Volume 11, No. 2, Art. 7 – Mai 2010
Rezension:
Johannes Twardella
Arnd-Michael Nohl (2009). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (3. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, 134 Seiten, ISBN 978-3-531-16438-0, 12,90 Euro
Zusammenfassung: In seinem Buch "Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis" erklärt der Erziehungswissenschaftler Arnd-Michael NOHL, wie die dokumentarische Methode für die Interpretation von Interviews fruchtbar gemacht werden kann. Sein zentraler Gedanke besagt, der Prozess der Forschung solle in Stufen erfolgen: von der Stufe der "formulierenden Interpretation" über die der "reflektierenden Interpretation" bis zur Stufe der "Typenbildung". In Bezug auf die Frage, wie ein Forschungsprozess organisiert werden kann, scheint das ein sinnvolles Verfahren zu sein. Das zentrale Problem der Deutung von "Äußerungen" bzw. "Sequenzen" bleibt bei NOHL jedoch weitgehend unbehandelt.
Keywords: Interview; dokumentarische Methode; Interpretation
Inhaltsverzeichnis
1. Methodologie – abstrakt oder auf der Basis von Forschungserfahrungen
2. Methodologie – Rechenschaft, Diskussionsbeitrag und Anleitung
3. Methode als Strukturierung des Forschungsprozesses durch die Unterscheidung verschiedener "Stufen"
3.1 Die erste Stufe der Interpretation
3.2 Die zweite Stufe der Interpretation
3.3 Die dritte Stufe der Interpretation
4. Fazit
1. Methodologie – abstrakt oder auf der Basis von Forschungserfahrungen
Nicht selten wird über methodische Fragen diskutiert, ohne dass Forschungserfahrungen im Hintergrund stehen. Dann werden verschiedene Methoden bzw. Facetten von Methoden reflektiert, auf ihre Prämissen hin überprüft und miteinander verglichen, oder es wird nach ihrer immanenten Konsistenz und Plausibilität gefragt. Etwas anderes ist es, wenn methodische Fragen im Rahmen eines aktuell stattfindenden Forschungsprojekts diskutiert werden, wenn ein Klärungsprozess im Hinblick auf das methodische Vorgehen angesichts der Frage notwendig wird, wie im laufenden Prozess der Forschung auf methodisch gesicherte Weise Erkenntnisse generiert werden können. Unter diesen Bedingungen können zwar ebenfalls Fragen der Konsistenz, der Plausibilität etc. auftauchen, doch haben sämtliche methodischen Fragen dann einen konkreten, einen praktischen Bezug. Die Erfahrung zeigt, dass es keineswegs ausreicht, sich zu Beginn eines Forschungsprojekts für ein bestimmtes methodisches Vorgehen zu entscheiden, sondern dass im Laufe des Projekts bei der Anwendung des methodischen Instrumentariums Fragen auftauchen können, die vorweg nicht antizipiert wurden. Solche Fragen stellen sich insbesondere dann, wenn eine bereits existierende Methode für die Erforschung eines bestimmten Feldes fruchtbar gemacht werden soll, und zwar eines solchen, für das die Methode ursprünglich nicht gedacht war. Ist das Forschungsprojekt dann abgeschlossen, sind die methodischen Fragen gelöst, kann es für die Forschenden gewinnbringend sein, sich der methodischen Probleme sowie der Lösungen, welche für sie gefunden wurden, noch einmal zu vergewissern. Und wenn diese Reflexionen niedergeschrieben und publiziert werden, können auch andere Forschende davon profitieren, indem sie entweder in Abgrenzung davon ihr eigenes methodisches Vorgehen profilieren, oder indem sie den Forschenden folgen und deren Überlegungen für eigene Projekte zu nutzen versuchen. [1]
2. Methodologie – Rechenschaft, Diskussionsbeitrag und Anleitung
Der Erziehungswissenschaftler Arnd-Michael NOHL hat die dokumentarische Methode, wie sie vor allem von Ralf BOHNSACK (im Anschluss an GARFINKEL und MANNHEIM) entwickelt wurde, auf ein spezifisches Feld angewendet, genauer gesagt, auf eine spezifische Form von Daten, nämlich solche, die mit der Erhebungsmethode des Interviews gewonnen wurden. In dem hier zu besprechenden Buch mit dem Titel "Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis", das bereits in der dritten Auflage vorliegt, legt NOHL Rechenschaft ab über jene Probleme und Lösungen, die sich im Rahmen seiner eigenen langjährigen Forschungstätigkeit ergeben haben. Er macht auf diese Weise einen Vorschlag, wie die dokumentarische Methode im Hinblick auf die Analyse und Interpretation von Interviews spezifiziert werden könnte. Damit setzt er sich freilich der Frage aus, wie diese Spezifikationen einzuordnen sind, ob sie zu Regeln der Methode erhoben werden können oder ob sie einfach als pragmatische Lösungen zu betrachten sind, die auch anders hätten ausfallen können. Unabhängig von dieser Frage kann NOHL jedoch ein nicht unwichtiges Plausibilitätskriterium für sich geltend machen: Was er vorschlägt, hat sich in der Forschungspraxis bewährt. Davon zeugen nicht nur andere Publikationen des Autors, sondern auch eine Reihe von Beispielen, die sich in dem Bändchen finden. Die Beispiele liefern also die Evidenz für die Praxistauglichkeit seiner methodischen Überlegungen. Das Buch von NOHL ist demnach zum einen als ein Diskussionsbeitrag zu lesen, mit dem der Autor Rechenschaft ablegt über sein eigenes methodisches Vorgehen und dieses vor der wissenschaftlichen Öffentlichkeit transparent macht. Zum anderen ist es, wie der Untertitel bereits deutlich macht, eine "Anleitung": der Autor lädt andere dazu ein, es ihm gleichzutun: Seht her, so kann es gehen. Versucht es ebenso! [2]
3. Methode als Strukturierung des Forschungsprozesses durch die Unterscheidung verschiedener "Stufen"
Das Buch gliedert sich grob in zwei Teile: In dem ersten, dem theoretischen Teil, erklärt NOHL zunächst die dokumentarische Methode sowie das narrativ fundierte Interview (das leitfadengestützte sowie das biografische Interview), äußert sich sodann zur Narrationsstrukturanalyse und präsentiert schließlich seinen eigenen Vorschlag einer "Methodologie der dokumentarischen Interpretation von Interviews". Der zweite Teil des Buches dient der Präsentation von Beispielen: NOHL stellt an zwei Beispielen aus der eigenen Forschungspraxis dar, wie die von ihm entwickelte Methode fruchtbar gemacht werden kann. Im Folgenden soll primär auf den Kern des Buches, eben auf jenes Kapitel genauer eingegangen werden, in dem NOHL seine eigenen methodischen Überlegungen vorstellt. Der zentrale Gedanke, auf dem diese beruhen, besteht darin, dass der Prozess der Forschung in verschiedenen Stufen zu vollziehen sei. Und das implizite Versprechen besagt: Wenn in dieser Weise der Prozess der Forschung organisiert wird, wenn sich also die Forschenden dergestalt disziplinieren, dass sie sukzessive von der einen Stufe zur nächsten voranschreiten, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Prozess der Forschung letztlich erfolgreich sein wird. [3]
Welche Stufen sind es nun, die in einem Forschungsprozess durchlaufen werden sollen? NOHL zufolge sind es drei, wobei er noch einmal auf jeder Stufe zwischen zwei "Zwischenstufen" unterscheidet. Die erste bezeichnet er als "formulierende Interpretation", die zweite als "reflektierende Interpretation" und die dritte als "Typenbildung". [4]
Die Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten Stufe scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein. Sie stützt sich auf die schon bei Karl MANNHEIM zu findende Differenz zwischen dem "Was", dem "thematischen Gehalt" eines Berichtes bzw. einer Erzählung und dem "Wie". Wenn in einem Interview – einem narrativen, biografischen, problemzentrierten oder einem Expert/inneninterview – die Gefragten etwas erzählen, so kann stets unterschieden werden zwischen den Erlebnissen, die geschildert werden, dem Geschehen bzw. dem Inhaltlichen auf der einen Seite und dem "Orientierungsrahmen", der Form, durch die das Erzählte strukturiert wird, auf der anderen Seite. Die Frage stellt sich allerdings sofort, wie diese beiden Ebenen voneinander unterschieden werden können: Wie lässt sich in einer Erzählung bzw. einem Bericht bestimmen, wann von Inhaltlichem, einem "Thema" gesprochen wird, und wann eine Deutung beginnt? Und wenn die Darstellung des Erlebten und seine Deutung ineinanderfließen, nach welchen Kriterien können sie wieder voneinander getrennt werden? [5]
3.1 Die erste Stufe der Interpretation
Die erste Stufe, diejenige der "formulierenden Interpretation", gliedert NOHL in zwei Zwischenstufen. Die erste Zwischenstufe ergibt sich aus einem rein praktischen Problem: Wenn Interviews durchgeführt wurden – womöglich mehrere und womöglich alle mit einer beachtlichen Länge –, dann kann es sein, dass es weder notwendig noch überhaupt möglich ist, diese vollständig, also in ganzer Länge auszuwerten. Womöglich wurde vieles in den Interviews gesagt, das für die Klärung der Fragestellung, die in dem Forschungsprojekt verfolgt wird, gar nicht relevant ist. Hinzu kommt, dass die Zeit, welche den Forschenden zur Verfügung steht, begrenzt ist. Schon die Verschriftung der Interviews kann so zeitaufwendig sein, dass eine "Ökonomisierung" notwendig wird. Bezogen auf dieses Problem schlägt NOHL vor, sich zunächst die Interviews nur anzuhören und dabei festzuhalten, über welche Themen gesprochen wird. Auf der Basis eines solchen groben Protokolls – NOHL nennt es einen "thematischen Verlauf" – könne dann entschieden werden, welche Passagen aus den Interviews transkribiert werden. Dann erst sei – immer noch auf der ersten Stufe – mit der "formulierenden Feininterpretation" zu beginnen. (Warum von einer "Feininterpretation" gesprochen wird, bleibt allerdings unklar.) Diese soll allein darin bestehen, dass die für die Interpretation ausgewählten Passagen der Interviews zunächst in ihrer Struktur erfasst werden, d.h. sie sind zu gliedern in "Blöcke", die sich mit verschiedenen "Unterthemen" befassen (und diese sind mit Überschriften zu versehen). Dann soll der "thematische Gehalt", kurz, der Inhalt der einzelnen Blöcke, "mit den eigenen Worten" (S.47) wiedergegeben werden. Diese Paraphrasierung diene dazu, "die Forschenden gegenüber dem Text fremd zu machen" (a.a.O.). Das überzeugt allerdings nicht: Fremd wird der Text tendenziell dadurch, dass er zergliedert und dass danach gefragt wird, was jeweils das (Unter-) Thema ist. Durch die Reformulierung seines Inhalts "mit den eigenen Worten" wird er den Forschenden vielmehr (wieder) vertraut. Denn die Reformulierung setzt ja voraus, dass das Fremde bereits – zumindest ein Stück weit – verstanden wurde. Irritierend ist an dieser Stelle auch, dass der Begriff des "thematischen Gehalts" nun anders zu verstehen ist als zuvor. Denn reformuliert werden soll alles, sowohl der "thematische Gehalt" im engeren Sinne, also das Erlebte, das Geschehen, kurz, der Inhalt, als auch der "Orientierungsrahmen", in den es gestellt wird. [6]
3.2 Die zweite Stufe der Interpretation
Dann ist auf die zweite Stufe, diejenige der "reflektierenden Interpretation" zu wechseln. Auch auf dieser Stufe soll es zwei "Zwischenstufen" geben. Zunächst sollen, so schlägt NOHL im Anschluss an SCHÜTZE vor, die zu interpretierenden Interviewpassagen verschiedenen Textsorten zugeordnet werden. Es mag der Eindruck entstehen, als solle für jede Äußerung eine germanistische Schublade gesucht werden, in die sie passt. Jedoch ist es durchaus plausibel, ja, notwendig, sich den Stellenwert, den eine Äußerung im Rahmen eines Interviews hat, bewusst zu machen. Dies ginge gewiss auch mit anderen Kategorien, doch scheinen sich die Kategorien "Erzählung", "Beschreibung", "Argumentation" und "Bewertung" in der Praxis durchaus bewährt zu haben. Hinzu kommt, dass auch diese Operation dazu dienen kann, den Text auf Distanz zu bringen, eine Fremdheit ihm gegenüber herzustellen, die die Interpretation wesentlich erleichtert. [7]
Die formale Bestimmung der einzelnen Interviewpassagen kann aber freilich nur ein erster Schritt sein, deswegen ist NOHL zufolge auch eine zweite Zwischenstufe zu berücksichtigen, diejenige der "semantischen Interpretation mit komparativer Sequenzanalyse". Sie zielt darauf, den "Orientierungsrahmen" der Interviewten herauszuarbeiten, der entweder von diesen tatsächlich expliziert wurde oder der ihren Ausführungen immanent ist (als "atheoretisches Wissen"), und der "gehoben", also von den Interpretierenden expliziert werden muss. Auf dieser Zwischenstufe ist nun, wie aus der Bezeichnung hervorgeht, die "komparative Sequenzanalyse" laut NOHL notwendig. [8]
Wie stellt NOHL sich die "komparative Sequenzanalyse" vor? Zunächst ist zu klären, was für NOHL eine "Sequenz" ist. Verschiedene Möglichkeiten kommen dafür in Betracht: Da auf der vorangegangenen Stufe der Text zunächst mit Hilfe des "thematischen Verlaufs" in Passagen zu verschiedenen "Oberthemen" und sodann in einzelne "Blöcke" mit jeweils einem einheitlichen "Unterthema" gegliedert wurde, wäre es plausibel, wenn diese "Blöcke" nun als "Sequenzen" angesehen würden. Es hat jedoch den Anschein, als sei es notwendig, diese "Blöcke" noch einmal zu untergliedern, und zwar in einzelne "Handlungen" bzw. "Äußerungen". Diese "Äußerungen" sind dann dergestalt zu interpretieren, dass sie als "Sequenz" in einer Folge von Sequenzen gesehen werden. Beginnt die Interpretation bei einer Sequenz in dieser Folge, so soll nicht nur beachtet werden, welche Sequenz auf diese folgt, sondern es sollen gedankenexperimentell auch andere Anschlussmöglichkeiten konstruiert werden. Zu unterscheiden sei hier zwischen "homologen" und "heterologen" Anschlusssequenzen bzw. "Fortsetzungen". "Homolog" seien all diejenigen Sequenzen, die dem "Orientierungsrahmen" entsprechen, also seiner ihm immanenten Logik. "Heterolog" sind hingegen all diejenigen, die mit diesem Rahmen nicht kompatibel sind, also außerhalb seiner liegen. Um diese Unterscheidung treffen zu können, muss dieser Rahmen – der eigentlich erst erfasst werden soll – also schon bekannt sein. Wenn er dann tatsächlich bekannt ist, kann er wiederum durch weitere Sequenzen entweder falsifiziert oder verifiziert bzw. – wie NOHL es im Anschluss an BOHNSACK formuliert – "ratifiziert" werden. [9]
Um den "Orientierungsrahmen" erfassen zu können, ist, so NOHL, eine komparative Analyse notwendig. Sie ist aber freilich nur möglich, wenn es ein tertium comparationes gibt, wenn also in mehreren Interviews über ein und dasselbe Thema bzw. über dasselbe Geschehen gesprochen wird (z.B. den ersten Schultag). Wurde soeben davon gesprochen, dass Alternativen "gedankenexperimentell" entworfen würden, ist NOHL jetzt der Meinung, ein solches Vorgehen könne der Subjektivität Tür und Tor öffnen. Mit dem Anspruch der Objektivität könne eine Interpretation nur dann verknüpft werden, wenn die Alternativen zu einer (zweiten) empirisch vorliegenden Sequenz ihrerseits empirisch nachgewiesen werden können, indem also gezeigt wird, dass sie in anderen Interviews vorkommen. Bei reinen Gedankenexperimenten würden die Normalitätsvorstellungen der Forschenden mobilisiert, die bekanntlich standpunktgebunden seien. Mithin drohe, so NOHL unter Verwendung von MATTHES, eine "Nostrifizierung". Dieser könne und müsse durch ein konsequent komparatives Vorgehen entgegengewirkt werden. Je mehr also die hypothetisch konstruierten Alternativen durch empirisch vorfindliche ergänzt bzw. ersetzt werden können, desto besser. [10]
Hier liegt m.E. der zentrale Unterschied zwischen der dokumentarischen Methode und anderen Methoden der qualitativen Forschung, z.B. der Methode der objektiven Hermeneutik, die auf die Regelkompetenz der am Forschungsprozess Beteiligten setzt, oder all jenen Verfahren, welche die Bedeutung der Forschungsgruppe als Korrektiv hervorheben, das die von Einzelnen gebildeten Lesarten kritisch überprüft. [11]
Hinzu kommt nun, dass sich durch den Vergleich zwischen verschiedenen Möglichkeiten, auf ein und dasselbe Geschehen zu reagieren, zwar eine Erklärungsbedürftigkeit ergibt, aber keineswegs wie selbstverständlich eine Deutung emergiert. Dass z.B., wie NOHL behauptet, aus der Differenz, dass der eine Schüler auf den Schulbeginn reagiert, indem er äußert: "Ich war ganz allein", und ein anderer sagt: "Ich wollte endlich schreiben lernen" (S.53), wie selbstverständlich folgt, dass der eine Schüler seine Erzählung "durch eine Orientierung an (curricularem) Lernen strukturiert" hat, während der andere sich "an den sozialen Beziehungen innerhalb der Schule abarbeitet" (S.54), mag zwar inhaltlich – mehr oder weniger – plausibel sein. Doch der dahinter stehende Prozess der Deutung bleibt völlig unaufgeklärt. Zu ihm äußert sich NOHL nicht. Doch gerade dieser ist der entscheidende: Er ist nicht nur der schwierigste, sondern auch derjenige, der für das Ergebnis der Interpretation die größte Bedeutung besitzt. [12]
3.3 Die dritte Stufe der Interpretation
Auf der dritten und letzten Stufe soll schließlich eine Typenbildung vorgenommen werden – mit dem Ziel der "Generierung mehrdimensionaler Typologien" und der "Generalisierung" (S.57). Hier unterscheidet NOHL nicht ebenfalls verschiedene "Zwischenstufen", sondern zwei Varianten der Typenbildung, die "sinngenetische" und die "soziogenetische" Typenbildung. Beide resultieren, so NOHL, aus der "komparativen Sequenzanalyse". Denn sind mit deren Hilfe verschiedene "Orientierungsrahmen" erfasst worden, so können diese durch Abstraktion (von der Konkretion des Falles) zu Typen umgewandelt werden – wenn es nur ein tertium comparationes gab, entsteht eine eindimensionale Typologie, bei mehreren Themen eine mehrdimensionale. Und "soziogenetisch" wird die Typenbildung, wenn auch berücksichtigt bzw. erforscht wird, wie die Orientierungsrahmen entstanden, aus welchen sozialen Zusammenhängen sie also hervorgegangen sind. [13]
Von dem Prozess der Forschung ist in diesem wie in anderen Fällen schließlich zu unterscheiden, wie die Ergebnisse der Forschung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentiert werden. Im Rahmen des Forschungsprozesses mag es sinnvoll sein, die Äußerungen, welche zu interpretieren sind, erst einmal zu paraphrasieren. Aber ist es notwendig, dass in der Darstellung der Ergebnisse z.B. ein Satz wie "und dann kam ich in die Schule" (S.53) – um bei dem Beispiel zu bleiben – in "eigenen Worten" wiedergegeben wird? Wichtig aber ist ohne Frage, die "komparative Sequenzanalyse". Wenn die Typologie, welche am Ende steht, plausibel sein soll, so muss diese zumindest in groben Zügen Bestandteil der Darstellung sein. Und dann muss auch nachvollziehbar sein, wie der Interpret von dieser Äußerung zu jener Deutung gelangt ist. [14]
Dass das hier besprochene Buch nach so kurzer Zeit schon in der dritten Auflage erschienen ist, verweist auf die Attraktivität, welche die dokumentarische Methode, wie sie hier von NOHL in Bezug auf die Interpretation von Interviews vorgestellt wurde, für viele Wissenschaftler/innen besitzt. Diese liegt gewiss darin, dass ein Schema vorgegeben wird, das deutlich macht, wie der Prozess der Forschung systematisch organisiert werden kann. Durch dieses Schema wird der Prozess strukturiert, und wer ihm folgt, weiß stets, was er im nächsten Moment zu tun hat. Die eigentliche Schwierigkeit aber, die Deutung der Sequenzen, der einzelnen sprachlichen Äußerungen – von der letztlich alles abhängt – bleibt bei NOHL merkwürdig unerhellt, ja, wird gar nicht als Problem gesehen und entsprechend auch nicht thematisiert. Dass eine sozialwissenschaftliche Forschung nicht an der Frage des Historikers interessiert ist, der wissen will, wie es wirklich war, sondern darauf zielen sollte, "Orientierungsrahmen" oder Deutungsmuster zu erforschen, ist plausibel. Doch die Antwort, welche die dokumentarische Methode auf die Frage, wie diese erfasst werden können, gibt, überzeugt nur punktuell. [15]
Dr. Johannes TWARDELLA ist promovierter Soziologe und zurzeit Mitarbeiter am Institut für die Pädagogik der Sekundarstufe am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. In FQS findet sich von TWARDELLA ein Rezensionsaufsatz Schwankende Gestalten drücken die Schulbank (zu Andreas RECKWITZ, 2008, Subjekt, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs090222).
Kontakt:
Dr. Johannes Twardella
Fachbereicht Erziehungswissenschaften
Institut für die Pädagogik der Sekundarstufe
Goethe-Universität
Senckenberganlage 15
D-60054 Frankfurt am Main
Tel.: 079/621595
E-Mail: jtwardella@yahoo.de
URL: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/twardella.html
Twardella, Johannes (2010). Rezension: Arnd-Michael Nohl (2009). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (3. Auflage) [15 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 11(2), Art. 7, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs100271.