Volume 10, No. 3, Art. 18 – September 2009

Zum Fremdverstehen im Integrationskonflikt. Fallstudie zu einer Auseinandersetzung zwischen Alteingesessenen und freikirchlichen Zuwanderer/innen

Ulrich Reitemeier

Zusammenfassung: In antagonistischen Konstellationen zwischen Angehörigen der Aufnahmegesellschaft und Zuwanderer/innen besteht eine starke Tendenz zur Fokussierung dessen, was als das sozial oder kulturell Trennende angesehen wird, Differenzorientierung aber lässt Prozesse des Fremdverstehens prekär werden. Diese Studie untersucht am Beispiel eines Konfliktes zwischen freikirchlichen Spätaussiedler/innen und der schon länger ansässigen Bevölkerung, wie gruppenbezogene Differenzorientierung in interpretativen Verarbeitungen von Sinnsetzungen der jeweils anderen entfaltet wird. Zwischen diesen beiden Gruppen hat eine Auseinandersetzung stattgefunden, die sich an der Pflicht zur Teilnahme an Klassenfahrten entzündete, für die aber auch fundamentalere Differenzen ausschlaggebend waren. Das empirische Material, in dem diese Auseinandersetzung dokumentiert ist, besteht aus Leserbriefen. Die sequenzielle Geordnetheit eines Teils dieser Leserbriefe macht es möglich, nach den darin realisierten interpretativen Verarbeitungen der von den jeweils anderen ausgehenden Sinnsetzungen zu fragen. Gezeigt wird, wie vorgängige Sinnsetzungen der jeweils anderen zur Ausarbeitung eigener Positionen (in pädagogischen, religiösen und integrationspolitischen Fragen) aufgegriffen werden. In verstehenstheoretischer Untersuchungsperspektive wird ferner der Frage nachgegangen, wie ausgeprägte Orientierungen an kultureller Differenz und antagonistischen Positionen auf Prozesse des Fremdverstehens durchschlagen. Unterschieden werden drei interpretative Bearbeitungsmuster, die sich durch unterschiedliche Grade von Verstehensbereitschaft auszeichnen.

Keywords: Fremdverstehen; kulturelle Differenz; fundamentalistische Christen; interpretative Soziologie; Wissenssoziologie; ethnografische Interaktionsanalyse; Leserbriefe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Genese und Kontextbedingungen des Integrationskonflikts

3. Konzeptuelle und methodische Überlegungen zur Untersuchung von Fremdverstehen anhand einer Leserbriefdebatte

3.1 Gruppenbezogenes Fremdverstehen und die Aktualisierung des Konfliktkontexts per Leserbrief

3.2 Die verstehenstheoretische Analyseperspektive und ihr Erkenntnispotenzial bei der Untersuchung von Integrationskonflikten

3.3 Die Leserbriefe als Ausarbeitungen von Diskurspositionen

3.4 Erzeugungsbedingungen von Verwirklichungssinn beim Verfassen von Leserbriefen und das darauf zugeschnittene methodische Vorgehen

4. Analytische Beobachtungen zur Leserbriefdebatte – die Verarbeitung vorgängiger Sinnsetzungen und die Ausarbeitung eigener Positionen

4.1 Der Leserbrief des Sprechers der mennonitischen Elterninitiative

4.2 Wie Vertreter/innen der Mehrheitsgesellschaft auf die Interessensverfolgung der freikirchlichen Gemeinschaft und auf den Leserbrief des Elternsprechers reagieren

4.3 Die Diskurspositionen im Überblick

5. Konfliktkommunikation und Beschränkungen des Fremdverstehens

5.1 Zustimmungsverweigerung

5.2 Verantwortungszuschreibung

5.3 Bekundung von Durchsetzungsabsichten

6. Schlussbemerkungen

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Im Verstehen der Mitmenschen hat die Herstellung einer gemeinsamen Welt ihre Grundlagen. Dies gelingt in dem Maße auf fraglose Weise, wie Orientierungswissen und Gemeinschaftssymbole mit anderen geteilt werden. Diffiziler wird Fremdverstehen, wenn die Gegenüber kulturell Fremde sind und auch dann, wenn sie von vornherein als Gegner/innen angesehen werden. In solchen Situationen wird der Mangel an Gemeinsamkeiten selbst zum Gegenstand von Verstehensleistungen und Interpretationsprozessen. Dies ist eine grundlegende Veränderungsbedingung des Fremdverstehens, wie es Alfred SCHÜTZ (1975) für die Kommunikation unter "kulturell Gleichen" konzipiert hat. Ein Fundament geteilter Symbole und gemeinsamer kultureller Anschauungen ist dann, wenn überhaupt, nur rudimentär gegeben, der kommunikative Austausch ist erschwert, Intersubjektivität ganz elementar gefährdet. Diese Grundproblematik des Fremdverstehens tritt insbesondere im Zusammenleben unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften1) auf. Für das Verständnis der dabei auftretenden Spannungen und der sich möglicherweise entwickelnden Konfliktdynamiken kommt es nicht nur darauf an, die jeweiligen Identitäts- und Sinnquellen zu beachten, die für die beteiligten kulturellen Gemeinschaften auf dem Spiel stehen, sondern auch darauf zu erkennen, wie die jeweiligen Identitäts- und Sinnquellen in Prozesse des Fremdverstehens eingehen. Diesen Untersuchungsinteressen gehe ich hier am Beispiel eines Integrationskonflikts nach, der sich zwischen einer Gruppe freikirchlicher Spätaussiedler/innen und Teilen der Mehrheitsgesellschaft2) abgespielt hat. [1]

Auf ganz basaler Ebene erfolgt Fremdverstehen in Wahrnehmungs-, Definitions- und Zuschreibungsprozessen der jeweils anderen.3) Folgenreicher – und für das Wirklichkeitserleben der Betroffenen bestimmender – sind Politiken der Beziehungsregulierung und der Einsozialisierung, die in institutionellen Handlungszusammenhängen praktiziert werden. Es sind vor allem institutionelle Kontexte, in denen Brüche im Verstehen der jeweils fremden Wissensbestände und Verhaltensweisen zutage treten, und es sind vor allem institutionelle Handlungsfelder, in denen die jeweils eigenen kulturellen Bindungen entfaltet, eigene kollektive Überzeugungen und Werte vertreten und die darin gründenden eigenkulturellen Interessen artikuliert werden. Wie das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen gezeigt hat, sind Schulen ein Ort, für den es besonders wichtig ist zu definieren, wie Identitätsressourcen von Zugewanderten "hier" bzw. "bei uns" zu verstehen sind. Die hier vorgestellte Fallstudie befasst sich mit einem Integrationskonflikt, der sich ebenfalls an einer schulpädagogischen Grundsatzfrage entzündet hat: der obligatorischen Teilnahme an Klassenfahrten. In der Auseinandersetzung über diese Thematik wurden, wie auch beim Kopftuchstreit, tiefer gehende Differenzen zwischen der Gruppe von Zuwanderer/innen, die sich zu einer Elterninitiative "Gegen den Zwang zur Teilnahme an Klassenfahrten mit Übernachtungen" zusammengeschlossen hatten, und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ausgetragen. Die Leserbriefseiten verschiedener Tageszeitungen waren in diesem Integrationskonflikt eine wichtige Auseinandersetzungsarena – beide Gruppierungen kommunizierten u.a. in diesem Medium ihre Auffassungen zu pädagogischen und sittlich-moralischen Fragen, vertraten ihre jeweiligen eigenkulturellen Interessen, machten dabei deutlich, wie sie Verhaltens- und Kulturmuster der jeweils anderen verstanden und wie sie sich dazu stellten. [2]

Die Debatte über Klassenfahrten fand 2001 im Raum Ostwestfalen statt. Das mir vorliegende empirische Material über diese Auseinandersetzung besteht aus 24 Leserbriefen, die in verschiedenen Tageszeitungen regionaler Verbreitung veröffentlicht wurden,4) sowie aus zwölf redaktionellen Berichten über Ziele und Aktionen der Elterninitiative und über den sozialen Unfrieden, der damit aufkam. Zum einen enthalten die Leserbriefe Bezüge auf bereits von "Gegnern"5) veröffentlichte Leserbriefe, zum anderen enthalten sie aber auch solche Sinnsetzungen, bei denen keine Rückbindung an Entäußerungen mit klarer personaler oder auktorialer Urheberschaft erkennbar ist. Die Sachverhalte und Sinnstrukturen, die dabei relevant sind, haben etwas damit zu tun, dass von der jeweils anderen Kollektivität Identitäts- und Sinnzumutungen ausgehen. So sehen sich die freikirchlichen Spätaussiedler/innen einem massiven Anpassungs- und Integrationsdruck ausgesetzt. Auf der anderen Seite sehen sich die Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft einer gruppenspezifischen ("fundamentalistischen") Interessensverfolgung ausgesetzt, die sie als Bedrohung der bestehenden kulturellen Ordnung empfinden. Ich werte in dieser Fallstudie eine Kollektion der in diesem Zusammenhang verfassten Leserbriefe aus. Einem Leserbrief, der von einem Mitglied der Elterninitiative geschrieben worden ist, kam die Funktion eines initialen kommunikativen Aktes zu, denn er löste eine größere Zahl von Leserbriefreaktionen unter Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft aus. Dies erlaubt es, die Beiträge der Leserbriefdebatte als Züge in einem sequenziell geordneten Kommunikationsereignis zu betrachten und verstehenstheoretische Untersuchungsinteressen6) daran zu verfolgen. [3]

In Kommunikationszusammenhängen hat der interpretative Umgang mit Differenz eine epistemische Komponente (der Differenztatbestand wird als solcher erfasst und fokussiert) und er hat eine sozialregulative Komponente (das Differente wird in seiner Relevanz für die bestehende Sozialbeziehung definiert). Mit diesen nur analytisch unterscheidbaren Komponenten befasse ich mich, indem ich am Beispiel der Klassenfahrtendebatte die interpretative Verarbeitung von Differenz als einen Vorgang des Enaktierens und Geltendmachens eigener kultureller Überzeugungen, Anschauungen und Interessen in Reaktion auf Sinnsetzungen kulturell Anderer untersuche. Mit dem Konzept der Diskursposition (siehe Abschnitt 3.3) versuche ich dabei, sowohl das Hervorgehen eigeninitiativer Sinnsetzungen aus vorgängigen fremden "Sinnzumutungen" als auch den je besonderen sozialregulativen Zuschnitt der eigenen Sinnsetzung zu fassen. In Anlehnung an Konzepte zur Analyse von Konfliktkommunikation versuche ich für den hier behandelten Konfliktfall ferner zu zeigen, wie in den interpretativen Verarbeitungen fremder Sinnsetzungen nachlassende Verstehensbereitschaft zum Tragen kommt. Hier greife ich auf eine Studie zurück, in der kommunikative Formen des Ausagierens mangelnder Sinnübereinstimmung und differenter Standpunkte hinsichtlich ihrer Implikationen für Verstehensprozesse untersucht wurden (vgl. MESSMER 2003). [4]

Ich gehe von folgender These aus: dadurch, dass im Integrationskonflikt Differenzmerkmale interpretationsrelevant werden, werden Prozesse des Fremdverstehens blockiert. Ziel dieser Fallstudie ist es zu zeigen, wie sich Fremdverstehen in den Relevanzstrukturen und mit den Sinnressourcen der daran beteiligten Parteien gestaltet und mit welchen Implikationen für die Gruppenfiguration dies geschieht. Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst auf die Hintergründe des hier behandelten Integrationskonflikts eingehen (Abschnitt 2). Anschließend stelle ich konzeptuelle Überlegungen zur Untersuchung von Prozessen des Fremdverstehens anhand von Beiträgen zu einer Leserbriefdebatte an und erläutere das methodische Vorgehen der Materialauswertung (Abschnitt 3). Analytische Beobachtungen am Textmaterial arbeiten für beide Kollektivitäten heraus, wie sie sich typischerweise zu den Sinnsetzungen und Sinnzumutungen der jeweils anderen positionieren (Abschnitt 4). In Abschnitt 5 erläutere ich dann allgemeine Bearbeitungsmuster von Differenz in den Relevanzsystemen und gehe darauf ein, wie diese in dem hier behandelten Integrationskonflikt zum Tragen kommen. [5]

2. Genese und Kontextbedingungen des Integrationskonflikts

Der Integrationskonflikt, um den es in der Leserbriefdebatte geht, ist in einer dörflich-kleinstädtisch strukturierten Region angesiedelt. Der konkrete Anlass für die Auseinandersetzungen – die Pflicht zur Teilnahme an Klassenfahrten mit Übernachtung – tangiert allerdings gesetzliche Regelungen von bundesweiter Geltung (elterliches Erziehungsrecht). Und der Konflikt hat nicht bloß etwas mit dem Zuwanderer/innenstatus der Spätaussiedler/innen (bzw. mit der Konstellation "Neuankömmlinge und Alteingesessene") zu tun, sondern auch mit ihrer Glaubenstradition und mit ihren religiösen Anschauungen, die den Zusammenschluss in freikirchlichen Gemeinden motivieren.7) Wie noch genauer zu zeigen ist, trägt der hier behandelte Integrationskonflikt zugleich Züge eines Sachkonflikts, eines Beziehungskonflikts und eines Machtkonflikts8) – nicht nur der erzieherische Wert von Klassenfahrten ist umstritten, es geht auch darum, ob Angehörige der Mehrheitsgesellschaft und Mitglieder der Gruppe freikirchlicher Spätaussiedler/innen einander akzeptieren können und darum, welche Seite ihre Interessen gegenüber der anderen durchzusetzen vermag. [6]

Es würde den Rahmen dieser Studie sprengen und es würde auch anderes Datenmaterial erforderlich machen, sollte die Parteienkonstellation und die Ablaufgeschichte des Konfliktes in ethnografischer Perspektive erschöpfend dargestellt werden. Ich skizziere daher hier nur grob die mit der Zuwanderung russlanddeutscher Spätaussiedler/innen entstehende ortsgesellschaftliche Ausgangslage und sich daran anschließende Aktivitäten zur Bewältigung der Nachaussiedlungssituation. Es kommt mir dabei darauf an, in groben Zügen nachzuzeichnen, wie aus Aktivitäten zur Bewältigung von Migrationsfolgen Reaktionen hervorgegangen sind, die weitere Gegenreaktionen ausgelöst haben, sodass das Integrationsgeschehen in zunehmenden Maße konfliktär geworden ist. [7]

Zur Ausgangssituation: Zugewandert sind Spätaussiedler/innen aus Russland mit mennonitischem Glaubensbekenntnis (siehe weiter unten). Sie sind in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gekommen und sind bestrebt, gemäß ihren christlichen Überzeugungen auch in der Region, in der sie angesiedelt wurden, zu leben. Dazu gehört für sie, den Einfluss staatlicher bzw. weltlicher Sozialisationsinstanzen auf die eigenen Nachkommen möglichst gering zu halten. Dieses Bestreben ist so dominant, dass von den mennonitischen Eltern Maßnahmen ergriffen werden, aus denen dann ein konfliktärer Prozess mit folgenden Verlaufsmerkmalen resultiert:

Die Differenzproblematik zwischen der regionalen Mehrheitsgesellschaft und der Gruppe von Zuwanderer/innen hat sehr viel mit der religiös geprägten Lebensweise der Mennonit/innen zu tun. Letztlich ist die Geschichte dieser ethno-konfessionellen Gemeinschaft12) eine ganz wesentliche Kontextbedingung der Auseinandersetzung, um die es hier geht. Ich kann dies hier nicht mit religions- und migrationsgeschichtlichem Tiefgang darstellen13), halte es aber für das Verständnis der Debatte in den Leserbriefen und auch für das Verständnis der Bezüge, die zwischen den jeweiligen Debattenbeiträgen bestehen, für hilfreich, Grundzüge des weltanschaulichen Standorts dieser Glaubensgemeinschaft vorauszuschicken. [9]

Als eine Gruppierung der im 16. Jahrhundert aufkommenden Täuferbewegung ist für die Mennonit/innen14) nur die Erwachsenentaufe die "wahre" biblische Taufe. Ihrem Verständnis nach hat die "Bibel als konkret gesprochenes Wort Gottes (...) oberste Autorität" (MÜLLER, 1992, S.293). Weitere Charakteristika des Mennonitentums sind neben der Verweigerung jeglichen Militärdienstes die "Autonomie der einzelnen Gemeinde, ein allgemeines Laienpriestertum, eine strenge Gemeindezucht mit Bann, die Vermeidung von Eidleistungen, die Auffassung der Ehe als heilige Ordnung Gottes zum Zwecke der fruchtbaren Vermehrung und ein weitgehender Verzicht auf Mission nach außen" (RUTTMANN, 1996, S.29). Wegen der Ablehnung des Militärdienstes gerieten die Mennonit/innen in preußischen Herrschaftsgebieten unter Druck; da ihnen in Russland die Befreiung vom Wehrdienst zugesichert wurde,15) wanderten sie dorthin aus und lebten dort zumeist in großer Abgeschiedenheit in kleineren Gemeinden. Auf die einsetzenden Binnendifferenzierungen der Glaubensgemeinschaft und auf die Wanderungsbewegung nach Nordamerika, die infolge von Notzeiten und Repressalien im Russland des 19. Jahrhunderts aufkamen16), möchte ich hier ebenso wenig eingehen wie auf die Entwicklungsunterschiede zu den in Deutschland verbliebenen bzw. länger ansässigen Mennonit/innen.17) [10]

Bezüglich der sozialen Organisation mennonitischen Gemeindelebens sind drei Prinzipien hervorzuheben. Erstens ist dies die schon erwähnte "Gemeindezucht", ein System sozialer Kontrolle, das auf den Lebenswandel jedes und jeder einzelnen gerichtet ist und das auf eine glaubens- bzw. bibelkonforme Lebensweise zielt. Mit den patriarchalischen Strukturen in mennonitischen Familien greift dieses Kontrollsystem nicht nur auf der Gemeindeebene, sondern bereits im Familienverband. Zweitens ist das Bestreben nach Absonderung von der übrigen Gesellschaft hervorzuheben. Es zielt darauf, die enge Bindung an die Symbolwelt der mennonitischen Gemeinde zu festigen und die noch nicht Getauften vor Einflüssen zu schützen, die dieses Identitätsfundament ins Wanken geraten lassen könnten. MÜLLER (1992) spricht in diesem Zusammenhang von einer "Praxis der Identitätsbildung durch Abgrenzung", die historisch fundiert sei in einer "Wagenburg-Mentalität" (S.340). Drittens ist die Schaffung eigener Bildungsinstitutionen hervorzuheben, mit denen nachwachsende Generationen vor externen Einflüssen geschützt, an mennonitische Tugenden wie Liebe, Gehorsam und Fleiß herangeführt und im Geiste der Bibel erzogen werden sollen ( S.335). [11]

3. Konzeptuelle und methodische Überlegungen zur Untersuchung von Fremdverstehen anhand einer Leserbriefdebatte

3.1 Gruppenbezogenes Fremdverstehen und die Aktualisierung des Konfliktkontexts per Leserbrief

In den sozialphänomenologischen Arbeiten von Alfred SCHÜTZ ist Fremdverstehen konzipiert worden als ein Vorgang der Perspektiveneinnahme und der Perspektivenangleichung. In Interaktionssituationen werden Beteiligte dadurch in die Lage versetzt, ihr jeweiliges Handeln an geteilten Wissensbeständen orientieren und Intersubjektivität herstellen zu können. SCHÜTZ (1975) betont in seiner Theorie des Fremdverstehens allerdings auch, dass Differenzen in den Perspektiven verschiedener Akteure bestehen und dass diese prinzipiell nicht aufhebbar sind, Fremdverstehen somit immer nur approximativ möglich ist.18) Das Problem der Konstitution von Intersubjektivität kann jedoch dadurch bewältigt werden, dass die Differenzen in den jeweiligen Relevanzsystemen weitgehend unbeachtet bleiben. Dies gelingt auf der Grundlage der Annahme von Ähnlichkeiten im Orientierungswissen und in den Interaktionsstandpunkten.19) [12]

Solange die wechselseitigen Unterstellungen im Einklang sind, werden sie nicht weiter beachtet oder thematisch. Bewähren sich stillschweigende Ähnlichkeitsannahmen und Typisierungen aber nicht, wie im Falle starker Fremdheit und Gegnerschaft, geraten die jeweiligen Relevanzsysteme20) der Akteure in den Aufmerksamkeitsfokus: Der Mangel an gemeinsamen Wissensbeständen und Sichtweisen wird zu einem Problem, das selbst zum Gegenstand von Interpretationen wird.21) Wo die Ähnlichkeitsannahme ausbleibt, wird die Herstellung von Intersubjektivität zu einer Frage der Gewichtung von Differenzen in den Relevanzsystemen. [13]

Inwiefern aber lässt sich eine theoretische Perspektive, die auf die Intersubjektivitätsproblematik in der Face-to-face-Kommunikation ausgerichtet ist, auf einen medial vermittelten Diskurs anwenden? Fremdverstehen ist stets orientiert am Äußerungsverhalten eines oder auch mehrerer Interaktionsgegenüber. In der hier behandelten Leserbriefdebatte nehmen zwar viele Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft namentlich Bezug auf einen Leserbriefschreiber aus der ethno-konfessionellen Gemeinschaft; dieser wird aber in seiner Eigenschaft als Elternsprecher adressiert, und in dieser Eigenschaft hat er für seine Wir-Gemeinschaft Stellung bezogen. So, wie der Elternsprecher als Repräsentant seiner Wir-Gemeinschaft agiert und von Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird, so bezieht auch dieser sich in seinem Leserbrief auf Akteure, die eine von ihm als fremd bzw. gegnerisch angesehene Kollektivität repräsentieren (siehe auch Abschnitt 4.1). Das dieser Studie zugrunde liegende Datenmaterial eröffnet also vornehmlich Einblicke in Prozesse gruppenbezogenen, weniger in die des interpersonalen Fremdverstehens. Bei Prozessen des Fremdverstehens, die an Gruppenmerkmalen und Kollektivzugehörigkeit orientiert sind, spielt Wissen um die gemeinsame Geschichte und um geteilte Symbole bzw. das Nichtvorhandensein solcher Gemeinsamkeiten eine entscheidende Rolle (vgl. STRAUSS 1974, S.161-191). Diese Studie macht es sich daher auch zur Aufgabe zu zeigen, welche Aspekte der Geschichte und der Symbolwelt der Kollektivitäten, die in die Klassenfahrten-Debatte involviert sind, jeweils auf dem Spiele stehen. [14]

In der Leserbriefdebatte werden Stellungnahmen zum Sinn von Klassenfahrten, zu erzieherischen Leitvorstellungen, zum Umgang mit christlichen Lehren, zum Charakter der Gesellschaft der Bundesrepublik, zu der jeweils anderen Kollektivität sowie zur eigenen und zur gegnerischen Art und Weise der Interessensverfolgung abgegeben. Gemeinsam ist den jeweiligen Beiträgen, dass sie als Reaktionen auf vorausgegangene Entäußerungen der jeweils anderen deklariert sind. Dies geht insbesondere aus Einleitungsformulierungen wie den folgenden hervor: Viele Leser haben sich in der vergangenen Woche zu diesem Thema geäußert. Hier wird auf einen kommunikativen Kontext Bezug genommen, der durch vorgängige "Beiträge" von Leser/innen zu einem bestimmten Thema etabliert worden ist; mit viele Leser sind hier Leserbriefschreiber/innen gemeint, die sich gegen die Elterninitiative ausgesprochen haben. Diese einleitende Formulierung ist dem Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers entnommen. In den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft finden sich entsprechende Bezüge auf vorgängige Entäußerungen aus den Reihen der mennonitischen Elterninitiative, zum Beispiel: Ich teile die Sorgen der Eltern hinsichtlich mehrtägiger Klassenfahrten und sehe auch die Versuchungen und Gefahren, denen die Kinder ausgesetzt sind (Lb 2); gemeint sind hier mennonitische Eltern, die ihre Kinder nicht an Klassenfahrten teilnehmen lassen wollen. [15]

Solche Kontextualisierungen in der Einleitung der Leserbriefe nehmen Bezug auf vorgängig publik gemachte Stellungnahmen aus dem jeweils anderen Lager. In ethnomethodologischer Perspektive kann dieses Stellung nehmen per Leserbrief betrachtet werden als ein Vorgang, bei dem ein Akteur vorgängige Sinnsetzungen aufgreift, die ein anderer Akteur produziert hat. Vorgängige Sinnsetzungen werden dabei verwendet als Kontextbedingung für die eigene Sinnsetzung bzw. das eigene sich Äußern per Leserbrief. Dem Äußerungsverhalten in der Face-to-face-Kommunikation vergleichbar weisen die Beiträge zur Leserbriefdebatte also sowohl Kontext bestätigende als auch Kontext erneuernde Implikationen auf.22) Dieses Erzeugen neuer Kontextbedingungen auf der Basis vorgängig hergestellter Kontextbedingungen sei kurz anhand zweier Eröffnungspassagen demonstriert. Das erste Beispiel ist dem schon zitierten Leserbrief des Sprechers der Elterninitiative entnommen:

Viele Leser haben sich in der vergangenen Woche zu diesem Thema geäußert. Zuallererst sollten doch bitte alle zur Kenntnis nehmen, daß die Elterninitiative "Gegen Zwang bei Klassenfahrten mit Übernachtungen" ein berechtigtes demokratisches Anliegen ist.23) [16]

Der vorgängige Kontext, auf den sich der Sprecher der Elterninitiative bezieht und den er als eine für ihn relevante Orientierungsgröße bestätigt, besteht aus "Äußerungen" vieler Leser/innen (gemeint sind hier Leserbriefe, die in der Tageszeitung erschienen sind, in der sich auch der Autor zu Wort meldete). Das Thema, dem diese Äußerungen galten, setzt der Autor als ein bekanntes oder anderweitig bereits erwähntes voraus. Auf diese Kontextbedingung bezieht er sich in dem zweiten Satz als eine Art Ausgangsbedingung für nun Folgendes: Aus seiner Formulierung geht hervor, dass in den Äußerungen, die die "vielen Leser" beigesteuert haben, etwas nicht berücksichtigt worden sei, und dass es sich dabei um etwas handele, von dem alle, die sich äußern oder damit befassen24), als oberste Prämisse auszugehen hätten. Dieser zweite Satz der Einleitung konstatiert eine Nichtbeachtung oder Vernachlässigung dieser Prämisse; damit ist im Hinblick auf den Bezugskontext (viele Leser, die sich zu einem Thema geäußert haben), ein Desiderat bzw. ein Unterlassungshandeln benannt. Die neue Kontextbedingung, die der Elternsprecher hier einführt, ist die, dass er seine Adressat/innen dazu auffordert, etwas zur Kenntnis zu nehmen, was sie bisher nicht zur Kenntnis genommen haben. Eine solche Aufforderung ist allerdings auch als Vorhalt, dies wissentlich unterlassen zu haben, verstehbar. [17]

Das zweite Beispiel betrifft die Erzeugung neuer Kontextbedingungen in einem Leserbrief aus der Mehrheitsgesellschaft:

Eine schallende Ohrfeige haben sehr, sehr viele Eltern morgens bekommen, als sie den Bericht: "Hier wird eine Gruppe diskriminiert" in der NAME DER ZEITUNG gelesen haben. Es kommt einem ja vor, als hätten die Eltern (darunter auch meine Frau und ich) ihre Kinder bisher absolut falsch erzogen! (Lb 4) [18]

Beschrieben wird hier zunächst einmal ein Kontext, in dem ein Zeitungsbericht25) für große Verblüffung gesorgt hat – es wird eine, das erzieherische Selbstverständnis nicht-mennonitischer Eltern erschütternde Wirkung, die von dem Zeitungsbericht ausgegangen sei, dargestellt. Das Kontext erneuernde Merkmal, das in dem nachfolgenden Satz dann eingeführt wird, besteht darin, dass sich der Leserbriefschreiber wie auch seine Frau und viele andere Leser/innen durch diese Veröffentlichung zu Unrecht beschuldigt fühlten, ihre Kinder falsch erzogen zu haben. [19]

Mit vorgängigen Entäußerungen anderer zugleich Kontext bestätigend und Kontext erneuernd umzugehen heißt, mit fremden Sinnsetzungen Sinn verstehend und deutend umzugehen und anzuzeigen, welche Relevanz dem so Verstandenen für die bestehende Sozialbeziehung beigemessen wird. Den Sinn verstehenden und Sinn generierenden Zusammenhang in der Abfolge von aufeinander bezogenen Aktivitäten hat GARFINKEL (1973) mit der Unterscheidung zwischen versachlichten Sinnstrukturen und Verwirklichungssinn gefasst. Diese Begrifflichkeit hat er für Sinnbildungsprozesse in Face-to-face-Situationen entwickelt, um so zwischen den Ausgangszuständen einer Interaktionssituation und den sich einstellenden Emergenzphänomenen zu unterscheiden.26) Um der Tatsache gerecht werden zu können, dass es sich bei den Leserbriefen um Beiträge handelt, die an eine bereits im Gang befindliche Auseinandersetzung anschließen, konzeptualisiere ich die Resultate des in den Leserbriefen dokumentierten Verwirklichungssinns in Abschnitt 3.3 als Diskurspositionen. [20]

Auf die Frage, inwiefern ein auf die Intersubjektivitätsproblematik in Face-to-face-Situationen ausgerichtetes Theoriekonzept auf Beiträge zu einer medial vermittelten Debatte angewandt werden kann, komme ich in den Abschnitten 3.3 und 3.4 noch einmal zurück. Zuvor sei im folgenden Abschnitt die hier eingenommene verstehenstheoretische Untersuchungsperspektive näher erläutert. [21]

3.2 Die verstehenstheoretische Analyseperspektive und ihr Erkenntnispotenzial bei der Untersuchung von Integrationskonflikten

In den Beiträgen zur kontrovers geführten Debatte über Klassenfahrten wird auf Entäußerungen reagiert, die von den jeweils anderen ausgegangen sind. Der so hervorgebrachte Verwirklichungssinn gründet in interpretativen Verarbeitungen fremder Sinnsetzungen. Die damit einher gehenden Verstehensleistungen und Sinnbildungsprozesse rekonstruiere ich unter Einnahme einer verstehenstheoretischen Untersuchungsperspektive. Sie ist orientiert an der SCHÜTZschen Konzeptualisierung von Verstehen, wonach der Sinn, den Akteure ihren Handlung beimessen, von anderen nur erkannt werden kann an den Ausdrucksformen und Aufzeigepraktiken, die sie verwenden. Das dadurch möglich werdende Verstehen fremder Sinnsetzungen ist nicht identisch mit den Sinnbezügen, in denen das Gegenüber das eigene Handeln erlebt und gestaltet: die von anderen ausgehenden Sinnsetzungen werden erfasst in sozial verbreiteten Typisierungen, insofern wird subjektiver Sinn von anderen immer nur annähernd oder "reduziert" verstanden. Die dabei zustande kommenden Bedeutungszuschreibungen decken sich nicht unbedingt mit den Sinnsetzungen, die mit vorgängigen Entäußerungen eines anderen Akteurs intendiert waren. Diskrepanzen in den Bedeutungszuschreibungen können allerdings in der weiteren Interaktion Wirksamkeit entfalten (vgl. SCHNEIDER 2004, S.18). [22]

In verstehenstheoretischer Untersuchungsperspektive interessiert, wie ein Verständnis, das ein Akteur von den Entäußerungen eines anderen Akteurs erlangt hat, nach außen hin deutlich gemacht wird, und es interessieren die kommunikativen Praktiken, mit denen Akteure anzeigen, wie sie ihrerseits verstanden werden wollen. Es geht also nicht um Verstehensprozesse, wie sie in den Köpfen von Akteuren ablaufen, sondern darum, dass in initialen Aktivitäten immer auch zum Ausdruck gebracht wird, von welchem Interpretationskontext ausgegangen wird und wie man selbst verstanden werden will sowie darum, dass in nachfolgenden Reaktionen angezeigt wird, wie vorgängige Aktivitäten anderer verstanden wurden.27) [23]

Wozu aber eine auf Verstehensprozesse ausgerichtete Untersuchungsperspektive, wo doch eine antagonistische Beziehung zwischen den Unterstützer/innen und Gegner/innen der Elterninitiative besteht und sich die Leserbriefschreiber/innen – wie noch genauer zu zeigen ist – so äußern, als wollten oder könnten sie die jeweils anderen nicht verstehen? Die verstehenstheoretische Perspektive ist unverzichtbar, wenn es um die Rekonstruktion von Verwirklichungssinn, um das Hervorgehen Kontext erneuernder Sinnsetzungen aus Sinnsetzungen anderer Akteure geht. Angewandt auf die Leserbriefdebatte lässt sich so herausarbeiten, was die von einer zugewanderten ethno-konfessionellen Minderheit ausgehende Initiative in der Mehrheitsgesellschaft auslöst. Es lässt sich rekonstruieren, in welchen Sinnbezügen die Gegner/innen der mennonitischen Elterninitiative das vorgebrachte Anliegen verstehen und deuten und so zur Grundlage eigener Stellungnahmen bzw. Sinngebungen machen (siehe hierzu Abschnitt 4.2). Ebenso lassen sich seitens der Elterninitiative veröffentlichte Stellungnahmen daraufhin befragen, wie auf Sinnzumutungen der Mehrheitsgesellschaft Bezug genommen wird und diese im eigenkulturellen Relevanzrahmen verstanden werden (siehe hierzu Abschnitt 4.1). Die analytische Beschäftigung mit kommunizierten Resultaten von Verstehensprozessen ist darüber hinaus Voraussetzung dafür, erfassen zu können, an welchen Verstehensbedingungen sich die Leserbriefschreiber/innen selbst orientieren und welche Verstehensbedingungen sie mit ihren Einlassungen relevant setzen (siehe hierzu Abschnitt 5).28) [24]

3.3 Die Leserbriefe als Ausarbeitungen von Diskurspositionen

Die Untersuchung von Fremdverstehen und Verwirklichungssinn erfolgt hier nicht losgelöst von dem pragmatischen Kontext, in dem die Leserbriefdebatte stattfand. Daher gilt es den Verwirklichungssinn, der in den Leserbriefen dokumentiert ist, in seiner Tragweite für das soziale Verhältnis zwischen den jeweiligen Wir-Gemeinschaften zu bestimmen. Dies geschieht hier in Anlehnung an das Konzept der Positionierung. Dieses Konzept wird in der Discourse Psychology (vgl. LUCIUS-HOENE & DEPPERMANN 2004, S.196ff. und die dort angegebene Literatur) und in der Gesprächsrhetorik (vgl. WOLF 1999) für kommunikative Vorgänge verwendet, in denen sich jemand als ein bestimmter Menschentyp, als Träger oder Trägerin einer spezifischen Identität ausweist und identifizierbar macht. Positionierung wird dabei als ein interaktives Geschehen verstanden, bei dem die Darstellung eigener Identitätsmerkmale (Positionierung des eigenen Selbst) soziale Relationierungen impliziert, also im Hinblick auf Identitätsbestimmungen eines Gegenübers erfolgt (Positionierung des Fremden). [25]

Positionierungsakte werden in den genannten Ansätzen zwar als funktional für die Durchsetzung von Handlungsinteressen gesehen, das analytische Interesse dieser Ansätze gilt aber hauptsächlich den Konstruktionsprinzipien der Identitäten der Situationsbeteiligten. Ich orientiere mich hier am Konzept der Positionierung, um damit einer wichtigen Eigenschaft von Verwirklichungssinn gerecht werden zu können, der Eigenschaft nämlich, dass mit seiner Hervorbringung immer auch Wirkungsabsichten verfolgt und Definitionsprozesse realisiert werden, die auf eine Gruppenfiguration durchschlagen. So reagieren die Leserbriefschreiber/innen nicht nur auf Sinnsetzungen, die in zuvor veröffentlichten Texten vorgenommen wurden, sie reagieren auch auf Sinnstrukturen, die eingelagert sind in die sie umgebende Geschichte, Kultur und Institutionenwelt, insbesondere wenn sie die kulturelle oder moralische Verfassung der eigenen oder der fremden Kollektivität charakterisieren. Hierzu zwei Veranschaulichungsbeispiele: das erste ist dem Leserbrief des Sprechers der Elterninitiative entnommen: Die antiautoritäre Erziehung hat in Deutschland schon zwei Generationen "verdorben"; das zweite Beispiel stammt aus einem Leserbrief aus der Mehrheitsgesellschaft: ... sie sind ja vor Jahren freiwillig nach Deutschland ins gelobte Land gekommen. In Russland duften sie ihre Religion nicht ausleben, und nun wollen sie mit allen Mitteln uns ihren Lebensstil aufzuzwingen (Lb 25). Während im ersten Zitat die Kollektivität der Deutschen ausgehend von einer seit zwei Generationen bestehenden Erziehungskultur beurteilt wird, wird im zweiten Zitat die zugewanderte ethno-konfessionelle Gemeinschaft hinsichtlich ihrer mitgebrachten religiösen Ausrichtung beurteilt. [26]

Die historisch und kulturell verankerten Sinnstrukturen sind als auferlegte thematische Relevanzen29) virulent. Da sie als Auflagen, die von der anderen Kollektivität ausgehen, erfahren werden, motivieren sie auch eigene Wirkungsabsichten, Anspruchshaltungen und Forderungen gegenüber den anderen. Die dabei verfolgten Interessen sind nicht rein situativer oder flüchtiger Art, und es sind keine bloßen Individualinteressen. Es sind kollektivgeschichtlich verwurzelte Interessen und Interessen, deren Verfolgung auch in anderen Situationen betrieben wird (in diesem Sinne spreche ich hier und im Weiteren auch von Diskurspositionen). So erfolgt das Opponieren gegen Klassenfahrten u.a. auch auf Elternabenden, und die Verteidigung der Schulpädagogik auch in anderen Arenen als der des Leserbriefforums. Mit anderen Worten: In den per Leserbrief vorgenommen Sinnsetzungen realisieren sich Positionen, die prägend für den gesamten Diskurs über Klassenfahrten sind. Eine Aufgabe der Analysen zu den Leserbriefen besteht darin, mittels des Konzepts "Diskursposition" den sich jeweils einstellenden Verwirklichungssinn in seiner Typikalität zu erfassen (siehe Abschnitte 4.1 und 4.2). [27]

3.4 Erzeugungsbedingungen von Verwirklichungssinn beim Verfassen von Leserbriefen und das darauf zugeschnittene methodische Vorgehen

Analysemethodisch orientiere ich mich an Prinzipien, nach denen Kommunikationsprozesse in Face-to-face-Situationen untersucht werden30). Das zugrunde liegende Datenmaterial ist aber nicht aus Situationen des unmittelbaren kommunikativen Austausches hervorgegangen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich Fremdverstehen und Hervorbringung von Verwirklichungssinn in Beiträgen zu einer Leserbriefdebatte sequenzanalytisch einholen lassen. Die Beantwortung dieser Frage ist eng verbunden mit der Frage der Textvalidität der Leserbriefe. [28]

Von einem Hervorbringungszusammenhang von Verwirklichungssinn lässt sich dann ausgehen, wenn – wie in Gesprächssituationen – ein sequenziell geordnetes, kommunikatives Geschehen zugrunde liegt. Sequenziell aufeinanderbezogene Sinnsetzungs- und Sinnverarbeitungsaktivitäten finden sich natürlich auch in medial vermittelten und schriftförmigen Kommunikationsvorgängen. So sind die einzelnen Beiträge der Leserbriefdebatte eingebunden in eine Sequenzstruktur – es hat für alle Autor/innen, die sich zum Thema äußern, vorgängige signifikante Kundgaben aus dem anderen Lager gegeben; hieran wird mit eigenen kommunikativen Aktivitäten angeknüpft (siehe auch Abschnitt 2). Bei der Datenauswertung trage ich der Sequenzialität des Klassenfahrtendiskurses Rechnung, indem ich mich am Nacheinander von Debattenbeiträgen orientiere, und zwar an einem Leserbrief aus dem Lager der ethno-konfessionellen Gemeinschaft und einer größeren Zahl darauf bezogener Leserbriefe aus der Mehrheitsgesellschaft. Der Sequenzialität der Leserbriefdebatte trage ich ferner Rechnung, indem ich bei der Analyse für die einzelnen Textdokumente zeige, an welche vorgängig enaktierten Bedeutungsstrukturen sie anknüpfen. [29]

Dass vorgängige fremde Kundgaben als Impuls und als Interpretationskontext für die Gestaltung nachfolgender Beiträge fungieren, hat die Leserbriefdebatte mit der Sinn- und Bedeutungsproduktion in alltäglichen Gesprächssituationen gemeinsam. Das Verfertigen von Leserbriefen und die dabei stattfindende Auseinandersetzung mit vorgängigen Sinnsetzungen erfolgt indes unter anderen Bedingungen als in der Face-to-face-Kommunikation. Auf das sich Äußern per Leserbrief trifft in höherem Maße das zu, was SCHÜTZ und LUCKMANN die Einstellung des "reflektierenden auf-die-Relevanzen-Hinsehens" genannt haben (1975, S.186). Das Schreiben eines Leserbriefs ist ein Akt, der im Vergleich zum Äußerungsverhalten in Alltagsgesprächen zweifelsohne planvoller und in größerer Bewusstheit vollzogen wird. Dafür allerdings ist für Leserbriefschreiber/innen nicht mehr kontrollierbar, wer alles durch ihre Texte zum Adressaten bzw. zur Adressatin wird. [30]

Beim Verfassen eines Leserbriefs können Autor/innen bestimmte Rezipient/innen oder eine bestimmte Adressat/innengruppe im Visier haben, im vorliegenden Fall etwa: politische Organe, Justiz, Funktionsträger/innen in Schulen, Medienverantwortliche, Vertreter/innen von Glaubensgemeinschaften, Menschen gleicher Mentalität. Vorstellbar ist aber auch, dass der Leserbrief einfach als Meinungsbekundung, die an die Öffentlichkeit gelangen soll, verfasst wird. Der Adressat/innenbezug beim Verfassen von Leserbriefen ist jedenfalls ein medial vermittelter,31) das heißt, die, die sich "äußern" (Schreiber/innen bzw. Autor/innen) sind bei ihrer Reaktion auf das Vorkommnis, das sie zum Reagieren getrieben hat, frei von der Face-to-face-Konfrontation mit dem Agens, das das Vorkommnis zu verantworten hat, und sie sind nicht solchen Eskalationsdynamiken, wie sie in Situationen unmittelbarer Konfrontation entstehen können, ausgesetzt. [31]

Leserbriefschreiber/innen sind von dem Druck des sofortigen und unmittelbaren Reagieren-Müssens entlastet, der bei körperlicher Anwesenheit eines Gegenübers herrscht. Hinzu kommt, dass sie bezüglich der Folgen ihres Textes auch andere Reaktionserwartungen hegen als Sprecher/innen in einer Face-to-face-Situation. Eine ein Äußerungspaar konstituierende Reaktion eines Adressaten oder einer Adressatin wird gewöhnlich nicht erwartet.32) Umgekehrt entfällt für die Adressat/innen die Möglichkeit des spontanen Reagierens auf das, was andere von sich gegeben haben. Dafür kann beim Verfassen schriftlicher Texte mehr Zeit zur Reflexion dessen, worum es in der Sache geht und zur Konzipierung des eigenen Beitrags ausgeschöpft werden. So können Mitteilungs- und Wirkungsabsichten der Autor/innen in größerer Bewusstheit und in größerer Elaboriertheit – durchkonzipierter – zum Ausdruck kommen, als dies in alltäglichen Gesprächssituationen gewöhnlich der Fall ist. Für die Untersuchung von Fremdverstehen bietet dieses Material somit den Vorteil, sich mit Ergebnissen oder Zwischenresultaten von Verwirklichungssinn befassen zu können, die frei vom Druck des situativen und sofortigen Reagieren-Müssens zustande gekommen sind. Es bietet zudem den Vorteil, die jeweiligen Relevanzstrukturen und Argumentationshaushalte, die beim Zusammenprall der disparaten Orientierungssysteme virulent sind, in schriftlichen Explikationen verfügbar zu haben. [32]

Bei der Analyse der Erzeugungsbedingungen von Verwirklichungssinn stellt sich die Aufgabe, das Hervorgehen einer bestimmten Sinnsetzung aus einem vorgängigen Kontext nachzuzeichnen. So muss für die Beiträge zu einer Leserbriefdebatte gezeigt werden, wie die eigenen Sinnsetzungen rückgebunden sind an zuvor kommunizierte Sinngehalte. Dies lässt sich zum einen anhand expliziter Bezugnahmen auf vorgängige Formulierungsweisen und anhand anderer intertextuelle Verweise leisten. Da in den Leserbriefen Wahrnehmungsweisen und Urteile über die jeweils andere Gruppe kommuniziert werden, muss möglichst auch für solche Mitteilungsgehalte geprüft werden, inwieweit sie sich auf einen vorgängigen Kontext zurückführen lassen. Aufschlussreich sind hier zum einen solche Textpassagen, die Begründungsfunktion für die Auffassungen über "die anderen" haben, zum anderen solche, in denen eigene Beobachtungen oder selbst gemachte Erfahrungen mit Vertreter/innen der anderen Gruppe angeführt werden und mit evaluativen Kommentaren versehen sind. [33]

4. Analytische Beobachtungen zur Leserbriefdebatte – die Verarbeitung vorgängiger Sinnsetzungen und die Ausarbeitung eigener Positionen

Das empirische Material, auf das ich mich hier stütze, ist aus einer kontrovers geführten Leserbriefdebatte hervorgegangen. Zu Wort kommen Repräsentant/innen der Mehrheitsgesellschaft und ein Sprecher einer zugewanderten freikirchlichen Gemeinschaft. In diesem Abschnitt geht es darum zu zeigen, wie die jeweiligen Wirklichkeitsauffassungen, Überzeugungen und Interessen in der Auseinandersetzung mit vorgängigen Sinnsetzungen der jeweils anderen entfaltet werden. Es soll rekonstruiert werden, wie die von den jeweils anderen ausgehenden Sinnsetzungen und Sinnzumutungen als Impuls zur Produktion eigener Sinnsetzungen wirksam werden, wie sich dabei das Verstehen fremder Sinnsetzungen gestaltet und (neuer) Verwirklichungssinn hervorgebracht wird. Wie in Abschnitt 3.3 bereits angesprochen sind die Resultate der interpretativen Verarbeitung gegnerischer Sinnsetzungen auf Geltendmachung eigener Wertvorstellungen, Glaubenshaltungen, Lebensentwürfe und hierauf bezogener Forderungen zugeschnitten. Die Beobachtungen am empirischen Material zielen daher auch darauf, diese Resultate (bzw. eigeninitiativen Sinnsetzungen) in ihrer Funktion für das Positionierungsgeschehen zwischen den beteiligten Lagern zu bestimmen. [34]

Ich beginne mit dem Leserbrief des Sprechers der Elterninitiative, anschließend befasse ich mich mit den Reaktionen der "Gegner". Das Erscheinen dieses Leserbriefs war für sie auslösendes Moment, sich zur Klassenfahrten-Thematik und zur Vorgehensweise der mennonitischen Eltern zu äußern. Den Leserbrief des Elternsprechers gebe ich hier in voller Länge wieder. Hingegen gehe ich bei den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft nur auf ausgewählte Textstellen ein. Die Auswahl dieser Textstellen war geleitet von dem Bestreben, das epistemisch-sozialregulative Gesamtspektrum ihrer Positionsmarkierungen wiederzugeben (siehe Abschnitt 1). Die analytischen Beobachtungen gelten dem textstrukturellen Aufbau, der Art und Weise der Themenetablierung, der Themenentwicklung, der Art und Weise des Bezugnehmens auf vorgängig etablierte Relevanzstrukturen, der argumentativen Auseinandersetzung mit vorgängigen Sinnsetzungen und der dabei realisierten eigenen Sinnsetzung. [35]

4.1 Der Leserbrief des Sprechers der mennonitischen Elterninitiative

Die Wiedergabe dieses Leserbriefs33) folgt der Absatzbildung des veröffentlichten Textes. Die jeweiligen Absätze versehe ich mit analytischen Kommentaren, in denen herausgearbeitet wird, wie auf vorgängige Sinnsetzungen reagiert wird und welche eigenen Sinnsetzungen im Text produziert werden. [36]

4.1.1 Textstrukturelle Beschreibung

Redaktionelle Einleitung: Der Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers ist von der Redaktion mit einer Überschrift versehen worden, sie ist als Zitat aus dem Leserbrief gekennzeichnet ("Lasst euch nicht verführen!"). Außerdem ist dem Leserbrief folgender redaktionelle Text vorangestellt (grafisch abgehoben durch Fettschrift):

[ORTSNAME] Einer der Initiatoren der "Elterninitiative gegen Zwang zur Teilnahme an Klassenfahrten mit Übernachtung" nimmt zu den Leserbriefen der letzten Tage Stellung: [37]

Erster Absatz des Leserbriefs: Der redaktionellen Rahmung folgt der nachstehend wiedergegebene Text (auf den Einleitungssatz dieses Leserbriefs bin ich bereits in Abschnitt 3.1 kurz eingegangen):

Viele Leser haben sich in der vergangenen Woche zu diesem Thema geäußert. Zuallererst sollten doch bitte alle zur Kenntnis nehmen, daß die Elterninitiative "Gegen Zwang bei Klassenfahrten mit Übernachtungen" ein berechtigtes demokratisches Anliegen ist. Leute unseres Kulturkreises begeben sich nicht oft in die Politik. Sie überlassen das Politikgeschäft denen, die sich dazu berufen fühlen. Nur wenn wir in unseren Grundrechten verletzt werden, wählen wir neben dem Fasten und Beten den Weg der politischen Artikulation unseres Anliegens. Unsere Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat! Es gibt in diesem unserem Lande aber noch viele Menschen, die ihr Herz und ihr Gewissen auf dem rechten Fleck haben, die uns ihre Solidarität bekunden. [38]

In der Einleitung dieses Leserbriefs wird auf die im Gang befindliche und in der Tageszeitung öffentlich gemachte Debatte Bezug genommen. Der eigene Beitrag wird dabei als motiviert durch eine gewisse Anzahl bereits veröffentlichter Leserbriefe anderer und dadurch, dass der Elterninitiative ein berechtigtes demokratisches Anliegen nicht zuerkannt wurde, ausgewiesen. Der Autor wendet sich an diejenigen, die gegen das Anliegen sind, für das er sich einsetzt, und die die Legitimität der Verfolgung dieses Anliegens bestreiten. Das Anliegen selbst – und damit auch die Thematik, um die es in der Debatte geht – wird als das Anliegen einer Elterninitiative wiedergegeben. Was es mit dieser Elterninitiative auf sich hat, wird nicht näher erläutert; dies kann bei den Adressat/innen bzw. im Leser/innenkreis der Tageszeitung offenbar als bekannt vorausgesetzt werden. Mit Nennung der Forderung "Gegen Zwang bei Klassenfahrten mit Übernachtung", die sich die Elterninitiative zum Programm gemacht hat (eine solche Symbolisierungsfunktion hat in dem Text die Verwendung von Anführungszeichen), ist die Thematik gekennzeichnet, um die es auch den in der Briefeinleitung erwähnten "vielen Lesern" gegangen sein muss. Der Autor deklariert das Anliegen der Elterninitiative als ein berechtigtes demokratisches Anliegen; zuvor hat er die vordringliche Bitte vorgebracht, dass dies alle34) zur Kenntnis nehmen sollten. Er zeigt damit an, dass er sich als Protagonist dieses Anliegens versteht; auch wird hier denen, die sich zu diesem Thema geäußert haben, vorgehalten, in ihren Stellungnahmen und Meinungsbekundungen unlauter zu sein, weil sie nicht zur Kenntnis nähmen oder einfach darüber hinweg gingen, dass es sich bei dem Anliegen der Elterninitiative um ein berechtigtes demokratisches Anliegen handele. [39]

Es folgt eine Art Grundsatzerklärung, die sich auf die Inanspruchnahme demokratischer Rechte und auf das Vorgehen der Elterninitiative bezieht. In der Einleitung dieser Grundsatzerklärung findet eine Selbstbezeichnung Verwendung, mit der ein Sonderstatus als kulturelle Gruppe beansprucht wird. Als Besonderheit dieser Wir-Gemeinschaft führt der Autor an, dass ihre Mitglieder sich nicht oft in die Politik begeben und sich nicht dazu berufen fühlen, das Politikgeschäft auszuüben (Leute unseres Kulturkreises begeben sich nicht oft in die Politik. Sie überlassen das Politikgeschäft denen, die sich dazu berufen fühlen). Ob mit dieser Kategorisierung abwertend über Menschen, die dem Politikgeschäft nachgehen, geurteilt wird, lässt sich bei der hier gewählten Formulierungsweise nicht sicher entscheiden. Auf alle Fälle aber wird für die eigene Kollektivität gesagt, dass sie den eingeschlagenen Weg nicht aus den für Politiker/innen üblichen Beweggründen gewählt habe. Damit wird die Ernsthaftigkeit des Anliegens der Elterninitiative unterstrichen, denn es wird gesagt, man lasse sich auf dieses "Geschäft" ein, obwohl man nicht über die dafür übliche Voraussetzung – den Glauben an die Berufung zum Homo politicus – verfüge. [40]

In dem dann folgenden Satz erklärt der Autor des Leserbriefs, warum seine Wir-Gemeinschaft, von dem Grundsatz Politikabstinenz abgewichen sei. Indem als Begründung für das sich Einlassen auf das Politikgeschäft die Verletzung von Grundrechten genannt wird (Nur wenn wir in unseren Grundrechten verletzt werden, ...), wird gesagt, man tue dies nicht aus freien Stücken, sondern werde durch Verhältnisse, die sich der eigenen Gestaltungssphäre entziehen, dazu gezwungen. Für die Tatsache, dass sich die Elterninitiative politisch artikuliert, macht der Autor hier also nicht näher spezifizierte Lebensbedingungen bzw. den Tatbestand der Verletzung von Grundrechten, der von diesen Lebensbedingungen ausgeht, verantwortlich. [41]

Aus der hier gegebenen Erklärung für das Ausnahmehandeln geht hervor, dass der Weg der politischen Artikulation als eine ergänzende bzw. unterstützende Strategie zu religiösen Praktiken (Fasten und Beten) gewählt wurde. Desgleichen geht daraus hervor, dass das Abweichen vom Grundsatz der Politikabstinenz nicht als ein Ablassen von der sonst üblichen, religiösen Lebenspraxis verstanden werden dürfe. Dass dem religiösen Sinnbereich eine Vorrangstellung vor anderen Sinnbereichen zukommt, betont der Autor in einem angefügten und im Duktus einer Bekenntnisformel gehaltenen Satz, der den Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat, als die Hilfeinstanz benennt, der er und seine Wir-Gemeinschaft vertraut. Sich auf das Politikgeschäft einlassen wird hier als Ultima Ratio zur Sicherung einer Lebensweise ausgewiesen, die konform geht mit den religiösen Glaubensinhalten. Dieses Erklärungsmuster für die Abweichung vom Grundsatz der Politikabstinenz macht deutlich, dass die Glaubensvorstellungen, mit denen hier argumentiert wird, prioritäre Geltung gegenüber anderen bzw. gegenüber säkularen Sinnbereichen besitzen. [42]

Angeschlossen ist ein Satz, in dem auf Menschen verwiesen wird, die nicht dem eigenen "Kulturkreis", sondern diesem unserem Lande angehören und ihr Herz und ihr Gewissen auf dem rechten Fleck haben. Über diese Gruppe von Menschen wird gesagt, dass sie gegenüber der Elterninitiative Solidarität bekundet habe. Diese Formulierungsweise, die Ausdrucksmittel zur Bekundung von nationalem Pathos enthält, indiziert einen Orientierungsbezug auf eine andere Kollektivität als die der ethno-konfessionellen Wir-Gemeinschaft. Auch zeugt dieser Satz davon, dass neben "der Hilfe, die vom Herrn kommt", durchaus auch Offenheit für – wenn nicht gar Interesse an – Unterstützung aus diesen Bevölkerungskreisen besteht. [43]

Zweiter Absatz: Dieser Abschnitt enthält eine juristische Argumentation gegen die obligatorische Teilnahme an Klassenfahrten; es wird darin klarer, wodurch sich die mennonitische Elterninitiative in ihren Grundrechten verletzt fühlt:

Der Zwang zur Teilnahme an Klassenfahrten stellt einen verfassungsmäßig unzulässigen Eingriff in das individuelle Erziehungsrecht der Eltern. (sic!) Der Staat gewährt nicht das Elternrecht, er hat es naturrechtlich vorgefunden, er ist verpflichtet, es zu schützen. Gemäß Art. 6,2 des Grundgesetzes sind "Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvorderst obliegende Pflicht." Wir sind guter Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht die anderslautenden Urteile unserer (sic!)35) Instanzen kassieren wird. [44]

Im Stile juristischen Argumentierens macht der Autor im ersten Satz deutlich, dass das Anliegen der Elterninitiative als Reaktion auf die so empfundene Verletzung von Grundrechten durch staatliche Eingriffe erfolge. Beeinträchtigt sieht sich die Wir-Gemeinschaft, für die der Autor hier Stellung bezieht, in der Ausübung des Elternrechts. Der Zwang zur Teilnahme an Klassenfahrten stellt für sie einen verfassungsmäßig unzulässigen Eingriff in das individuelle Erziehungsrecht der Eltern dar. Angeschlossen ist eine Explikation der Rechtsposition, die von der Elterninitiative eingenommen wird. Die hier mit Zitaten aus dem Grundgesetz geführte Argumentation bezieht sich auf das Verhältnis von elterlichem und staatlichem Erziehungsrecht. Der Autor des Leserbriefs vertritt die Auffassung, dass der Staat dazu verpflichtet sei, das Elternrecht zu schützen, und es ihm nicht zustehe, dieses Recht zu "gewähren". Außerdem macht er unter Berufung auf den Artikel 6,2 des Grundgesetzes36) geltend, dass Eltern in der Erziehung ihrer Kinder Rechte und Pflichten zustehen, die gegenüber staatlichen Erziehungsaufgaben bevorrechtigt seien. [45]

Abgeschlossen wird dieser Absatz mit der Bekundung von Optimismus hinsichtlich des Ausgangs eines in der Sache anhängigen Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Elterninitiative hat sich also nicht nur in der Weise "politisch" betätigt, dass sie Unterschriften gesammelt und die Unterschriftenliste im Schulministerium eingereicht hat, sondern sie hat auch den Rechtsweg beschritten. Sollte ihre Position zur Frage der Vor- oder Gleichrangigkeit im Verhältnis von elterlichem und staatlichem Erziehungsrecht bestätigt werden, wäre auch eine Aufhebung des Zwangs zur Teilnahme an Klassenfahrten erreichbar. [46]

Dieser zweite Absatz konkretisiert den zuvor erwähnten Weg der politischen Artikulation. Zur Verfolgung ihres Anliegens macht die Elterninitiative Gebrauch von den Optionen der Rechtsstaatlichkeit und begibt sich somit in Auseinandersetzungsarenen, in denen Interessensverfolgung mit Mitteln des Verfassungsstaates, also nicht mit eigenkulturellen Ressourcen bzw. in der Logik des religiösen Sinnsystems, sondern in der eines weltlichen Sinnbezirks, betrieben wird. [47]

In den nächsten beiden Absätzen des Leserbriefs umreißt der Autor ein Gesellschaftsbild bzw. Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben seiner Wir-Gemeinschaft mit anderen kulturellen Gruppen:

Die Gesellschaft in der wir leben ist pluralistisch, de facto. Die geistig-moralischen Werte der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sind nicht identisch. Wir gehen von einer Schnittmenge der verschiedenen Wertesysteme aus, um es mit der Mengenalgebra auszudrücken. Zu dieser Schnittmenge, als einem Mindestmaß an Gemeinsamkeiten aller Wertesysteme, zählt die passive Toleranz und der bedingungslose Respekt vor dem menschlichen Leben.

Dies sollte sich dahingehend äußern, dass wir den anderen Menschen in seiner Eigenart stehen lassen, dass dogmatische Systeme nie militant auftreten, dass kultureller Imperialismus abzulehnen ist. [48]

Der Elternsprecher nimmt jetzt nicht mehr unter juristischen Gesichtspunkten Stellung, sondern unter dem allgemeinen Aspekt des Funktionierens "pluralistischer" Gesellschaften. In Kurzform lässt sich die von ihm eingenommene Position so umschreiben: Das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft kann funktionieren, wenn es einen Bereich gemeinsamer Werte gibt. Diese Basis des Zusammenlebens wird als passive Toleranz und als bedingungsloser Respekt vor dem menschlichen Leben spezifiziert. Der letzte Satz des dritten Absatzes hat insofern erklärungstheoretisches Gewicht, als eine Aussage dazu gemacht wird, wie eine pluralistische Gesellschaft funktionieren kann: danach benötigt sie hinlängliche Überschneidungen in den Wertvorstellungen. Der legitimatorische Gehalte dieses Satzes lässt sich so umschreiben: "Wir sind ein Teil dieser Pluralität und wir haben damit kein Problem, solange sich alle an einen gewissen Wertekonsens halten." [49]

In dem dann angeschlossenen Text wird diese Wertebasis normativ gewendet: Hinsichtlich des Umgangs mit Angehörigen anderer kultureller Gemeinschaften werden Verhaltensanforderungen definiert. Sie erläutern den Gedanken der passiven Toleranz (den anderen Menschen in seiner Eigenart stehen lassen), betonen den Verzicht auf Gewaltanwendung (dass dogmatische Systeme nie militant auftreten)37) und lehnen hegemoniale Ansprüche kultureller Systeme (kultureller Imperialismus) ab. [50]

Fünfter Absatz: Den gesellschaftstheoretisch ausgerichteten Leserbriefabsätzen folgt ein Absatz, in dem sich der Autor über Akteure äußert, zu denen er sich in Gegnerschaft sieht, weil sie gegen den von ihm skizzierten Wertekonsens und die daraus abgeleiteten Verhaltensnormen im Umgang mit kulturell Anderen verstoßen haben:

Unsere "Gegner" sind aus dieser Schnittmenge ausgetreten, so scheint es zumindest. Sie sprechen sich gegen den christlichen Dogmatismus aus, sind aber selber dogmatisch. Sie betreiben kulturellen Imperialismus, indem sie ihr synkretistisches Kulturkorsett unter dem Etikett "Integration" anderen Gesellschaften aufzuzwingen versuchen. Diese "Leitkultur" hatte in der Vergangenheit ja bekanntlich eine "braune" und eine "rote" Spur gehabt. [51]

Den Akteuren, zu denen sich der Autor in einem antagonistischen Verhältnis sieht, wird vorgehalten, dass sie sich gegen christlichen Dogmatismus aussprechen, selbst aber dogmatisch seien. Weiter wird den "Gegnern" vorgeworfen, dass sie kulturellen Imperialismus betreiben und anderen Gruppen ihr synkretistisches Kulturkorsett aufzwingen. Dieser Vorwurfsgehalt wird im letzten Satz dieses Absatzes dadurch gesteigert, dass die vom Autor so empfundene Leitkulturpolitik als Ausfluss diktatorischer Herrschaftssysteme in Deutschland eingestuft wird (eine "braune" und eine "rote" Spur). Die hier erhobenen Anschuldigungen zeugen davon, dass der Autor seine Wir-Gemeinschaft in einer gesellschaftlichen Situation sieht, in der (unterstellte) Hegemonialitätsansprüche der "Gegner" als Bedrohung der eigenen kulturellen Identität empfunden werden. [52]

Sechster und siebter Absatz: Hier wird nochmals auf den Integrationsgedanken Bezug genommen, nun aber, um die eigene Position zu den in der Mehrheitsgesellschaft bestehenden Integrationserwartungen zu explizieren. Bejaht wird die sprachliche und berufliche Integration; dezidiert abgelehnt wird eine religiöse und kulturelle Integration:

Bei der Integration muss die Frage beantwortet werden, Integration woraus und wohin. Wir befürworten eine sprachliche und berufliche Integration. Eine religiöse und kulturelle Integration in eine säkulare Welt lehnen wir ab. [53]

In Begründungsfunktion für diese Stellungnahme folgt der siebte Absatz, in dem eine Bibelstelle zitiert wird:

Der Apostel Paulus sagte in Röm. 12,2: "Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene." [54]

Hier wechselt der Autor in den christlich-religiösen Sinnbezirk, um die zuvor ausformulierte Position zum Thema Integration zu untermauern. Die bekenntnisartige Anführung des Zitats des Apostels Paulus legt Orientierungsbezüge gegenüber dem Weltgeschehen frei, die für den Autor und seine Wir-Gemeinschaft prioritär sind. Diesen Schluss legt jedenfalls das Anfügen einer Bibelstelle, das als nicht weiter erklärungsbedürftig vorgenommen wird, nahe. Dem Sinngehalt nach fordert die zitierte Bibelstelle von denen, die sich daran orientieren, vom Bemühen um Anpassung in bestehende Weltverhältnisse abzusehen und sich stattdessen darum zu bemühen, herauszufinden, was Gottes Wille ist und wie sich im Einklang mit diesem Wille leben lässt. [55]

Unter Anführung eines Zitats aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer wird ein Gegenmodell zu den Integrationserwartungen der Mehrheitsgesellschaft (bzw. den Integrationszwängen, denen sich die zugewanderten mennonitischen Eltern ausgesetzt sehen) entworfen. Insofern hat das Bibelzitat Begründungsfunktion für die Haltung der partiellen, auf Religion und Kultur bezogenen Integrationsverweigerung. Der Anspruch auf eine kulturelle Identität, die sich ganz bewusst von den Identitätsformen der säkularen Welt absetzt, wird erhoben, und es wird geltend gemacht, damit einem biblischen oder göttlichen Auftrag zu folgen. [56]

Achter und neunter Absatz: In ähnlicher Weise werden in den nächsten beiden Absätzen Klarstellungen zur eigenen sittlich-moralischen Position vorgenommen. Dazu veranlasst sieht sich der Sprecher der Elterninitiative, weil seiner Auffassung nach in den bisherigen Reaktionen auf die Elterninitiative zwei Dinge vermischt wurden:

Manche Leserbriefschreiber haben das Anliegen der "Elterninitiative gegen Zwang ..." mit anderen Fragestellungen wie "Tanzen" und "Sexualität" vermischt. Daher dazu ebenfalls ein paar Worte. Unsere Position zum Tanzen ist die: Ein vulgärer Tanz der Salome hat Johannes dem Täufer das Leben gekostet. Nun wollen gottesfürchtige Menschen nicht tanzen. Wir meinen gute Gründen (sic!) dagegen zu haben. Es muss nicht schwer fallen, dies zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren.

Das Thema Sexualität kam auch zur Sprache. Hier ist unsere Position ebenfalls klar. Sexualität ist eine Gabe (und eine Aufgabe) Gottes. Wir sind gegen vulgär-voyeuristische Darstellungen und Pornographie. Die Kinder sollten auch nicht zu früh mit sexuellen Inhalten bombardiert werden, dies raubt ihnen die Kindheit. [57]

Durch Klassifizierung gegnerischer Diskursbeiträge als "Vermischung" des Anliegens der Elterninitiative mit anderen Fragestellungen wird deutlich gemacht, warum es der Leserbriefschreiber für erforderlich hält, klare Stellungnahmen zu Fragen des Tanzens und der Sexualität abzugeben – er fühlt sich und seine Glaubensgemeinschaft in diesem Punkt nicht richtig verstanden. Die Ausarbeitung der Positionen zu sittlich-moralischen Fragen erfolgt nach dem gleichen Begründungsmuster wie zuvor die Stellungnahme zu Anpassungs- und Integrationserwartungen: Die (ablehnende) Position zum Tanzen wird gleichnishaft mittels einer biblischen Geschichte (Tanz der Salome)38) deutlich gemacht; auch hier hat die Lehre dieser Geschichte für den Elternsprecher fraglose Gültigkeit. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Tanzen wird dann unter Verweis auf eine strikt religiöse Lebenshaltung (gottesfürchtige Menschen) sowie mit bloßer Andeutung des Vorliegens "guter Gründe" untermauert. Bei der Stellungnahme zur Sexualität ist es – neben einer pauschal geäußerten Besorgnis um die Kinder – die Einstufung der Sexualität als Gabe und als Aufgabe Gottes, mit der eine distanzierte Haltung zu Fragen der Sexualität begründet wird. [58]

Indem der Elternsprecher Positionen zum Tanzen und zur Sexualität unter Bezug auf das höhersymbolische religiöse Sinnsystem klar stellt, wird explizit gemacht, dass auch hier Differenzen im Verhältnis zwischen den Unterstützer/innen der Elterninitiative und ihren Gegner/innen bestehen. Im Zuge des Klarstellens seiner Positionen zu sittlich-moralischen Fragen erfolgt noch ein kleiner Seitenhieb auf die "Gegner", und zwar derart, dass sie als Menschen mit einer ignoranten bzw. intoleranten Haltung bezüglich dieser Positionen gekennzeichnet werden: Es muss nicht schwer fallen, dies zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren. [59]

Zehnter und elfter Absatz: Der Sprecher der Elterninitiative nimmt dann zu schulorganisatorischen Belangen Stellung, zunächst zur Frage der Zusammensetzung von Schulklassen, dann zu sittlichen Gefahren, die von Klassenfahrten ausgehen können.

Schulverträge können nur sofern bindend sein, inwiefern sie das individuelle Erziehungsrecht der Eltern nicht in unzulässiger Weise beschränken. Es müssen keine Klassen nach Gemeindezugehörigkeit gebildet werden. Mit etwas mehr Flexibilität ist allen geholfen. Nicht mit jedem Bürger dieser Stadt haben wir das Christsein gemeinsam. Daher divergieren auch die Erziehungsziele für die Kinder. [60]

Auch hier wird in religiösen Bezügen argumentiert. Zunächst macht der Autor geltend, dass das Elternrecht durch Schulverträge nicht beeinträchtigt werden dürfe.39) Dann erhebt er die Forderung nach mehr Flexibilität bei der Zusammensetzung von Schulklassen; damit appelliert er hauptsächlich an Schulleiter/innen und Entscheidungsträger/innen der Schulbehörden. Zur Begründung dieser Forderung verweist er auf Unterschiede, die zwischen seiner Gruppe und anderen "Bürgern" im christlichen Glaubensverständnis und, daraus folgend, in den erzieherischen Zielen bestünden. [61]

Eine nochmalige Markierung unterschiedlicher Positionen in Erziehungsfragen schließt sich an, bevor dann im elften Absatz ein pauschales Urteil über die Erziehungskultur in Deutschland gefällt wird:

Wir wollen als Christen unsere Kinder gemäß Eph. 6,4 "in der Zucht und Ermahnung zum Herrn erziehen." Die säkulare Welt hat da andere Erziehungsziele. Die antiautoritäre Erziehung hat in Deutschland schon zwei Generationen "verdorben". [62]

Ähnlich wie in dem Textabschnitt, in dem den "Gegnern" die braune und die rote Vergangenheit Deutschlands vorgehalten wurde, wird hier eine zeitgeschichtliche Strömung, die insbesondere die Erziehungskultur in Deutschland erfasst hat, ins Feld geführt, um klar zu machen, warum sich die Elterninitiative von der Erziehung in der säkularen Welt abgrenzt. [63]

Zwölfter Absatz: Dieser Abschnitt wird mit einem Bibelzitat eingeleitet, es folgt dann die Schilderung eines aktuellen Vorfalls auf einer Klassenfahrt:

In 1. Kor. 15,33 heißt es: "Lasst euch nicht verführen! Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten." Die Klassenfahrten bieten für viele Schüler die Gelegenheit "sich gehen zu lassen", milde ausgedrückt. Das hier abzudrucken, würde den Rahmen des Leserbriefes sprengen. Ein frischer Vorfall aus der [NAME DER SCHULE], Klasse 7 b, Klassenfahrt vor zwei Wochen, sei genannt. Hier hielten sich in der letzten Nacht vor der Rückreise von 11 Uhr abends bis 3 Uhr nachts zwei Jungen in einem Mädchenzimmer auf. Die Pädagogen sind eingeschritten, jedoch zu spät. [64]

Die angeführte Bibelstelle enthält die Aufforderung, sich nicht verführen zu lassen, und den mahnenden Hinweis, dass schlechter Umgang gute Sitten verderbe. Der Sinngehalt dieses Bibelzitats hat eine hohe normative Geltung für den Autor, dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass er dieses Zitat der Schilderung eines "frischen Vorfalls" voranstellt. Dass er Klassenfahrten prinzipiell als Veranstaltungen ansieht, die dem per Bibelzitat postulierten Vermeiden von Verführungssituationen entgegenstehen, macht er im zweiten Satz dieses Abschnitts explizit deutlich. Mit der Beschreibung des Verhaltens der Pädagog/innen als einem zu späten Einschreiten wird der Gefährdungscharakter, der von Klassenfahrten für die "guten Sitten" ausgehe, unterstrichen. [65]

Dreizehnter Absatz: Der letzte Abschnitt dieses Leserbriefes ist in einem um Entschärfung von Spannungen und in einem um Aussöhnung bemühten Duktus gehalten.

Wir brauchen keine Angst oder Bedenken um die Zukunft zu haben, wenn jeder von uns, Eltern und Pädagogen, ein Mindestmaß an passiver Toleranz und Respekt vor der religiös-kulturellen Verschiedenartigkeit hat. Möge Gott uns das "Wollen" und das "Vollbringen" dazu schenken. [66]

Es ist jetzt nicht mehr von "Gegnern" die Rede, sondern von "Eltern und Pädagogen". Diesen verheißt der Autor, dass sie keine Angst vor der Zukunft und vor dem Zusammenleben mit kulturell und religiös anderen haben müssten, wenn sie die zuvor bereits erwähnte passive Toleranz walten ließen. Sodann folgt gleichsam eine Fürbitte, bei der auch die Gegner/innen in die erbetenen göttlichen Fügungen mit einbezogen sind, wie am Gebrauch der Wir-Form am Anfang dieses Abschnittes zu sehen ist. [67]

Erbeten wird von der Gottesinstanz, dass beide Seiten das Vermögen aufbringen, passive Toleranz und Respekt vor der religiös-kulturellen Verschiedenartigkeit walten zu lassen. An anderer Stelle (fünfter Absatz) hat der Autor den "Gegnern" vorgeworfen, nicht die nötige Toleranz zu zeigen, die in einer pluralistischen Gesellschaft nötig sei. Dieser letzte Absatz enthält in abgeschwächter Form eine nochmalige Markierung von Verantwortlichkeit dafür, dass eine antagonistische Konstellation besteht, einen Hinweis darauf, was in der Beziehung zwischen beiden Gruppen im Argen liege: in den Augen des Elternsprechers ist es mangelnde Toleranz "der Gegner" gegenüber der mennonitischen Elterninitiative. [68]

4.1.2 Analytische Abstraktion: Diskurspositionen im Leserbrief des Elternsprechers

Im Folgenden werden in größerer Distanz zur Formulierungs- und Argumentationsweise des Leserbriefautors Aspekte des Verwirklichungssinns, der sich in diesem Leserbrief manifestiert, aufgezeigt. [69]

Zentraler Befund der analytischen Beobachtungen zum Leserbrief des Elternsprechers ist, dass es in der Klassenfahrtendebatte um mehr geht als um die schulpädagogische Veranstaltung. Dieses Mehr betrifft das prinzipielle Verhältnis zwischen der konfessionellen Gemeinschaft, für die der Elternsprecher Stellung nimmt, und der Umgebungsgesellschaft, in der diese Gemeinschaft lebt. Seiner Auffassung nach liegt in dieser Umgebungs- bzw. Mehrheitsgesellschaft einiges im Argen (die Erziehungskultur, Schulpädagogik und der Umgang mit kulturellen Minderheiten). Er ist aber nicht einfach nur unzufrieden mit diesen Verhältnissen; diese werden vom Elternsprecher als Gefährdung eines selbstbestimmten Lebensweges erachtet, als Behinderung einer Lebensweise, die gruppenintern präferierten Regeln folgt und die um Distanz und Differenz zu anderen Gemeinschaften bemüht ist. Die als besonders einschneidend empfundene Auflage, gegen die die mennonitische Elterninitiative angeht, besteht darin, dass es eine schulische Praxis gibt, obligatorische Klassenfahrten durchzuführen, wobei diese Praxis durch Schulordnungen und auch durch geltende Rechtsbestimmungen sanktioniert ist. [70]

Von der mennonitischen Elterninitiative (bzw. ihrem Sprecher) wird es als Autonomieverlust angesehen, dass die eigenen Nachkommen noch anderen als den elterlichen Erziehungseinflüssen ausgesetzt sind, dass sie also nicht ungestört – frei von Gefahren der Kontamination durch säkulare Denk- und Lebensweisen – nach mennonitischen Glaubenssätzen erzogen werden können. Die obligatorischen Klassenfahrten sind hier ein besonders schmerzhafter Dorn im Auge des Elternsprechers. Er und seine Glaubensgemeinschaft verstehen diese schulpädagogische Auflage als eine Beeinträchtigung ihrer Ansprüche auf freie Religionsausübung und auf ein Leben in gewollter kultureller Differenz zur Umgebungsgesellschaft. [71]

Der Elternsprecher wehrt sich im Interesse des Erhalts der ethno-konfessionellen Identität seiner Wir-Gemeinschaft gegen das Oktroyieren einer Leitkultur, wobei er die Leitkulturpolitik als Fortsetzung diktatorischer Verhältnisse, die es in Deutschland gegeben hat, deklariert. Die Anspielungen auf die "rote" und "braune" Vergangenheit Deutschlands (fünfter Absatz) und auch die auf die antiautoritäre Erziehung im Leserbrief (elfter Absatz) verweisen auf Geschichtsprozesse Deutschlands; es sind offenbar politische Formationen und geistig-moralische Strömungen aus der Vergangenheit Deutschlands, die als Bedrohung für den kollektiv angestrebten Lebensweg angesehen werden. Dieses Negativ-Bild von den politisch-kulturellen Verhältnissen legt den "Gegnern" nicht nur undemokratisches Verhalten zur Last, es legitimiert letztlich auch den Anspruch auf ein Leben in Differenz zur Mehrheitsgesellschaft und auf partielle Integrationsverweigerung. [72]

Im Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers erfolgt die Verarbeitung fremder Sinnsetzungen wie auch die Entwicklung eigener Sinnsetzungen im Rahmen und unter den Maßgaben eines spezifischen Relevanzsystems. Dies zeigt sich daran, dass in den Stellungnahmen und Argumentationen des Elternsprechers durchgängig eine strikte Bindung an biblische Lehren und damit an ein religiöses Sinnsystem bekundet wird:

In seinem Leserbrief deckt der Elternsprecher nicht nur die von der Aufnahmegesellschaft ausgehenden Sinnzumutungen und die Sinnstrukturen des eigenkulturellen Relevanzsystems auf, die im Umgang mit diesen Sinnstrukturen interpretationsrelevant sind, er positioniert sich und seine Wir-Gemeinschaft damit auch in der Aufnahme- und Mehrheitsgesellschaft. Dies ist ein ganz wesentlicher Aspekt der Hervorbringung von "Verwirklichungssinn" in der Leserbriefdebatte – der Autor nimmt seinerseits Sinnsetzungen vor, in denen sich die Verfolgung eigenkultureller Interessen realisiert, und mit denen das Sozialverhältnis zwischen seiner Wir-Gemeinschaft und der Umgebungsgesellschaft definiert wird (nämlich als ein von Differenz in den religiösen und moralischen Anschauungen bestimmtes Verhältnis). [74]

Der Elternsprecher – und dies gilt auch für die Leserbriefautor/innen aus der Mehrheitsgesellschaft – kommuniziert nicht einfach nur seine Weltsicht, seine Überzeugungen usw., er macht damit auch deutlich, wie er und auch seine Wir-Gemeinschaft aufgrund dieser Sichtweisen gegenüber anderen Kollektivitäten verortet sind, welche Ansprüche sie ihnen gegenüber geltend machen und wie sie sich ihnen gegenüber zu verhalten beabsichtigen. Da diese Aufzeigepraktiken in einem medial vermittelten, öffentlichen Diskurs erfolgen und als signifikante Sinnsetzungen für eine oppositiv eingestellte Adressat/innengruppe vorgenommen werden, bezeichne ich sie auch als Diskurspositionen (vgl. Abschnitt 3.3). [75]

Die im Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers ausgearbeiteten Diskurspositionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Mit den in Begriffen "zweiter Ordnung" (SCHÜTZ 1971, S.68ff.) gefassten Positionsmarkierungen sind Auffassungen, Interessen und Forderungen charakterisiert, die der Leserbrief einer Leser/innenöffentlichkeit der Tageszeitung kommuniziert. Die Geltendmachung dieser Wirklichkeitsauffassungen, Interessen und Forderungen ist bei vielen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft auf großes Unverständnis und vehemente Ablehnung gestoßen. Wie die Leserbriefschreiber/innen, die der Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden können, diese Positionsmarkierungen verstehen und welchen Verwirklichungssinn sie in der Auseinandersetzung mit diesen Positionen hervorbringen, sei im folgenden Abschnitt gezeigt. [77]

4.2 Wie Vertreter/innen der Mehrheitsgesellschaft auf die Interessensverfolgung der freikirchlichen Gemeinschaft und auf den Leserbrief des Elternsprechers reagieren

Hinsichtlich des Erscheinens und der Ausgestaltung der Leserbriefe aus der Mehrheitsgesellschaft, lässt sich der eben vorgestellte Leserbrief des Elternsprechers als eine initiale Vorgängeraktivität ansehen, als ein kommunikativer Zug, der nachfolgende Aktivitäten anderer ausgelöst hat. Von den mir vorliegenden 23 Leserbriefen, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft verfasst wurden, sind 16 nach Erscheinen des Leserbriefs des Elternsprechers veröffentlicht worden. Wie schon gesagt, ist allerdings wenige Tage vorher von mennonitischer Seite bereits ein anderer Leserbrief erschienen; der Autor des oben wiedergegebenen Leserbriefs hatte diesen gemeinsam mit einem anderen Vertreter der Elterninitiative verfasst. Im Hinblick auf den Verwirklichungssinns, der sich bei den Autor/innen aus der Mehrheitsgesellschaft einstellt, kommt natürlich auch diesem Leserbrief die Funktion einer initialen Vorgängeraktivität zu. Wesentlich andere Diskurspositionen als die oben genannten dürften darin aber nicht entwickelt worden sein, wie die intertextuellen Bezüge in den Leserbriefen der Mehrheitsgesellschaft vermuten lassen. [78]

Bei der Rekonstruktion des in diesen Leserbriefen dokumentierten Verwirklichungssinns gehe ich so vor, dass ich zunächst erläutere, wie und wodurch die jeweiligen thematischen Aspekte zu einer relevanten Sinnsetzung für die Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft geworden sind. Sodann zeige ich an ausgewählten Textpassagen, wie auf die eben vorgestellten Diskurspositionen der mennonitischen Elterninitiative reagiert wird. [79]

Die analytischen Beobachtungen zu den Leserbriefen aus den Reihen der Mehrheitsgesellschaft zielen darauf, die Bandbreite der Reaktionen abzudecken. Es geht also nicht darum, die Gesamtheit der in den Texten enthaltenen Aussagen zu berücksichtigen, sondern darum, die Reaktionen auf die von der Elterninitiative ausgehenden Sinnsetzungen in ihrer Typikalität zu erfassen. Anders als bei dem Leserbrief des Elternsprechers gehe ich auf die Texte, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft verfasst wurden, also nur ausschnittsweise ein. [80]

Die Ausführungen zu den interpretativen Verarbeitungsweisen sind im Wesentlichen nach den im Leserbrief des Elternsprechers ausgearbeiteten Diskurspositionen geordnet. Analog zu diesen Positionen wird gezeigt, wie die Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft diese in ihren Texten aufgreifen, wie sie sie verstehen und deuten und zum Bezugspunkt ihrer Selbst- und Fremdpositionierungen machen. In den einzelnen Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft wird zumeist nur auf bestimmte Aspekte Bezug genommen, teils wird ganz pauschal auf das Verhalten der mennonitischen Elterninitiative reagiert, teils handelt es sich um Meinungsbekundungen, die aus nur wenigen Zeilen bestehen, teils um relativ umfangreiche Gegenargumentationen zu den Positionen der Elterninitiative. Ein auf die mennonitischen Diskurspositionen bezogenes Reagieren und Argumentieren rekonstruiere ich gleichsam in einer Gesamtschau auf die Leserbriefe aus der Mehrheitsgesellschaft. [81]

Das Gesamtspektrum der Stellungnahmen aus der Mehrheitsgesellschaft habe ich grob nach thematischen Gesichtspunkten geordnet, und zwar habe ich danach unterschieden, ob sie sich

Für diese thematischen Blöcke zeige ich, wie Diskurspositionen des mennonitischen Elternsprechers aufgegriffen und interpretativ verarbeitet werden. Da die Reaktionen auf die partielle Integrationsverweigerung (Diskursposition [f] im Leserbrief des Elternsprechers, siehe Abschnitt 4.1.2) und auf die Zurückweisung hegemonialer Ansprüche der Mehrheitsgesellschaft (Diskursposition [g]) ähnlich gelagert sind, behandele ich sie gebündelt in Abschnitt 4.2.2. Reaktionen auf die biblische Fundierung mennonitischer Erziehungsvorstellungen (Diskursposition [d]) behandele ich im Zusammenhang mit den Reaktionen auf die prinzipielle Infragestellung der Schulpädagogik und der Erziehungskultur (Abschnitt 4.2.1). Reaktionen, die der Stellungnahme des Elternsprechers insgesamt und dem Duktus seines Leserbriefs gelten, berücksichtige ich in Abschnitt 4.2.3, in dem es schwerpunktmäßig um die Reaktionen auf Beschuldigungen des mennonitischen Elternsprechers geht. [83]

4.2.1 Reaktionen auf die Kritik an den Klassenfahrten und auf die Ablehnung der Schulpädagogik

In den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft wird vor allem darauf reagiert, dass der pädagogische Wert von Klassenfahrten und des öffentlichen Schulwesens, ja, der Erziehungskultur in Deutschland überhaupt, infrage steht. Dazu haben Passagen im Leserbrief des Elternsprechers maßgeblich beigetragen, insbesondere jene Passagen, in denen die Ablehnung von Klassenfahrten begründet (Diskursposition [a]) und in denen eine an biblischen Glaubenssätzen orientierte Erziehungskonzeption vertreten wird (Diskursposition d). Die Schulpädagogik und der erzieherische Wert der Klassenfahrten steht aber allein schon dadurch infrage, dass die Elterninitiative gegründet wurde, dadurch, dass sie sich mit einer Erklärung und einer Unterschriftensammlung an das zuständige Ministerium gewandt hat und dadurch, dass über andere Kommunikationskanäle (etwa auf Elternabenden) die oppositive Haltung gegenüber Klassenfahrten publik wurde. Der Leserbrief des Elternsprechers aktualisiert diese Kritik unter Hinweis auf die Beschneidung von Elternrechten, auf die Bedrohung erzieherischer Werte, die im höhersymbolischen, religiösen Sinnsystem fundiert sind, sowie mittels der Beispielschilderung eines "skandalösen" Vorfalls auf einer durchgeführten Klassenfahrt. [84]

Dem Infragestellen des Wertes der Schulpädagogik und der Kritik an Klassenfahrten wird seitens der Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft sowohl mit argumentativen Ressourcen als auch mit Angriffen auf die opponierende Gruppe begegnet. Je nach argumentativer Strategie lassen sich hier verschiedene Diskurspositionen unterscheiden. Die ebenfalls in Begriffen zweiter Ordnung gefassten Überschriften mit alphabetischer Kennzeichnung charakterisieren in Kurzform diese Diskurspositionen. Die Spezifik der zugrunde liegenden Argumentationsweise zeige ich exemplarisch an ausgewählten Textstellen und unter Beachtung der sozialen Stellungen oder Funktionsrollen der jeweiligen Autor/innen auf (soweit sie in den Leserbriefen markiert sind). [85]

4.2.1.1 Abwehr der Kritik an Klassenfahrten unter Bezug auf Rechtsgrundlagen und Durchführungsregeln

An Rechtsgrundlagen orientierte Abwehrargumentationen der Kritik an Klassenfahrten finden sich vor allem in Leserbriefen, die von Lehrer/innen, Schulleiter/innen und anderen Funktionsträger/innen an Schulen verfasst wurden. Nachstehend zitiere ich aus einem Leserbrief, in dem Stellung genommen wird zu dem vom mennonitischen Elternsprecher geschilderten Vorfall. Die Autoren, ein Schulleiter und sein Stellvertreter, nehmen darin zu dem beklagten, "Sitten gefährdenden" Vorfall während einer Klassenfahrt Stellung, indem sie auf die Einleitung einer für solche Fälle verfahrensmäßig vorgesehenen Maßnahme verweisen und den Vorfall damit auch als bereinigt einstufen. Vorangestellt ist dieser Stellungnahme eine Erklärung der Legalitätsprinzipien, an denen die Durchführung von Klassenfahrten ausgerichtet ist:

Die Schulkonferenz unserer Schule als höchstes Mitwirkungsorgan hat zu Beginn dieses Schuljahres einstimmig, das heißt auch mit den Stimmen aller Eltern, den Rahmenplan für Schulwanderungen und Schulfahrten beschlossen. Auch in das Schulprogramm der [NAME DER SCHULE] wurden Klassenfahrten als ein wichtiges Element des schulischen Lebens ausdrücklich mit aufgenommen.

Bekanntermaßen unterstützen die Gesetze und Erlasse diese wichtige pädagogische Arbeit, und die aktuellen Gerichtsurteile legen eindeutig die Teilnahmepflicht an solchen Veranstaltungen fest. Auf dieser rechtlich einwandfreien Grundlage wurde die von [NAME DES ELTERNSPRECHERS] angesprochene Klassenfahrt der 7. Klassen mit 90 Schülerinnen und Schülern nach [ORTSNAME] durchgeführt.

Für solche Fahrten gibt es klare Regeln und Absprachen, um die Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Gegen diese Regeln verstießen einige Mädchen eindeutig, indem sie zwei Jungen einer anderen Schule von zirka 23 Uhr bis 0.30 Uhr Zutritt zu ihrer Blockhütte gewährten. Die Aufsicht führenden Lehrkräfte beider Schulen griffen unverzüglich ein, als sie von dem Vorfall erfuhren.

Wegen des Regelverstoßes durch die Schülerinnen verhängte die Klassenkonferenz der betreffenden Klasse mittlerweile Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen gemäß der Allgemeinen Schulordnung.

Damit ist unserem Erziehungsauftrag einwandfrei Genüge getan, und die betroffenen Schülerinnen und deren Eltern haben ein Anrecht darauf, dass der Vorfall als abgeschlossen betrachtet wird! (Lb 7) [86]

Auf die Kritik an der Klassenfahrt wird hier so reagiert, als ginge es um ein Fehlverhalten, das verantwortlichen Lehrer/innen in schulrechtlich relevanter Weise zur Last gelegt werden könnte. Auf sittlich-moralische Bedenken, die mennonitische Eltern gegenüber Klassenfahrten haben, wird nicht näher eingegangen, eher lässt sich von einem Übergehen solcher Bedenken sprechen. Dass die Kritik an dem Vorfall in einem rein rechtlichen Interpretationskontext verarbeitet wird, zeigt sich auch daran, dass im letzten Absatz für betroffene Schüler/innen und Eltern Partei ergriffen und für sie geltend gemacht wird, dass mit eingeleiteten Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen ein Schlussstrich zu ziehen sei. [87]

Nicht nur Lehrer/innen und andere Funktionsträger/innen in den Schulen beziehen unter Rechtsgesichtspunkten Position zum Anliegen der Elterninitiative; auch (nicht-mennonitische) Eltern von Schüler/innen argumentieren auf diese Weise. In dem folgenden Ausschnitt wird anhand des grundgesetzlich verankerten Gleichheitsgedankens den Aussiedlerkindern das Recht auf Ausnahmebehandlung bei der Durchführung von Klassenfahrten abgesprochen:

Über dies möchten wir bemerken, dass nicht nur bei Aussiedlerkindern so verfahren wird, sondern alle anderen Kinder ja auch die Pflicht zur Teilnahme haben. Religion, Hautfarbe und Abstammung spielen keine Rolle. (Lb 24) [88]

Für Leserbriefe, die Vertreter/innen der Schulen und alteingesessene Eltern verfasst haben, lässt sich insgesamt festhalten: In Bezugnahmen auf Rechtsgrundlagen von Klassenfahrten werden zum einen Vorhaltungen abgemildert und pädagogisches Personal wird vor Schuldzuweisungen in Schutz genommen, zum anderen erfolgen Bezüge auf Rechtsgrundlagen zur Konstruktion von Verpflichtungsverhältnissen, in die die oppositive Elterninitiative eingepasst werden soll. [89]

4.2.1.2 Abwehr der Kritik an Klassenfahrten und Schulpädagogik durch Explikation ihres pädagogischen Wertes

Mit dem Bestreben der mennonitischen Elterninitiative, ihre Kinder von der Teilnahme an Klassenfahrten zu befreien, steht auch die Schulpädagogik infrage. Im Leserbrief des Elternsprechers sind es insbesondere folgende Aspekte, die eine Infragestellung des Wertes der Schulpädagogik implizieren:

In diesen Textpassagen des Leserbriefs des Elternsprechers wird eine prinzipielle Abwertungs- und Ablehnungshaltung gegenüber der Schulpädagogik verdeutlicht. Zurückweisungen dieser Urteilsperspektive realisieren sich in den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft einmal darin, dass die Repräsentant/innen der Schulpädagogik, die Lehrer und Lehrerinnen, exkulpiert werden, zum anderen darin, dass der mennonitischen Elterninitiative bzw. ihrem Sprecher Diffamierungsabsichten dieses Berufsstandes angelastet werden. So verteidigt eine Lehrerin, die über reiche Erfahrungen mit Klassenfahrten verfügt, sich und ihren Berufsstand folgendermaßen:

Die Mehrheit der Eltern vertraut uns ihre Kinder nicht nur Tag für Tag, sondern zeitweise auch über Nacht an, weil sie wissen, dass wir jedem einzelnen Kind unsere Fürsorge und Aufmerksamkeit zukommen lassen.

Die Mehrheit der Eltern unterstützt uns dabei, Freundschaften zwischen Kindern unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft, Nationalität und Religion zu fördern, weil nur so ein friedliches und tolerantes Miteinander im Erwachsenenleben möglich ist. Die Mehrheit der Eltern erkennt auch an, dass Klassenfahrten kein "Extra-Urlaub" für Lehrer sind. Die Vorbereitung und Durchführung einer solchen Fahrt bedeuten eine Menge Zeit und Mühe, die wir als Lehrer sicher nicht auf uns nehmen würden, wenn wir nicht von dem Nutzen für die Kinder überzeugt wären.

Vor ein paar Monaten wurde ich zu einem Klassentreffen ehemaliger Schüler und Schülerinnen eingeladen, die ich vor acht Jahren aus der vierten Klasse entlassen habe. Es hat mich sehr gefreut zu erfahren, wie viele Freundschaften immer noch zwischen den jetzt jungen Erwachsenen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und Religion bestehen. Und was war wohl das Hauptthema unserer gemeinsamen Erinnerungen? Richtig, die unvergessliche Klassenfahrt am Ende des dritten Schuljahres! (Lb 5) [91]

Dem Negativbild von der Rolle der Lehrer/innen auf Klassenfahrten wird hier entgegengetreten, indem auf ein Vertrauensverhältnis zur Mehrheit der Eltern hingewiesen und darauf verwiesen wird, dass diese Eltern auch die Grundidee des sozialen Lernens teilen. Außerdem wird die pädagogische Mehrarbeit, die Lehrer/innen bei Klassenfahrten auf sich nehmen, als ein Belastungsmoment angeführt, das auch von Eltern als solches gesehen werde. Schließlich wird in Erzählform eine Begebenheit wiedergegeben, mit der der positive Erlebniswert von Klassenfahrten belegt werden soll. [92]

In den Leserbriefen derer, die die Klassenfahrten verteidigen, wird auf das Anliegen der mennonitischen Elterninitiative auch so reagiert, als würde ihm ein Verkennen des pädagogischen Wertes von Klassenfahrten und der sittlich-moralischen Grundlagen der Schulpädagogik zugrunde liegen; ferner so, als müssten der Elterninitiative diese pädagogischen Werte noch vermittelt werden.

Die Lehrerinnen und Lehrer geben durch ihre Arbeit und ihr zusätzliches Engagement dazu umfangreiche Orientierungshilfen. Die Schule ergänzt so das Elternhaus und bietet Geborgenheit, Halt und vertrauensvollen Umgang.

Die christliche Ethik ist die unbestrittene klare Ausrichtung in der Schule und definiert in allen Fragen das anzustrebende Ziel.

Diese Werte kann die Schule und das Lehrerkollegium nur vermitteln, wenn neben den Bildungs- auch diese anderen Erziehungsziele umgesetzt werden. Dazu sind Klassenfahrten, Studientagungen und Studienfahrten unverzichtbare Bestandteile unseres Schullebens.

Gerade diese gemeinsamen Erlebnisse sind Grundlagen für Freundschaften, Rücksichtnahme und Übernahme von Verantwortung gegenüber anderen. Die Klassenfahrten tragen zur Integration aller Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße bei. In diesem Rahmen werden das soziale Lernen, Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung ganz besonders gut gefördert. (Lb 7) [93]

Das Explizieren des pädagogischen Wertes der Schulpädagogik im Allgemeinen und der Klassenfahrten im Besonderen ist hier von bekenntnisartigem Zuschnitt. Zu Beginn dieses Leserbriefausschnitts wird die christliche Ethik als sittlich-moralisches Fundament der Schulpädagogik genannt. Damit wird zweifelsohne eine enge Bindung der Schulpädagogik an christliche Lehren unterstrichen, offen bleibt hier aber, inwieweit damit auch das Glaubensfundament einbezogen ist, dass die Mitglieder der mennonitischen Elterninitiative als bindend ansehen. [94]

4.2.1.3 Zurückweisung der Kritik an Klassenfahrten und Schulpädagogik als Standpunkt einer Sondergruppe

In ihren Auseinandersetzungen mit den mennonitischen Positionen zu Klassenfahrten und Schulpädagogik argumentieren die Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft auch mit der gesellschaftlichen Stellung und dem soziokulturellen Sonderstatus der Elterninitiative. [95]

Die Zuweisung eines Sonderstatus erfolgt in der Weise, dass die eigene Position zur Schulpädagogik (inklusive der positiven Einstellung zu Klassenfahrten) als eine Position ausgewiesen wird, die nicht nur von anderen Alteingesessenen, sondern auch von anderen Glaubensgemeinschaften und sogar von anderen Mennonit/innen geteilt werde (Lb 3). Die Minderheitenstellung wird auch in der Weise konstruiert, dass der Sprecher der Elterninitiative als Protagonist einer Sondergruppe, die innerhalb der mennonitischen Glaubensgemeinschaft besteht, definiert wird:

Doch ist es auch wichtig zu erwähnen, dass noch lange nicht alle Mennoniten diese Meinung haben und dass Herr [NAME DES ELTERNSPRECHERS] derjenige ist, der für mehrere Tausend andere Glaubensschwestern und -brüder den Kopf hinhält. (Lb 20) [96]

Hinweise auf den Minderheitenstatus der Elterninitiative tauchen aber nicht bloß als Argument zur Schwächung der von ihr geltend gemachten Positionen auf, sondern auch als ein Merkmal, das zu Diskriminierungszwecken herausgestellt wird, etwa indem "radikales Denken" zugeschrieben wird:

Es sind nicht sehr viele Familien, die so radikal denken. (Lb 23) [97]

Oder sie werden mit umgangssprachlich geläufigen Devianzkategorien belegt:

Warum sollten nur in unserer Gesellschaft "schwarze Schafe" existieren? (Lb 24) [98]

Solche Hervorhebungen des Minderheitenstatus und der stark abweichenden Denkweise dienen dazu, Interessen und Sichtweisen der Elterninitiative als nicht ernst zunehmend, als nicht berücksichtigungsfähig usw. zu behandeln. [99]

4.2.1.4 Zurückweisung der Kritik an Klassenfahrten und Schulpädagogik durch Kritik an und Diskreditierung der mennonitischen Erziehung

In den Leserbriefen, die sich der Mehrheitsgesellschaft zuordnen lassen, finden sich des Weiteren solche Textpassagen, die den Wert der Schulpädagogik verteidigen, indem zum Gegenangriff übergegangen wird und die (unterstellten) mennonitischen Vorstellungen eines richtigen oder besseren Schulbetriebs bzw. einer an biblischen Glaubenssätzen orientierten Erziehung attackiert werden. Das Verteidigen der für wichtig und wertvoll erachteten Schulpädagogik realisiert sich dabei zum einen in einer pejorativen Wortsemantik und im Gebrauch überzeichnender und diskreditierender Ausdrücke für das, was der Elterninitiative als präferierte Pädagogik unterstellt wird. So ist z.B. von einer Erziehung der Kinder zu Unfrieden und Hass (Lb 17) die Rede oder es wird von Schulleiter/innen verkündet, man wisse eine pädagogische Käfighaltung zu verhindern (Lb 13). [100]

Ebenso werden die pädagogischen Leitvorstellungen der Elterninitiative als in sich widersprüchlich eingeordnet. In dem folgenden Ausschnitt aus einem Leserbrief, der von Schulleiter/innen, Lehrer/innen und Mitgliedern des Elternbeirats einer Schule verfasst wurde, wird die Forderung der Elterninitiative als eine aufgegriffen, die Anlass dazu gibt, ihr genau das vorzuwerfen, was sie dem Schulsystem vorwirft – die Ausübung von Zwang:

(Die Initiator/innen, U.R.) ... wollen, das (sic!) ihre Kinder sich "ohne Zwang für ihren Lebensweg entscheiden", zwingen sie aber gleichzeitig, nicht an Klassenfahrten teilzunehmen. (Lb 9) [101]

Eine ähnliche Argumentation findet sich in einem Leserbrief, den ein Lehrer verfasst hat:

Wenn von den Mennoniten gefordert wird, dass sich ihre Kinder "ohne Zwang für ihren Lebensweg entscheiden sollen", so widerspricht das im eklatanten Maße dem von diesen Eltern ausgesprochenen Verbot, an Klassenfahrten teilzunehmen, da ich persönlich von sehr vielen Kindern weiß, wie gerne sie auch einmal bei einer solchen Veranstaltung mitmachen würden. (Lb 8) [102]

Das Verteidigen der Schulpädagogik realisiert sich zum anderen darin, dass auf pädagogische Leitvorstellungen der mennonitischer Eltern Bezug genommen wird und diese als Vorstellungen attackiert werden, die dem Eltern-Kind-Verhältnis nicht angemessen sind. So gehen einige Leserbrief-Autor/innen auf einen erzieherischen Aspekt ein, der von der Elterninitiative selbst gar nicht ins Feld geführt wurde, dieser Aspekt – mangelndes Vertrauen – wird den mennonitischen Eltern als symptomatisch für eine defizitäre Erziehungskonzeption angelastet. Die alteingesessenen Leserbriefschreiber/innen werfen ihnen vor, dass sie das Eltern-Kind-Verhältnis nicht auf eine Vertrauensbasis stellen und im Umgang mit der nachwachsenden Generation kein Vertrauen walten lassen:

Wieso vertrauen diese Eltern, wenn sie so gewissenhaft erzogen haben, nicht einfach mal ihren Kindern, wieso sehen sie ständig nur das Negative, statt sich, wie es viele Eltern tun, auf die vermittelten Werte zu verlassen, die ihre Kinder für entsprechende Situationen stark machen sollen? (Lb 8) [103]

In dem folgenden Ausschnitt wird der Vorwurf mangelnden Vertrauens ausgeweitet zu einem Vorwurf mangelnden Selbstvertrauens in die eigene Erziehungskonzeption:

Mir stellt sich die Frage, wie diese Herren das Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, (sic!) wider Deinen Nächsten definieren, und die Frage nach dem Wert der Erziehung, wenn diese Herren befürchten, ihre Kinder könnten bei der ersten Begegnung mit der Versuchung auf nimmer Wiedersehen (sic!) vom tugendsamen Wege abweichen. (Lb 3) [104]

In einem anderen Leserbrief wird nach dem Herausstellen der inadäquaten Erziehungskonzeption, die bei den mennonitischen Eltern gesehen wird, eine Deutung hierzu entwickelt: Das Streben nach einem Leben in einer Sozialwelt, die von anderen abgetrennt ist, wird hier mit gänzlich defizitärem Orientierungsvermögen in Verbindung gebracht:

Wünschen Sie vielleicht die Geborgenheit des Ghettos aus mangelndem realitätsorientiertem Handlungsvermögen? (Lb 25) [105]

Schließlich werden die pädagogischen Leitvorstellungen der Elterninitiative auch mittels Aussagen über deren "Erziehungserfolge" als nicht bewährungstauglich eingestuft; in dem folgenden Textstück geschieht dies auf dem Wege der Wiedergabe eigener Beobachtungen:

Noch ein Wort zu der beschriebenen autoritären Erziehung. Sie muss bei einem Teil der Jugendlichen dieser Glaubensrichtung nicht so sehr gefruchtet haben, denn wenn man sich nach 19 Uhr in die Innenstadt begibt, dann kann auf dem [VOR- UND NACHNAME]-Platz der Erfolg dieser Erziehung "bewundert" werden.

Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass es vielleicht auch ausreicht, seinen Kindern zu vertrauen. (Lb 15) [106]

Ein Versagen der mennonitischen Erziehungskonzeption wird hier in Anspielung auf Verhaltensauffälligkeiten jugendlicher Mennonit/innen konstatiert. [107]

4.2.1.5 Zurückweisung der Kritik an Klassenfahrten und Schulpädagogik als Kritik einer Gruppe, der es an Kooperationsbereitschaft mangelt

Der ablehnenden Haltung gegenüber Klassenfahrten und Schulpädagogik wird auch begegnet, indem erfolgloses Bemühen um die besonderen Wünsche und Interessen der mennonitischen Eltern geschildert wird. In dem folgenden Ausschnitt aus dem Leserbrief eines Elternpaares werden Erfahrungen mit mennonitischen Eltern bei der Planung einer Klassenfahrten wiedergegeben.

Es wurden in diesem Falle Kompromissangebote gemacht, die dann aber den betroffenen Eltern immer noch nicht ausreichten. Eine Mutter der Betroffenen hätte die Klassenfahrt begleiten sollen. Das Ziel wurde in unmittelbarer Nähe gefunden (Haus [ORTSNAME]), so dass die Kinder abgeholt wurden.

Ersteres kam nicht zustande, beim Zweiten feilschte man dann um die Abholzeit. Ja meint man denn (sic!), unsere Geduld und Toleranz ist schier unerschöpflich? (Lb 24) [108]

Geschildert wird hier eine Begebenheit, an der die Leserbriefschreiber/innen (ein Elternpaar) selbst beteiligt waren und bei der die alteingesessenen Eltern sich darum bemüht haben, Sorgen mennonitischer Eltern hinsichtlich einer anberaumten Klassenfahrt ernst zu nehmen und ihnen daher Kontrollmöglichkeiten eingeräumt haben. Auf dieses – von den Eltern als besonders weitgehendes Entgegenkommen verstandene – Angebot haben die mennonitischen Eltern dann (so das Verständnis der Leserbriefschreiber/innen) nur mit hinhaltendem Taktieren reagiert und das "Kompromissangebot" nicht wirklich angenommen. [109]

In dem folgenden Ausschnitt führt ein Lehrer aus, wie Erfahrungen mit mennonitischen Eltern seine Haltung gegenüber diesen Eltern verändert haben:

Ich habe schon eine Klassenfahrt durchgeführt, mit neun(!) von 19 Schülern eines dritten Schuljahres. Im vierten Schuljahr habe ich einen erneuten Anlauf genommen, bin aber vorher zu den "Verweigerer-Familien" hingegangen – und es fuhren alle bis auf ein Kind mit! Man kann offensichtlich einiges durch Aufklärung und Überzeugung erreichen.

Mir haben Eltern noch eine andere Begründung für eine Nichtteilnahme an Klassenfahrten besonders von Grundschulkindern gegeben als die o. a. Gründe. Zitat von Eltern: "Unser Kind muss immer(!) bei seinen Eltern sein!" Das sei quasi ein Naturgesetz. Bisher habe ich immer Verständnis für Familien aus den Brüdergemeinden gehabt – und um diese Glaubensgemeinschaft geht es hier hauptsächlich – und auch um Verständnis geworben, doch allmählich resigniere ich und entwickle wie viele Bekannte eine gewisse Reserviertheit, wenn nicht Unbehagen. (Lb 23) [110]

Anhand solcher Erfahrungsberichte wird den gegen Klassenfahrten und gegen Schulpädagogik eingestellten Eltern angelastet, das Bemühen um ihre Belange und die dabei gezeigte Toleranz nicht zu würdigen, sondern zu missbrauchen. Im Zuge der Wiedergabe solcher persönlichen Erfahrungen werden sie als Akteure dargestellt, die selbst dafür verantwortlich sind, dass man ihnen nicht mehr entgegen kommen kann, sich nicht mehr um sie zu bemühen vermag. [111]

4.2.2 Reaktionen auf die Beanspruchung demokratischer Rechte, auf das mennonitische Selbstverständnis als Christ/innen und auf die Verweigerungshaltung gegenüber Integrationserwartungen

Im vorausgegangenen Abschnitt habe ich gezeigt, welcher Verwirklichungssinn seitens der Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft hervorgebracht wird in der Auseinandersetzung mit der mennonitischen Position zu Klassenfahrten und Schulpädagogik. In diesem Abschnitt geht es nun um den Verwirklichungssinn, der in Reaktionen auf die Diskurspositionen, die über die schulpädagogischen Interessen hinausgehen, hervorgebracht wurde. [112]

4.2.2.1 Der Elterninitiative Legitimationsgrundlage absprechen und den Geltungsanspruch der bestehenden Rechtsordnung untermauern

Die Beanspruchung von Grundrechten und Rechtsorganen durch die Elterninitiative ist dadurch in das Aufmerksamkeitszentrum der Mehrheitsgesellschaft gerückt, dass in dem Leserbrief des Elternsprechers das Vorgehen "Gegen Zwang bei Klassenfahrten" als berechtigtes demokratisches Anliegen bezeichnet worden ist. Es waren zudem sicherlich Zeitungsberichte über die Vorkommnisse an den örtlichen Schulen, die diese Position publik und damit zu einer Sinnzumutung für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft gemacht haben. [113]

In den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft, in denen zur Beanspruchung von Grundrechten durch die Elterninitiative Stellung genommen wird, spielen Bezüge auf die bestehende Rechtsordnung eine wichtige Rolle. Konstruiert wird dabei eine Vorrangigkeit der Befolgungspflicht dieser Rechtsordnung gegenüber den Möglichkeiten der Durchsetzung von Rechtsansprüchen. Dem Mitteilungsgehalt nach wird der Elterninitiative dabei klar gemacht: Wer die Rechtsordnung der Bundesrepublik in Anspruch nehmen will, muss sich erst einmal an bestehende rechtliche Regelungen halten. Beispiel:

Als Aussiedler hat Herr [NAME DES ELTERNSPRECHERS] sicher alle Vergünstigungen in Anspruch genommen, die teilweise überzogen geboten worden sind, nun sollte er auch die Pflichten erfüllen, die er unserem Staat schuldig ist. (Lb 16) [114]

In lapidarer Form erfolgt das Streitigmachen einer Legitimation zum Einklagen grundgesetzlich garantierter Rechte, wenn, wie in dem folgenden Ausschnitt, mangelnde Evidenz von Grundrechtsverletzung konstatiert wird:

Es ist unbestritten, dass jeder Bürger seine Grundrechte wahrnehmen soll, ich kann allerdings nicht erkennen, wo sie hier eingeschränkt werden. (Lb 15) [115]

Das Anliegen der Elterninitiative wird von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft auch angesehen als Versuch, die Rechtsordnung der Bundesrepublik und die demokratischen Regeln, nach denen das Staatswesen funktioniert zu unterlaufen. Dementsprechend wird die Elterninitiative als Gemeinschaft adressiert, die sich undemokratisch verhält und die der Elementaraufklärung und der "Nachhilfe" in Sachen Demokratie bedarf:

Alle Bürger dieses Landes haben durch demokratische Wahlen die Möglichkeit die Regierungsbildung zu beeinflussen und übertragen deren Vertreter ihre Entscheidungszustimmung (sic!) Also, (sic!) muss jeder auch beschlossene Gesetze akzeptieren und achten. Nur so funktioniert die Gemeinschaft. (Lb 24) [116]

4.2.2.2 Zurückweisung des Anspruchs auf ein besonderes Christsein durch Aufdeckung unchristlicher Züge

Der für die Denk- und Lesegewohnheiten nicht-mennonitischer Leser/innen auffällige Gebrauch von Bibelzitaten, die Verwendung von Bibelstellen in Letztbegründungsfunktion und die deutliche Hervorhebung von Differenz im Christ Sein (siehe Abschnitt 4.1.2, Diskurspositionen [d] und [e] im Leserbrief des Elternsprechers) haben für die "Gegner" Sinnzumutungen produziert, die für ihr eigenes christliches Glaubensverständnis virulent sind. Das dezidiert biblische Argumentieren bewerten sie als überzogenen und weltfremden Umgang mit der Bibel. [117]

Dieser Sinnzumutung treten Leserbriefautor/innen aus der Mehrheitsgesellschaft entgegen, indem sie sich selbst in den religiösen Sinnbezirk begeben und der mennonitischen Elterninitiative einen "unchristlichen" Umgang mit der zentralen Sinnquelle christlichen Glaubens vorwerfen. Der Umgang mit Bibelstellen und der Anspruch auf ein "besseres Christ Sein" wird von ihnen gar als unchristliches Treiben anprangert. Eine solche Beschuldigung unchristlichen Treibens erfolgt in dem nachstehenden Ausschnitt im Stile des ironisierenden Anfragens:

Hier werden in den Auseinandersetzungen Kinder benutzt, um ein nicht verständliches Weltbild zu vermitteln. Ob das der "liebe Gott" überhaupt zulässt? (Lb 17) [118]

Das sich Einlassen auf den von der Elterninitiative relevant gesetzten religiösen Sinnbezirk bzw. auf das Argumentieren mit Bibelzitaten, das der Elternsprecher vorexerziert hat, nimmt in dem folgenden Text ebenfalls sarkastische Züge an:

Ich jedenfalls sehe die Erziehung an den [ORTSNAME] Schulen, und hierzu gehören auch die Klassenfahrten, als Ergänzung der elterlichen Erziehung unserer Kinder zu glücklichen, freien und toleranten Menschen. Und ich kenne eine Menge Menschen, moslemischer, christlicher und auch mennonitischer Glaubensrichtungen, die dieses genau so sehen. Meine Herren [NAME I] und [NAME II], tun auch sie endlich diesen Schritt. Vielleicht hilft ihnen hierbei die Lektüre der Bibel. Ich empfehle Ihnen die Ratschläge Kohelets: 9, 7 bis 12,8. (Lb 3) [119]

Sarkastische Züge hat die Empfehlung, die Ratschläge Kohelets40) zu lesen, insofern, als mit der Sinnquelle operiert wird, die für die mennonitischen Eltern von fundamentaler Bedeutung ist (die Bibel) und sie damit als Gläubige behandelt werden, die über den richtigen Umgang mit dieser Sinnquelle belehrt werden müssen. [120]

In anderen Leserbriefen finden sich Passagen, in denen die Art und Weise, in der die mennonitische Elterninitiative ihre Interessen vertritt, dezidiert als unchristlich eingeordnet und als sündhaftes Handeln angeprangert wird:

Um Herrn [NAME DES ELTERNSPRECHERS] Argumentationsstil aufzunehmen: Hoffentlich wird Gott denen verzeihen, die ihren mangelnden Integrationswillen und ihre durchaus auch ehrliche Angst um Gemeindemitglieder in seinen Willen verpacken und mit ihrem strengen Glauben begründen. Das ist für mich, als Christin, eine Sünde. (Lb 20) [121]

Während in dem vorstehenden Ausschnitt der Vorwurf des unchristlichen Verhaltens per expliziter Kategorisierung als "Sünde" vorgenommen wird, geschieht dies in dem nachstehend zitierten durch bloße Anhängung des achten Gebots an eine verhaltensqualifizierende Aussage:

Wer soviel Misstrauen in sich trägt, ist ein armer Mensch auf dieser schönen Welt. "Du sollst nicht Falschzeugnis reden, wider deinem Nächsten." (Lb 22) [122]

In einem anderen Leserbrief dieser Autorin wird der Vorwurf des Verstoßes gegen christliche Glaubenssätze in noch massiverer Form erhoben. Sie fühlt sich durch Kundgaben des mennonitischen Elternsprechers als Christin zutiefst herabgewürdigt und hält ihm vor, mit der Verwendung von Bibelstellen zur Diskriminierung anderer Christ/innen die Heilige Schrift zu verunglimpfen:

Mich empört und macht wütend, wenn eine "Gemeinde" sich hier ansiedelt und versucht, uns zu "diskriminieren". Wie kommen Sie dazu, was für eine Frechheit. Das Wort "Teufel" wird von Ihnen schamlos genutzt. 50 Jahre haben wir friedlich zusammen gelebt und lassen uns nicht mit den verschiedensten "Bibelsprüchen" in eine Ecke drängen.

Selbst Pastor [NACHNAME] von der ältesten Mennonitengemeinde ist der Meinung und Überzeugung, dass man sich den Herausforderungen stellen muss und nicht der Welt verschließen darf.

Die Bibel sollten Sie nicht verunglimpfen und nur Ihre, für Sie passenden Verse benutzen. Andersgläubige Mitbürger liebt Gott genauso, jedoch ohne persönliche Ansprüche und Diskriminierungen, wie es auch unser Grundgesetz vorgibt. (Lb 17) [123]

Die Autorin reagiert hier ausgesprochen ungehalten auf Stellungnahmen von mennonitischer Seite. Der erste Absatz zeigt, dass sie sich durch die Bestrebungen einer (mennonitischen) Gemeindegründung und durch biblisch untermauerte Bestrebungen der Distanzierung von anderen Christ/innen in ihrem Selbstverständnis als Christin herabgewürdigt fühlt. Außerdem beschuldigt sie hier die ethno-konfessionelle Gemeinschaft, mit ihren Bestrebungen Unfrieden in der Ortsgesellschaft gestiftet zu haben. [124]

Der zweite Absatz dieses Leserbriefausschnitts enthält eine allgemeine Erwartungsformulierung bezüglich des Orientierungsverhaltens gegenüber dem Weltgeschehen. Damit wird auf den spezifischen Umgang mit biblischen Lehren im Umfeld der mennonitischen Elterninitiative rekurriert. Unter Berufung auf einen Pastor der ältesten Mennonitengemeinde in der Region wird diese Glaubenshaltung als eine weltabgewandte und realitätsferne qualifiziert. Es folgt ein Absatz, in dem an den Elternsprecher appelliert wird, den "verunglimpfenden" Umgang mit der Bibel zu unterlassen. Der darin enthaltene Vorwurf des Missbrauchs der Heiligen Schrift gründet darin, dass die mennonitische Seite aus der Bibel nur Stellen zitiere, die das eigene Glaubenssystem stützen. In der Form eines allgemeinen Glaubenssatzes ist eine Behauptung über das Verhältnis Gottes zu den Menschen verschiedenen Glaubens und eine Ermahnung, es ihm – und dem Geist des Grundgesetzes – gleich zu tun, angefügt (siehe: Andersgläubige liebt Gott genauso ...). Der letzte Satz enthält zwei Vorhaltungen gegenüber der mennonitischen Elterninitiative: den Vorwurf eines unzulässigen Umgangs mit der Bibel und den Vorwurf, mit Mitmenschen in einer Weise umzugehen, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. [125]

Der Vorwurf des unchristlichen Agierens erfolgt in einem anderen Leserbrief durch Anführung und Explikation einer Bibelstelle. Das sich Einlassen auf den Stil des Argumentierens mit der höhersymbolischen Sinnquelle erfolgt dabei im Stile eines Belehrungsdiskurses über die richtige Auslegung der Bibel:

In der Bibel steht "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" – meiner Meinung nach einer der wichtigsten Glaubens-, wenn nicht sogar Grundsätze des Christentums! "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst." (sic!) heißt so viel wie "akzeptiere und toleriere Deinen Nachbarn, wertschätze ihn" (Lb 12) [126]

Reaktionen, die sich speziell auf Formulierungen im Leserbrief des Elternsprechers beziehen, legen ihm auch zur Last, mit seiner Stellungnahme zum Tanzen eben diese kulturelle Praxis zu verunglimpfen. So wird in einem Leserbrief nach der Berechtigung und Zulässigkeit der moralischen Urteilsperspektive des Elternsprechers gefragt, ferner wird angefragt, ob es nicht ein heimliches und von den Eltern unterdrücktes Tanzbedürfnis unter den eigenen Kindern gebe, auch wird die Legitimierung dieser Position durch die Bibel infrage gestellt:41)

Weiterhin empfinde ich es gar für eine Frechheit, Tanzen im Allgemeinen als vulgär zu bezeichnen. Ich habe zwei Töchter im Alter von 15 und 20 Jahren, die gerne und oft tanzen, aber keinesfalls vulgär.

Sind meine Kinder deswegen schlechter als die seinen? Wer sagt ihm, dass seine Kinder nicht tanzen wollen? Wo steht in der Bibel, dass Tanzen verboten ist? (Lb 15) [127]

Schließlich wird der im Leserbrief des Elternsprechers vorgenommenen Berufung auf biblische Lehren auch entgegengetreten, indem auf die besonderen zeitgeschichtlichen Umstände, unter denen die Bibel entstanden ist, verwiesen und die Unzulässigkeit der Übertragung ihrer Lehren in die Jetztzeit betont wird:

Sie vergessen u. a. dabei, dass man nicht alles aus der Bibel 1:1 auf unsere heutigen Verhältnisse übertragen kann, ohne die Zusammenhänge und Hintergründe zu beachten unter (sic!) welchen Paulus und Andere (sic!) ihre Aussagen machten, bzw. diese wiedergegeben wurden. (Lb 23) [128]

Dieser Leserbrief ist, wie etliche andere auch, namentlich an den Elternsprecher adressiert. Ihm wird hier vorgehalten, den zeitgeschichtlich eingeschränkten Geltungsanspruch dieser Sinnquelle zu verkennen oder auszublenden. [129]

4.2.2.3 Bezichtigung verborgener Motive bei der Einnahme einer Verweigerungshaltung gegenüber Integrationswartungen

Die Verweigerungshaltung gegenüber Integrationsanforderungen ist für die Alteingesessenen vor allem dadurch zu einem relevanten Aspekt geworden, dass in dem Leserbrief des Elternsprechers der Anspruch auf Bewahrung der ethno-konfessionellen Identität erhoben und lediglich Bereitschaft zur sprachlichen und strukturellen Integration bekundet wurde. Außerdem sind im Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers Gründe dafür genannt worden, weshalb seine Wir-Gemeinschaft um Distanz zur Mehrheitsgesellschaft bemüht ist (die Leitkulturpolitik; die antiautoritäre Erziehung; die Christ/innen, die andere Erziehungsziele haben). Die persönlichen Erfahrungsberichte über Verhandlungen und Kooperationsversuche mit mennonitischen Eltern, die in einige Leserbriefe eingearbeitet sind (siehe Abschnitt 4.2.1), zeugen davon, dass "Integrationsverweigerung" und "Distanzierung von der Umgebungsgesellschaft" auch schon in anderen Interaktionskontexten zu besonders gravierenden Sinnzumutungen für Alteingesessene geworden sind. [130]

Resultate der Verständnisbildung hinsichtlich der Integrationsverweigerung der mennonitischen Elterninitiative tauchen in den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft zum einen in Kategorisierungen wie mangelnder Integrationswille (Lb 20), abkapseln (Lb 4), nicht gewillt, mit uns zu diskutieren, (Lb 21) usw. auf. Zum anderen sind sie in Textpassagen enthalten, in denen Erklärungen dafür, dass die ethno-konfessionelle Gemeinschaft um Abschottung bemüht sei, geliefert werden. Diese "Erklärungstheorien" zielen auf die soziale Verfassung und innere Stabilität der Glaubensgemeinschaft. So wird ein Grund für die Verweigerungshaltung in Bestandsängsten als religiöse Gruppierung gesehen:

Meiner Meinung nach sind es ganz andere Probleme, die sich über das Thema "Klassenfahrten" nur (endlich einmal) Ausdruck verliehen haben.

Denn wer die Welt mit all ihren Facetten, Konsumgütern und Freiheiten erst einmal kennen gelernt hat, kehrt nur schwer in einen autoritären Glauben zurück. (Lb 20) [131]

Die Sorge der Mennonit/innen um den Fortbestand der Glaubensgemeinschaft wird hier als Motiv für Abschottungsbestrebungen ins Feld geführt. Die Erklärungsfiguren, die in den Leserbriefen für das mennonitische Abschottungsverhalten herangezogen werden, unterstellen aber auch bestimmte Wirkungsabsichten und operieren mit Behauptungen über kultur- und gemeinschaftsschädigende Ziele, die von der Elterninitiative verfolgt werden. Ein Beispiel:

Offensichtlich gibt es einige Mitbürger, die wollen einen Teil unserer gewachsenen liberalen Kultur in Deutschland in die Richtung ihrer radikal fundamentalistischen Grundüberzeugung verändern. (Lb 23) [132]

Diese Erklärungstheorie ist an eine längere Textpassage angefügt, in der der Autor, ein Lehrer, verschiedene thematische Anlässe für Auseinandersetzungen mit mennonitischen Eltern geschildert hat. [133]

4.2.3 Reaktionen darauf, dass die Mehrheitsgesellschaft für die Konfliktsituation verantwortlich gemacht wird

Der Leserbrief des Elternsprechers enthält verschiedene Textstellen, aus denen hervorgeht, dass er der Mehrheitsgesellschaft Verantwortlichkeit für die bestehenden Spannungen zuschreibt:

Auf diese Formen der Zuweisung von Schuld und Verantwortlichkeit für die bestehenden Spannungen zeigen die Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft Reaktionen, die über die rein inhaltlichen Streitpunkte hinausgehen und den Elternsprecher bzw. seine Wir-Gemeinschaft teils sehr heftig attackieren. Die hier unterscheidbaren Reaktionsweisen seien im Folgenden charakterisiert: [135]

4.2.3.1 Vorwurf des unseriösen Agierens bei der Verfolgung eigenkultureller Interessen

Als Beispiele dafür, wie Gegenanschuldigungen vorgenommen werden, können die in Abschnitt 4.2.1.5 zitierten Passagen angesehen werden. Die Leserbriefschreiber/innen treten der Kritik an Klassenfahrten und der Unzufriedenheit mit der Schulpädagogik entgegen, indem sie das Verhalten mennonitischer Eltern anprangern. Diese Passagen zielen nicht nur darauf, den Wert der Schulpädagogik zu verteidigen, sie problematisieren auch das Verhalten mennonitischer Eltern unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit für zunehmende Ressentiments und Animositäten. [136]

Neben solchen Verhaltensweisen, die mennonitische Eltern im schulischen Kontext an den Tag gelegt haben, fungieren auch Textpassagen aus dem Leserbrief des Elternsprechers als legitimer Anlass dafür, diesem unseriöses und Norm verletzendes Handeln zur Last zu legen, um so die Anschuldigungsrelation umzukehren:

In dieser Situation kommen Sie, Herr [NAME DES ELTERNSPRECHERS], in Ihrem Leserbrief als erstes mit einer glatten Unwahrheit: die Schüler waren eben nicht bis 3 Uhr nachts, das heißt fast die ganze Nacht, auf dem Zimmer der Mädchen, sondern nur gut eine Stunde. Die Pädagogen kamen eben nicht zu spät, sondern unmittelbar nach ihrer Benachrichtigung.

Warum reden Sie als Christ falsch Zeugnis, wo Sie sich doch jederzeit in der Schule über den richtigen Sachverhalt hätten kundig machen können? (Lb 13) [137]

Diese Textpassage findet sich in dem Leserbrief, in dem hauptsächlich die ordnungsgemäße Behandlung der Vorfälle auf einer Klassenfahrt dargestellt wird (siehe Abschnitt 4.2.1). Nach der Richtigstellungspassage ("nur gut eine Stunde auf dem Zimmer"; "die Pädagogen kamen nicht zu spät, sondern gleich nachdem sie benachrichtigt wurden") folgt eine an den Elternsprecher gerichtete Beschuldigung, wissentlich die Unwahrheit zu sagen. Diese Anschuldigung wird noch dadurch gesteigert, dass auf die besondere Geltung, die die christlichen Gebote für den mennonitischen Elternsprecher haben, angespielt wird. [138]

Die Schuldverhältnisse werden tendenziell auch dort umgekehrt, wo Betroffenheitsformeln verwendet werden. Solche Formulierungen, die inneres aufgewühlt Sein oder Erregtheit beim Lesen des Leserbriefs des Elternsprechers wiedergeben42), lasten diesem ungehörige, ja, verletzende Kundgaben an (ohne die fälschlichen, unseriösen, unverschämten Behauptungen usw. explizit anführen zu müssen). [139]

Eine vergleichbare Symbolisierungsfunktion hat die Verwendung von Verbalinjurien, dabei kommt allerdings das Konflikt intensivierende Moment des Zurückschlagens mittels kränkender und beleidigender Aussagen ins Spiel. Einen Eindruck von dem Repertoire, von dem dabei Gebrauch gemacht wird, mögen diese beiden Textausschnitte vermitteln:

Da wird eine "Berichtigung", von Herrn [NACHNAME], präsentiert, die zeigt erneut, wie dieser Mensch züngelt und "uns" in einer unverschämten Weise beleidigt, diffamiert und droht mit angeblichen Beweismaterialien. (Lb 22)

Beim nochmaligen Durchlesen des überlangen Leserbriefes des Herrn [NACHNAME] kann ich mich unter Einschluss diverser Bibelzitate des Eindrucks der Philisterei nicht erwehren, um nicht zu sagen: Pharisäertum: Was ist ein Philister? Ein hohler Darm, mit Furcht und Hoffnung ausgefüllt, dass Gott erbarm! (Goethe, Zahme Xenien). (Lb 16) [140]

4.2.3.2 Vorwurf deplatzierten Orientierungsverhaltens und defizitärer kultureller Ausstattung

Die Tatsache, dass der Mehrheitsgesellschaft die "rote" und braune" Vergangenheit vorgehalten wurde und auch die Tatsache, dass die bestehenden Spannungen vom mennonitischen Elternsprecher in den Verantwortungsbereich der Mehrheitsgesellschaft verwiesen wurden, wird in diesen Leserbriefen als symptomatisch für defizitäres kulturelles Orientierungswissen und realitätsfernes Orientierungsverhalten eingeordnet. So wird in dem folgenden Zitat dem Elternsprecher ein Mangel an Lernprozessen in der Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit Deutschlands angelastet:

An dieser Äußerung merkt man, dass Herr [NAME DES ELTERNSPRECHERS] mindestens 40 Jahre Aufarbeitung dieser schrecklichen Vergangenheit nicht miterlebt hat. (Lb 20) [141]

In dem folgenden Beispiel kommt zum Ausdruck, dass die Feindorientierung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft verstanden wird als ein starres Muster der Weltorientierung, das in der kollektivgeschichtlichen Vergangenheit der Mennonit/innen seine Quellen hat:

Die Feststellung in dem Artikel "Zur Sache" bringt es auf den Punkt, bevor sie hier nach [ORTSNAME] kamen, lebten sie in jahrhundertlanger Isolation in einem feindlichen Umfeld. Sind wir nun die "neuen Feinde?" (Lb 22) [142]

4.2.3.3 Infragestellung der Zugehörigkeit zur Staatskollektivität und Androhen von Repressalien

Dass es den Leserbriefschreiber/innen auch um Verteidigung einer als gefährdet angesehenen Sozialordnung geht, zeigt sich in solchen Textpassagen, in denen in äußerst scharfer Form auf Formulierungen im Leserbrief des Elternsprechers reagiert wird. Diese Passagen zeugen davon, dass für die betreffenden Autor/innen ein Konfliktstadium erreicht ist, in dem es nicht mehr um Klärung pädagogischer oder christlicher Überzeugungen geht, sondern darum, die Art und Weise, in der die mennonitische Elterninitiative ihre Interessen verfolgt zu unterbinden. Typisch hierfür sind solche Textpassagen, in denen eine "härtere Gangart" angekündigt und mit schärferen Reaktionen gedroht wird:

Und wenn Sie sich als eine verfolgte Minderheit fühlen, dann sind Sie auf dem besten Weg dorthin. (Lb 14)

Bisher war es ruhig. Er hat es geschafft, dass diese "Farbe" evtl. wieder aufflackert. (Lb 24) [143]

Symptomatisch dafür, dass es den Leserbriefschreiber/innen nicht mehr um Klärung divergierender pädagogischer Standpunkte oder christlicher Überzeugungen geht, ist die Verwendung einer Rhetorik des Ausweisens und des Freistellens von Zugehörigkeit zur staatlichen Kollektivität:

Dabei steht es doch Jedem frei dieses Land zu verlassen. Oder ist es vielleicht doch schön hier? (Lb 14)

Auch wir sind der Meinung: keiner sollte bei uns in dem wirtschaftlich so ergiebigen Land länger bleiben als er es erträgt. (Lb 24) [144]

Mittels Exklusionsrhetorik machen die Autor/innen der eben zitierten Leserbriefe deutlich, dass die ethno-konfessionelle Gemeinschaft mit dem Festhalten an ihren weltanschaulichen Positionen und auch durch die Art und Weise ihrer Interessensverfolgung Ansprüche auf Zugehörigkeit zur Staatskollektivität verwirkt hat. [145]

4.3 Die Diskurspositionen im Überblick

Die anhand der Leserbriefdebatte rekonstruierten Diskursposition der mennonitischen Elterninitiative und der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft seien hier noch einmal überblicksartig dargestellt. In Klammern finden sich Verweise auf die Abschnitte, in denen die Positionen mit Bezug auf Textmaterial rekonstruiert wurden. [146]

Die Diskurspositionen im Leserbrief des Elternsprechers:

Diskurspositionen in den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft waren:

5. Konfliktkommunikation und Beschränkungen des Fremdverstehens

Die Analysen in Abschnitt 4 sollten deutlich gemacht haben, dass den Stellungnahmen aus den jeweiligen Lagern stark ausgeprägte Differenzorientierungen zugrunde liegen und sie als Positionierungen in einer konfliktbelasteten Gruppenfiguration gestaltet sind. Dieser Aspekt soll nun in verstehenstheoretischer Perspektive vertieft werden, indem ich zeige, dass Fremdverstehen nur noch eingeschränkt stattfindet und auf beiden Seiten Bestrebungen zu erkennen sind, sich gegenüber den anderen zu positionieren als Gesellschaftsmitglieder, für die keine Verstehensbereitschaft (mehr) aufgebracht werden kann. Ich stütze mich dabei auf die bereits erwähnte Studie von MESSMER (2003), in der kommunikative Formen untersucht werden, die präferenziell werden, wenn Differenzen in den Relevanzsystemen bestehen und Kommunikationsbeteiligte antagonistische Positionen vertreten. MESSMER zeigt, dass unter diesen Bedingungen nicht mehr auf konsensorientierte kommunikative Formen zurückgegriffen wird, sondern auf solche, die geeignet sind, fremde Sinnzumutungen zurückzuweisen ("Widerspruchskommunikation"), Verantwortung für bestehende Zerwürfnisse zuzuschreiben ("Anschuldigungskommunikation") und die Beziehung zu anderen als von Feindseligkeiten bestimmt zu behandeln ("Drohkommunikation"). Diese kommunikativen Formen sind auf je besondere Weise auf die Bearbeitung der Interaktionsbedingung, dass Differenzen in den Relevanzsystemen und Interaktionsstandpunkten bestehen, zugeschnitten, und sie haben spezifische Implikationen für Verstehensprozesse. [149]

Hinsichtlich des Umgangs mit Differenzen in den Relevanzsystemen unterscheide ich in Anlehnung an die bei MESSMER analysierten Formen der Konfliktkommunikation folgende Bearbeitungsmuster

Im Folgenden seien diese Bearbeitungsmuster hinsichtlich ihrer je besonderen Interpretationslogiken charakterisiert und es sei erläutert, wie in den beiden Lagern des hier behandelten Integrationskonflikts von diesen Bearbeitungsmustern Gebrauch gemacht wird. [151]

5.1 Zustimmungsverweigerung

Bei diesem Bearbeitungsmuster sind Differenzen in den Relevanzsystemen Gegenstand argumentativer Bemühungen, wobei diese Bemühungen darauf zielen, kund zu tun, dass man andere Auffassungen, Überzeugungen und Interessen hat als die Gegenseite. Die Bearbeitung des Differenztatbestandes erfolgt hier in der Form der Widerspruchskommunikation, der jeder soziale Konflikt seine "empirische Existenz" verdankt (vgl. MESSMER 2003, S.83). Widerspruchskommunikation setzt ein "dezidiertes Verstehen" signifikanter Differenzen voraus (MESSMER spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass für Widerspruchskommunikation eine "rückwärtsgewandte Orientierung" erforderlich sei; vgl. S.150). 43) [152]

Dieses Bearbeitungsmuster gründet also in Verstehensprozessen, die bezogen sind auf vorgängige Sinnsetzungen der anderen, zielt aber darauf zu verdeutlichen, dass die vorgängigen Sinnsetzungen nicht konsensfähig sind. In der Klassenfahrtendebatte wird auf Sinnsetzungen der anderen vor allem in der Weise reagiert, dass eigenkulturelle Relevanzen expliziert werden. Die Explikation der mennonitischen Position erfolgt, indem im Leserbrief des Elternsprechers Begründungen dafür geliefert werden, dass eine andere Pädagogik und eine Lebensweise in bewusster Differenz zur Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft angestrebt werden. Die dafür gegebenen Begründungen sind rechtlicher, religiöser und historisch-politischer Art. Analog dazu explizieren die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ihre Gegenpositionen, indem sie ihr Verständnis der Rechts- und Gesellschaftsordnung, der kind- und zeitgemäßen Erziehung sowie des Christ Seins explizieren. [153]

Auf dem Wege des Explizierens eigenkultureller Relevanzen wird beiderseits bekundet, dass man nicht gewillt ist, den fremden Sinnsetzungen und Sinnzumutungen zuzustimmen. Bekundet wird dabei ein Verständnis von Differenz, das der anderen Seite eine gewisse Bereitschaft oder Fähigkeit zur Revision der eigenen Position – das Vermögen zum Umdenken und zum Dazulernen – unterstellt, obwohl in bestimmten Fragen gegensätzliche Standpunkte vertreten werden.44) Dass ein solches Verständnis von Revidierbarkeit gegnerischer Positionen orientierungsleitend ist, zeigt sich im Leserbrief des Elternsprechers u.a. daran, dass er die Leser/innenschaft des anderen Lagers einleitend auf die juristische Legitimität der Interessensverfolgung der Elterninitiative hinweist (Zuallererst sollten doch bitte alle zur Kenntnis nehmen, daß die Elterninitiative "Gegen Zwang bei Klassenfahrten mit Übernachtungen" ein berechtigtes demokratisches Anliegen ist; siehe Abschnitt 4.1.1). In den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft manifestiert sich dieses Verständnis insbesondere in Textpassagen, in denen dezidiert für den pädagogischen Wert von Klassenfahrten argumentiert wird (siehe beispielsweise Lb 7 in Abschnitt 4.2.1), aber auch in solchen Passagen, die die "richtige Auslegung" der Bibel fordern oder sogar demonstrieren sollen. [154]

Das Explizieren eigenkultureller Relevanzen zum Zwecke der Verweigerung von Zustimmung zu Sinnsetzungen der anderen Seite geht einher mit der Ausarbeitung des Geltungsanspruchs dieser Relevanzen. Nur indem solche Geltungsansprüche markiert werden, ist es für die Autor/innen möglich, sich im Sinne des eigenkulturellen Relevanzsystems für andere und für Kontrahent/innen verstehbar zu machen. Im Vergleich der Texte aus den beiden Lagern der Leserbriefdebatte lässt sich hinsichtlich der Markierung des Geltungsanspruchs des jeweils zu explizierenden Relevanzsystems folgender Unterschied feststellen: In dem Leserbrief des Elternsprechers wird der Geltungsanspruch untermauert mittels Zitaten aus der Bibel. Hervorstechend dabei ist, dass dieses Zitieren als fragloser Gebrauch einer höhersymbolischen Sinnquelle erfolgt – als Verwendung religiöser Lehren in Letztbegründungsfunktion. In den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft hingegen erfolgt das Untermauern des Geltungsanspruchs eigenkultureller Relevanzen in Bezügen auf Mehrheiten-Minderheiten-Relationen und in Markierungen eines Modernitätsgefälles (siehe Abschnitt 4.2.1). [155]

Bei der bloßen Verweigerung von Zustimmung zu fremden Sinnsetzungen ist die "soziale Achtungswürdigkeit" (MESSMER) der anderen Seite nicht infrage gestellt. Dies ändert sich, sobald gegenüber dem Verhalten und der Identität der anderen moralische Vorbehalte ausgedrückt werden, Streitigkeiten um Sachfragen geraten dabei in den Hintergrund. [156]

5.2 Verantwortungszuschreibung

Kennzeichnend für dieses Bearbeitungsmuster ist, dass die andere Seite als "Verursacher eines Übels" gilt. Als verstehensrelevante Sachverhalte stehen dabei Verhaltensweisen und Identitätsmerkmale der jeweils anderen im Aufmerksamkeitszentrum. Sie werden fokussiert als ausschlaggebend dafür, dass in der bestehenden Sozialbeziehung etwas im Argen liegt.45) [157]

Die Konstruktion von Schuld bzw. von Verantwortlichkeit der anderen erfolgt im Rekurs auf normative Implikationen des eigenkulturellen Orientierungssystems und mittels der so bestimmbaren Abweichungssachverhalte. Wie gesehen, wirft der mennonitische Elternsprecher seinen "Gegnern" vor, gegen das Prinzip der "passiven Toleranz" verstoßen zu haben. Dem Duktus seines Leserbriefes nach scheint er sich auch darauf eingerichtet zu haben, dass die "Gegner" diese Verständigungsbasis verlassen haben. In Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft taucht u.a. der Vorwurf auf, dass die mennonitischen Eltern nicht kooperationswillig seien. In dem Leserbrief, in dem dieser Vorwurf erhoben wird, wird sodann zum Ausdruck gebracht, dass eine Grenze des Zumutbaren überschritten worden sei und man daher auch keine Bereitschaft mehr zu weiteren Kooperationen aufzubringen vermöge (siehe Abschnitt 4.2.1; Lb 24). [158]

Bei der Zuschreibung von Verantwortlichkeit für das, was als Übel angesehen wird, spielen Motivkonstruktionen eine zentrale Rolle. Mittels Motivkonstruktionen lassen sich Negativcharakterisierungen der anderen Partei vornehmen, auch lässt sich damit behaupten, dass sie absichtlich zum Schaden anderer handelt (vgl. MESSMER 2003, S.198f.). Die Motivkonstruktion, die für den Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers von zentraler Bedeutung ist, steckt in dem Vorwurf, dass die "Gegner" kulturelle Hegemonialitätsansprüche verfolgten (siehe Abschnitt 4.1.1). In den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft wird die ethno-konfessionelle Gemeinschaft in die Beschuldigtenposition versetzt , indem ihr zur Last gelegt wird, aus einer spezifisch religiösen Weltsicht heraus die bestehende Gesellschaftsordnung verändern zu wollen und indem ihr mangelnde Bereitschaft bzw. mangelnde Fähigkeit zur Integration, zur Identitätsänderung und zu kooperativen Verhandlungen angelastet wird. Auch wird ihr "Treiben" mit der Sorge um den Fortbestand der ethno-konfessionellen Gemeinschaft erklärt. [159]

Während bei der Explikation eigenkultureller Überzeugungen und Interessen noch eine Orientierung an Möglichkeiten der Einflussnahme auf Anschauungen und Positionen "der anderen" gegeben ist, werden bei diesem Bearbeitungsmuster verfestigte Vorstellungen von Negativeigenschaften der anderen relevant. Das, was im Verhältnis zur anderen Seite als das Differente angesehen wird, erscheint als so schwerwiegend, dass es als nicht mehr reparierbar mit verständigungsorientierten kommunikativen Formen eingeordnet wird. Insbesondere werden Negativeigenschaften der anderen kommuniziert im Gebrauch von Stereotypen und Feindbildern (siehe die Bezüge auf die "rote" und die "braune" Vergangenheit und auf die antiautoritäre Erziehung in Deutschland im Leserbrief des mennonitischen Elternsprechers; siehe die Einordnungen als fundamentalistisches und sektiererisches Treiben in Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft). [160]

MESSMER sieht im Gebrauch von Feindbildern eine "rigide Form der Anschuldigungskommunikation". Von Relevanz für die kommunikative Bearbeitung von Differenz sind Feindbilder insofern, als damit das Nichtvorhandensein von Gemeinsamkeiten festgeschrieben und nachlassende Bereitschaft zum Fremdverstehen kommuniziert wird. In der Leserbriefdebatte äußert sich abnehmende Bereitschaft zum Fremdverstehen nicht zuletzt darin, dass Zweifel am Sinn des kommunikativen Austausches bekundet oder Kommunikationsbereitschaft aufgekündigt wird (wie beispielsweise in der folgenden Textpassage: Ich könnte hier noch mehr Fragen stellen, aber es fehlt mir die Zeit und auch die Lust dazu; Lb 15).46) [161]

Mit der Verwendung von Feindbildern als einer Verstehensressource für die dissoziativen Entwicklungen zwischen den gegnerischen Parteien wird der Weg geebnet für die Wahl von Strategien zur Durchsetzung eigener Interessen und Auffassungen (vgl. MESSMER 2003, S.226f.). [162]

5.3 Bekundung von Durchsetzungsabsichten

Bei diesem Bearbeitungsmuster von Differenz wird das Überzeugt-Sein von der eigenen Stärke und der gegnerischen Schwäche dominant. Standpunkte der anderen Seite werden nicht mehr respektiert, sondern "primär unter dem Gesichtspunkt möglicher Durchsetzungsstrategien bewertet" (MESSMER 2003, S. 226).Wenn Durchsetzungsabsichten gegenüber "Gegnern" kommuniziert werden, kommt es den Akteuren nicht einfach nur darauf an, das Verhalten oder die Positionen der anderen nicht mehr hinzunehmen, sondern viel mehr darauf, sich über ihre Willensbekundungen hinwegzusetzen und sich ihnen gegenüber zu behaupten. In den eigenen Reaktionen geht es nur noch darum zu zeigen, dass Verhandlungsbereitschaft aufgekündigt ist, darum, zu kommunizieren, dass man entschlossen ist, die Auseinandersetzung mit "härteren Bandagen" zu führen, sie zu verschärfen.47) [163]

Einer gegnerischen Partei zu signalisieren, dass man nicht mehr verständigungsbereit ist und keinen Sinn mehr in einem diskursiven Austausch sieht, sondern nur noch darin, ihr gegenüber eine Position der Stärke einzunehmen und Durchsetzungsabsichten zu bekunden, hat MESSMER (2003) als charakteristisches Merkmal des Kommunikationsverhaltens in einem Machtkonflikt bestimmt. Das Bearbeiten von Differenzen in den Relevanzsystemen erfolgt dabei in einem "vorausgreifenden Zugriff" (S.239). Dies realisiert sich in Formen der Droh- bzw. Gewaltkommunikation, die "den Einsatz von Machtmitteln in Aussicht stellt" (S.226). [164]

Massive Formen der Drohkommunikation finden sich in dem hier behandelten Konflikt hauptsächlich in den Leserbriefen aus der Mehrheitsgesellschaft, so z.B., wenn verkündet wird, dass man den Unfrieden, der von dem "weltverschlossenen Weltbild" der mennonitischen Zuwanderer/innen ausgehe, nicht zulassen werde (siehe Abschnitt 4.2.1, Lb 17) und wenn sie zur Rückkehr dorthin, wo sie herkommen, aufgefordert werden (siehe Abschnitt 4.2.2). [165]

In einer vergleichbar drohenden Weise werden in dem Leserbrief des Elternsprechers keine Durchsetzungsabsichten verkündet. Gleichwohl finden sich aber auch darin Bezüge auf die künftige Entwicklung der Streitigkeiten, insofern lassen sich die entsprechenden Formulierungen ebenfalls als symptomatisch für Durchsetzungsabsichten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft ansehen. Wie unter Bezugnahme auf religiöse Überzeugungen eigene Stärke demonstriert wird, zeigt sich im ersten Abschnitt des vom mennonitischen Elternsprecher verfassten Leserbriefs (siehe Abschnitt 4.1). In diesem Abschnitt wird das Sich-Einlassen auf das "Politikgeschäft" als ein Ausnahmehandeln deklariert. Die in diesem Zusammenhang angefügte Bekenntnisformel (unsere Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat) zeigt, dass er sich aufgrund eines göttlichen Beistandes, dessen er sich gewiss ist, in einer Position der Stärke wähnt. Auch in der Passage, in der Siegesgewissheit hinsichtlich des Ausgangs der Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht bekundet wird, wird eigene Stärke demonstriert (siehe Abschnitt 4.1.1). [166]

Im Kern geht es bei der Kommunikation von Durchsetzungsabsichten darum zu zeigen, dass Fremdverstehen obsolet geworden ist. Es wird angezeigt, dass man auf der Grundlage des sich nicht mehr Verstehenkönnens agiert und daher die Absicht verfolgt, sich gegen die Willensbekundungen der anderen durchzusetzen. Es wird sozusagen bekundet, dass es aufgrund von Handlungsweisen der anderen legitim ist, vom Verstehen ihrer Weltsicht, ihrer Forderungen usw. abzusehen. [167]

6. Schlussbemerkungen

Die Debatte über die Klassenfahrten resultiert aus dem migrationsbedingten Aufeinandertreffen disparater kultureller Orientierungssysteme. In Abschnitt 4 habe ich gezeigt, wie die jeweiligen Orientierungssysteme anlässlich des Versuches der Mitglieder einer zugewanderten freikirchlichen Gemeinschaft, eine im Aufnahmeland bestehende schulpädagogische Auflage zu verändern, jeweils entfaltet werden. Die Leserbriefe interessierten dort als Dokumente der Hervorbringung von Verwirklichungssinn, als kommunikative Züge, deren Bedeutungsgehalte hervorgehen aus interpretativen Verarbeitungen vorgängiger Sinnsetzungen der jeweils anderen. Als wesentlicher Aspekt des Erzeugens von Verwirklichungssinn wurde dabei angesehen, dass die jeweiligen Mitteilungsgehalte implikativ für das soziale Positionierungsgeschehen zwischen den beteiligten Gemeinschaften sind. [168]

Mit dem hier gewählten Zugang sollte herausgearbeitet werden, wie sowohl von einem Protagonisten der sich in der Minderheitenposition wähnenden Gruppe als auch von den Leserbriefschreiber/innen aus der Mehrheitsgesellschaft von eigenkulturellen Identitäts- und Sinnressourcen Gebrauch gemacht wird, um auf wahrgenommene Differenzen im Verhältnis zu den anderen zu reagieren. Auf die Beiträge zur Leserbriefdebatte wurde eine verstehenstheoretisch-interaktionistische Perspektive eingenommen, um nach Verstehensprozessen und nach der Hervorbringung von Verwirklichungssinn in diesen Schriftdokumenten zu fragen. In dieser Perspektive habe ich die in der Klassenfahrtendebatte vertretenen Positionen als Resultate von Anschlusskommunikation untersucht. Das Konzept "Diskursposition" diente dabei dazu, die Bedeutungskontexte einzubeziehen, an die bei der Hervorbringung von Verwirklichungssinn angeknüpft wird sowie dazu, die sozialregulativen Implikationen – die Leistungen für das Sich-Positionieren gegenüber den anderen – aufzudecken. Unter Ansehung der in Konfliktsituationen präferierten kommunikativen Formen wurden ferner die interpretativen. Verarbeitungsmechanismen transparent gemacht, die Fremdverstehen beeinträchtigen und blockieren. [169]

Anhand der Beiträge zur Debatte über Klassenfahrten ließ sich zeigen, dass an die Stelle der für Fremdverstehen konstitutiven Sozialitätsidealisierungen und Ähnlichkeitsannahmen Differenzorientierung tritt. Auch wurde deutlich, dass unter dieser Prämisse des Fremdverstehens Verstehensbereitschaft nur noch graduell gegeben ist, die interpretative Verarbeitung der Relevanzen der anderen dominiert wird von dem Bemühen um Geltendmachung eigener Relevanzen. Mit Blick auf die Gruppenfiguration im Integrationskonflikt lassen sich zwei Wirkungsrichtungen von Differenzorientierung unterscheiden: sie verstärkt Tendenzen der Zusammenschließung der eigenen Wir-Gemeinschaft ebenso wie sie Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den kulturell Anderen intensiviert. [170]

Der Erkenntnisgewinn, der mit der hier praktizierten methodischen Vorgehensweise und dem hier verwendeten Konzept von "Diskurspositionen" erzielt werden kann, ist nicht auf rein verstehenstheoretische Fragestellungen beschränkt. Mit dieser Vorgehensweise geraten auch Aspekte in das Blickfeld, die von konfliktsoziologischer und integrationspolitischer Relevanz sind: die Identifizierung Konflikt intensivierender Potenziale kommunikativer Praktiken und die Identifizierung der Bedingungen des Scheiterns diskursiver Bearbeitungen von Konflikten. [171]

Danksagung

Für Anregungen und Kritik danke ich Reinhold SCHMITT und Arnulf DEPPERMANN. Mein besonderer Dank gilt Jörn RABENECK, der mich auf den Konflikt zwischen freikirchlichen Spätaussiedler/innen und Vertreter/innen der Mehrheitsgesellschaft aufmerksam und mir das empirische Datenmaterial zugänglich gemacht hat.

Anmerkungen

1) Den Ausdruck "kulturelle Gemeinschaft" und ähnlich lautende Umschreibungen verwende ich nicht in einem essenzialistischen Sinne, sondern zur Kennzeichnung von "Wir-Gruppen", die sich in Prozessen der Selbst- und Fremddefinition herausbilden; ich lehne mich hier an die Theorie der ethnischen Grenzen von BARTH (1969) an. <zurück>

2) Es könnte in diesem Zusammenhang auch von "der Aufnahmegesellschaft" oder von "alteingesessener Bevölkerung" gesprochen werden. Auch könnte die Konfliktlage, um die es hier geht, mit ELIAS und SCOTSON (1990) als Figuration zwischen Etablierten und Außenseiter/innen gekennzeichnet werden. Ich wähle hier den Ausdruck "Mehrheitsgesellschaft", da er sich m.E. am ehesten als Korrelat zu der unter mennonitischen Spätaussiedler/innen verbreiteten Selbstsicht als kulturelle bzw. religiöse Minderheit eignet (siehe hierzu auch Abschnitt 2 sowie den in Abschnitt 4.1 behandelten Leserbrief). <zurück>

3) Hier und an anderen Stellen verwende ich die Redeweise von "den jeweils anderen" zur Kennzeichnung eines Wahrnehmungs- und Interpretationskontextes, in dem Handlungsweisen und Äußerungsverhalten anderer unter Bezug auf deren Kollektivzugehörigkeit Relevanz beigemessen wird. Bestimmend für solche Wahrnehmungs- und Interpretationskontexte sind Kategorisierungsvorgänge, die einer "Wir-Ihr"-Dichotomisierung folgen. <zurück>

4) Auch wenn diese Leserbriefe mit Namensnennung, verschiedentlich auch mit Berufsangaben und Nennung von Schulnamen veröffentlicht worden sind, halte ich es für geboten, sie hier unter Verwendung anonymisierender Kennzeichnungen (von mir vergebene Leserbriefnummern; Angaben zu Funktionsrollen) wiederzugeben. <zurück>

5) Zur Charakterisierung der je besonderen Interpretationshaltung gegenüber Entäußerungen, die sich dem anderen Lager zurechnen lassen, setze ich diesen Ausdruck in Anführungszeichen. Im Textmaterial taucht "Gegner" auch explizit als Kategorisierungsressource auf (vgl. Abschnitt 4.1). <zurück>

6) Ausführlicher zu diesem, in der ethnomethodologischen Gesprächsforschung angesiedelten Forschungsinteresse DEPPERMANN (2008) sowie DEPPERMANN und SCHMITT (2009). <zurück>

7) Zur Diaspora-Situation der freikirchlichen Gemeinden der Russlanddeutschen in Deutschland siehe VOGELGESANG (2006). <zurück>

8) Zu diesen konfliktypologischen Begriffen siehe MESSMER (2003) <zurück>

9) In der Berichterstattung über die Elterninitiative ist verschiedentlich von zwei Glaubensgemeinschaften die Rede, von zugewanderten Baptist/innen und zugewanderten Mennonit/innen. Dies ist vor allem in frühen Zeitungsmeldungen der Fall, später werden nur noch mennonitische Eltern erwähnt. Die mir vorliegenden Leserbriefe von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft beziehen sich entweder ausdrücklich auf mennonitische Eltern oder einen Sprecher der Elterninitiative, der sich auch als Protagonist der mennonitischen Glaubensgemeinschaft betätigt (siehe hierzu auch Abschnitt 4.1). <zurück>

10) Für formulierungsgetreue Zitate aus den Zeitungstexten verwende ich durchgängig die kursive Schreibweise; syntaktisch veränderte Zitate schreibe ich rekte und setze sie in doppelte Anführungszeichen. <zurück>

11) Veröffentlicht wurde zunächst ein von zwei Elternsprecher/innen unterzeichneter Leserbrief, wenig später ein zweiter, der in Abschnitt 4.1 ausführlich behandelte Leserbrief, der von nur einem der Protagonisten verfasst worden ist. <zurück>

12) Ich übernehme diesen Ausdruck aus MÜLLER (1992). <zurück>

13) Siehe hierzu MÜLLER (1992) und WISOTZKI (1998). <zurück>

14) Der Name geht zurück auf Menno SIMONS (1496-1561), einen katholischen Priester, der sich der Täuferbewegung anschloss. <zurück>

15) Siehe das Manifest von Katharina II. von 1763, in dem diese dazu eingeladen hat, russische Gebiete zu kolonialisieren (ein Abdruck des Manifestes findet sich in MENG 2001, S.485-488). <zurück>

16) Siehe hierzu MÜLLER (1992) sowie RUTTMANN (1996). <zurück>

17) Aus Beiträgen zur Leserbriefdebatte geht hervor, dass es in der Region, in der der Integrationskonflikt angesiedelt ist, zumindest zwei unterschiedliche mennonitische Gruppierungen gibt, eine länger ansässige, von den Leserbriefschreiber/innen als weltoffener angesehene Gemeinde sowie eine Gruppierung, die wesentlich strenger nach den Glaubenslehren lebt. <zurück>

18) SCHÜTZ ging in seinen grundlagentheoretischen Überlegungen zum Fremdverstehen über WEBERs "verstehende Soziologie" hinaus. Bei Max WEBER interessiert das Problem des Verstehens subjektiven Sinns lediglich als ein Problem, das sich aus der Perspektive wissenschaftlicher Beobachtung stellt. SCHÜTZ hingegen fragt nach der Perspektive der natürlich Handelnden und untersucht den Konstitutionszusammenhang subjektiven Sinns, wie er sich im Austausch mit anderen realisiert. <zurück>

19) Siehe hierzu auch die Schützschen Sozialitätsidealisierungen (SCHÜTZ 1971, S.364f.). <zurück>

20) Relevanzsysteme von Akteuren setzen sich aus den Elementen zusammen, die für die Realisierung von Handlungszielen in einer bestimmten Situation wichtig sind. Relevanzsysteme strukturieren Wissensbestände etwa in der Weise, dass aus biografischen Situationen oder sozialen Lagen heraus bestimmte Lebensentwürfe oder Handlungsziele projektiert werden, die durch spezifische Handlungsweisen zu erreichen versucht werden. <zurück>

21) Zum Begriff der Interpretationsrelevanz siehe auch SCHÜTZ und LUCKMANN (1975, S.202). <zurück>

22) Zu diesem Begriffspaar siehe HERITAGE (1984). <zurück>

23) Nicht auszuschließen ist, dass die Urfassung dieses Leserbriefs einleitende Formulierungen enthält, die redaktionellen Kürzungen zum Opfer gefallen sind. Dieser Vorbehalt hinsichtlich Vollständigkeit und Authentizität gilt für alle Leserbriefe. <zurück>

24) Der Autor spricht zunächst von viele Leser, adressiert seine Stellungnahme dann an alle; damit könnten sowohl diejenigen gemeint sein, die Leserbriefe geschrieben haben, als auch alle anderen Leser/innen, die sich der Klassenfahrten-Thematik zuwendeten. <zurück>

25) In diesem Artikel wurde über die Übergabe der Unterschriftenliste der Elterninitiative an das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung berichtet. Die Überschrift des Artikels lautete "Hier wird eine Gruppe diskriminiert." Damit wurde in Kurzform die Sichtweise mennonitischer Eltern wiedergegeben, die zwei Sprecher der Elterninitiative in einem Gespräch mit dem Lokalredakteur dargelegt hatten. <zurück>

26) GARFINKEL hat sich bei der Entwicklung dieser Konzepte zwar an MANNHEIMs Begrifflichkeit zur Unterscheidung von Ebenen, auf denen Erscheinungen in der äußeren Welt Sinn zugeschrieben werden kann (Objektsinn, Ausdruckssinn und Dokumentsinn), angelehnt, diese Begrifflichkeit aber nicht übernommen, sondern nur zwischen den vorgängigen und bereits "versachlichten Sinnstrukturen" und dem "Verwirklichungssinn" unterschieden; vgl. den Anmerkungsteil zu GARFINKEL (1973) in ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN (1973, S.236ff.). <zurück>

27) In DEPPERMANN (2008) werden Aktivitäten, in denen kenntlich gemacht wird, wie eine Vorgängeräußerung verstanden wurde (und die von der rein mentalen Verstehensleistung zu unterscheiden ist), als "Verstehensdokumentation" bezeichnet. Die Sachverhalte, Vorgängerhandlungen, Identitätsmerkmale, Geisteshaltungen usw., auf die die Verstehensleistungen bezogen sind und deren Verständnis nach außen hin sichtbar gemacht wird, werden als "Verstehensobjekte" bezeichnet. Verstehensleistungen, die als solche zur Sprache kommen und das Aufdecken von Schwierigkeiten mit dem adäquaten Verstehen dessen, was die andere Interaktionspartei geäußert hat, stellen eine Sonderform von Verstehensdokumentationen dar und sind als "Verstehensthematisierungen" von Interesse. <zurück>

28) Die hier eingenommene Untersuchungsperspektive fokussiert Prozesse der Sinnkonstitution, die gewissermaßen in einem trans- oder interkulturellen Kommunikationszusammenhang zu verorten sind. Nicht berücksichtigt wird Schrifttum, das auf Festigung des kollektiven Identitätsbewusstseins oder auf Reflektion der Kollektivzugehörigkeit, etwa der mennonitischen Glaubensgemeinschaft, zielt (siehe hierzu beispielsweise WIEBE 2008). Wohl aber ist darauf einzugehen, dass auf beiden Seiten unter Anführung von Textstellen aus der heiligen Schrift argumentiert wird. <zurück>

29) Siehe zu dieser Sonderform thematischer Relevanz SCHÜTZ und LUCKMANN (1975, S.191-93). <zurück>

30) Verbal gestaltete Begegnungen zwischen Aussiedler/innen und Einheimischen habe ich im Rahmen einer Feldforschungsstudie untersucht (REITEMEIER 2006). Nach den darin entwickelten Prinzipien einer ethnografisch orientierten Interaktionsanalyse untersuche ich auch die Beiträge zur Leserbriefdebatte. Mit der Anwendung der sequenzanalytischen Methode auf schriftsprachliche Texte betrete ich kein Neuland; in ethnomethodologischer Sicht können schriftliche Diskurse durchaus wie mündliche analysiert werden, da "es sich in beiden Fällen um methodische und interaktive Herstellungsprozesse sozialer Realität handelt" (KNAUTH & WOLFF 1991, S.40). <zurück>

31) Siehe zur Adressierungsproblematik in öffentlichen Diskursen KÜHN (1995). <zurück>

32) Mit der Konzentration auf einen Leserbrief aus den Reihen der Elterninitiative und später folgende Leserbriefe aus den Reihen der Mehrheitsgesellschaft (siehe Abschnitt 4) betrachte ich die Leserbriefdebatte allerdings sehr wohl als einen Kommunikationsvorgang, in dem sich – in Reaktion auf vorgängige Entäußerungen – Paarsequenzen herausgebildet haben. <zurück>

33) Ich gebe die Leserbriefe in der Schreibweise und in der typografischen Absatzbildung wieder, in der sie veröffentlicht wurden. Gravierende Abweichungen von Orthografieregeln sind mit (sic!) markiert, nicht aber Schreibweisen, die den alten Rechtschreibregeln folgen. Die in den Leserbriefen auftauchenden Personen- und Ortsnamen wurden anonymisiert. <zurück>

34) Hier besteht insofern eine Adressierungsunklarheit, als offen bleibt, ob der Autor sich speziell an die "vielen Leser", die sich zum Thema geäußert haben, wendet, oder aber an die Gesamtheit der Leser/innenschaft der Zeitung (wobei der Mehrheit dieser Leser/innenschaft unterstellt wird, gegen das Anliegen der Elterninitiative zu sein). <zurück>

35) Sicherlich meint der Leserbriefschreiber hier "untere" Instanzen. <zurück>

36) Der Artikel 6,2 des Grundgesetzes lautet: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." <zurück>

37) Der Verzicht auf "militantes Auftreten" wird hier wohl lediglich für religiöse Sinnsysteme postuliert. Hierauf lässt u.a. die im nächsten Absatz auftauchende Bezeichnung "christlicher Dogmatismus" schließen. <zurück>

38) Siehe Matthäus, 14,6-11: "Als aber Herodes seinen Geburtstag beging, da tanzte Salome vor ihnen. Das gefiel dem Herodes gut. Darum versprach er ihr mit einem Eid, er wolle ihr geben, was sie fordern würde. Sie sprach: 'Gib mit hier auf einer Schale das Haupt Johannes des Täufers!' Und der König wurde traurig; doch wegen des Eides befahl er, es ihr zu geben, und schickte hin und ließt Johannes im Gefängnis enthaupten. Und sein Haupt wurde hereingetragen auf einer Schale und dem Mädchen gegeben." <zurück>

39) In der Bildung von Schulklassen nach der Zugehörigkeit der Schüler/innen zu Orten sieht der Autor wohl eine solche Beeinträchtigung elterlicher Erziehungsrechte, denn er deutet an, dass die Zusammensetzung der Schulklassen auch unter anderen Gesichtspunkten erfolgen könnte. In seinem Leserbrief geht er nicht weiter ins Detail, es kann nur vermutet werden, dass er eine Klassenbildung nach Konfessionszugehörigkeit im Sinn hat. <zurück>

40) Um einen groben Eindruck vom Sinngehalt der dort gegebenen "Ratschläge" des Predigers Salomo (Koholet) zu vermitteln, seien hier nur die Überschriften der entsprechenden Kapitel genannt: 9. Aufruf zur Freud trotz der Eitelkeit des Lebens, 10. Über Weisheit und Torheit, 11. a) Berechne nicht die Zukunft, sondern nütze den Tag, b) Freue dich deiner Jugend, ehe Alter und Tod kommen, 12. ohne Überschrift (Lutherbibel Standardausgabe 1985). <zurück>

41) Dass diese Frage hier aufgeworfen wird, kann allerdings auch als Beleg dafür herangezogen werden, dass der Leserbrief des Elternsprechers mit wenig Aufmerksamkeit bzw. mit wenig Bereitschaft zur Kenntnisnahme der Positionsbegründungen gelesen wurde. Denn eben diese Frage, wo in der Bibel geschrieben steht, dass Tanzen verboten ist, hatte der Elternsprecher ja in seinem Leserbrief beantwortet. Dies vielleicht nicht auf eine für jedermann leicht nachvollziehbare Weise, aber doch unter Erwähnung der biblischen Geschichte, nach der der Tanz der Salome Johannes den Täufer das Leben gekostet hat. <zurück>

42) Siehe den in Abschnitt 3.1 zitierten Anfang eines Leserbriefs Eine schallende Ohrfeige haben sehr, sehr viele Eltern morgens bekommen, ... usw. (Lb4). <zurück>

43) Zur Grundstruktur der Ausarbeitung von Gegenpositionen im Zuge der Widerspruchskommunikation siehe auch MESSMER (2003, S.147-183). <zurück>

44) Wo diese Annahme ins Leere geht, hat dies insofern Konflikt intensivierende Implikationen, als das Explizieren der Eigenrelevanzen zu einer (Verstehens-) Zumutung für die Adressat/innen wird. <zurück>

45) Ausführlicher zur Anschuldigungskommunikation MESSMER (2003, S.185-223). <zurück>

46) Zum Nachlassen von Verstehensbereitschaft im Zuge der Anschuldigungskommunikation und zum Gebrauch von Feindbildern als Verstehensressource siehe MESSMER (2003, S.233ff.). <zurück>

47) Zur Grundstruktur von Droh- und Gewaltkommunikation siehe MESSMER (2003, S.225-274). <zurück>

Literatur

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Zum Autor

Ulrich REITEMEIER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Er hat in verschiedenen gesprächsanalytischen Forschungsprojekten mitgearbeitet. Arbeitsschwerpunkte: Sprachliche und soziale Integration von Aussiedler/innen; Verstehen in der verbalen Interaktion; Analyse sozialer Welten; Methoden der interpretativen Sozialforschung.

Kontakt:

Dr. Ulrich Reitemeier

Institut für Deutsche Sprache
Abteilung Pragmatik
Postfach 10 16 21
D-68016 Mannheim

Tel.: 0621-1581317
Fax: 0621-1581200

E-Mail: reitemeier@ids-mannheim.de
URL: http://www.ids-mannheim.de/prag/personal/reitemeier.html

Zitation

Reitemeier, Ulrich (2009). Zum Fremdverstehen im Integrationskonflikt. Fallstudie zu einer Auseinandersetzung zwischen Alteingesessenen und freikirchlichen Zuwanderer/innen [171 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(3), Art. 18, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0903181.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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