Volume 10, No. 3, Art. 30 – September 2009
"Fragend schreiten wir voran" – eine Replik auf die Altvorderen der qualitativen Sozialforschung
Monika Götsch, Sabine Klinger & Andreas Thiesen
Zusammenfassung: Angestoßen durch die von Jo REICHERTZ dargelegten Einschätzungen zur Entwicklung qualitativer Sozialforschung hat das Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung 2009 folgende zentrale Fragen aufgeworfen: Stehen wir vor dem Ende der kritischen Sozialforschung? Kann ihr mögliches Finitum mit einer unkritischen Masse junger Nachwuchsforscher/innen in Verbindung gebracht werden?
Wir plädieren in unserer Replik auf die "Altvorderen" der qualitativen Sozialforschung für eine Auflösung bipolar-konstruierter Denkschemata und einen hybriden Turn, der sich durch eine grundsätzlich offene, reflexive und dekonstruierende Haltung der Forschenden zu bewähren hat. Am Beispiel der Ethnografie und der Geschlechterforschung versuchen wir zu zeigen, dass es durchaus Potenziale für eine Zukunft kritischer Sozialforschung gibt, jenseits von Sklav/innen marktgesteuerter Auftragsforschung und den Charakterdarsteller/innen der ewigen Hall of Fame der Sozialforschung.
Keywords: Berliner Methodentreffen; kritische qualitative Sozialforschung; Reflexivität; Dekonstruktion; Ethnografie; Geschlechterforschung
Inhaltsverzeichnis
1. Zur Aktualität kritischer qualitativer Sozialforschung
2. Von Bipolarität und generationaler Segregation zu Vielfalt und Austausch
3. Kritisches Denken heute heißt hybrides und dekonstruierendes Denken
4. Methodologische Konsequenzen
Zu den Autorinnen und zum Autor
1. Zur Aktualität kritischer qualitativer Sozialforschung
Im Rahmen des Berliner Methodentreffens 2009 an der Freien Universität Berlin hat Jo REICHERTZ in der einführenden Mittagsvorlesung "Die Konjunktur der qualitativen Sozialforschung und Konjunkturen innerhalb der qualitativen Sozialforschung"1) nachgezeichnet. Dabei erweckte er bei uns den Eindruck, dass er sich von einer neuen, vorgeblich unkritischen Forscher/innengeneration abgrenzt. Zugleich wurde offensichtlich, dass innerhalb der qualitativen Sozialforschung unterschiedliche Grenzziehungen und Kategorisierungen vorgenommen werden. Wir – als Teil dieser vermeintlich anderen und neuen Generation – melden uns nun kritisch zu Wort. Mit unserem Beitrag möchten wir die Verfeinerung der Selbst- und Fremdbeobachtung innerhalb der qualitativen Sozialforschung (im Folgenden QSF) voranbringen und für eine erweiterte Form wissenschaftlicher Reflexivität plädieren. Indem wir beispielhaft einige Zu- und Einordnungen von Jo REICHERTZ aufzeigen und hinterfragen, machen wir deutlich, wie kritisches und dekonstruierendes Denken die QSF bereichern kann. [1]
REICHERTZ spricht von individuellen und kollektiven Akteur/innen, die von Beginn an die Konjunkturen innerhalb der QSF und deren Methoden beeinflusst hätten. Die "Protagonisten der etablierten qualitativen Verfahren" werden denen gegenübergestellt, die sich in "Anlehnung und in Ausbeutung bereits eingeführter Methoden ihre eigenen Rechtfertigungen und Deutungspraktiken [stricken]" (REICHERTZ 2009, Abs.14). Dabei argumentiert er implizit mit den Auswirkungen eines Generationenwechsels, weg vom "charismatischen Führer" (REICHERTZ 2009, Abs.42), hin zu einer "Veralltäglichung ... des Charismas" (REICHERTZ 2009, Abs.42). [2]
Im Zuge der an die Mittagsvorlesung anknüpfenden Diskussion wurde – verkörpert durch Diskussionsstil und Diskutierende – deutlich, dass eine zurückblickende Generation ehemals Aufgebrochener im scheinbaren Einvernehmen die good old days der QSF zitiert. Die zur Elterngeneration der QSF stilisierten Altvorderen redeten über ihre Kinder und Kindeskinder. [3]
Im Anschluss an REICHERTZ' Vortag richtete Katja MRUCK die Frage ans Auditorium, wie die Enkel/innen und Urenkel/innen2) selbst die Entwicklung und den aktuellen Stand der QSF einschätzen. Jener Moment verleiht dem Berliner Methodentreffen 2009 gewissermaßen historischen Charakter. Gern sind wir Urenkel/innen nun bereit, diese Frage aufzugreifen, um sie mit Blick in die Zukunft und vor dem Hintergrund unserer eigenen Verortung in Wissenschaft und Forschung zu diskutieren. [4]
2. Von Bipolarität und generationaler Segregation zu Vielfalt und Austausch
Dem Vorwurf, unkritisch zu forschen, entgegnen wir, dass vielmehr die Argumentation unserer Eltern/Großeltern mit Bipolaritäten herrschende Normen in Gesellschaft und Sozialforschung unhinterfragt zementiert. Im Folgenden werden wir zeigen, dass diese Bipolaritäten eher ein- und begrenzen, als einem kritischen Anspruch zu genügen. [5]
REICHERTZ hat sich in seiner Kontrastierung der QSF auf unterschiedlichen Ebenen (Forschungsgegenstand, Forschungspraxis, Legitimation von Forschung sowie Adressat/innen qualitativer Forschung) des Bildes der (dominierenden und prägenden) Bipolaritäten bedient. Unter anderem wurden von ihm folgende Antagonismen gegenübergestellt:
qualitative Sozialforschung vs. quantitative Sozialforschung
Methode vs. Tool
elaborierte Methoden vs. Ad-hoc-Methoden
deutsche Sozialforschung vs. internationale Sozialforschung (vgl. REICHERTZ 2009) [6]
Auf diese Gegenüberstellungen werden wir im Folgenden Bezug nehmen. Wie REICHERTZ auch, sehen wir Wissenschaft und Gesellschaft in einem Wechselverhältnis. Die QSF steht nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern ist ein Teil von ihr. Die für diesen Beitrag aufgegriffenen Dimensionen haben u.E. in der aktuellen gesellschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Debatte besonderes Gewicht und sind für ihr Voranschreiten maßgeblich. [7]
Zum Ersten: Wie kann heute (noch) an der Bipolarität von qualitativer und quantitativer Forschung festgehalten werden, wenn Triangulation unterschiedlicher Methoden inzwischen anerkannter Forschungsstandard ist. Zudem konstatiert MAYRING, dass immer öfter von einer absurden Dichotomie, einem unergiebigen Gegensatz, einer falschen Differenzierung zwischen qualitativer und quantitativer Forschung gesprochen werde (s. MAYRING 2001, Abs.3). Mit MAYRING teilen wir die Forderung, Forschungsgegenstand und Fragestellung in den Vordergrund zu stellen, um auf diese Weise eine angemessene Methodik zu elaborieren. Dies bedeutet, qualitative und quantitative Methoden in gleichem Maße zu berücksichtigen, verbunden mit der Einsicht, dass sich verschiedene Forschungsansätze und Forschungsebenen gegenseitig beeinflussen. Sie können, sorgfältig ausgewählt und verstanden als erkenntnisgewinnend (s. FLICK 2007, S.311), ineinander wirken und für die nötige Pluralität der Forschungsmethoden und -landschaft sorgen. [8]
Das Festhalten an Dichotomien führt REICHERTZ zum Zweiten durch die subtile Gegenüberstellung von "entwickelten Methoden" und "Tool" aus. Er habe nichts gegen Werkzeuge, die er offenbar als hand made research betrachtet; sehr wohl stoße er sich allerdings an "Werkzeugkoffern", denen zumeist sehr selektiv und je nach Forschungsinteresse passgenaue Tools entnommen würden. Zudem scheint REICHERTZ im guten Handwerk eine Metapher für kompetente, deutungssensible und reflexive Forschende zu sehen, während die Technik dazu verleite, jegliche Deutungskompetenz und -macht der Software zu überlassen – und dies in einer Weise, die er als "quick and cheap" (REICHERTZ 2009, Abs.41) bezeichnet. An dieser Stelle werden das Festhalten an Altbekanntem und dessen einschränkende Wirkung deutlich. Warum muss heute überhaupt noch über computergestützte Verfahren lamentiert werden, wenn doch ein allgemeiner Konsens darüber besteht, dass diese die Forschungsarbeit erweitern, aber nicht ersetzen können und sollen? [9]
Zum Dritten zur Distinktion der elaborierten Methoden: REICHERTZ beklagt die "verstärkte Kanonisierung der Methoden bei gleichzeitiger Zersplitterung und Beliebigkeit" (REICHERTZ 2009, Abs.14). Während Forschende, die sich der Gesellschaft und "den etablierten qualitativen Verfahren" (ebd.) verpflichtet fühlten, stets um die Vorgabe von Handlungsanleitungen zur Theoriebildung und Interpretationspraktiken bemüht gewesen seien, wagten es nun marktinteressierte/marktgeleitete Forscher/innen vermehrt, renommierte Methoden für eigene Ambitionen auszubeuten und dadurch eigene Praktiken zu rechtfertigen. [10]
Im Gegensatz zu elaborierten Methoden (hierzu zählt REICHERTZ unter anderem die Grounded-Theory-Methodologie, die Ethnografie, die objektive Hermeneutik sowie die dokumentarische Methode) würden nun "Ad-hoc-Methoden" an Aufwind gewinnen – wobei vermeintlich induktiv gewonnene Daten rein situativ und ohne jeden theoretischen Ansatz erhoben würden. Das dargelegte Argumentationsgerüst wirkt befremdlich: Wie kann eine elaborierte Methode wie die Grounded-Theory-Methodologie zu Zeiten der "quick and cheap"-Forschung überhaupt boomen? Es kommt u.E. darauf an, nicht Methoden für sich zu betrachten bzw. festzustellen, dass diese boomen und jene nicht, sondern zu hinterfragen, in welchen Bereichen und mit welcher Begründung bestimmte Methoden Hochkonjunktur haben. Nur dann werden die im wissenschaftlichen Diskurs bestehenden hegemonialen Kämpfe um die Deutungsmacht (kritisch) offengelegt. [11]
Im Übrigen mag es in der Forschungspraxis hier und da zweifellos zur Verwendung von "Ad-hoc-Methoden" kommen; die Reduzierung der Vielfalt der QSF auf zwei, sich diametral gegenüberstehende Methodenkategorien – elaboriert vs. ad hoc – greift allerdings zu kurz und führt lediglich zu Stagnation. [12]
Deutlich folgenreicher ist hingegen der Wunsch nach Anerkennung multiperspektivischer Ansätze: Er bringt immer wieder neu die Frage nach dem, was anders sein könnte, was besonders ist, hervor und hält so Forschungsinteresse und -methoden permanent in reflexiver Bewegung. Bei REICHERTZ steht im Gegensatz dazu Diversität stellvertretend für Markthörigkeit und somit letztlich für Einfalt:
"Man kann das als bunte Vielfalt deuten ('Lasst tausend Blumen blühen'), als Zersplitterung (Chaos, Zerfall), als Diversifikation (also die Verbreiterung des Angebots), als Differenzierung (also als bessere Anpassung an den Gegenstand) oder als Trennung von Arbeitswelten. Mir scheint es auf Diversifikation und eine Trennung von Arbeitswelten hinauszulaufen. Man spezialisiert sich auf bestimmte Märkte und entwickelt vor dieser Spezialisierung nur noch das, was man dort benötigt." (REICHERTZ 2009, Abs.18) [13]
Die Trennung von Arbeitswelten wird implizit durch den Verweis auf einen angeblichen Generationenkonflikt innerhalb der QSF bekräftigt: REICHERTZ suggeriert eine generationale Segregation, wonach er als Elternteil der qualitativen Sozialforschung zur Aufbruchgeneration gehört. Wir, die Urenkel/innen, wie MRUCK uns in der anschließenden Diskussion angesprochen hat, folgten demnach dem ökonomisch und technologisch orientierten Mainstream – eine zumindest tendenziell anonyme Masse unmündiger, ahistorisch und unkritisch denkender Pragmatiker/innen, unfähig zur Selbstreflexion. Diese hier mitschwingende Unterschätzung und Diskreditierung einer ganzen Generation von Forscher/innen übersieht, dass in Zeiten von Interdisziplinarität die Selbstreflexion der Forschenden und die Auseinandersetzung mit der je eigenen Subjektivität zum Standard gehören. [14]
Die Hochkonjunktur der QSF wird, so ein bleibender Eindruck des Berliner Methodentreffens 2009, in der Vergangenheit verortet. Mit dem Abgang charismatischer Persönlichkeiten – also den Vätern und Großvätern der QSF – von der Bühne der Wissenschaft wird auch ein Verlust des Kritischen konstatiert. Dies vermittelt den Eindruck, die kritische QSF gehe mit ihren Vätern unter. Zum einen betonen wir, dass wir dies nicht so sehen; zum anderen wollen wir die Frage aufwerfen, wer eigentlich die charismatischen Persönlichkeiten bestimmt. Mit BEAUFAYS (2004, S.12) halten wir fest, dass
"leistungsfähige Akteure innerhalb verschiedener Zuschreibungspraxen nicht beliebig, sondern entlang von habituellen Erkennungs- und Verkennungeffekten [entstehen]. Wer als leistungsfähiger Akteur überhaupt in Erscheinung tritt, hängt ganz entscheidend von den im Feld bereits etablierten Wissenschaftlern ab, die dazu neigen, sich selbst zu reproduzieren." [15]
Die Differenzierung der Akteur/innen in der QSF in eine Eltern- und Ur-/Enkel/innengeneration eröffnet eine Rhetorik der Gegensätze und der Generationenspaltung. Es sei uns daher eine weitere Frage gestattet: Wozu der Verweis auf die demografische Entwicklung in der Sozialforschung? Wozu der generational turn? Bekanntlich werden mit der Rede von einem Dissens oder gar Konflikt der Generationen stets die intragenerationalen Unterschiede ausgeblendet (vgl. BUTTERWEGGE 2001). [16]
Das Muster, in Differenzen zu denken, setzt sich im vierten und letzten Punkt fort, indem REICHERTZ deutsche und internationale Forschung gegenüberstellt. Bildlich lässt REICHERTZ die QSF an nationale Grenzen stoßen. Dementsprechend wurde er in Berlin mit Rainer WINTER von einem weiteren Vater der QSF quasi auf Augenhöhe gefragt: Wie könne, angesichts des (erneuten) Booms kritischer QSF in den Vereinigten Staaten sowie einer generellen Transnationalisierung der Sozialforschung, vom Ableben gesellschaftskritischer Forschungsmethoden wie der Aktionsforschung ausgegangen werden? In der Tat ist zu fragen, ob nicht, wer den good old days hinterhersehnt und die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen der Transnationalisierung (auch der QSF) außer Acht lässt, im Verdacht steht, traditionalistisch bzw. – wie es WINTER pointiert ausgedrückt hat – gar nationalistisch zu sein? [17]
Über Grenzen muss hinausgedacht werden, um aus alten Denkmustern auszubrechen, Neugierde zu schüren und damit dem originären qualitativen Forschungspostulat der Offenheit gerecht zu werden. Daran anschließend lässt sich ergänzen: Mit welcher Begründung werden Ansätze ignoriert, die dieses Postulat erfüllen, wie jene neueren, häufig in der Aktionsforschung gründenden (performativen) Inquiry-Ansätze (vgl. MORSE & NIEHAUS 2009)? Wie verhält es sich mit der Akteursanalyse (vgl. HÜBNER-SCHMID, v. BORRIES & HASEMANN 2003) oder dem Agency-Ansatz (vgl. BÖHNISCH & SCHRÖER 2008)? Und nicht zuletzt: Wie werden all diejenigen Ansätze eingeordnet, denen es um eine Weiterentwicklung der von Pierre BOURDIEU geprägten Habitusanalyse geht (vgl. FRIEBERTSHÄUSER, RIEGER-LADICH & WIGGER 2009)?3) Ist das Konzept des Habitus nicht auch für die Forschenden selbst und ihr professionell-reflexives Selbstverständnis von Bedeutung sowie für die Wissenschaftsdisziplin als solche (z.B. RIEGER-LADICH 2009)? Was ist mit Geschlechterforschung, die sich gesellschaftskritisch verortet und explizit auf qualitative Methoden der Sozialforschung zurückgreift, um ihr kritisches, dekonstruktives Paradigma auch empirisch einzulösen (BEHNKE & MEUSER 1999)? Wo bleiben die – im Übrigen an der FU Berlin ins Leben gerufenen – Diversity Studies (s. KRELL, RIEDMÜLLER, SIEBEN & VINZ 2007)? [18]
Qualitative Sozialforschung heute ist, so ein weiterer Eindruck des Berliner Methodentreffens 2009, irgendwie beliebig geworden. Dass es so schlimm nicht steht um die QSF und auch der (von manchen nach wie vor besonders gern als neoliberal bezeichnete) Zeitgeist nicht nur Forschungen "mittlerer Reichweite" hervorbringt (REICHERTZ 2009, Abs.42), sollen die weiteren Ausführungen verdeutlichen. [19]
3. Kritisches Denken heute heißt hybrides und dekonstruierendes Denken
Vor dem Hintergrund internationalisierter wissenschaftlicher Diskurse und der Konjunktur der Interdisziplinarität erscheint kritisches Denken im Sinne von Denken in Grenzen und Bipolaritäten obsolet. Aus unserer Sicht heißt kritisches Denken heute zunächst, Bipolaritäten forschend aufzudecken und aufzulösen, anstatt diese (unreflektiert) zu reproduzieren. Heute muss kritisches Denken vielmehr als hybrides Denken verstanden werden. Dies bedeutet, Grenzen in zweierlei Hinsicht zu überschreiten (bzw. zu dekonstruieren): erstens durch transnationales Denken (und Handeln) innerhalb der QSF und zweitens, indem Methoden quer zu Tradition und ihren unterschiedlichen Denkschulen gedacht werden. Somit stellen wir fest, dass kritisches Denken nicht auf Initiative der Ur-/Enkel/innengeneration zu Grabe getragen wird, sondern dass vielmehr eine Erweiterung stattfindet. [20]
Die Diagnose eines Verlustes des Kritischen muss im doppelten Sinne als Ignoranz bezeichnet werden: als Unwissenheit einerseits und als Nicht-Wahrnehmen-Wollen andererseits. Es ist ein offenes Geheimnis, dass kritische Sozialforschung vor allem im Feld der Ethnografie betrieben wird. Die Herstellung künstlicher Fremdheit vor Eintritt in das Forschungsfeld sowie ein grundsätzlicher Vorbehalt gegenüber Daten jeglicher Provenienz zählen hier zum Standardrepertoire (HONER 2007, S.196f.). Im Gegensatz zu anderen Forschungsstrategien werden methodische Zugänge wie die teilnehmende Beobachtung bzw. das Fremdverstehen im Allgemeinen allerdings von einem Großteil der qualitativ arbeitenden Scientific Community seit jeher marginalisiert und eher belächelt als gewürdigt (LÜDERS 2007, S.388). [21]
Insofern würde sich auch für eine sensible und offene Wahrnehmung der QSF-Diskurse anbieten, was in der Ethnografie längst beherzigt wird: Der "Erwerb der praktischen Mitgliedschaft" (HONER 2007, S.201) am zu erforschenden Geschehen ist Voraussetzung für eine differenzierte Sicht der Dinge. Es greift überdies zu kurz, nur von Konjunktur(en) (innerhalb) der QSF zu sprechen. Vielmehr gilt es, fachliche Debatten, Auseinandersetzungen, territoriale Kämpfe und hegemoniale Strategien zu betrachten, die sich prägend auf das Feld der QSF auswirken, da sich die Etablierung und Institutionalisierung unterschiedlicher Methoden im Rahmen hegemonialer Kämpfe im wissenschaftlichen Feld vollzieht (RIEGER-LADICH 2009, S.25). Somit würde die QSF selbst zum Gegenstand systematischer Reflexion gemacht. Innerhalb des pädagogischen Diskurses ist dieses Vorgehen im Übrigen keineswegs neu (RIEGER-LADICH 2009, S.18). [22]
Gegenwärtig geht es nicht mehr darum, Gesellschaft unter dem Slogan unreflektierter normierender Kategorien zu beschreiben, sondern diese Kategorisierungen selbstkritisch zu hinterfragen und die damit verbundene Reproduktion von Hierarchien aufzudecken. Neue Formen wissenschaftlicher Reflexivität werden durch die Integration kritischer Sichtweisen und Ansätze neuerer Disziplinen wie zum Beispiel der Geschlechterforschung maßgeblich beeinflusst und verbessert. Überhaupt erweist sich die Geschlechterforschung als geeigneter Nährboden kritischer Reflexivität, und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits hinsichtlich der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und andererseits bezüglich der eigenen Empirie. Geschlechterforschung zeigt die Konstruiertheit von Geschlecht auf sowie die damit verbundenen Konstruktionsmuster von Bipolaritäten, Naturalisierungen, Androzentrismus und Heteronormativität, die zu einem hierarchischen Gesellschaftsgefüge führen. Daraus resultiert deren Dekonstruktion, das meint u.a. Hinterfragen und Entlarven. Gleichzeitig werden Forschungsmethoden und Forschungsprozesse dahingehend reflektiert, inwieweit sie Kategorisierungen reifizieren. Folglich wollen die Forschenden Konstruktionsprozesse und -mechanismen aufdecken, ohne dabei Geschlecht (und andere Kategorien) zu rekonstruieren und fortzuschreiben (GILDEMEISTER 2004; HAGEMANN-WHITE 1993). Damit wird die empirische Analyse zum Mittel der Gesellschaftskritik. Der Fokus verschiebt sich vom
"[…] individuellen Handlungsträger hin zu dem System von sozialen Praktiken, die die Geschlechterdifferenzierung im Ergebnis hervorbringen ('doing gender'). […] Der Blickwinkel verlagert sich von der Beschäftigung mit Einzelpersonen hin zur Analyse der sozialen Muster und Regeln, seien dies Interaktions- und Kommunikationsmuster, Deutungsmuster, Wissensformen oder Sinnstrukturen" (GILDEMEISTER 2004, S.30f.). [23]
Wichtige Impulse aus der Geschlechterforschung für die QSF sehen wir ebenso in der kritischen (Selbst-) Reflexion der Forscher/innen hinsichtlich der eigenen Rolle und der daraus resultierenden Interaktion mit dem Forschungsfeld. Damit der Forschungsprozess nicht routinisiert und selbstvergessen verläuft, sollten die Forschenden ihren eigenen Wissensbeständen (bzgl. Kategorisierungen wie Weiblichkeit und Männlichkeit) gegenüber eine Perspektive künstlicher Fremdheit einnehmen. Zudem hat die Forschungspraxis, Selbstreflexion als kollektive Diskussion zu betreiben, Vorteile sowohl bei der Erhebung der Daten als auch bei deren Auswertung. Die Installierung von Interpretationsgemeinschaften (in der Geschlechterforschung bereits Standard) ist ein unverzichtbares Element für die QSF. Die Geschlechterforschung leistet für den Bedeutungszuwachs qualitativer Verfahren in der empirischen Sozialforschung einen wichtigen Beitrag (BEHNKE & MEUSER 1999, S.45ff.). Der Umgang mit Selbstreflexivität kann als vorbildhaft für die QSF bezeichnet werden. Als notwendig erachten wir hierfür einen interdisziplinären Wissenstransfer, den die Akteur/innen der QSF als Mittler/innen leisten können und müssen. [24]
Wie notwendig eine Auseinandersetzung mit der Geschlechterforschung und der Reproduktion von Geschlecht für die QSF nach wie vor ist, hat sich im Übrigen bei der Abschlussdiskussion des Berliner Methodentreffens 2009 gezeigt: Warum denn keine Frauen beim Symposium auf dem Podium beteiligt gewesen seien, wurde dort von einer Teilnehmerin gefragt. Die Frage wurde von Günter MEY damit beantwortet, es hätten sich keine geeigneten Frauen zum Thema finden lassen, und Katja MRUCK ergänzt, nicht als Quoten-Frau zur Verfügung zu stehen. Aber: Was spricht gegen die Quote – die im Übrigen auch im Bereich anderer Heterogenitätsdimensionen wie Alter, "Ethnie", Herkunft oder Beeinträchtigung/Handicaps – zu denken wäre? Was spricht gegen eine Diskussion gleichqualifizierter Frauen und Männer auf dem Podium? Wie kommt es zu der Annahme, dass die Quote auf einen Gnadenakt verweist oder als Opferrhetorik fungiert? Warum wird die Quote nicht als Chance begriffen, Altbekanntes zu hinterfragen, zu überschreiten und hinter sich zu lassen, um neue Perspektiven zu eröffnen? Optimistisch gehen wir davon aus, dass die von uns geforderte (Selbst-) Reflexivität dazu beiträgt, das Bewusstsein der Beteiligten im Feld der QSF für ihre (Mit-) Konstruktion der sozialen Wirklichkeit zu schärfen, und dass folglich die Geschlechterfrage im nächsten Jahr nicht erneut gestellt werden muss. [25]
4. Methodologische Konsequenzen
Methodologisch plädieren wir für breit gefächerte, undogmatische, gleichwohl situativ sensible und reflektierte Formen der Triangulation. Die Konsequenz besteht darin, Vielfalt und wissenschaftliche Reflexivität als wichtige Prinzipien in die QSF zu integrieren. Ein Synergieeffekt dieser integrierenden Perspektive der QSF liegt u.a. darin, langlebige Feindschaften, wie jene zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden, hinter sich zu lassen. Starres Denken gehört somit der Vergangenheit an, und sowohl Erkenntnisse als auch Perspektiven verschiedener Forschungsmethoden werden miteinander verknüpft. Die Anerkennung methodischer Vielfalt und das Prinzip der Reflexivität ermöglichen es zudem, die Fluidität und Komplexität der QSF zu erfassen. [26]
Aus unserem Beitrag resultiert die Forderung, das Problem der Reifizierung, wie es bezüglich der Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit in der Geschlechterforschung schon lange reflektiert wird, in der QSF generell zum Thema zu machen. Dabei sollen die Heterogenität und Relationalität von sozialen Verortungen, Zugehörigkeiten und Identitäten bzw. Subjektpositionen ebenso miteinbezogen werden wie die Heterogenität und Relationalität von Kategorien und Konzepten. [27]
Wir danken Katja MRUCK, Franz BREUER und Jo REICHERTZ für ihre Unterstützung bei der Realisierung dieses Beitrages.
1) Anmerkung der Redaktion: Das ursprüngliche Redemanuskript wurde für die vorliegende Ausgabe von FQS überarbeitet (siehe REICHERTZ 2009). <zurück>
2) Es blieb die Frage im Raum stehen, wer eigentlich die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sind, wenn wir als Enkel/innen bzw. Urenkel/innen bezeichnet werden. <zurück>
3) Ergänzend sei auf die von Helmut BREMER weiterentwickelte Gruppendiskussion zur Gruppenwerkstatt verwiesen (BREMER 2004), wie generell auf die in Hannover im Rahmen der Milieuforschung entwickelten (ethnografischen) methodischen Zugänge (vgl. VESTER, v. OERTZEN, GEILING, HERMANN & MÜLLER 2001). <zurück>
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Zu den Autorinnen und zum Autor
Monika GÖTSCH, Dipl. Soz. Päd./Soz. Arb. (FH) (*1965), Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik; seit 2009 Kollegiatin des Graduiertenkollegs der Gender Studies der Universität CH-Basel, Lehrbeauftragte der Evangelischen
Hochschule für Soziale Arbeit in Freiburg für Gender/Gender Mainstreaming, Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung.
Themenschwerpunkte: Soziologie, Geschlechtlich (sexuelle) Sozialisation, Gendertheorien (in der Sozialarbeit), Gender Mainstreaming,
Gender und Zivilgesellschaft, qualitative Sozialforschung
Kontakt:
Monika Götsch
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Institut für Informatik und Gesellschaft im Projekt "Weltbilder der Informatik"
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Friedrichstraße 50
D-79098 Freiburg
Tel.: 0049 761 203 4959
E-Mail: monika.goetsch@modell.iig.uni-freiburg.de
Sabine KLINGER, Mag. (*1982), Studium der Erziehungswissenschaft in Graz (AUT), seit 2009 Kollegiatin des Graduiertenkollegs der Gender
Studies der Universität CH-Basel, Leitung der Peer-Mentoring-Gruppe "QUALIzüri – Forschungswerkstatt für qualitative Sozialforschung
an der Universität Zürich.
Themenschwerpunkte: Sozialisations- und Bildungsforschung, rekonstruktive Geschlechterforschung, Hochschulforschung, geschlechterreflektierende
Jugend- und Mädchenarbeit, qualitative Sozialforschung
Kontakt:
Sabine Klinger
Universität Zürich
Peer Mentoring
Voltastrasse 59
CH-8044 Zürich
Tel. : 0041 76 219 8805
E-Mail: sabine.klinger@acess.uzh.ch, sa.klinger@edu.uni-graz.at
Andreas THIESEN, M.A. (*1979), Studium der Sozialen Arbeit in Hildesheim, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Hochschule
für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim, Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung.
Themenschwerpunkte: Europapolitik, Diversity Studies, Stadtentwicklung und qualitative Sozialforschung
Kontakt:
Andreas Thiesen
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst
Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen
Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
Brühl 20
D-31134 Hildesheim
Tel.: 0049 511 459 1076
E-Mail: thiesen@hawk-hhg.de
Götsch, Monika; Klinger, Sabine & Thiesen, Andreas (2009). "Fragend schreiten wir voran" – eine Replik auf die Altvorderen der qualitativen Sozialforschung [27 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 10(3), Art. 30, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0903306.