Volume 11, No. 1, Art. 14 – Januar 2010
Prozeduralität als methodologisches Paradigma – Zur Verfahrensförmigkeit von Methoden
Stephan Lorenz
Zusammenfassung: Methoden werden üblicherweise gleichbedeutend, aber unreflektiert, als Verfahren bezeichnet. Der Aufsatz geht deshalb der Frage nach, was das Verfahrensförmige an Methoden ist, um daraus methodologische Konsequenzen zu ziehen. Am weitesten reflektiert ist der Verfahrensbegriff im Zusammenhang mit Recht und Politik, weshalb zunächst einflussreiche derartige Verfahrenskonzeptionen (LUHMANN, HABERMAS) rekapituliert werden. Dabei dominiert die Frage nach Legitimationsmöglichkeiten positiven Rechts durch Verfahren. Im Kontrast mit produktiv-technischen und wissenschaftlichen Verfahren werden daneben die konstitutiven und erkennenden Dimensionen deutlich. Vor diesem Hintergrund lassen sich allgemeine Funktionen und Strukturmerkmale von Verfahren in einem Modell zusammenführen. Exemplarisch wird die Einlösung eines solchen Modells am "parlamentarisch"-experimentellen Verfahren Bruno LATOURs demonstriert. Derart konkretisiert und erweitert sind Konsequenzen für die Verfahrensförmigkeit wissenschaftlichen Arbeitens, für eine prozedurale Methodologie, abzuleiten, die sich insbesondere mit den Begriffen Relationalität, Positivität, Rekonstruktion und Transdisziplinarität verbinden. Nicht zuletzt lässt sich auf diese Weise die Spaltung in quantitative versus qualitative Forschung auf interessante Weise umgehen. Schließlich bietet die prozedural fundierte Methodik auch kritisches Potenzial, insofern die Einhaltung beziehungsweise Nichteinhaltung des Verfahrens hinterfragt werden kann.
Keywords: Prozeduralität; Methodologie; Verfahren; Rekonstruktion; Transdisziplinarität; Latour; Habermas; Luhmann
Inhaltsverzeichnis
1. Positivierung des Rechts oder worauf rechtlich geregelte Verfahren eine Antwort sind
2. Typen von Verfahren und Anforderungen an ein allgemeines Verfahrensmodell
3. Funktionen und Strukturmerkmale: ein allgemeines Verfahrensmodell
4. Das "parlamentarische" Verfahrensmodell Bruno LATOURs
5. Methodologische Konsequenzen der Prozeduralität
6. Resümee
Was das Qualitative an qualitativer Forschung ist, wurde bereits häufig versucht zu bestimmen. Dies geschieht üblicherweise in Abgrenzung zur quantitativen Forschung, wobei gelegentlich alternative Begriffspaare bevorzugt werden. Auch im folgenden Text soll eine Bestimmung vorgeschlagen werden. Diese betont allerdings nicht zuerst die Unterschiede zu quantitativer Forschung, nicht das Trennende, sondern bietet ein allgemeines Wissenschaftsverständnis an, auf dessen Basis dann methodologisch begründete Unterscheidungen vorgenommen werden können. Das Gemeinsame ist die Verfahrensförmigkeit wissenschaftlichen Arbeitens. [1]
In der Forschung ist es ganz selbstverständlich, von Verfahren zu sprechen, wenn es um Methoden geht. Beide Begriffe werden weitgehend synonym verwandt (z.B. qualitative Methoden/Verfahren). Was heißt es aber, Methoden als Verfahren zu verstehen? Anzuerkennen ist zunächst, dass die Reflexion von Verfahren als Verfahren in den Bereichen Recht und Politik am weitesten fortgeschritten ist, während sie mit Bezug auf Methoden nicht systematisch stattfindet. Dies überrascht nicht nur wegen der synonymen Begriffsverwendung, sondern auch, wenn man in historischer Perspektive der Habermasschen Ausführung zur Herausbildung von Verfahrensrationalität in Recht, Politik und Wissenschaft folgt. Bei HABERMAS steht der Verfahrensbegriff von Beginn an genauso für Methoden; er schreibt (1992, S.42, kursiv im Orig.):
"Demgegenüber [d.h. gegenüber materialer Rationalität metaphysischen Denkens; S.L.] vertrauen die modernen Erfahrungswissenschaften und eine autonom gewordene Moral nur noch der Rationalität ihres eigenen Vorgehens und ihres Verfahrens – nämlich der Methode wissenschaftlicher Erkenntnis oder dem abstrakten Gesichtspunkt, unter dem moralische Einsichten möglich sind. Die Rationalität (...) hängt ab von der Vernünftigkeit der Prozeduren, nach denen man Probleme zu lösen versucht – empirische und theoretische in der Gemeinschaft der Forscher und im organisierten Wissenschaftsbetrieb, moralisch-praktische Probleme in der Gemeinschaft der Bürger eines demokratischen Staates und im Rechtssystem." [2]
Dann ist es aber angemessen, der Reflexion von Methoden als Verfahren eine ähnliche Bedeutung beizumessen, wie dies für Gesetzgebung oder Gerichtsprozesse ganz selbstverständlich der Fall ist. [3]
Mit "Verfahren" verbindet sich soziologisch bislang zuerst die Vorstellung rechtlich geregelter Verfahren in Recht und Politik. LUHMANN (1997, S.11) hatte in diesem Sinne eine "Theorie aller rechtlich geregelten Verfahren" vorlegen wollen. Der Generalanspruch, der im "aller" zum Ausdruck gebracht wird, erfährt allerdings mit "rechtlich geregelten" eine nicht unerhebliche Einschränkung, da es eben auch ganz andere Verfahren gibt. Möchte man Verfahrensförmigkeit oder: Prozeduralität methodologisch fruchtbar machen, wie es der Aufsatztitel ankündigt, dann lässt sich dafür dennoch einiges an der bereits geleisteten theoretischen Reflexion rechtlich geregelter Verfahren lernen. Von da aus wird es einfacher sein, der Frage nachzugehen, was das Verfahrensförmige am wissenschaftlichen Arbeiten, an Methoden ist. Ich werde deshalb mit rechtssoziologisch Vertrautem beginnen, nämlich mit der Positivierung des Rechts (Abschnitt 1). Im Zuge dessen bieten Verfahren Möglichkeiten, Entscheidungen zu finden und zu legitimieren. Was in Recht und Politik als Positivierung gefasst wird, beschreibt in diesen Bereichen allerdings nur, was gesamtgesellschaftlich als Modernisierung oder Enttraditionalisierung erfahren wird und sich in analoger Weise in den Wissenschaften niederschlägt; auch hier gibt es keine Letztbegründung mehr. Strukturell ist so wenig verwunderlich, dass es hier ebenso verfahrensförmige Operationen sind, die zu Entscheidungen beziehungsweise zu Erkenntnissen führen. Im zweiten Schritt werden deshalb Typen von Verfahren dargestellt, um im Vergleich Kriterien für ein allgemeines Verfahrensmodell formulieren zu können (Abschnitt 2). Daran anschließend lassen sich allgemeine Strukturmerkmale und Funktionen von Verfahren herausarbeiten, sodass die Grundzüge eines allgemeinen Verfahrensmodells sichtbar werden (Abschnitt 3). Nachdem diese Abstraktionshöhe erklommen wurde, wird ein exemplarisch dieses Modell erfüllendes Verfahren, nämlich das "parlamentarische" Verfahrenskonzept Bruno LATOURs (2001) diskutiert (Abschnitt 4). Danach ist zu reflektieren, welche methodologischen Konsequenzen aus dem allgemeinen Modell zu folgern sind (Abschnitt 5), um schließlich Gedankengang und Ergebnisse zu resümieren (Abschnitt 6). [4]
1. Positivierung des Rechts oder worauf rechtlich geregelte Verfahren eine Antwort sind
Mit Positivierung des Rechts ist ein historischer Prozess benannt, der nach und nach die Vorstellung einer Letztbegründungsmöglichkeit rechtlicher Normen aufgibt. Weder Tradition noch Religion/Gott, metaphysische Vernunft oder die Ordnung der Natur bieten noch verlässliche Letztbezüge der rechtlich geregelten gesellschaftlichen Ordnung. Rechtsetzung muss nachtraditionell, nachreligiös und nachmetaphysisch geleistet werden. Wenn aber eine Ableitung aus feststehenden, letztgültigen Normen, ausgeführt durch unhinterfragbare Repräsentanzen, nicht mehr überzeugt, dann gibt es auch keine verbindlichen Restriktionen mehr. Dies eröffnet zweifellos neue Gestaltungsspielräume, kann aber genauso gut in Beliebigkeiten führen, und zwar in chaotische ebenso wie in willkürliche. Wo "Gott tot ist", scheint alles und nichts möglich beziehungsweise unmöglich. Gleichsam haltlos sieht sich die Gesellschaft heute mit zunehmender struktureller Differenzierung und kultureller Pluralisierung konfrontiert; hinzutreten Probleme der "Risikogesellschaft" (BECK 1996; RENN, SCHWEIZER, DREIER & KLINKE 2007), die auch und gerade mit wissenschaftlich-technischen Risiken und ökologisch ungewissen Zukunftsprognosen umgehen lernen muss.1) Die große Herausforderung, vor der Recht und Politik stehen und bei deren Bearbeitung Verfahren die entscheidende Rolle spielen (werden), ist, wie dennoch zu verbindlichen und zugleich revidierbaren Regelungen gefunden werden kann. Insgesamt ist das die historische Konstellation, die laut HABERMAS (1994) nach einem neuen, nämlich prozeduralen Rechtsparadigma verlangt. [5]
Die Frage nach der Verbindlichkeit rückt Legitimationsfragen in den Vordergrund. Macht allein wäre überfordert, deshalb ist auch – explizite oder implizite – Zustimmung erforderlich. Wer wird welche politischen und rechtlichen Entscheidungen einzuhalten bereit sein? Egal, ob ein eher routiniert-konventionelles2) Legitimationsverständnis verfolgt wird, wie etwa von LUHMANN (1997), oder ein normativ anspruchsvolles, wie etwa von HABERMAS (1994) – unter Bedingungen positivierten Rechts sind transzendente Legitimierungen ausgeschlossen. Während bei LUHMANN die Grenzen zu traditioneller, im Sinne gewohnheitsförmiger Zustimmung als bloßer Hinnahme fließend sind, beansprucht HABERMAS zumindest eine schwache Form der Transzendenz, eine "Transzendenz von innen" (1994, S.32ff.).3) In beiden Fällen wird aber auf Verfahren rekurriert. [6]
LUHMANN (1997, S.30f.) schreibt: "Verfahren finden eine Art generelle Anerkennung, die unabhängig ist vom Befriedigungswert der einzelnen Entscheidung, und diese Anerkennung zieht die Hinnahme und Beachtung verbindlicher Entscheidungen nach sich." Ihm geht es darum, diese Anerkennung von persönlichen Motiven gelöst zu betrachten, weil die moderne Motivvielfalt eine Einigung sehr unwahrscheinlich werden lasse.
"Dieser Komplexität moderner Gesellschaften kann nur durch Generalisierung des Anerkennens von Entscheidungen Rechnung getragen werden. Es kommt daher weniger auf motivierte Überzeugungen als vielmehr auf ein motivfreies, von den Eigenarten individueller Persönlichkeiten unabhängiges (...) Akzeptieren an, das ohne allzu viel konkrete Information typisch voraussehbar ist" (LUHMANN 1997, S.32). [7]
Während optimistischere Geister annehmen, dass die Positivierung aus alten und dogmatischen Zwängen befreit und Lernprozesse zu freiheitlich gestalteten gesellschaftlichen Verhältnissen zumindest ermöglicht, meint LUHMANN, dass ausgerechnet die neue Vielfalt persönlicher Überzeugungen eine unpersönliche Operationsfähigkeit erfordere, was ihn einen stark reduzierten, sozusagen "automatisierten" Lernbegriff formulieren lässt: "Bei erfolgreichem Lernen werden die durch Entscheidung geänderten Erwartungen gleichsam automatisch, von innen heraus, beachtet und wie eine (willkommene oder unwillkommene) Tatsache behandelt" (LUHMANN 1997, S.34). LUHMANN verfolgt also nicht die Frage der Legitimität in dem Sinne, wie Zustimmung ohne Letztbezug noch begründbar ist, sondern seine Frage ist vielmehr die, wieso trotz Wegfall letzter Gründe eigentlich keine grundlegende Irritation stattfinde, außer vielleicht bei einigen PhilosophInnen. Die (gekürzte) Antwort lautet dann, dass die routinierte Anwendung von Verfahren die Funktionszusammenhänge sichere, weil nicht weiter hinterfrage. [8]
Damit wird das Legitimationsproblem eher suspendiert als gelöst. HABERMAS dagegen geht grundsätzlich davon aus, dass es mehrere Möglichkeiten des Funktionierens geben könne, dass es eine empirische Realität sei, dass Menschen gerechtere Verhältnisse einfordern, und dass man normativ bessere auch auszeichnen könne, wenn an einem Begriff von begründbarer Legitimität festgehalten werde. Im Vordergrund steht nicht, wie bei LUHMANN, die Komplexitätsreduktion, sondern – in Form des Verweises auf potenziell bessere Regelungen – der Komplexitätserhalt. Das demokratische Verfahren spiele dabei eine entscheidende Rolle. Als rechtlich geregeltes Verfahren bewegt es sich im Medium des Rechts und bringt über Gesetzgebungsprozesse seinerseits Recht hervor. Was das Medium Sprache in der Interaktion leistet, nämlich eine an Geltungsansprüchen orientierte – oder jedenfalls im Konfliktfall orientierbare – Handlungskoordination, das könne das Medium Recht über Interaktionen hinaus gesamtgesellschaftlich leisten. "Die aus rechtlichen Kommunikationen gewobene Haut vermag auch noch komplexe Gesellschaften im ganzen zu umspannen" (HABERMAS 1994, S.528). Sprache allein wäre in der strukturell differenzierten, kulturell pluralisierten und entwicklungsoffenen Gesellschaft überfordert. Mit dem Recht stehe allerdings ein strukturell ähnliches, das heißt an "einklagbaren" Geltungsansprüchen orientierbares Medium zur Verfügung, das auch in komplexen Gesellschaften die Frage nach besseren, normativ richtigen Entscheidungen aufwerfen und bearbeiten könne. Verfahren böten deshalb die Mittel, Lernprozesse in einem anspruchsvollen Sinne zu ermöglichen: die zukunftsoffene Suche nach den besseren rechtlichen Regelungen gesellschaftlichen Zusammenlebens. [9]
LUHMANN fragt also danach, was Verfahren faktisch leisten4) und entfernt sich gerade deshalb von persönlichen Motiven der Beteiligten. Vielmehr geht es ihm um die Motive, die das Verfahren selbst generieren kann, um die eigene Funktionsweise zu legitimieren. HABERMAS dagegen betrachtet Verfahren als (empirisch auffindbare) Ermöglichungsformen für normativ richtige Entscheidungen. Die Motive der Akteure, sich in diesem Sinne auf Verfahren einzulassen, liefern sie freilich gerade nicht zwingend selbst – sonst würden sie determinieren und es könnte kaum noch von demokratischer Freiheit oder Ähnlichem gesprochen werden. In beiden Fällen sind Verfahren eine Antwort auf die Positivierung des Rechts. Sie bieten Strukturvorgaben für Prozesse der Normbildung und Entscheidungsfindung, ohne sie vorab festzulegen, also aus letztgültigen Normen abzuleiten. Verfahren führen zu Festlegungen, schreiben sie aber nicht vor: zwar wird ein/e PolitikerIn gewählt, aber es steht nicht vorher fest, welche/r; das Gericht kommt zu einem Urteil, aber welches, das muss erst im Verlauf des Verfahrens ermittelt werden; ebenso verläuft die Gesetzgebung. [10]
Etwas in den Hintergrund rückt bei diesen Überlegungen der gemeinsame Fokus auf Legitimationsfragen und das Absehen von Konstitutions- und Erkenntnisfragen. Verfahren und daraus folgende Entscheidungen legitimieren nicht nur, sondern konstituieren immer auch – eben eine rechtlich geregelte Ordnung, die im zukünftigen Agieren zu berücksichtigen ist. Sie schaffen, indem sie etwas regeln, neue Verhältnisse. Selbst oder gerade wenn man sich nicht an beschlossene Gesetze hält, ist mit Konsequenzen zu rechnen, sind die Entscheidungen also in Handlungsorientierungen einzubeziehen. In diesem Sinne sind mit Verfahren auch immer Erkenntnisse, neue Deutungen und Kontroversen, verbunden – neue Gleichstellungsregelungen zum Beispiel, die die alten Routinen etwa bei der Stellenvergabe stören, zwingen zumindest zu der Erkenntnis, dass es so nicht mehr geht. Obwohl in der Regel immer alle Dimensionen relevant sind, kann je nach Verfahren freilich die konstitutive, erkennende oder legitimierende Dimension von besonderer Bedeutung sein, wie die folgenden Verfahrenstypen veranschaulichen sollen. [11]
2. Typen von Verfahren und Anforderungen an ein allgemeines Verfahrensmodell
Im Zusammenhang mit Recht und Politik werden unter Verfahren üblicherweise rechtlich geregelte Verfahren verstanden. In anderen Zusammenhängen ist es aber ebenso selbstverständlich, von Verfahren zu sprechen. So gibt es technisch-produktive Verfahren als Herstellungs- oder Fertigungsverfahren. Es gibt außerdem, bekanntermaßen und hier von besonderem Interesse, wissenschaftliche Verfahren im Sinne methodischen Vorgehens. [12]
All diese Verfahren haben ihre Eigentümlichkeiten. In produktiven Verfahren geht es darum, aus Rohstoffen oder Einzelteilen Produkte herzustellen; hier ist der konstitutive Aspekt besonders deutlich ausgeprägt. Insofern diese Verfahren auf im Vorhinein sehr konkrete Resultate, nämlich Produkte, angelegt und in diesem Sinne stark ergebnisorientiert sind, sind sie in sich relativ geschlossen. Jede Abweichung vom angestrebten Ergebnis stellt einen Fehler, einen Qualitätsverlust dar. Qualitätskontrolle wird also darauf achten, dass es möglichst keine Abweichungen vom Fertigungsverfahren gibt. Wissenschaftliche Verfahren haben auf den ersten Blick eine ganz andere Ausrichtung. Bei ihnen darf gerade nicht vorher feststehen, was als Ergebnis erscheinen soll. Hier ist es gerade die neue, unerwartete Erkenntnis, die angestrebt wird. Sie müssen deshalb deutlich flexibler und offener sein. Dementsprechend sind dann rechtlich geregelte Verfahren weder derart festgelegt wie technische Verfahren, da sie im engeren Sinne nichts "herstellen", noch können sie so "unzuverlässig" operieren wie wissenschaftliche Verfahren, die alles infrage stellen und keine kollektiv verbindlichen Vorgaben machen. [13]
Betrachtet man diese Typen genauer, so ist diese Form der Abgrenzung nach offen versus geschlossen aber zu einfach. Denn typenintern gibt es deutliche Unterschiede, was die Offenheit – oder mit LUHMANN: den Grad der Komplexitätsbewältigung – angeht. Dazu lässt sich wiederum auf eine Unterscheidung LUHMANNs (1997) zurückgreifen. Rechtsanwendende nennt er auch programmierte Verfahren. In Gerichten und Verwaltung muss und kann man sich immer schon auf vorhandene Entscheidungsgrundlagen stützen. Demgegenüber gibt es programmierende Verfahren, die sich diese Grundlagen allererst schaffen müssen, die also erst klären müssen, wer entscheiden soll (politische Wahl) oder was entschieden werden soll (Gesetzgebung). Offensichtlich können aber ähnliche Unterscheidungen auch bei technisch-produktiven und wissenschaftlichen Verfahren eingeführt werden. [14]
Was oben zu den produktiven Verfahren gesagt wurde, gilt in besonderer Weise für die industrielle Massenproduktion. Dabei soll in hoher Stückzahl immer wieder dasselbe produziert werden, ohne dass es zu Abweichungen, sprich: Qualitätsmängeln kommt. Ganz anders verhält es sich bei handwerklicher Herstellung. Diese bedarf zwar andauernder routinierter Einübung in die handwerklichen Fähigkeiten und Herstellungs- (Verfahrens-) Abläufe, die zum Produkt führen. Gerade dies ist aber die Voraussetzung dafür, eine Präzisierung zu erreichen, die gezielte "Abweichung" ermöglicht, sodass Individuelles und Kreatives entsteht. Sehr detailreich wurde dieser Zusammenhang von SENNETT (2008) in seinem Buch "Handwerk", aber auch schon in früheren Arbeiten dargelegt.5) Handwerk wird von ihm zudem in seiner Nähe zu künstlerischem Handeln untersucht. Um beispielsweise ein Bild auf einzigartige Weise zu malen, bedarf es langjähriger praktischer Routinen in den malerisch-künstlerischen "Herstellungsverfahren". Aber auch wissenschaftliche Verfahren lassen sich in einem ähnlichen Sinne unterscheiden. Denn es gibt selbstverständlich auch in der Wissenschaft standardisierte Operationen, die sich beispielsweise bei Wahlumfragen immer wieder routiniert einsetzen lassen. Andererseits gibt es explorative Verfahren, die durch ein Höchstmaß an Offenheit gegenüber ihrem Gegenstand charakterisiert sind. Daraus ergibt sich folgende Übersicht zu Verfahrenstypen:
VERFAHREN |
Wissenschaftlich |
Rechtlich geregelt |
Technisch-produktiv |
(Betonung von ...) |
(Erkenntnis) |
(Legitimation) |
(Konstitution) |
Programmiert |
Standardisierte Operationen |
Rechtsanwendung |
Industrielle Massenproduktion |
Programmierend |
Exploratives Vorgehen |
Demokratische Politik |
Handwerk |
Tabelle 1: Verfahrenstypen [15]
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwar im engeren Sinne nur rechtlich geregelte Verfahren soziologisch theoretisiert sind, dass es gleichwohl ganz andere Verfahrenstypen gibt. Diese lassen sich nach dem Grad der Komplexitätsbearbeitung unterscheiden – eine Unterscheidung, die quer zu den genannten Verfahrenstypen liegt. Will man nun dem allgemeinen Sinn von Verfahren am nächsten kommen, ihre umfassendste Bestimmung vornehmen, dann muss man sich den Verfahren widmen, die die höchsten Potenziale haben und die größten Herausforderungen stellen. Das heißt, es sind die Verfahren, die die größte Komplexität oder Unbestimmtheit zu bearbeiten haben, in Luhmannscher Terminologie "programmierende Verfahren": solche, die legitime neue rechtliche Regelungen schaffen, die "individuelle" Produkte konstituieren und (hier von besonderem Interesse) die neue Erkenntnisse hervorbringen. Damit wird der Blick zugleich von allein Legitimationsaspekten und – auf gleicher Ebene – hin zu solchen der Erkenntnis und Konstitution gelenkt. [16]
3. Funktionen und Strukturmerkmale: ein allgemeines Verfahrensmodell
Die allgemeine Funktion von Verfahren ist nun bereits deutlich geworden. Sie sollen Unbestimmtheit in Bestimmungen transferieren – seien es nun Rohstoffe in Produkte oder wissenschaftliche Fragen in Erkenntnisse. Sie müssen dabei in ihren anspruchsvollsten ("programmierenden") Varianten in einer Situation komplexer Offenheit ohne Letztbezugspunkte auskommen können. Sie stehen somit vor einer doppelt widersprüchlichen Aufgabe: Zum einen müssen sie einen Übergang von Unbestimmtheit in Bestimmung gestalten, ohne dabei aber die Unbestimmtheit letztgültig aufzuheben, also neue Letztbezüge zu etablieren; sie sollen einen Umgang mit Ungewissheit ermöglichen, diese aber nicht abschaffen. Zum anderen müssen sie Strukturvorgaben bieten, dürfen aber nicht determinieren; sie sollen Festlegungen ermöglichen, aber nicht erzwingen. Sie bieten Anhaltspunkte dafür, wie man zu "Etwas" kommt, legen aber nicht fest, was dies genau sei. Verfahren müssen deshalb strukturiert sein, das heißt sie müssen es erlauben, Unbestimmtheit sukzessive "kleinzuarbeiten" und können gerade deshalb zu Beginn einer spezifischen Verfahrensgeschichte "in der Sache" vieles vorerst offen lassen. Erforderlich ist ein schrittweises Prozedere mit einer Reihe von Verfahrensaufgaben, die nach und nach abzuarbeiten sind. Damit werden die wichtigsten Verfahrensaufgaben sichtbar und zeigen in schematischer Skizze ein allgemeines Verfahrensmodell:
Abbildung 1: Allgemeines Verfahrensmodell [17]
Die erste Aufgabe ist es, ganz allgemein gesprochen, Unbestimmtheit zuzulassen, offen für Neues zu sein. Die (vorläufig) letzte Aufgabe ist dann das Gegenteil dessen, nämlich die Festlegung auf eine Bestimmung; Verfahren müssen zu etwas (einer Entscheidung, Konstituierung, Erkenntnis) führen. Dazwischen müssen Verhandlungen, Prüfungen, Selektionen schrittweise vollzogen werden. Schließlich sollen und können aber Verfahren die Offenheit gegenüber Komplexität dabei nicht endgültig beseitigen, sondern müssen sie bewahren. Deshalb ist es ihre vierte Aufgabe, einen reflexiven Rückbezug von der festgelegten Bestimmung auf die Unbestimmtheit zu erhalten. Nur durch diese Dynamisierung kommt es zu rekursiven Lernprozessen, das heißt nur dadurch kann die Bestimmung zu einem späteren Zeitpunkt wieder anders ausfallen – das Gerichtsurteil kann angefochten werden, PolitikerInnen müssen sich periodisch erneut der Wahl stellen, Gesetze können neu erlassen oder aufgehoben werden und wissenschaftliche Erkenntnisse werden überprüft. Ergebnisse sind immer Zwischenergebnisse – eine prinzipielle Aussage, denn das "Zwischen" solcher Festlegungen kann sich realiter als äußerst ausdauernd erweisen. Man denke beispielsweise an wissenschaftliche Paradigmen. [18]
Bevor methodologische Konsequenzen aus diesem allgemeinen Verfahrensmodell gezogen werden, wird ein Verfahrenskonzept vorgestellt, das das bisher rekonstruierte Verfahrensverständnis exemplarisch in besonderer Weise erfüllt.6) [19]
4. Das "parlamentarische" Verfahrensmodell Bruno LATOURs
Im "Parlament der Dinge" hat die Latoursche (2001) Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie ihre m.E. tragfähigste Form angenommen. Im "parlamentarischen" Verfahren sind konstituierende, legitimierende und erkennende Aspekte vereint, womit das "Parlament der Dinge" erfüllt, was als umfassendes Verfahrensmodell eingeführt wurde. Das "Kollektiv", die "gemeinsame Welt"7) aus "menschlichen und nicht-menschlichen Wesen", wird entlang des Verfahrens "versammelt" (konstituiert) und zwar, sofern das Prozedere eingehalten wird, auf "demokratische" (legitime) Weise. LATOUR versteht das verfahrensförmige Vorgehen dabei, in Anlehnung an wissenschaftliches Experimentieren, als experimentellen Lernprozess (erkennen). Von hier aus ergeben sich interessante Anschlussmöglichkeiten an die oben diskutierten Theoriestränge (LUHMANN, HABERMAS). Entgegen der eigenen Diktion der "Amoderne" (LATOUR 1995) lässt sich LATOUR mit seinem experimentell-politischen Verfahrenskonzept überdies in eine lange Tradition moderner politischer Theoriebildung rücken.8) [20]
Die vier entwickelten allgemeinen Verfahrensaufgaben finden sich bei LATOUR in differenzierter Form. Er benennt insgesamt sieben Aufgaben, nämlich Perplexität, Konsultation, Hierarchie, Institution, Gewaltenteilung, Szenarisierung und Verlaufskontrolle. [21]
Perplexität: Damit ist das gemeint, was im allgemeinen Modell Offenheit genannt wurde. LATOUR (2001, S.150ff.) diskutiert das unter anderem am Beispiel der BSE-Krise und den für den "Rinderwahnsinn" verantwortlich gemachten veränderten Eiweißstrukturen (Prionen). Diese sorgten für Aufruhr, und zwar nicht nur in den Medien oder der Gesellschaft, sondern in LATOURs Verständnis ebenso bei den "wahnsinnig" werdenden Rindern (und Schafen). Die Offenheit ist nicht nur passiv zu verstehen, dass also überraschende Ereignisse Irritationen hervorrufen. Sie wird genauso aktiv erzeugt, indem etwa Wissenschaften mit neuen Instrumenten neue Sichtweisen "hervorrufen". [22]
Konsultation: Damit ist im Wesentlichen eine eingehende Prüfung des Neuen auf seine Eigenschaften und Reaktionsmöglichkeiten hin gemeint; LATOUR spricht auch von "Relevanzprüfung". Das Neue wird aus unterschiedlichen Perspektiven befragt: wer kann was zum Verständnis beitragen? Damit sind wir bereits beim zweiten Punkt des allgemeinen Verfahrensmodells, bei den Verhandlungen, Prüfungen und Selektionen. In LATOURs Konzept ist dieser Punkt allerdings in zwei spezifische Aufgaben unterteilt, wie im Folgenden zu sehen. [23]
Hierarchie: Eine weitere Aufgabe in diesem Zusammenhang ist nämlich die Hierarchie, die Erstellung einer öffentlichen Rangfolge der Bedeutsamkeit. Man kann sagen, dass im Gegensatz zur Konsultation hier nicht das Neue für sich, als Neues, befragt wird, sondern in seiner Beziehung auf die bekannte und etablierte Ordnung, auf die Welt, wie sie bis zum Auftauchen des Neuen gesehen wurde. Welche Bedeutung wird ihm zugemessen, welche Rolle soll es spielen, und was verändert sich dadurch im bestehenden Zusammenhang? [24]
Institution: Infolge der Verhandlungen und Selektionen findet nun eine Schließung statt. BSE, um dieses Beispiel noch einmal aufzugreifen, ist zwar in der Welt, aber die Aufregung hat sich gelegt, es wurden Erklärungen und Routinen im Umgang damit gefunden. Die Arrangements funktionieren und bieten keinen Anlass zur Problematisierung. Bezogen auf das allgemeine Verfahrensmodell heißt das, dass man sich festgelegt hat. [25]
Gewaltenteilung: LATOUR nimmt nun noch eine instruktive Unterteilung vor, die die beiden ersten Aufgaben (Perplexität, Konsultation) und die beiden folgenden Aufgaben (Hierarchie, Institution) jeweils noch einmal als einbeziehende beziehungsweise ordnende Gewalt zusammenbindet. Mitten durch die Verhandlungen und Selektionsprozesse verläuft also eine Trennlinie, die strikt einzuhalten ist. Der Sinn dieser Teilung ist es, das Neue, die Irritationen und die Offenheit für Unbestimmtes klar von der bestehenden Ordnung, den bereits anerkannten, weil zuvor bereits geprüften Festlegungen und Bestimmungen zu trennen. Wenn beide Gewalten ihre Potenziale entfalten können sollen, dann ist beiden gewissermaßen ihr eigener Wirkungsraum zuzugestehen. Das Verfahren soll zwar Bestimmungen aus dem Unbestimmten heraus ermöglichen, aber nicht beides ineinander verwirren. Würde das Bestimmte permanent irritiert, wäre es keine Bestimmung und als solche in keiner Hinsicht praktikabel. Würde das Unbestimmte durch endgültige Bestimmungen blockiert, gäbe es keine Offenheit für Neues mehr. Das Verfahren muss also, wie oben bereits ausgeführt, beides leisten: Unbestimmtheit in Bestimmung transferieren, dabei aber beides, Unbestimmtheit wie Bestimmtheit, erhalten und beide in ihr Recht setzen. [26]
Szenarisierung: Bei der sechsten Aufgabe spricht LATOUR von einer "Szenarisierung des Ganzen". Der einzelne Verfahrensverlauf steht also immer in einem umfassenderen Kontext und ist darin auch als solcher zu betrachten. Es gibt nicht nur ein Verfahren, sondern die "Versammlung" konstituiert sich über viele Verfahrensverläufe auf unterschiedlichen Ebenen. Die Latoursche Welt ist eine in jeder Hinsicht verfahrensförmig konstituierte. Betrachtet man wissenschaftliche Erkenntnisgewinne, dann lassen sie sich immer noch in ein umfassenderes Forschungsfeld einrücken oder theoretischen Paradigmen zuordnen und auf diese Weise "szenarisieren". Schließlich generieren die Wissenschaften "große Erzählungen" und sollen sie nach Ansicht LATOURs vervielfachen. Es geht also nicht um "die eine" Szenarisierung, sondern darum, sich die Versammlung, das Kollektiv auf unterschiedliche Weise szenarisiert vorzustellen, wenn man so will: mögliche "Umwelten" zu entwerfen. [27]
Verlaufskontrolle: Die letzte Aufgabe ist es, auf die Einhaltung des Verfahrensverlaufs zu achten und diesen zu protokollieren. Die Protokollierung stellt sicher, dass die Einhaltung der Verfahrensschritte und die Erfüllung der Verfahrensaufgaben überprüfbar bleiben. So lässt sich beurteilen, ob die Resultate legitim "versammelt" wurden. Außerdem wird so dokumentiert, welche Verhandlungen geführt, welche Prüfungen vorgenommen, welche Selektionen gewählt wurden, um zu den anerkannten Zwischenergebnissen zu gelangen. Nur so sind, über neu eingeleitete Verfahrensverläufe, Lernprozesse möglich. Ohne ein Festhalten bisheriger Verläufe verfiele die Öffnung zur Unbestimmtheit jedes Mal aufs Neue in eine völlige Unbestimmtheit – man würde nichts dazulernen. Dies entspricht der vierten Aufgabe im allgemeinen Verfahrensmodell, wie es oben dargestellt wurde, also der reflexiven Rückbindung. [28]
LATOURs Verfahrensmodell, so kann jetzt resümiert werden, erfüllt das als allgemeines Modell eingeführte Verfahren auf besondere und differenzierte Weise. Als Wissenschaftssoziologe ist dabei seine Orientierung an wissenschaftlichem Experimentieren wenig überraschend. Die Analogisierung mit "parlamentarischen" Verfahren, also mit Verfahren demokratischer Gesetzgebung, entspricht wiederum der Zuordnung beider zu den "programmierenden" Verfahren. Aber LATOUR geht weiter, indem er andere "Berufsstände" aufzählt, die ebenfalls zur Versammlung entlang des Verfahrens beitragen und dafür je eigene Kompetenzen beisteuern können. Er nennt neben WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen auch ÖkonomInnen und MoralistInnen sowie JuristInnen und KünstlerInnen (vgl. 2001, S.339, Anm.15). Damit regt er an, über weitere Typen von Verfahren nachzudenken, die zwar die Verfahrensförmigkeit teilen, sie aber auf je spezifische Art und Weise einlösen können. [29]
Dadurch wird, methodologisch betrachtet, transdisziplinäres Potenzial deutlich. Gesteigert wird das durch das Postulat des unterschiedslosen Einbeziehens von Menschen und nicht-menschlichen Wesen. Die "Dinge" treten ein in die vielfältigen Verhandlungen und partizipieren an Artikulation und Versammlung des Kollektivs. Mit der Infragestellung der klaren Natur-Gesellschaft-Unterscheidung müssen selbst die Grenzen von Natur- und Sozialwissenschaften fallen. Dieser Versuch wurde zweifellos schon häufiger unternommen (vgl. BRUNZEL & JETZKOWITZ 2004). Während dabei aber allzu oft der mutmaßlich kleinste gemeinsame Nenner gesucht, Sozialität faktisch auf quasi-physische oder quasi-organismische Zusammenhänge reduziert wurde, geht LATOUR den umgekehrten Weg. Auch die "Dinge" können sprechen, handeln, verhandeln.9) Ermöglicht wird das durch eine Wissenschaftstheorie, die sich vor allem als Methodologie versteht (LATOUR 1999), die von vollständiger – nicht nur sozial-, sondern sozusagen realkonstruktivistischer – Relationalität ausgeht, die Verfahrensschritte dafür angeben kann, wie von hier aus Vernetzungen, Verkettungen10), Versammlungen konstituiert beziehungsweise rekonstruiert werden können, und die dafür schließlich auf Mikro-Makro-Unterscheidungen verzichten kann11). [30]
Das führt den Gang der Überlegungen zurück zur Frage, was das allgemeine Verfahrensmodell zu einer Methodologie beitragen kann, die sich als prozedurale versteht, die also die Verfahrensförmigkeit wissenschaftlichen Arbeitens methodologisiert. [31]
5. Methodologische Konsequenzen der Prozeduralität
Prozeduralität meint mehr als Prozessförmigkeit, nämlich Verfahrensförmigkeit. Es sind folglich Verfahrensschritte, es ist ein allgemeines Prozedere zu identifizieren, ohne damit zu behaupten, dass dieses immer vollständig durchlaufen würde. Wird also danach gefragt, was Prozeduralität in methodologischer Hinsicht bedeutet, dann ist zunächst ein möglichst umfassendes Verständnis von Verfahren erforderlich. Mit der Formulierung eines allgemeinen Verfahrensmodells wurde dazu ein Vorschlag unterbreitet. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Positivierung des Rechts und dem Forschungsprogramm Bruno LATOURs wurde deutlich, dass Verfahren als Antwort auf vollständige Relationalität verstanden werden. Dort, wo keine Letztbezüge und Fixpunkte angenommen werden können, bieten Verfahren Möglichkeiten der nicht-deterministischen Konstituierung, Legitimierung und Erkenntnis. Sie sollen vor Beliebigkeit und Willkür bewahren, ohne deshalb ein letztes Sein, ein letztes Gut oder eine letzte Wahrheit als unhintergehbar gegeben annehmen zu müssen. Recht ist gesetztes Recht, das Latoursche Kollektiv ist ein versammeltes. Bleibt man in der Analogie zum Recht, lässt sich auch von einer Positivierung des Wissen-Schaffens sprechen, woraus sich ein interessanter Begriff positiver Wissenschaft ergibt, der in keiner Weise in Gegnerschaft zu qualitativer Forschung steht. Positives Wissen ist demnach verfahrensförmig, das heißt methodisch gesetztes Wissen. [32]
Die Forschungsgegenstände sind dann als dia- wie synchron versammelte vorzustellen, das heißt sie stehen in Relation zu anderen Gegenständen und resultieren aus vorgängigen "Verkettungen". Nicht alles ist Verfahren, aber Prozeduralität ist das generierende Prinzip, aus dem heraus (konstituierend, legitimierend, erkennend) hervorgehend alles betrachtet wird. Dies ist die Basis einer Rekonstruktionsmethodologie. Eine solche muss eine Vorstellung davon entwickeln, wie Konstruktionsprozesse ablaufen (können), um geeignete methodische Mittel anbieten zu können, die diese Konstruktionen rekonstruieren lassen. Mit LATOUR (auf den ich mich in meiner Darstellung beziehe, wobei er exemplarisch für eine ganze Forschungsrichtung steht) kann man hier weiter gehen als die bekannten Formen des Sozialkonstruktivismus (vgl. MEUSER 2006). Für ihn steht der konstruierten Sozialwelt keine unkonstruiert gegebene Naturwelt gegenüber. Als Wissenschaftssoziologe gab er in den 1980er Jahren (LATOUR & WOOLGAR 1986) die Idee auf, dass man naturwissenschaftliche Laborerkenntnisse einfach sozialkonstruktivistisch kritisieren könne. Vielmehr interessierte er sich dafür, wie "die Welt" durch vielfältige, kleinteilige und permanente Konstruktions- und Vernetzungsprozesse zwischen Untersuchtem (Ding) und Untersuchenden (WissenschaftlerInnen) nach und nach hervorgebracht wird. Vollständige Relationalität meint dann nicht nur ein Erkenntnisprinzip gegenüber "der Welt", sondern ebenso ein Konstruktionsprinzip kollektiver Realitäten, die sich gleichermaßen aus Dingen und Menschen, Konstitution und Erkennen, versammeln. Fasst man diese "Realkonstruktionen" als verfahrensförmige, wie LATOUR dies im "Parlament der Dinge" demonstriert, dann bildet Prozeduralität das methodologisch zugrunde zu legende Prinzip. In diesem Sinne wurde oben ein allgemeines Modell von Verfahrensförmigkeit vorgeschlagen. [33]
Gerade weil ein allgemeines Modell angestrebt wurde, das so umfassend wie möglich vorgestellt werden sollte, ist der Erkenntniswert auf dieser Abstraktionshöhe gering. Denn wo alles integrierbar ist, gehen die Differenzen verloren. Sinn des Modells ist es deshalb nicht, auf die zuvor ermittelten Unterscheidungen zu verzichten, sondern lediglich, für diese einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu schaffen und gegebenenfalls die Unterscheidungen problembezogen variieren zu können. Es lassen sich ganz verschiedene Typen von Verfahren kennzeichnen – die dennoch die Gemeinsamkeit teilen, Verfahren zu sein und als solche in einem allgemeinen Verfahrensmodell sich abbilden zu lassen. Solche Typen wurden im Zusammenhang mit LATOURs "parlamentarischem" Verfahren ebenso sichtbar ("Berufsstände"), wie sie bereits zuvor als produktiv-technische, rechtlich geregelte und wissenschaftliche eingeführt wurden. [34]
Ebenso lassen sich die wissenschaftlichen Verfahren selbst noch einmal unterteilen und die problembezogenen Varianten an der Debatte um die Unterscheidungen qualitativer und quantitativer Methoden näher darstellen. Mitunter kann es sinnvoll sein, diese Differenz zu betonen. Wenn man darauf aufmerksam macht, dass es sich um ganz verschiedene "Spiele" handelt, so wie Schach und Fußball,12) dann wird etwa deutlich, dass sich ihre Erfolge nicht mit denselben Messlatten bewerten lassen: So wie von SchachspielerInnen keine Tore erwartet werden, so wenig sinnvoll ist es, von Strukturgeneralisierungen statistische Repräsentativität zu erwarten (oder umgekehrt). Verfahrenstheoretisch ist aber ebenso die Frage interessant, was es heißt, dass beide spielen beziehungsweise methodisch arbeiten. Den gemeinsamen Bezugspunkt bildet dann das allgemeine Verfahrensmodell, und von hier aus wird es nun möglich, die Unterscheidungen problembezogen zu variieren. So kann es – je nach Problembezug – angemessener sein, danach zu unterscheiden, ob es um Spiele (um im Bild zu bleiben) geht, die sich drinnen oder draußen spielen lassen, ob am Strand, im Wasser oder auf dem Rasen, ob es um Gesellschafts-, Mannschafts- oder Einzelpersonenspiele gehen soll, oder ob zum Beispiel Karten- oder Würfelspiele von Interesse sind. Deswegen sind Schach und Fußball immer noch verschiedene Spiele, aber das ist nicht immer die wichtigste Feststellung, so wie nicht immer die wichtigste und erste Frage die ist, ob Rechenoperationen hilfreich sind oder nicht. Dies entweder, weil beides von Interesse sein kann: Wird etwa ein politisches Reformprojekt untersucht, sind Strukturerkenntnisse zu den Interessen ebenso erheblich wie die Frage, wie viele mitmachen oder nicht mitmachen. Oder es sind zunächst andere Fragen für den methodischen Zugang zu klären: etwa ob eine oder mehrere (und welche) Disziplinen beteiligt sind, ob eher flüchtige oder beständige Phänomene untersucht werden sollen, ob diese von geringerer oder größerer Reichweite sind (z.B. Kleingruppen oder Globalisierung), ob bzw. welche Forschung bereits vorliegt. [35]
Gleichwohl bietet das Verfahrensmodell auch die Möglichkeit, eine sehr grundlegende Unterscheidung einzuziehen, die in spezifischem Sinne nahe bei der etablierten zwischen qualitativen und quantitativen Methoden ist und zugleich den Vorzug hat, als methodologische Unterscheidung wissenschaftlichen Arbeitens begründet zu sein. Folgt man den oben angestellten Überlegungen, dann ist sicher eine der Einsichten die, dass einer solchen Unterscheidung auf verfahrenstheoretischer Grundlage die rekonstruktionsmethodologische Fundierung bereits vorausliegt. Re-Konstruktion ist folglich kein besonderes Kennzeichen qualitativer Forschung.13) Für die anvisierte Unterscheidung ist es nun besonders instruktiv, die Luhmannsche in programmierende und programmierte Verfahren noch einmal aufzugreifen. Das allgemeine Verfahrensmodell stellt den gemeinsamen methodologischen Bezugspunkt dar, sodass die Unterscheidung von vornherein als idealtypische, nicht als absolute erscheint. Noch die Versuche, qualitative und quantitative Methoden zu kombinieren, beharren mehr auf deren grundlegender Differenz, als sie tatsächlich zu verbinden. Programmierend versus programmiert beschreibt dagegen eine relative Unterscheidung. Auch wenn es auf den ersten Blick nahe liegt, qualitative Methoden als programmierende Verfahren anzunehmen, weil sie in der Regel explorativ angelegt sind und einen möglichst offenen Gegenstandszugang suchen, so ist dies doch kein Automatismus. Wenn beispielsweise, wie dies gelegentlich vorkommt, quantitativ eine Typologie vorgelegt wird, die dann unter Anwendung qualitativer Methoden detailliert wird, so werden die qualitativen Methoden hier nichts mehr "programmieren", sondern sind vielmehr bereits "programmiert" – selbst wenn dieselbe Methode in anderem Zusammenhang programmierende Arbeit leisten kann. Quantitative Forschung wird etwa dort wichtige "Programmierungsimpulse" setzen können, wo die Feststellung von Größen- oder Mengenverhältnissen die Relevanz und Dringlichkeit kontroverser Auseinandersetzungen "versachlicht". Und auch "Qualitative" leiten mitunter aus Mengenangaben Strukturerkenntnisse ab; man denke an dyadische oder triadische Strukturen. Entscheidend für die Einteilung in programmierte und programmierende Verfahren ist also nicht, ob Zahlen und Rechenoperationen zum Einsatz kommen oder nicht, sondern inwieweit auf bewährte Erkenntnisse zurückgegriffen oder wissenschaftliches Neuland erschlossen wird. So stellen sich nicht Fragen des Prinzips, sondern der problembezogenen Angemessenheit. In Analogie zu rechtlich geregelten Verfahren ist das offensichtlich. Niemand wird annehmen, dass Gerichtsverfahren (programmiert) Gesetzgebungsverfahren (programmierend) ersetzen könnten oder umgekehrt. Problembezogen steht nur die Frage, welche Verfahrensform jeweils angemessen ist und welche nicht – in jedem Fall aber handelt es sich um ein Verfahren. [36]
Programmiert versus programmierend lässt sich in diesem verfahrenstheoretisch begründeten Sinne mit vertrauterer Terminologie auch als standardisiert versus explorativ bezeichnen (s.a. die Tabelle oben, Abschnitt 2). Diese Differenz hat jetzt aber einen methodologisch geklärten Sinn und ist nicht zu verwechseln mit qualitativ/quantitativ, standardisiert/qualitativ, quantitativ/rekonstruktiv o.ä. unscharfen, aber im Forschungsalltag geläufigen Abgrenzungen. [37]
Eine prozedurale Methodologie findet ihre grundlegenden Bezüge also in einem allgemeinen, integrationsfähigen Verfahrensmodell. Sie bietet und begründet einen Rahmen für eine Vielzahl von Methoden und Forschungsansätzen. Auf diese Konkretisierungen kann auch nicht verzichtet werden, sondern sie bereichern das abstrakte Modell, nämlich (a) um bewährte methodische Mittel und, auch deshalb, (b) um Möglichkeiten, ganz verschiedene Gegenstände und Felder zu untersuchen. [38]
Aufgewiesen wurde ersteres (a) bereits an der Kombination des Latourschen Verfahrensmodells mit bewährten fallrekonstruktiven Methoden (LORENZ 2007b). So lässt sich insbesondere die Forschungsmaxime der Akteur-Netzwerk-Theorie "follow the actors" (vgl. DEGELE 2002; SIMMS 2004) qualifizieren. Es kann sich dabei nicht nur um ein Nachzeichnen der Verfahrenswege ("Netze") des Untersuchungsgegenstands handeln. Zwar ist, wie in den (Fall-) Rekonstruktionsmethodiken, die wissenschaftliche Arbeit des Versammelns nicht als prinzipiell davon unterschiedene vorgestellt, aber als eine relativ andere. Diese relative Distanz ermöglicht es erst, die spezifische Selektivität14), also alternativ auch mögliche Verläufe sichtbar machen zu können, statt nur den Akteuren "nachzulaufen". [39]
Die Methodologie schafft (b) Zugänge transdisziplinärer Forschung15) im zweifachen Sinne: sie reicht über Disziplinengrenzen hinaus, postuliert (mit LATOUR) sogar Verbindungen von Sozial- und Naturwissenschaft, und sie eignet sich (als Rekonstruktionsmethodologie) für problembezogene Forschung, ist somit nah an gesellschaftlich relevanten Gestaltungsfragen (z.B. politischer Ökologie). Sie begründet also methodologisch, wie sich wissenschaftliche Forschung an gemeinsamen Problembearbeitungen mit anderen Akteuren beteiligen kann.16) [40]
Ziel der Ausführungen war es, die Verfahrensförmigkeit von Methoden zu reflektieren und zu methodologisieren. Dazu war ein Verfahrensverständnis zu prüfen, das sich nicht auf rechtlich geregelte Verfahren beschränkt, aber von deren Analyse lernt, um methodologische Konsequenzen ziehen zu können. Zunächst wurde deshalb geprüft, welche Rolle diese rechtlich geregelten Verfahren vor dem Hintergrund des historischen Prozesses einer Positivierung des Rechts spielen. Dazu wurden kontrastierend die rechtssoziologischen und demokratietheoretischen Zugänge von LUHMANN (1997) und HABERMAS (1994) diskutiert. Während dort vor allem Legitimationsfragen thematisiert werden, zeigte die typisierende Einbeziehung auch technisch-produktiver und wissenschaftlicher Verfahren, dass Konstitutions- und Erkenntnisaspekte ebenso relevant für ein umfassendes Verfahrensverständnis sind. So konnte im folgenden Schritt ein allgemeines Verfahrensmodell mit vier grundlegenden Verfahrensaufgaben vorgeschlagen werden: 1. auf die Öffnung gegenüber Unbestimmtheit folgen 2. Verhandlungs-, Prüfungs- und Selektionsprozesse, die dann 3. zur Schließung und Festlegung führen, von der allerdings 4. ein reflexiver Rückbezug zur Unbestimmtheit möglich bleiben muss. Gerade weil diese abstrakten Aufgaben für jedes Verfahren gelten, müssen konkrete Verfahren unterschieden und die Aufgaben für jedes Verfahren spezifiziert beziehungsweise spezifisch rekonstruiert werden. Exemplarisch konnte das am von LATOUR (2001) im "Parlament der Dinge" entwickelten Verfahrenskonzept ausgeführt werden. Dieses buchstabiert das allgemeine Modell differenzierter aus (sieben Aufgaben), vereint dabei konstituierende, legitimierende und erkennende Aspekte, unterscheidet eine Reihe typischer Verfahren (Berufsstände) und legt schließlich eine methodologische Interpretation nahe, weil es am Leitfaden experimenteller Wissenschaft entworfen wird. Daran konnte eine Reihe methodologischer Konsequenzen angeschlossen werden. Dazu zählen insbesondere die Annahme vollständiger Relationalität, ein korrespondierender Begriff positiver Wissenschaft als methodisches Setzen von Wissen und die Unterscheidung in programmierende und programmierte Verfahren als Alternative zu der qualitativer versus quantitativer Methoden. [41]
Prozeduralität als methodologisches Paradigma, so wurde außerdem gesagt, begründet eine Rekonstruktionsmethodologie: sie operiert verfahrensförmig und betrachtet die Forschungsgegenstände als verfahrensförmig sich verfassende. Vor diesem Hintergrund lässt sich zeigen, wo Verfahrensaufgaben nicht erfüllt werden beziehungsweise wo sie aufgrund von Interessen- und Machtkonstellationen verkürzt, umgangen oder blockiert sind. Daraus resultiert ein kritisches Potenzial der prozeduralen Methodologie, denn man kann nun fragen: Werden die Verfahren eingehalten und die Aufgaben adäquat erfüllt? Konstituiert sich die – wie immer geartete – Versammlung auf "demokratische" Weise und was heißt das konkret? Im einzelnen: 1. Wie offen ist das Verfahren beziehungsweise wird etwas/ jemand ausgeschlossen? 2. Welche Prüfungen kommen zum Einsatz, welche Verhandlungen werden geführt, welche Selektionen eingeschlagen? Sind sie angemessen, ausreichend? 3. Erfolgt eine Festlegung? Wie? 4. Inwiefern sind die Festlegungen Ausgangspunkt beziehungsweise Teil eines reflexiven Lernprozesses? [42]
Eine am allgemeinen Verfahrenskonzept ausgerichtete prozedurale Methodologie bietet einen integrativen Rahmen für eine Vielzahl von Methoden und Forschungsansätzen. Auf dieser Basis lassen sich also nicht nur rechtlich geregelte Verfahren analysieren, vielmehr werden jegliche Untersuchungsgegenstände prinzipiell auf diese Art und Weise rekonstruiert. Dies erscheint als ein aussichtsreicher Weg, aus der Soziologie heraus methodologische Grundlagen transdisziplinärer Forschungen zu entwerfen. Denn damit wird eingelöst, was Transdisziplinarität erfordert: eine Methodologie, die über einzelne Disziplinen, aber auch über die Grenzen von Wissenschaft hinaus reicht, also Kooperationen mit außerwissenschaftlichen Akteuren zulässt. [43]
Einige Punkte konnten hier nur ansatzweise eingeführt werden und bedürfen weiterer Klärungen. Das gilt insbesondere für zwei zentrale Verhältnisbestimmungen, nämlich die von Konstitution und Legitimation sowie von Natur- und Sozialwelt. Ich habe hier im Zweifelsfall auf LATOUR verwiesen, ohne damit behaupten zu wollen, dass er alle Fragen dazu bereits in jeder Hinsicht befriedigend beantwortet hätte. In dieser Richtung sind weitere Forschungen notwendig. [44]
1) Dass die gesellschaftliche Entwicklung hin zu gesteigerter Komplexität und in größere Unbestimmtheit führt, lässt sich in den meisten Zeitdiagnosen über Theoriegrenzen hinweg nachlesen und ist Thema vielfältiger gesellschaftstheoretischer Diskurse von systemischer Selbststeuerung bis zur Optionenerweiterung versus Verunsicherung von Handlungsorientierungen. Betont werden dabei unterschiedliche Aspekte und andere Konsequenzen, optimistischere und pessimistischere Lesarten (vgl. LORENZ 2007a). Die postmoderne Steigerung geht bis zur "Verflüssigung" moderner Verhältnisse (BAUMAN 2003). Aber selbst dort, wo nach neuen Strukturbegriffen Ausschau gehalten wird, setzt sich im Wesentlichen der Netzwerkbegriff als Form höchst flexibler Strukturbildung durch (vgl. CASTELLS 2001; BOLTANSKI & CHIAPELLO 2003). <zurück>
2) Im Sinne einer konventionellen Moral, wie sie KOHLBERGs Entwicklungspsychologie postulierte (vgl. GIEGEL 1997). <zurück>
3) "Ein Kranz unvermeidlicher Idealisierungen bildet die kontrafaktische Grundlage einer faktischen Verständigungspraxis, die sich kritisch gegen ihre eigenen Resultate richten, sich selbst transzendieren kann. (…) nur im Lichte dieser innerweltlichen Transzendenz können sich Lernprozesse vollziehen" (HABERMAS 1994, S.18f.). <zurück>
4) Vgl. paradigmatisch LUHMANN (1997, S.156): "Warum ist dies alles so und nicht anders?" <zurück>
5) Vgl. SENNETT (2000). Für ein empirisches Beispiel aus einem anderen Zusammenhang vgl. BAIER, BENNHOLDT-THOMSEN und HOLZER (2005, S.203): "Die Juniorchefin und Raumausstatter-Meisterin benennt die Trennlinie zwischen Handwerk und Massenfertigung in ihrem Berufszweig: 'Viele sagen ja, so ein kleiner Betrieb könne gar nicht mehr mithalten. Ich will gar nicht mithalten. Baumärkte sind in Wirklichkeit keine Konkurrenz für uns. Das ist eine ganz andere Qualität. Unsere Stärke ist das Individuelle. Und genau das macht ja auch Spaß.'" <zurück>
6) Anders als die Darstellung nahe legt, ging forschungspraktisch meine Auseinandersetzung mit LATOURs Konzept und der Akteur-Netzwerk-Theorie den Überlegungen zu einem allgemeinen Verfahrensmodell voraus (vgl. LORENZ 2007b, 2008). <zurück>
7) Man könnte auch sagen: das Akteur-Netzwerk, sofern LATOUR als Akteur-Netzwerk-Theoretiker präsentiert werden soll. Im "Parlament der Dinge" spielt diese Begrifflichkeit aber gar keine Rolle. Auch deshalb halte ich diese Arbeit LATOURs für besonders gelungen. Während die Akteur-Netzwerk-Theorie mit einem doppelten Netzwerkbegriff arbeitet, nämlich die Netzwerkbildung in einer "vernetzten Welt" postuliert, geht es im "Parlament der Dinge" darum, in einer vernetzt oder relational gedachten Welt "Kollektive" zu "versammeln" (vgl. dazu auch LORENZ 2008, S.584). <zurück>
8) Vgl. BRUNKHORST (1998, S.7); auf DEWEY verweisend beginnt er die Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes mit: "Die moderne Demokratie hat experimentellen Charakter. Die Moderne im ganzen verstand sich – je länger sie dauerte, desto entschiedener – als Experiment mit offenem Ausgang." In diesem Sinne treibt LATOUR die Perspektive der Moderne viel eher voran, als dass er sie in Frage stellen oder gar überwinden würde. Bei LATOUR selbst finden sich Bezugnahmen auf DEWEY (LATOUR 2007, S.280, 448). <zurück>
9) Inwiefern LATOUR und die Akteur-Netzwerk-Theorie das tatsächlich einlösen, ob nicht auch hier reduzierte Begriffe des Sprechens und Handelns resultieren, kann für die vorliegenden Überlegungen außer Acht gelassen werden. Zur Begriffsstrategie, "dritte" Begriffe zu wählen, die gewohnte Dichotomien ersetzen sollen, vgl. auch LORENZ (2008), dort u.a. mit Bezug zu BOLTANSKI und CHIAPELLO (2003), die einen ähnlichen Weg einschlagen. Jedenfalls wird man sich auf die neuen, eigenwilligen Bedeutungen von Handeln, Sprechen, Ding etc. zunächst einlassen müssen – auch wenn LATOURs Rhetorik nicht jede/n dazu einlädt – und kann sie nicht einfach anhand ihres üblichen Verständnisses kritisieren. LATOURs – wie so oft: polemisierende – Antwort lautet dann (2007, S.438): "'Wie Dinge behandelt zu werden', so wie wir es jetzt verstehen, heißt nicht, auf bloße unbestreitbare Tatsachen 'reduziert' zu werden, sondern es heißt, dass ihnen gestattet wird, ein so facettenreiches Leben zu führen wie umstrittene Tatsachen. (…) Wenn die Menschen in den Händen der kritischen Soziologen bloß so gut behandelt würden wie Wale in der Zoologie, Gene in der Biochemie, Paviane in der Primatologie, Böden in der Bodenkunde, Tumore in der Karzinologie oder Gase in der Thermodynamik! Ihre komplexe Metaphysik würde wenigstens respektiert, ihre Widerspenstigkeit anerkannt, ihre Einwände entfaltet, ihre Mannigfaltigkeit akzeptiert. Bitte, behandelt Menschen als Dinge, bietet ihnen wenigstens den Grad an Realismus an, den ihr bereit seid, einfachen umstrittenen Tatsachen zuzugestehen, materialisiert sie und, ja, verdinglicht sie so weit wie möglich!" <zurück>
10) Zum Denken LATOURs in Operationsketten und einer entsprechenden "Verkettungs-Ontologie", vgl. SCHÜTTPELZ (2008). Kette, Netz und Versammlung sind die wohl häufigsten "Bilder" im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie. Kette/Verkettung betont (sozusagen eindimensional) die sequenzielle und zeitliche Abfolge. Netz/Vernetzung ruft eher das (zweidimensionale) Bild einer synchronen und horizontalen Verbundenheit des Vielfältigen hervor – obwohl gerade das nicht den Fokus der Akteur-Netzwerk-Theorie bilden soll, weil so die verknüpfend konstituierende Dynamik nicht sichtbar wird (vgl. LATOUR 1999; CALLON 2006). Auch wenn ich aus Gründen der Verständlichkeit gelegentlich die in verschiedenen Zusammenhängen etablierte Netz-Begrifflichkeit verwende, so halte ich doch die "Versammlung" für die am meisten geeignete Terminologie, die (mehrdimensional) auch die Verkettungs- und Vernetzungsaspekte integriert. <zurück>
11) BELLIGER und KRIEGER (2006, S.43f.) sprechen für die Akteur-Netzwerk-Theorie von einem fraktalen Modell. <zurück>
12) Ich greife hier eine Illustration Stefan HIRSCHAUERs auf, die er während der gemeinsamen Tagung der DGS-Sektionen "Methoden empirischer Sozialforschung" und "Methoden qualitativer Sozialforschung" am 17. und 18.4.2009 in Marburg verwandte. <zurück>
13) Und wie gesehen nicht einmal der Sozial-Forschung. Wenn selbst die Physik keine "letzten Dinge" mehr ausmachen kann und ihre Gegenstände konstruktivistisch theoretisiert (HALFMANN 2003), dann ist die Begründung der Sozialwissenschaft als konstruktivistische zwar nicht falsch, aber das markiert eben auch nicht den Gegensatz zur Naturwissenschaft. Die Frage nach Sinn/Nicht-Sinn ist unabhängig davon zu stellen. Bei LATOUR bleibt diffus, ob er diese Unterscheidung zugunsten etwas Drittem ganz hinter sich lässt oder nicht vielmehr einen graduellen Übergang, eine "Hybridisierung", zwischen eben doch zwei unterschiedlichen Entitäten konzipiert. <zurück>
14) Ganz im Sinne OEVERMANNs (2000). <zurück>
15) Zu weiteren Ausführungen zu einem prozeduralen Verständnis von Transdisziplinarität am Beispiel der Klimadebatte vgl. LORENZ (2010). <zurück>
16) Auch BAECKER (2004) greift auf LATOURs "Parlament der Dinge" zurück, um eine neue Rolle der Universitäten bei kooperativen Problembearbeitungen zwischen Akteuren in und außerhalb der Wissenschaft vorzuschlagen. <zurück>
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Kontakt:
Stephan Lorenz
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Soziologie
Carl-Zeiss-Str. 2
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Tel.: 03641/945509
Fax: 03641/945512
E-Mail: Stephan.Lorenz@uni-jena.de
URL: http://www.soziologie.uni-jena.de/StephanLorenz.html
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Revised: 11/2010