Volume 11, No. 2, Art. 27 – Mai 2010
Tagungsbericht:
Reiner Keller & Michael Meuser
Körperwissen. Eine internationale und interdisziplinäre TagungUniversität Koblenz-Landau, Campus Landau, 5.-6. März 2009, organisiert durch die Sektionen Wissenssoziologie & Soziologie des Körpers und des Sports der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Zusammenfassung: Gegenstand einer gemeinsamen Tagung der Sektionen Wissenssoziologie und Soziologie des Körpers und des Sports der Deutschen Gesellschaft für Soziologie waren verschiedene Dimensionen von Körperwissen: explizites und implizites, reflexives und inkorporiertes, Expert/innen- und Laienwissen. Anhand unterschiedlicher sozialer Felder (Schule, Medizin, Sport, Arbeit, Sexualität) wurde der Zusammenhang der Dimensionen erläutert und diskutiert. Des weiteren standen Möglichkeiten und Probleme einer theoretischen Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Körperwissen und Körperpraxis im Fokus sowie Fragen des methodischen Zugangs zu vorreflexiven Körperpraxen. Die Tagung zeigte zum einen, dass die körpersoziologische Forschung in den letzten zehn Jahren einen deutlichen Aufschwung erfahren hat, zum anderen wurde deutlich, dass die zentralen Desiderate im Bereich von Theorie- und Methodenentwicklung liegen.
Keywords: Bewegung; Expert/innenwissen; Körpertechniken; Körpersoziologie; Wissenssoziologie; Körpertheorie; Körperwissen; Laienwissen; Medizin; Sexualität
Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellungen
2. Dimensionen des Körperwissens
2.1 Sexualität
2.2 Raumorientierung und Bewegungswissen
2.3 Expert/innenwissen und Laienwissen über den Körper
2.4 Körpertechniken und Körperwissen
2.5 Medizinisches Körperwissen
2.6 Vorreflexive Körpererfahrung und explizites Körperwissen
3. Ausblick
Ob staatliche Gesundheitspolitiken oder persönliche Programme zur (Um-) Gestaltung des eigenen Körpers, experimentierende Selbstversorgungen mit Medikamenten und Nahrungsergänzungen, Suche nach authentischen Körpererfahrungen, medizinische Entwicklungen von und Internetblogs über Steigerungsmöglichkeiten von Körperfähigkeiten bis hin zur skandalträchtig-publikumswirksamen Erkundung von "Feuchtgebieten" – die seit einigen Jahrzehnten beobachtbare Renaissance des Körperlichen in den Gegenwartsgesellschaften lässt sich in mehrfacher Hinsicht im Rückgriff auf den Begriff des "Körperwissens" fassen. "Körperwissen" bezeichnet sowohl das aus der unmittelbaren Erfahrung des gelebten Lebens stammende, gleichsam private und intime Wissen von Individuen über ihren eigenen Körper, seine Zustände und Prozesse, das in Sozialisationsprozessen und in der Lebenswelt des Alltags tradierte Wissen über Körperlichkeit einschließlich der darin verwickelten Normen, inkorporierte körperliche Routinen und Fertigkeiten des Handelns oder körperliche Erfahrungsformen unterhalb der Schwelle reflexiver Zuwendung, aber auch die durch massenmediale Repräsentationen und Expert/innensysteme erzeugten Wissensbestände über menschliche Körperlichkeit, deren soziale Normierung, medizinisch-technische Gestaltung und individualisierte Erfahrung, Reproduktion und Veränderung. [1]
Gegenstand der gemeinsamen Landauer Frühjahrstagung der Sektionen Wissenssoziologie sowie Soziologie des Körpers und des Sports der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die an der Universität Koblenz Landau, Campus Landau von Reiner KELLER (Koblenz-Landau) und Michael MEUSER (Dortmund) im Frühjahr 2009 organisiert wurde, waren unterschiedliche Konfrontationen und Verflechtungen zwischen dem auf dem gelebten Leben beruhenden Körperwissen der Individuen und dem durch Diskurse, Medien und Expert/innensysteme angebotenen Körperwissen. Intensiv erörtert wurden neue Mischverhältnisse des Körperwissens, die sich aus dem aktuellen Zusammentreffen der unterschiedlichen Wissensformen und Wissensquellen ergeben, und die den Körper, der wir sind und den wir leben, in erheblichem Maße und mit zum Teil schon absehbaren gesellschaftlichen Konsequenzen verändern. Die große Resonanz der Tagung bestätigte eindrucksvoll die hohe Virulenz des Themas. Mehr als 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Großbritannien hörten und diskutierten in Plenarbeiträgen und parallelen Forumsveranstaltungen an zwei Tagen insgesamt 16 Vorträge. [2]
2. Dimensionen des Körperwissens
Die Plenarvorträge des ersten Tages widmeten sich der Sexualität. In seinem Eröffnungsvortrag erläuterte der Wiener Historiker Franz EDER, wie unterschiedlich die Sexualwissenschaft im Verlaufe des 20. Jahrhunderts Wissen über gelebte Sexualität und "richtigen" oder "erfolgreichen" Geschlechtsverkehr erhoben, grafisch-statistisch aufbereitet und in Beratungswissen therapeutischer Einrichtungen übersetzt hat. EDER zeigte, wie sich über die Jahrzehnte hinweg eine zunehmende Diversifizierung des Normalitätskorridors sexueller Vollzüge beobachten lässt: Während sich das Expert/innen- und Beratungswissen Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage eines Maschinenmodells des Körpers an Vorstellungen eines idealen heterosexuellen Koitusverlaufs orientiert habe, führten die späteren Surveys von KINSEY & Co zur Entdeckung einer großen Bandbreite gelebter Sexualitäten. Dies betrifft EDER folgend sowohl sexuelle Orientierungen, insbesondere die "Normalisierung" von Homosexualität, als auch die Erweiterung des Spektrums akzeptierter sexueller Praktiken. Auch die britischen Soziologinnen Sue SCOTT (Glasgow) und Stevi JACKSON (Keele) beschäftigten sich mit Fragen der "richtigen Sexualität". Ihr Vortrag konzentrierte sich darauf, wie wir in unserem Alltag in sexuellen Begegnungen dem jeweiligen Gegenüber unser Lustempfinden anzeigen und dessen/deren Lustempfinden erkennen. Denn hier handelt es sich, wie SCOTT und JACKSON darlegten, um Körperempfindungen, -erfahrungen und -ausdrucksweisen, für die in unseren Gesellschaften kein öffentlicher Ort der Wissensvermittlung existiert, und die doch durch und durch von sozialem Wissen respektive verfügbaren Interpretationsschemata und sexuellen Skripten durchzogen sind, anhand derer wir Definitionen sexueller Situationen (und deren reale Folgen) vornehmen (etwa die Unterscheidung von echtem und vorgetäuschtem weiblichen Orgasmus). Vermutet wurde, dass für die sexuelle Sozialisation massenmedial vermittelte Darstellungen sexueller Begegnungen und die darin enthaltenen Informationen über sexuelle Erregung und sexuellen Ausdruck eine wichtige Rolle spielen, indem sie ein Wissen bspw. über einen "orgasmischen Gesichtsausdruck" usw. weitergeben. Im Zentrum ihres Beitrages stand in kritischer Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Positionen die Frage nach den Möglichkeiten einer Theorie der Sexualität auf der Grundlage des interpretativen Paradigmas. Zwischen EDERs Diskursperspektive einerseits und dem von SCOTT und JACKSON vorgeschlagenen symbolisch-interaktionistischen Zugang andererseits wurde dabei ein großer Abstand deutlich, der in den begleitenden Diskussionen nur ansatzweise verkleinert werden konnte. [3]
2.2 Raumorientierung und Bewegungswissen
Die Plenarvorträge des zweiten Tages beschäftigten sich mit Fragen der räumlichen Orientierung und der Archivierung von Bewegungswissen. Siegfried SAERBERG (Dortmund) verdeutlichte in einer eindrucksvollen, Teile des Publikums einbeziehenden Performance, auf welche Wissensbestände Blinde bei ihrer räumlichen Orientierung zurückgreifen, welche Unterschiede zur Raumorientierung von Sehenden bestehen und welche Komplikationen sich ergeben, wenn beide körpergebundenen Raumorientierungen aufeinandertreffen (etwa wenn Blinde Sehende nach dem Weg fragen). So spiele der nahraumorientierte Klang unterschiedlicher Materialien und Phänomene (z.B. Steine, Asphalt, Regentropfen auf Autokarosserien) für die räumliche Bewegung Blinder eine tragende Rolle. Sehende dagegen verfolgten eine andere, eben blickabhängige Rasterung des Raumes, die perspektivisch größere Distanzen umfasse, aber die Details des Nahraumes ausblende. Gabriele KLEIN (Hamburg) stellte in ihrem Abschlussvortrag, unter Bezugnahme auf BOURDIEUs These, dass der Körper nicht vergisst, was er gelernt hat, das komplexe Projekt einer Archivierung von körperlichem Bewegungswissen vor, wie es bspw. bei Tanzperformances und im Tanztheater zum Einsatz kommt. Sie formulierte eine erkenntnistheoretische und methodologische Perspektive auf Körperwissen und diskutierte die methodischen Probleme, Bewegungswissen mit den methodischen Verfahren der empirischen Sozialforschung zu erfassen. Solches Wissen hafte tatsächlich am Körper und widersetze sich einer Übersetzung in Sprache und Erklärung, sogar auch in filmische Fixierung. Dies zeige sich exemplarisch, wenn Tanzaufnahmen als Lehrmaterialien zum Einsatz kommen und bestimmte Tanzstile bzw. die Weitergabe des körperlichen Bewegungswissens an der Zweidimensionalität des Mediums scheitere. [4]
2.3 Expert/innenwissen und Laienwissen über den Körper
Zwischen den Plenarbeiträgen wurden in vier Foren weitere Schwerpunktbereiche diskutiert und spezifische Akzente gesetzt. Im ersten Forum, das sich mit Fragen der Nutzung und Vermittlung von expert/innengestütztem Körperwissen beschäftigte, näherte sich Fabian KARSCH (Augsburg) dem Thema anhand einer Untersuchung der Ritalin-Nutzung, die nicht nur bei Kindern mit diagnostizierter ADHS beobachtet werden kann. Zunehmend werde einerseits das Krankheitsbild auf Erwachsene übertragen. Insoweit sei die ADHS-Diagnostik Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Medikalisierungsprozesses, der medizinischen Wissensregimen eine in vormals als "Soziales" angesehenen Phänomenbereichen hineingreifende neue Definitionsmacht verschaffe. Andererseits bilden sich KARSCH folgend dadurch "Selbstmedikationen" aus, in denen Laien zweckbezogen gezielt auf das Medikament zurückgreifen, um spezifische Belastungssituationen zu bewältigen. Dies widerspreche nun keineswegs der diagnostizierten Medikalisierung, sondern stütze sie auch vonseiten ihrer lebensweltlichen Einbettung her. Für KARSCH ergeben sich hier zugleich Hinweise auf eine Verschiebung von Macht/Wissen-Balancen zwischen Professionellen und Laien, wobei sich Letztere in bislang ungewohnter Weise von medizinischen Expert/innen "emanzipierten". Stefanie DUTTWEILER (Zürich) erläuterte in ihrem Vortrag Ergebnisse einer Analyse der Beratungsrubrik "Liebe Marta" aus einer Schweizer Boulevardzeitung. Darin werde ein intensiver Kontakt zu Leserinnen und Lesern gepflegt und aus dem Zusammenspiel von Fragen und Beratung ein öffentliches und weithin anerkanntes, gleichwohl nicht durch einen wissenschaftlichen Expert/innenstatuts legitimiertes Körperwissen über sexuelle Praktiken und Probleme sowie deren Lösungen generiert. Das auf diese Weise generierte Körperwissen belasse den Rezipienten und Rezipientinnen die Freiheit, es als relevant für das eigene Leben zu bewerten. Darin sieht DUTTWEILER die Wirkmächtigkeit dieses Wissens begründet. Berit BETHKE (Bielefeld) präsentierte Ergebnisse einer Untersuchung von Ausstellungen des Deutschen Hygiene Museums Dresden in afrikanischen und asiatischen Städten aus den Jahren 1954-1989. Daran machte sie zwei Aspekte besonders deutlich, die sich als Verbindung von universellem Wissen mit der soziokulturellen Spezifik der Adressat/innen beschreiben lassen: zum einen die Visualisierungsstrategien, mittels derer das naturwissenschaftlich-abstrakte Körperwissen in den jeweiligen Kulturzusammenhängen populär gemacht werden sollte, zum zweiten die daran anschließenden Anleitungen zu gesundheitsbewusstem Verhalten in den jeweiligen Zielgesellschaften. So entstünden je unterschiedliche Amalgame zwischen dem präsentierten abstrakten medizinischen Expert/innenwissen und seinen jeweiligen kulturellen Anschlussformen bzw. Einbettungen. [5]
2.4 Körpertechniken und Körperwissen
Forum zwei hatte den Zusammenhang von Körpertechniken und Körperwissen zum Gegenstand. Zunächst stellte Antje LANGER (Frankfurt) ihre ethnografisch (teilnehmende Beobachtung in einer Schule und Interviews mit Lehrer/innen und Schüler/innen) und diskursanalytisch (Handbücher zu Schule und Unterricht, Texte aus schulpädagogischen Fachzeitschriften) angelegte Studie über Körperlichkeit im Schulunterricht vor. Die Institution Schule und der Schulunterricht erweisen sich für LANGER demnach als ein komplexer Raum der Generierung spezifischer Körperlichkeiten, zu denen insbesondere die wechselseitige Aufeinanderbezogenheit von "Lehrendenkörper" und "Schüler/innenkörper" gehören. So würden die Lehrenden zur permanenten Reflexion ihrer eigenen körperlichen Präsenz und Gestik im Unterricht angeleitet mit dem Ziel, die Lehr-Lernprozesse durch entsprechende Körpertechniken zu befördern (etwa durch das Signalisieren von Ruhe mittels eines Fingerzeigs). Entsprechende Körpereinsätze würden mittels einer "methodischen Körperführung" erzeugt. Direkte Berührungen von Schüler/innen durch das Lehrpersonal blieben in den untersuchten pädagogischen Texten ausgeklammert, obwohl sie in der beobachteten Unterrichtspraxis eine wichtige Rolle beim Aufbau von Beziehungen, von Vertrauen, von emotionaler Bindung und Autorität spielten und dort zum Verständnis einer "praktizierten" Professionalität gehörten. Larissa SCHINDLER (Mainz) zeigte anhand einer anderen Lehr-/Lernsituation, derjenigen bei der Einübung der asiatischen Kampfkunst Ninjutsu, wie eine ausgeführte Körperpraxis aufseiten der Schüler/innen, aber auch der Lehrer/innen bei den jeweiligen Gegenüber ein nicht verbalisiertes Wissen über den Stand der jeweiligen Kunstfertigkeit aktualisiert, die dann in "verbale Daten" übersetzt und zum Gegenstand weiterer Bearbeitung gemacht wird. SCHINDLER verdeutlichte, wie Bewegungsordnungen in der lokalen Praxis der Vermittlung relativ problemlos beschrieben und vermittelt werden: über Zeigen, Zusehen und Nachmachen. Mündlich-textuelle Anleitungen funktionierten hier nur in Kombination mit der situativen Wahrnehmung der körperlichen Bewegungsabläufe von Trainer/innen und Schüler/innen. Dabei finde ein auf die körperlichen Bewegungsabläufe bezogenes Lernen auf beiden Seiten statt: Dem bekannten learning by doing entspreche ein bislang wenig thematisiertes teaching by doing, das seinerseits über das praktische Unterrichten (weiter) lernt. Cornelia RENGGLI (Zürich) erläuterte am Beispiel der Medienberichte über den Leichtathleten Oscar PISTORIUS, der mit einer Beinprothese an den Olympischen Spielen teilnehmen wollte, wie in der öffentlichen Debatte die Frage nach "Technodoping" aufgeworfen und die Leistungsfähigkeit "natürlicher" Körperlichkeit mit derjenigen einer technisch ergänzten Körperlichkeit verhandelt wurde. Nur der "natürliche" Körper werde als legitimer Sportkörper wahrgenommen, wobei es allerdings eine offene Frage sei, wo die Grenzen des "natürlichen" Körpers überschritten werden. Die Medienberichterstattung zum "Fall" PISTORIUS lässt sich RENGGLI folgend als ein Diskurs der Grenzziehung verstehen. [6]
2.5 Medizinisches Körperwissen
Im dritten Forum stand das Zusammenspiel der Körperlichkeit von Patientinnen und Patienten mit dem Körperwissen in medizinischen Settings im Mittelpunkt. Helga KELLE und Marion OTT (beide Frankfurt/Main) erläuterten anhand von kindermedizinischen Untersuchungen die Produktion und Diagnose motorischer Inkompetenz, die sich aus dem Zusammenspiel medizinischer Körpernormierungen, der ärztlichen Untersuchungspraxis und dem untersuchten Kinderkörper ergebe. In die diagnostische Praxis eingebundene Normen, die sich auf den sich entwickelnden Kinderkörper beziehen, erzeugten ein Wissen über den "richtigen", altersangemessenen Körper, vor dessen Hintergrund diagnostizierte (In-) Kompetenzen als ein (Nicht-) Können des Kindes erschienen. Dabei gerate aus dem Blick, dass der (in-) kompetente Körper (auch) eine Hervorbringung (accomplishment im ethnomethodologischen Sinne) der medizinischen Untersuchung sei. Alexandra MANZEI (Berlin) konnte zeigen, wie Digitalisierungen von Beobachtungen/Aufzeichnungen in der Intensivmedizin und die informationstechnologische Vernetzung von Diagnose am Krankenbett und betriebswirtschaftlichen Abrechnungsformen mit spezifischen normierenden Steuerungsmechanismen und Klassifizierungen einhergehen, mittels derer das medizinische Wissen über den Körper hochgradig standardisiert werde und sich von der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung ablöse. Damit werde die körperliche Selbsterfahrung der Patient/innen verändert. Gleichzeitig existieren nach MANZEI weiterhin körperliche Zeichen (z.B. Hitze, Rötung, Schwellung, Zittern, Schwitzen), die vom medizinischen Personal übersetzt werden müssen, weil sie nicht direkt in den informatisierten Daten abgebildet werden können. Das medizinische Personal stehe vor der Anforderung, den Spagat zwischen einer Standardisierung des Wissens über den Patient/innenkörper und einem kontextsensiblen Verstehen körperlicher Zeichen zu leisten. Cornelius SCHUBERT (Berlin) stellte die Ergebnisse einer ethnografischen Studie vor, die sich dem Zusammenspiel von abstraktem, technisch vermitteltem Körperwissen von Chirurg/innen über den Patient/innenkörper mit dem inkorpierten Körperwissen und den Fertigkeiten der Chirurg/innen in ihrer Operationspraxis widmete. Er zeigte, dass auch in der technisierten Chirurgie leibgebundene Fähigkeiten wie "Fingerspitzengefühl", Blick- und Hörgewohnheiten, Tastsensibilität etc. für ein erfolgreiches chirurgisches Handeln notwendig sind. Solche Fähigkeiten seien in komplexen Praxiszusammenhängen mit den technischen Apparaturen verbunden. Auch in der technisierten Medizin blieben also kontingente Körperpraxen bedeutsam und wirkten daran mit, ob und wie erfolgreich "Behandlungen" menschlicher Körper verlaufen. [7]
2.6 Vorreflexive Körpererfahrung und explizites Körperwissen
Im vierten Forum wurde das Zusammenspiel von vorreflexiver Körper- bzw. Leiberfahrung und explizitem Körperwissen in den Blick genommen. Zunächst diskutierte Anke ABRAHAM (Marburg) im Rückgriff auf anthropologische und leibphänomenologische Argumente die Frage, inwiefern der Leibkörper aufgrund und vermittels seiner "Eigenwilligkeit" ein Wissen über Grenzen der technischen Körpermanipulation und -machbarkeit zu generieren vermag und dadurch als "kritisch-heilsamer Ratgeber" bezüglich der modernen entgrenzten Körperverhältnisse funktionieren kann. Gegen die Tendenzen zu einer technischen Optimierung des Körpers bzw. seiner biotechnologischen Aufrüstung, welche den Körper als Objekt konzipieren, setzte ABRAHAM eine an organismische Grundbedingungen anknüpfende Perspektive, die die Eigenlogik des Körpers betont und Grenzen der Machbarkeit aufzeigt. Damit verknüpfte sie die allgemeinere gesellschaftskritische Frage, inwiefern körperliche "Warnsignale" und "Störrigkeiten" als Korrektiv gegen gesellschaftliche Machbarkeitsfantasmen mobilisiert werden könnten. Anschließend stellte Willy VIEHÖVER (Augsburg) anhand einer Diskussion schönheitschirurgischer Eingriffe – also gerade dem, was ABRAHAM kritisch in den Blick nahm – thesenhaft drei Entgrenzungsprozesse moderner Körperlichkeit vor: denjenigen von kurativer Therapie und Körperverbesserung, denjenigen der Vorstellung natürlicher Körperlichkeit und schließlich den Imperativ zur körperlichen Selbstgestaltung. Zusammengenommen bewirkten alle drei Prozesse, dass menschliche Körperlichkeit unverrückbar in einen Prozess individueller Entscheidungsabhängigkeit geraten sei. Gegen die verbreitete Klage über den "Körperkult" und "Schönheitswahn" plädierte er deswegen dafür, diese Formen der körperlichen Selbstgestaltung "werturteilsfrei" als neuen Modus der Selbstkonstituierung und Selbstthematisierung von Gesellschaft zu analysieren. Im letzten Beitrag des Forums erläuterten Stefanie PORSCHEN und Fitz BÖHLE (beide München) ihr Konzept der leiblichen Erkenntnis als einer spezifischen Form von praktischem Erfahrungswissen anhand von Untersuchungen zur erfahrungsgeleiteten und leiblichen Kooperation sowie Kommunikation in Arbeitszusammenhängen. Körperlich vermittelte Kommunikation sei für verschiedene Formen kooperativer Arbeit von Bedeutung. Im Zentrum ihres Beitrages stand die Frage, mit welchen theoretisch-begrifflichen Zugängen sich die Soziologie dieser Form eines leibgebundenen Wissens nähern könne: als tacit knowledge, embodied mind im Anschluss an MERLEAU-PONTYs Phänomenologie der Wahrnehmung oder an den leibphänomenologischen Ansatz von Hermann SCHMITZ? Die Entwicklung einer Handlungstheorie, die diese Dimension der leiblichen Erfahrung und Erkenntnis einzubeziehen vermag, stelle eine zentrale Herausforderung sowohl an die Soziologie generell als auch an die arbeitssoziologische Forschung dar. Die vorgestellten Konzepte des "spürenden Wahrnehmens" und des "subjektivierenden (Arbeits-) Handelns" liefern PORSCHEN und BÖHLE zufolge dazu wichtige Bausteine. [8]
Die Beiträge zeigten ein breites Spektrum theoretischer Ansätze (etwa Leibphänomenologie, Diskurstheorie, Praxistheorie, symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie) und empirischer Vorgehensweisen (ethnografische und ethnomethodologische Zugänge, Fallstudien, Diskursanalysen, biografische Narrationen u.a.) bei der Untersuchung von Körperwissen. In theoretischer Hinsicht lässt sich als ein zentrales Ergebnis festhalten, dass trotz der wachsenden Aufmerksamkeit, die dem Körper in der Soziologie in diesem Jahrzehnt zuteil geworden ist (was manche bereits von einem body turn sprechen lässt), eine theoretische Konzeptualisierung des Zusammenhangs sowohl der verschiedenen Dimensionen des Körperwissens (explizites und implizites, reflexives und inkorporiertes, Expert/innen- und Laienwissen über den Körper) als auch von Körperwissen und Körperpraxis weiterhin aussteht. Wie die Vorträge zeigten, gibt es allerdings einen wachsenden Fundus an Fallstudien, an die körpertheoretische Bemühungen im Sinne einer empirisch gesättigten Theoriebildung anknüpfen können. In methodischer Hinsicht bleibt es weiterhin eine zentrale und drängende Frage, ob die körperliche Dimension sozialen Handelns mit den etablierten Verfahren der empirischen Sozialforschung, die ja auch in der qualitativen Forschung hochgradig textlastig sind, angemessen erfasst werden kann bzw. welche methodischen Innovationen notwendig sind. Zwar bieten hier die neueren Entwicklungen der "visuellen" Analysestrategien sicherlich weitergehende Möglichkeiten; diese weisen jedoch ihrerseits spezifische Grenzen bei der "visuellen Abbildung" von Körperwissen auf. Entsprechende Fragen standen freilich nicht im Mittelpunkt der durchgeführten Tagung; sie könnten aber – ebenso wie die Konzentration auf und der Vergleich von einzelne(n) Praxisfeldern – Thema künftiger Tagungen sein. [9]
Angesichts der sehr hohen Zahl von eingereichten Vorschlägen, von denen aufgrund der zeitlichen Restriktionen nur etwa ein Drittel berücksichtigt werden konnte, und im Anschluss an die lebhaften Diskussionen sowie die sehr positive Resonanz der Tagung sehen die Organisatoren eine Weiterführung des Themenkomplexes vor. Im laufenden Jahr werden zunächst die Tagungsbeiträge in einem von Reiner KELLER und Michael MEUSER herausgegebenen Band erscheinen. [10]
Reiner KELLER ist Professor für Allgemeine Soziologie, Kultur- und Bildungssoziologie an der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Diskursforschung, Kultur- und Wissenssoziologie, Soziologie der Naturverhältnisse, französische Soziologie.
Kontakt:
Prof. Dr. Reiner Keller
Universität Koblenz-Landau (Campus Landau)
Fb6: Institut für Sozialwissenschaften, Abt. Soziologie
Fortstraße 7
D-76829 Landau
E-Mail: keller@uni-landau.de
URL: http://www.uni-koblenz-landau.de/landau/fb6/sowi/soziologie
Michael MEUSER ist Professor für Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der TU Dortmund. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Wissenssoziologie, Soziologie des Körpers, Politische Soziologie, Methoden qualitativer Sozialforschung.
Kontakt:
Prof. Dr. Michael Meuser
TU Dortmund
Fakultät für Erziehungswissenschaft und Soziologie, Institut für Soziologie
Emil-Figge-Str. 50
D-44227 Dortmund
Tel.: ++49 (0)231 755-4242
E-Mail: michael.meuser@tu-dortmund.de
URL: http://www.fb12.uni-dortmund.de/teams/iso/geschlechterverhaeltnisse/
Keller, Reiner & Meuser, Michael (2010). Tagungsbericht: Körperwissen. Eine internationale und interdisziplinäre Tagung [10 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 11(2), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1002277.