstrakt bleibt, der Schüler nicht weiß, was auf ihn zukommen könnte, entfaltet diese ihre disziplinierende Wirkung.) [9]

Was hat nun SmD getan? Was ist der Anlass für die Intervention der Lehrerin?

Dreh dich um und schau zu mir. [10]

Zu einem Dispositiv gehören, so erklärt RECKWITZ, auch "nicht-diskursive Praktiken" (S.29), und diese würden an den Körpern der Individuen ansetzen. Um die Körper, um deren Positionierung im Raum sowie um die Ordnung der Blicke scheint es in dem vorliegenden Beispiel zu gehen. Haben wir es also mit einem Dispositiv zu tun? Wenn dem so ist, wenn also die Ordnung, auf welcher die Unterrichtskommunikation prozediert, als Dispositiv bezeichnet werden kann, gehört zu diesem dann offensichtlich eine bestimmte Ausrichtung der Körper und der Blicke der Anwesenden. Das Ausscheren aus dieser Ordnung wird von der Lehrerin zu einer Tat gemacht, wird skandalisiert, und zwar um das Dispositiv zu bewahren. Denn durch den abgewandten Blick von SmD sah die Lehrerin das Dispositiv offensichtlich bedroht, ihre Intervention gilt seinem Erhalt. Die Macht, so könnte gesagt werden, liegt hier nicht nur einfach bei der Lehrerin (die diese den Anwesenden deutlich demonstriert), sondern in der Ordnung des Dispositivs. Sie ergreift von den Körpern Besitz, schreibt sich in diese ein und sichert – als "Konstellation von 'Kräfteverhältnissen' " (S.31) – auch die Macht der Lehrerin. Schon in einem abirrenden Blick, seinem unkonzentrierten Abschweifen sieht die Lehrerin eine Subversion, eine Nichtanerkennung der Macht und eine Gefährdung für die Ordnung des Dispositivs (und damit auch der eigenen Macht), der sie energisch entgegentritt.

Sonst setz ich dich wieder hier her (zeigt auf leeren Stuhl) [11]

Innerhalb des Dispositivs besitzt die Lehrerin eine Macht, die sich auch auf die Körper der SuS erstreckt: Sie kann darüber entscheiden, an welcher Stelle im Raum sich diese befinden. Warum aber kann sie mit der Ausübung dieser Macht drohen? Für den Schüler SmD besteht eine Gefahr, weil durch die Strafe der Lehrerin seine Ohnmacht vor den Augen aller Anwesenden offensichtlich würde. Der leere Stuhl wird so zum Symbol für die Schande, die Schmach, die mit der Versetzung dorthin für ihn verbunden wäre (und die SmD offensichtlich bereits mindestens ein Mal erlitten hat). [12]

Die Drohung der Lehrerin ist an SmD gerichtet, wahrgenommen wird sie jedoch nicht nur von ihm, sondern von allen anwesenden SuS. Was im Paradigma der "Techniken der Klassenführung" schlicht als "Welleneffekt" bezeichnet wird5), erweist sich aus Foucaultscher Perspektive als Technik der Macht: Der leere Stuhl ist eine Mahnung nicht nur an SmD, sondern an alle SuS, das Dispositiv der Macht nicht infrage zu stellen. [13]

In einer totalen Institution bleibt den Individuen letztlich nichts anderes übrig, als sich der Macht zu unterwerfen. Doch ist die Schule eine solche? Die SuS können sich der Macht der Lehrerin doch widersetzen, können protestieren, sich weigern zu gehorchen, können zumindest Einspruch einlegen oder sich in irgendeiner Weise subversiv verhalten, um ihr Gesicht und ihre Würde zu bewahren. Geschieht das?

SmD: (nickt zustimmend) [14]

Das Konzept der Gouvernementalität besagt, so RECKWITZ, dass das Subjekt nicht mehr "nur" Objekt der "Regierung" durch einen anderen bzw. ein anderes ist, sondern selbst zum Subjekt seiner "Regierung" wird, meint eine "Steuerung von als sich selbst steuernd angenommenen Entitäten" (S.34). Zu einer solchen Einheit wird der Schüler hier. In seinem körperlich bekundeten Einverständnis in die Macht, in die Ordnung des Dispositivs macht sich das Subjekt zum Steuerungsobjekt seiner selbst. Fortan wird SmD sich selbst gefügig in Regie nehmen und sich gemäß den inkorporierten Strukturen verhalten. [15]

Es ist durchaus plausibel, die drei bzw. vier Konzepte von FOUCAULT als "subjekttheoretische Analysestrategien" zu begreifen bzw. aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse zu rekonstruieren. Im Hinblick auf das ausgewählte Beispiel machen sie deutlich, dass Erziehung hier nicht als eine solche stattfindet, die auf die Mündigkeit der SuS ausgerichtet ist, sondern sich in bloßer Disziplinierung erschöpft. [16]

3. Zu BOURDIEU

Auch die Soziologie von BOURDIEU sei, so RECKWITZ, durch eine klare Distanzierung von einem emphatischen Subjektbegriff geprägt. An dessen Stelle trete bei diesem der Begriff des "Habitus". Dieser Begriff sei gemeinsam mit demjenigen des "Feldes" und dem der "Klasse" das Werkzeug, mit dem BOURDIEU in seinen materialen Analysen arbeite. Dies erklärt RECKWITZ, indem er nicht nur den Begriff des Habitus erläutert, sondern diesen auch in einen Zusammenhang mit der "kultursoziologischen Transformation der Klassentheorie" (S.46) (die bei BOURDIEU zur Unterscheidung verschiedener Kapitalsorten führt), der Lebensstilanalyse und der Feldanalyse stellt. [17]

Unterricht lässt sich ohne Frage im Anschluss an BOURDIEU als ein "soziales Feld" interpretieren, auf dem sich verschiedene "Akteursgruppen" begegnen, die nach bestimmten "Spielregeln" miteinander interagieren. Vor allem sind es zwei "Akteursgruppen", die hier aktiv sind: die Lehrer und Lehrerinnen auf der einen Seite, die SuS auf der anderen (die sich ihrerseits in verschiedene Gruppen einteilen lassen). Die Spielregeln sind wesentlich durch die Asymmetrie im Verhältnis zwischen den beiden Hauptakteursgruppen bestimmt. Doch diese Regeln darf man sich nicht, so lässt sich mit BOURDIEU sagen, als statisch, als feststehend vorstellen, vielmehr sind sie als Produkte eines Kampfes zu verstehen (und entsprechend in ständiger Bewegung). In diesem Kampf haben die Akteursgruppen unterschiedliches "Kapital": Der Lehrer bzw. die Lehrerin hat das Monopol auf die Verteilung des Rederechts, auf die Festlegung des Inhalts, der Methoden und der Ziele des Unterrichts sowie auf die Evaluation der Beiträge der SuS.6) Das "Kapital" der SuS scheint demgegenüber nur sehr schwach zu sein. [18]

In dem ausgewählten Beispiel geht es – das hat die Analyse einer ersten Szene aus der Perspektive von FOUCAULT bereits gezeigt – auch um Macht, findet ein Kampf um Macht statt. Und nicht nur dieser kleine Ausschnitt, sondern auch andere Passagen des Transkripts können aus dieser Perspektive interpretiert werden. Und in der Prozedierung der Interaktions- sowie der Machtstrukturen bilden sich "Habitusformationen" heraus, die sozialen Strukturen schreiben sich in die Körper und in das Denken der Akteure ein und werden auf diese Weise zu generativen Strukturen, zu "'Erzeugungsprinzipien'" (S.41) (welche an die soziale Position der Akteure gebunden sind und vermittelt über diese analytisch erfasst werden können). Dies lässt sich bei dem vorliegenden Beispiel vor allem mit Bezug auf die Lehrerin nachweisen, insofern deren Verhalten über die gesamte Stunde hinweg dokumentiert ist. Ihren zahlreichen Äußerungen scheint tatsächlich ein identisches Muster zugrunde zu liegen, ein bestimmter "modus operandi". Dieser besteht in einer Annahme über das "Wesen" der SuS, die sich als "pädagogischer Pessimismus" bezeichnen lässt7) und die nicht explizit gemacht wird, sondern unbewusst – eben als Bestandteil des Habitus – wie ein "Erzeugungsprinzip" wirkt. Dieser pädagogische Pessimismus zeigte sich bereits in der ersten disziplinierenden Maßnahme der Lehrerin, wird aber auch an vielen anderen Stellen im Unterricht deutlich, z.B. wenn die Lehrerin, nachdem sie das Thema des Unterrichts in Erinnerung gerufen hat, fragt:

Lw: (...) Was ist ein Gedicht? SmB [19]

Als (ein anderes) Element des Habitus, so ließe sich sagen, äußert sich in dieser Frage (sowie in anderen Elementen des Unterrichts wie z.B. der Erinnerung an das Thema) ein Ablaufschema: Die Lehrerin knüpft mit ihrer Frage an Vergangenes an, beginnt die "Schüleraktivierung" mit einer Wiederholung. Dabei setzt sie voraus, dass die SuS dazu in der Lage sind, ihre Frage zu beantworten – konkret setzt sie dies bei SmB voraus. Sie ist, so könnte angenommen werden, zumindest an dieser Stelle (noch) optimistisch im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der SuS.

SmB: Das sind Kurztexte. [20]

Der Optimismus der Lehrerin erhält jedoch sofort einen Dämpfer: Die Antwort ist nicht völlig falsch – in vielen Fällen sind Gedichte kurze Texte –, aber eine treffende Definition hat SmB nicht gegeben. Doch statt nun diese Definition zu korrigieren bzw. sie verbessern zu lassen, übergeht die Lehrerin sie einfach und leitet zu dem eigentlichen Stundenthema über: Es soll speziell um Limericks gehen. Warum macht sie das? Verschiedene Gründe sind dafür denkbar: Sie fürchtet, dass eine Klärung zu viel Zeit in Anspruch nehmen könnte; ein Eingehen auf diese Frage ist in ihrem Konzept nicht vorgesehen etc. Fragt man jedoch nach einer zugrunde liegenden Struktur, die nicht nur diese, sondern auch andere Reaktionen der Lehrerin "generiert", so lässt sich sagen, dass sowohl die disziplinierende Intervention als auch die ausbleibende Antwort auf SmB (und damit auch die ausbleibende Klärung der Frage nach der Definition für Gedichte) auf eine tieferliegende Annahme über "den Schüler" zurückgeführt werden kann, die wie ein Erzeugungsprinzip wirkt: die Annahme über das defizitäre Wesen "des Schülers". Der Schüler, so wie er sich real manifestiert, ist "der Andere" des wohlerzogenen, wissenden und verstehenden Schülers, ist ein potenziell deviantes, tendenziell überfordertes und unwissendes Wesen. Die Frage nach einer Definition von Gedichten war zu viel für ihn – es scheint deswegen der Lehrerin zufolge besser zu sein, die Antwort des Schülers zu übergehen. Der Habitus äußert sich hier also in der Evaluation von Differenzen – und in der Folge auch in der Strategie der Lehrerin in Bezug auf die Didaktik der Stunde. Auch diese ist geprägt durch ihren pädagogischen Pessimismus.8) [21]

Indem RECKWITZ den Habitusbegriff ins Zentrum seiner Auseinandersetzung mit BOURDIEU stellt, macht er plausibel, dass dessen Arbeiten aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse rekonstruiert werden können. Der Bezug auf das Beispiel hat deutlich werden lassen, welche Rolle dieser Begriff im Rahmen der Analyse eines bestimmten sozialen Feldes spielen kann. Es zeigt sich hier eine Didaktik, die nicht sokratisch verfährt, sondern sich auf bloße Instruktion nach dem Modell des "Nürnberger Trichters" beschränkt. [22]

4. Zu LACLAU

Die Arbeiten von LACLAU interpretiert RECKWITZ als auf der Verbindung der marxistischen Hegemonialtheorie (von GRAMSCI) und der Derridaschen Dekonstruktion beruhend. Erstere führe dazu, dass Subjektpositionen als Gegenstände von "Konflikten um Hegemonien" (S.69) gesehen werden, aus letzterer habe LACLAU eine "kulturtheoretische Begrifflichkeit" entwickelt, welche "die systematische Selbstdestabilisierung kultureller Gebilde" (S.69) zu thematisieren vermag. [23]

Mit LACLAU lässt sich die Unterrichtskommunikation in dem ausgewählten Beispiel ohne Frage auch als ein "hegemonialer Diskurs" bestimmen. Die Stabilität der Hegemonie, welche die Lehrerin zu wahren versucht, beruht, so ließe sich mit LACLAU behaupten, darauf, dass der Diskurs, so wie er geführt wird, sich als alternativlos darzustellen vermag. Auf der anderen Seite beruht sie auf der Ausgrenzung eines "Anderen", der Distanzierung von einem Außen – was aber gleichzeitig, so LACLAU, zur Auflösung der Hegemonie beiträgt. Dass Hegemonien gleichzeitig "treibende Kraft der Stabilisierung und Destabilisierung" (S.71) sind, lässt sich an dem Beispiel (nicht also mit Bezug auf eine Gesellschaftsordnung, aber mit Bezug auf die Ordnung des Unterrichts) durchaus zeigen. Darüber hinaus wirkt auch die "Überdetermination" destabilisierend. Diese resultiere daraus, dass eine Subjektposition in verschiedenen Diskursen mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen wird. Eine solche Überdetermination innerhalb des einen Diskurses (und nicht mehrerer) kann in Bezug auf das vorliegende Beispiel darin gesehen werden, dass die "Subjektposition" "Schüler" in mehrfacher Weise von der Lehrerin bestimmt wird: "Der Schüler" ist zum einen Objekt der Erziehung. Auf dieser Ebene wird – dies hat die kleine Szene oben gezeigt – davon ausgegangen, dass er potenziell deviant ist. Das "Andere" im Schüler, sein "unerzogenes Wesen", wurde durch eine starke disziplinierende Intervention ausgegrenzt. Die Hegemonie der Lehrerin stabilisierte sich, so wurde gesagt, über den sogenannten "Welleneffekt" (sowie über die Macht des "Dispositivs", die Ordnung des Unterrichts). Zum anderen ist der Schüler ein Objekt der Belehrung, das sich Wissen anzueignen und zu reproduzieren hat. Auf dieser Ebene wird auch etwas ausgegrenzt, die Hegemonie dadurch stabilisiert, dass ein Anderes außen vor bleibt. Dieses Andere ist aber nicht ein vermeintliches "Wesen des Schülers", sondern sind komplizierte Sachverhalte, schwierige Fragen und Zusammenhänge – wie etwa die Frage, ob Gedichte richtig dadurch definiert sind, dass sie als "Kurztexte" bezeichnet werden. (Zahlreiche andere Beispiele ließen sich nennen wie etwa die Transformation anspruchsvoller Fragen in solche, auf die die SuS nur mit "ja" oder "nein" antworten können.) [24]

Die Hegemonie bricht jedoch an dem Punkt zusammen, an dem die SuS darüber hinaus als Subjekte von Bildungsprozessen begriffen (mit BUTLER könnte man sagen, als Bildungssubjekte "angerufen") werden. Nachdem sie nämlich im Schnellverfahren darüber informiert wurden, was ein Limerick ist, werden sie dazu aufgefordert, selbst Limericks zu verfassen – mit der Unterstellung, potenzielle Poet/innen zu sein, die nur minimale Kenntnisse benötigen, um sofort kreativ werden zu können. Dem verweigern die SuS sich, und der hegemoniale Diskurs bricht zusammen – zumindest vorübergehend. Erst dadurch, dass eine Schülerin den Arbeitsauftrag konkretisiert und die Produktion von Limericks zur Formulierung von Beziehungsbotschaften verwendet, bietet sich für die Lehrerin die Möglichkeit, die Hegemonie wieder zurückzugewinnen. Die SuS (zumindest einige) fertigen tatsächlich Limericks an (wie es die Lehrerin von ihnen verlangt hat). Die Ergebnisse sind jedoch für die Lehrerin schockierend (siehe dazu weiter unten im nachfolgenden Abschnitt). [25]

Auch wenn die Überlegungen von LACLAU zum Teil nur schwer nachvollziehbar sind, so erweisen sie sich doch aus der Perspektive, aus der RECKWITZ sie rekonstruiert, als konsequent: Auch die Destabilisierung von Strukturen lässt sich ohne die Vorstellung von einem Subjekt im emphatischen Sinne erklären. Doch an dem Beispiel wurde deutlich, dass hier die Grenzen der Kritik an der Vorstellung des Subjekts liegen: In der Praxis kommt der Anspruch an eine Subjektivität auf, die sich eigenständig entfaltet, und zwar in dem Sinne, dass bei den SuS Bildungsprozesse freigesetzt werden (sollen). Ohne die Vorstellung davon, dass diese Möglichkeit auch wirklich werden könnte, wäre der Unterricht zynisch. Sowohl für die pädagogische Praxis als auch für deren Verständnis ist also die Vorstellung von dem autonomen Subjekt konstitutiv. [26]

5. Zu LACAN

Die Arbeiten von LACAN enthalten laut RECKWITZ eine "kulturtheoretisch weiterentwickelte psychoanalytische Theorie des Subjekts" (S.52). Sie beruhen, so der Autor, auf zwei Grundannahmen: Erstens gehe LACAN davon aus, dass das Subjekt sowohl "kulturell konstituiert", als auch (mit FREUD) eine "Instanz des Begehrens" (S.52) sei. Und zweitens sei für LACAN die Konstellation von dem Subjekt auf der einen und der kulturellen Ordnung auf der anderen Seite stets instabil, da nicht nur alle Befriedigungsversuche letztlich zum Scheitern verurteilt seien – der Versuch, dieses Scheitern zu überwinden, sei die Quelle für die Dynamik der Kultur –, sondern es existiere auch ein primordialer "Mangel" im Subjekt, der nicht zu beseitigen sei. [27]

In dem ausgewählten Unterricht, in dem das Begehren der SuS permanent unterdrückt, als "das Andere" ausgegrenzt wird, damit der Unterrichtsdiskurs reibungslos funktioniert, bricht sich das Begehren der SuS in dem Moment Bahn, in dem sie aufgefordert werden, selbst Limericks zu produzieren. Nun ist dem Begehren plötzlich ein Raum eröffnet, in dem es nur noch dadurch gelenkt und in eine Ordnung gebracht wird, dass einige wenige formale Vorgaben für die Produktion von Limericks bestehen (und natürlich durch das Zeichensystem der Sprache). Auf der Ebene des Imaginären, die die SuS mit ihren Limericks betreten, kommt es freilich keineswegs zu einer Befriedigung des Begehrens, vielmehr zu einer Projektion des Subjekts, die die Subjektkonstruktion der Lehrerin – der Schüler als ein unerzogenes und ungebildetes Wesen – aufgreift und lustvoll bestätigt.9) Die SuS bleiben somit in der Subjektkonstruktion der Lehrerin befangen, bestätigen sie spiegelbildlich. [28]

Insofern auch für LACAN das Subjekt nicht "Herr im eigenen Haus" ist, bewährt sich auch an seinem Werk der systematische Zugriff von RECKWITZ. Und im Hinblick auf das Beispiel stellt sich die Frage, ob die Produkte der SuS den "pädagogischen Pessimismus" der Lehrerin bestätigen oder sie nicht vielmehr als Ausdruck dafür zu interpretieren sind, dass die Subjektkonstruktion der Lehrerin sich prägend auf die SuS ausgewirkt hat, die so tatsächlich zu jenen Subjekten geworden sind, als die sie vorgestellt wurden. [29]

6. Zu BUTLER

Auch BUTLER gehe es, so RECKWITZ, um eine "Reformulierung der philosophischen wie wissenschaftlichen Perspektive auf das Subjekt" (S.81). Das Subjekt werde BUTLER zufolge allerdings nicht nur diskursiv konstruiert, sondern sei auch ständig "'at work'" in einer "performativen Selbstarbeit und Selbstpräsentation" (S.82). Besonderes Augenmerk lege BUTLER in diesem Zusammenhang auf die "Vergeschlechtlichung" (ebd.) des Subjekts bzw. die Geschlechterordnung, welche auf drei Ebenen bestehe: der des kulturellen Geschlechts (gender), der des natürlichen, körperlichen Geschlechts (sex) und der der Orientierung des sexuellen Begehrens (desire). Zwei Fragen seien für BUTLER von besonderer Bedeutung: 1. Wie lässt sich erklären, dass die Subjektivierung akzeptiert, ja, angenommen wird? (Auf zwei Ansätze zur Beantwortung dieser Frage geht RECKWITZ ein: Zum einen auf die "Interpellationen", in denen Individuen als Subjekte angerufen werden und sich sodann diesem Ruf leidenschaftlich unterwerfen. Zum anderen auf die "melancholische Identifizierung", S.94.) 2. Die Frage nach den "Mechanismen kultureller Destabilisierung von Subjektidentitäten" (S.82). [30]

Im Hinblick auf das ausgewählte Beispiel ist auffällig, dass die Lehrerin auf die SuS unterschiedlich reagiert: Während der Schüler SmD zu Beginn des Unterrichts scharf diszipliniert wurde, obwohl er nur seinen Blick nicht auf die Lehrerin gerichtet hatte, reagiert die Lehrerin auf die Verspätung einer Schülerin äußerst permissiv. Genauer gesagt, reagiert sie erst überhaupt nicht (sondern nur ein Schüler), dann sagt sie:

Lw: (...) SwH, es ist o.k., wenn du zu spät kommst, aber wir müssen jetzt nicht ... [31]

Obwohl die Schülerin SwH nicht nur zu spät gekommen ist, sondern nun auch noch etwas tut, was der Lehrerin "nicht passt", reagiert diese überhaupt nicht disziplinierend, sondern interpretiert die Tätigkeit der Schülerin als etwas, das im Prinzip alle hätten machen können. Die Schülerin SwH wird auf diese Weise unmittelbar integriert in die Gemeinschaft derer, die bestimmte schulische Pflichten befolgen. Sie wird konstruiert bzw. modelliert als eine pflichtbewusste, womöglich sogar übereifrige Schülerin. Nur der Zeitpunkt für ihre Tätigkeit sei nicht der richtige. Entsprechend antwortet sie auch auf eine Erwiderung von SwH:

Lw: Ja, du hast das Blatt vor dir liegen, mehr ist noch nicht. [32]

SwH zählt offensichtlich nicht zu jenen Individuen, die als "schwierige" Subjekte "in Schach gehalten" werden müssen, sondern ihr wird wie selbstverständlich Konformität unterstellt. Dass dies mit ihrem Geschlecht zusammenhängt, ist anzunehmen. Das körperliche Geschlecht (sex) wird so zur Basis für die Annahme eines anderen Verhaltens, ist also verbunden mit einer spezifischen Subjektkonstruktion. [33]

In dieser "Interpellationsszene", in der SwH angerufen wird als ein konformes bzw. übereifriges Subjekt, wäre es unsinnig für diese Schülerin, sich nicht dieser Anrufung zu "unterwerfen" bzw. sich mit ihr zu identifizieren. Ob dies jedoch "melancholisch" geschieht, sei dahingestellt. [34]

Obwohl man meinen könnte, die Idee der systematischen Rekonstruktion vor dem Hintergrund der Frage nach dem Subjekt sei ausgereizt, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit BUTLER, dass sie auch im Hinblick auf diese Autorin trägt – und zu neuen Aspekten führt. Dies wurde auch in Bezug auf das Beispiel deutlich. [35]

7. Zu LATOUR

Die Arbeiten von LATOUR führt RECKWITZ auf zwei Entwicklungen bzw. die Einsicht in diese zurück: Zum einen sei die Moderne durch "eine historisch beispiellose Explosion von Artefakten" (S.114) gekennzeichnet. Zum anderen werde dies aber nicht hinreichend in der Reflexion über die Gesellschaft berücksichtigt, sondern diese werde vielmehr als eine "entmaterialisierte" (S.115) verstanden. Das Ergebnis sei eine "Purifizierung des Gesellschaftlich-Kulturellen vom Natürlich-Technischen", sei ein Denken, das alles in "zwei ontologische 'Kammern' " (ebd.) aufteile. [36]

Wird bei der Analyse der sozialen Praxis "Unterricht" von der Artefakt-Theorie LATOURs ausgegangen, darf nicht der Fehler eines "Zwei-Kammer-Denkens" gemacht werden. Unter diesem versteht LATOUR – wie gesagt – die Separierung von Kultur, Gesellschaft auf der einen Seite, Materiellem und Technischem auf der anderen Seite. Der Unterricht müsste ihm zufolge als eine "Konstellation der 'Interobjektivität' " (S.117) begriffen werden, als eine soziale Ordnung, für die konstitutiv ist, dass nicht nur Subjekte, sondern auch Objekte an ihr partizipieren. Welche Objekte, welche Artefakte sind es, die zum Unterricht gehören? Natürlich der Klassenraum, Tische, Stühle, die Tafel etc. Wichtig ist nun, wie diese Objekte zu sehen sind: Gemäß LATOURs "symmetrischer Anthropologie" seien diese als "gleichberechtigte Elemente eines übergreifenden ontischen 'Netzes' " (S.118) zu sehen. Das bedeutet, dass etwa ein Stück Kreide, mit dem ein Schüler oder eine Schülerin etwas an die Tafel schreiben soll, in die Analyse dieser Tätigkeit mit einbezogen werden muss. Die Kreide ist dann nicht einfach ein Gegenstand mit einer materialen Qualität, vielmehr ist sie gleichzeitig ein kulturelles Objekt mit einer bestimmten Bedeutung, ist ein "Mischwesen von Kulturellem und Materiellem" (S.118) und wird deswegen auch als "Hybrid" bezeichnet.10) Worin nun die "hybride Struktur" der Kreide besteht, ist jedoch schwer zu sagen. Leichter fällt dies mit Bezug auf die Tafel, deren Bedeutung ja darin liegt, dass alles, was auf ihr während des Unterrichts festgehalten wird, autorisiertes – und gegebenenfalls für die nächste Klassenarbeit zu lernendes – Unterrichtsergebnis ist. [37]

Inwiefern die Arbeiten von LATOUR noch als Beitrag zur Theorie und Methode der Subjektanalyse verstanden werden können, geht aus den Ausführungen von RECKWITZ nicht wirklich hervor. Doch setzen sie dazu in die Lage, eine weitere interessante Perspektive auf das ausgewählte Beispiel zu werfen. [38]

8. Zu weiteren Autoren

Es sind noch einige andere Autor/innen, auf die RECKWITZ in seinem Buch eingeht – die jedoch hier nicht angesprochen werden, da sie für die Interpretation des ausgewählten empirischen Beispiels keine weiteren interessanten Perspektiven bieten (z.B. Autor/innen der "post-colonial studies" wie Edward W. SAID, Homi K. BHABA und Gayatri CHAKRAVORTY SPIVAK). Allenfalls ließe sich darüber nachdenken, ob Unterricht auch aus einer neoliberalistischen Perspektive (auf die RECKWITZ en passant zu sprechen kommt) als "Markt" angesehen werden kann: Lehrer und Lehrerinnen bieten Unterricht an, SuS sind die "Nachfrager", die dieses "Angebot" nutzen – oder auch nicht. (Eine entsprechende Modellierung findet sich bei Andreas HELMKE.11)) Doch Angebot und Nachfrage tauchen im Unterricht auch anders auf: So kann auch die Leistung der SuS als ein Angebot gesehen werden – das gleichzeitig mit einer Nachfrage verbunden ist: der Nachfrage nach guten Noten. Deswegen besteht für die SuS die Möglichkeit, ihr Handeln zu ökonomisieren und – zumindest vorübergehend – eine Identität zu entwickeln, die auf einem ökonomischen Kalkül basiert. [39]

Im Hinblick auf das vorliegende Beispiel ist interessant, dass sich an einer Stelle der "Tauschcharakter" der Interaktion zwischen der Lehrerin und den SuS tatsächlich verselbstständigt. Angesichts dessen, dass die SuS auf eine triviale Frage der Lehrerin – die diese noch mit der Bemerkung kommentiert: "Ich muss jetzt nix sagen, o.k.?" (Lw), als ob es eine große Leistung sei, die Frage richtig zu beantworten – die passende Antwort geben, entsteht der Eindruck, "das Geschäft laufe blendend". Beide "Geschäftspartner" sind zufrieden – angesichts dessen, worum es geht, wirkt diese Situation allerdings "gespenstisch". [40]

8. Würdigung

Die Idee von RECKWITZ, die Arbeiten verschiedener Autor/innen des Strukturalismus bzw. des Poststrukturalismus unter der Fragestellung zu rekonstruieren, inwiefern sie einen Beitrag zur Theorie und Methode der Subjektanalyse leisten, ist tragfähig und plausibel – und von RECKWITZ auf überzeugende Weise umgesetzt. Dies sowie die Systematik der Ausführungen, die Klarheit und Präzision der Sprache machen "Subjekt" zu einem sehr lesenswerten Buch. Und durch den Bezug auf das empirische Beispiel aus dem Bereich "Schule" wurde deutlich gemacht, dass die von RECKWITZ behandelten Autor/innen unter dem "Dach" einer "kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse" dazu genutzt werden können, um unterschiedliche theoretisch inspirierte Perspektiven auf die "Wirklichkeit des Unterrichts" zu werfen und so zu interessanten, überraschenden Interpretationen zu gelangen. Doch welches Fazit ist am Ende daraus zu ziehen: Sollten die verschiedenen Ergebnisse als gleichberechtigt angesehen werden? Ist es geboten, sie nebeneinander stehen zu lassen? Ist es beliebig, von welcher Theorie ausgegangen wird? Oder sollten die verschiedenen theoretischen Ansätze vielleicht miteinander kombiniert werden? Letzteres scheint RECKWITZ zu präferieren: Die unterschiedlichen Ansätze können seiner Meinung nach alle gleichermaßen für die kulturwissenschaftliche Analyse von Subjektivität genutzt werden. [41]

So plausibel diese Antwort auch ist, vor dem Hintergrund der Anwendung der verschiedenen theoretischen Perspektiven auf das Beispiel aus dem Feld "Schule" sind jedoch einige Punkte zu ergänzen: Zum einen stellt sich die Frage, ob nicht der Eindruck der Beliebigkeit, ja, des Spielerischen, der durch den Wechsel der Perspektiven entsteht, schwinden würde, wenn die Regeln der Interpretationsmethode strenger angewendet und die theoretischen Prämissen weiter geklärt würden. Zum anderen ist zu fragen, ob es nicht notwendig ist, die theoretische Modellierung genauer auf das Feld abzustimmen, welches jeweils Gegenstand der Analyse sein soll. Bezogen auf den konkreten Fall heißt das: Ist es plausibel über Kommunikationsprozesse im pädagogischen Feld zu sprechen, ohne dieses als ein pädagogisches hinreichend theoretisch modelliert zu haben? Und ist nicht eine theoretische Modellierung mithilfe pädagogischer Begriffe notwendig? Wie eine solche – speziell von Unterricht – aussehen könnte, hat Andreas GRUSCHKA (2005) zu zeigen versucht. Der von ihm gewiesenen Richtung wäre weiter zu folgen, wenn es um die Analyse speziell von Unterricht geht. Dann würde sich wohl zeigen, dass in der pädagogischen Praxis immer wieder der Anspruch an Erziehung und an Bildung emergiert, sodass weder die Analyse von Unterricht noch die Praxis des Unterrichtens selbst ohne die Vorstellung von Subjektivität und von der Autonomie des Subjekts, seiner Mündigkeit auskommt. Eine pädagogische Praxis, die sich nicht an diesen Ansprüchen messen ließe, wäre zynisch. [42]

Danksagung

Mein Dank gilt Dieter WEIßBACH, Bettina MAYER und Katharina HELLMANN.

Anmerkungen

1) Als Beispiel wird dafür eine Unterrichtsstunde im Fach Deutsch herangezogen, die in der Jahrgangsstufe 10 an einer deutschen Hauptschule stattfand. Das Transkript von dieser Stunde ist unter folgender Internetadresse einsehbar: http://www.apaek.uni-frankfurt.de/show.php?docid=13. Ich habe zu diesem Transkript bereits eine ausführliche Interpretation vorgelegt (siehe TWARDELLA 2008). Gesprächen mit Dieter WEIßBACH verdanke ich die Idee, die bereits analysierte Stunde noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. <zurück>

2) Siehe DREEBEN (1980) und WERNET (2003). <zurück>

3) Die Schülerinnen und Schüler werden im Folgenden mit "SuS" abgekürzt. <zurück>

4) "Lw" steht für "Lehrer weiblich", "SmD" ist die Abkürzung für einen männlichen Schüler ("SwH" wäre diejenige für eine Schülerin). <zurück>

5) Siehe KOUNIN (1976). <zurück>

6) Siehe STEINER (2008). <zurück>

7) Siehe hierzu meine Studie (TWARDELLA 2008), in deren Titel diese Formulierung aufgenommen wurde. <zurück>

8) Siehe dazu die Analyse in meinem oben erwähnten Werk. <zurück>

9) Die SuS produzieren Limericks mit z.B. obszönem Inhalt. <zurück>

10) Das Scheitern des Schülers/der Schülerin an der Tafel ist jedoch nicht auf die hybride Struktur des von ihm verwendeten Utensils zurückzuführen, sondern hat andere Ursachen – und manchmal auch dramatische Folgen (siehe HENRY 1975). <zurück>

11) Siehe HELMKE (2003). <zurück>

Literatur

Dreeben, Robert (1980). Was wir in der Schule lernen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Goethe, Johann Wolfgang (1998). Faust. Eine Tragödie. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München: dtv. [Orig. 1808 bzw. 1832]

Gruschka, Andreas (2005). Auf dem Weg zu einer Theorie des Unterrichtens. Die widersprüchliche Einheit von Erziehung, Didaktik und Bildung in der allgemeinbildenden Schule. Frankfurt/M.: Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Helmke, Andreas (2003). Unterrichtsqualität erfassen, bewerten, verbessern. Seelze: Klett & Kallmeyer.

Henry, Jules (1975). Lernziel Entfremdung. Analyse von Unterrichtsszenen in Grundschulen. In Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Der heimliche Lehrplan. Untersuchungen zum Schulunterricht (S.35-51). Weinheim Basel: Beltz.

Kounin, Jacob S. (1976). Techniken der Klassenführung. Bern: Huber.

Steiner, Astrid (2008). Unterrichtskommunikation. Eine linguistische Untersuchung der Gesprächsorganisation und des Dialektgebrauchs in Gymnasien der Deutschschweiz. Tübingen: Narr.

Twardella, Johannes (2008). Pädagogischer Pessimismus. Eine Fallstudie zu einem Syndrom der Unterrichtskultur an deutschen Schulen. Frankfurt/M.: Humanities Online.

Wernet, Andreas (2003). Pädagogische Permissivität. Schulische Sozialisation und pädagogisches Handeln jenseits der Professionalisierungsfrage. Opladen: Leske + Budrich.

Zum Autor

Dr. Johannes TWARDELLA ist promovierter Soziologe und zurzeit Mitarbeiter am Institut für die Pädagogik der Sekundarstufe am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Kontakt:

Dr. Johannes Twardella

Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für die Pädagogik der Sekundarstufe
Goethe-Universität
Senckenberganlage 15
D-60054 Frankfurt am Main

Tel.: 069/798/22431

E-Mail: jtwardella@yahoo.de
URL: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/twardella.html

Zitation

Twardella, Johannes (2009). Schwankende Gestalten drücken die Schulbank. Subjektanalyse im Anschluss an Andreas Reckwitz. Review Essay: Andreas Reckwitz (2008). Subjekt [42 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(2), Art. 2, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs090222.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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