Volume 12, No. 1, Art. 4 – Januar 2011
Rezension:
Vanessa-Isabelle Reinwand
Ulrike Freikamp, Matthias Leanza, Janne Mende, Stefan Müller, Peter Ullrich & Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.) (2008). Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Berlin: Karl Dietz Verlag, 328 Seiten, ISBN 978-3-320-02136-8, 14,90 EUR (und Open Access)
Zusammenfassung: Der Sammelband "Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik", herausgegeben von einem interdisziplinären Forschungsteam, namentlich U. FREIKAMP, M. LEANZA, J. MENDE, S. MÜLLER, P. ULLRICH und H.-J. VOß, widmet sich einem oft vernachlässigten Thema: dem Verhältnis von Forschungsmethoden in der (Sozial-) Wissenschaft und Gesellschaftskritik. Unter vier Gesichtspunkten werden die sechzehn Beiträge des Bandes gebündelt: Kritik im Bezug auf gesellschaftliche Strukturen, kritische Betrachtung der Subjekte und ihre gesellschaftliche Positionierung, Methoden- und Wissenschaftskritik an exemplarischen Disziplinen sowie Betrachtung der Dialektik als kritische Methode. Aufgrund der breiten Ausrichtung und des universellen Anspruchs des Bandes ist die Publikation grundsätzlich Forscherinnen und Forschern aller Disziplinen zu empfehlen. Im Detail eignen sich aber einige Artikel eher als Beiträge zu einem spezifischen Fachdiskurs denn als Beiträge zu einer generellen Diskussion über das kritische Potenzial von Forschungsmethoden und Wissenschaftskritik.
Keywords: Methodenkritik; kritische Wissenschaft; Sozialwissenschaft; Diskursanalyse; objektive Hermeneutik; kritische Psychologie; Ethnopsychoanalyse; Dialektik
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Kontextualisierung
1.1 Was ist kritische Wissenschaft?
1.2 Kritische Wissenschaft in neueren deutschsprachigen Publikationen
2. Aufbau und Inhalte: Sechs kritische (Forschungs-) Ansätze
2.1 Diskursanalyse
2.2 Objektive Hermeneutik
2.3 Ethno(psycho)analyse und Ethnohermeneutik
2.4 Kritisch-psychologische Methoden
2.5 Wissenschaftskritik und Genderforschung
2.6 Dialektik
3. Zusammenfassende Bewertung und Fazit
1. Einleitung und Kontextualisierung
Der Sammelband "Kritik mit Methode?", erschienen als zweiundvierzigster Band in der Reihe "Texte" der Rosa-Luxemburg-Stiftung1), bietet den Lesenden auf insgesamt 328 Seiten eine Vielzahl an gut strukturierten Artikeln zu Methoden kritischer Wissenschaft. Der Band richtet sich nicht explizit an eine bestimmte Zielgruppe, und es ist aufgrund der Heterogenität der Beiträge zudem schwierig, in diesem Punkt eine Empfehlung auszusprechen. Einige Artikel eignen sich gut als Einführung in eine Methode, andere dagegen sind nur mit genauer Kenntnis von einschlägigen Diskursen zu verstehen. Allerdings ist allen Artikeln gemeinsam, dass sie versuchen, die theoretischen Überlegungen zu einer "Kritik mit Methode" an konkreten Beispielen, oft aus der direkten Forschungspraxis zu belegen und zu explizieren. Dies erleichtert selbst unerfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zumindest einen Einblick in die jeweils vorgestellte Methode. [1]
1.1 Was ist kritische Wissenschaft?
Das Thema, das den Band durchzieht, behandelt die Frage nach einer "kritischen" (vor allem Sozial-, Gesellschafts- und Kultur-) Wissenschaft und ihren Methoden. Der Kreis der sechzehn Autorinnen und Autoren kommt aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen. Auffällig ist jedoch eine Häufung von Soziolog/innen und Psycholog/innen, aber auch Kulturanthropolog/innen, Politikwissenschaftler/innen sowie ein Biologe sind vertreten. Die Grundlagen des gemeinsamen Bandes wurden auf Tagungen des Arbeitskreises "Qualitative Methoden" der Rosa-Luxemburg-Stiftung erarbeitet. Die Interdisziplinarität der Publikation widmet sich demnach im Schwerpunkt auch eher den Geistes- als den Naturwissenschaften. [2]
Die Herausgebenden verfolgen nicht den Anspruch, "einen homogenen systematisierten Erklärungs- und Deutungsrahmen bzw. eine repräsentative Gesamtschau möglicher Zugänge zu entwickeln" (FREIKAMP, LEANZA, MENDE, MÜLLER, ULLRICH & VOß, S.17), sondern greifen einige Forschungsansätze heraus, an denen sie aufzeigen, warum deren Methoden als "kritisch" bezeichnet werden können, von welchen Prämissen diese ausgehen und welche Ergebnisse zu erwarten sind. Kritische Wissenschaft – so die Einleitung der Herausgebenden – lasse sich nicht nur an der "Wahl des Gegenstands" und einer gesteigerten "Forschungsethik" von der "‘unkritischen‘ Normalwissenschaft" unterscheiden, sondern "kritische Forschungsprogramme [vertreten] den Anspruch, mit ihren methodischen Instrumentarien erkenntnistheoretische Positionen der traditionellen Wissenschaften zu hinterfragen, deren Einschränkungen zu erkennen und ihre Grenzen zu überwinden" (S.7). Das heißt auch, dass "soziale Realitäten – wie man diese auch genauer bestimmen mag – analysiert, hinterfragt, ggf. abgelehnt und als überwindbar beschrieben werden" (S.12). [3]
Gerade in der Gegenwart, in der Wissenschaft aufgrund aktueller gesellschaftspolitischer Fragestellungen in ganz eigener Weise gefordert ist, kann eine Zusammenschau explizit "kritischer" Methoden zu einem (vergessenen) Verständnis – vor allem der Geistes- und Gesellschaftswissenschaft – beitragen. Der Hinweis auf eine "kritische" Wissenschaft ist also auch als Forderung und Appell und nicht nur als "Methodenschule" zu begreifen. So ist der Band tatsächlich nicht als systematische Erschließung eines wissenschaftlichen Feldes zu lesen, sondern als Signal für eine kritische(re) Wissenschaft zu betrachten in Zeiten, in denen bestehende (Denk-) Systeme oft als unhinterfragte Wahrheiten Erkenntnisfortschritte nicht nur nicht befördern, sondern sogar verhindern, dies geschieht ganz im Sinne des ADORNO-Zitates: "Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten" (nach MENDE, S.171) [4]
Die Autor/innen betonen allerdings auch, dass es eine kritische Wissenschaft per se, definiert über kritische Methoden, seien sie qualitativ oder quantitativ, nicht geben könne. Nahezu jede Methode verfüge über ein kritisches Potenzial, das von den Forschenden ausgeschöpft werden und das sich immer wieder an verschiedenen Stellen im Forschungsprozess beweisen müsse. So ist die getroffene Methodenauswahl also nicht als abgeschlossen anzusehen, sondern stellt vielmehr einen Ausgangspunkt dar, der dazu auffordert, das kritische Potenzial weiterer Forschungsansätze und Methoden zu entdecken und auszuschöpfen. [5]
1.2 Kritische Wissenschaft in neueren deutschsprachigen Publikationen
Vergleichbare Publikationen zum Thema sind mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Es existieren natürlich zu den unterschiedlichen Forschungsansätzen eigene Publikationen wie z.B. der 2008 erschienene Band von Siegfried JÄGER "Wie kritisch ist die Kritische Diskursanalyse? Ansätze zu einer Wende kritischer Wissenschaft", welcher den Forschungsansatz der Diskursanalyse kritisch reflektiert. Auch lassen sich zahlreiche Veröffentlichungen finden, die eine bestimmte Disziplin und deren kritische Methoden vorstellen, wie z.B. "Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft" von Michael KLEIN und Sieglinde KLETTENHAMMER (2005). Eine Zusammenschau unterschiedlicher kritischer Forschungsansätze und Methoden aber, wie im zu besprechenden Sammelband vorgelegt, findet sich aktuell nicht. [6]
2. Aufbau und Inhalte: Sechs kritische (Forschungs-) Ansätze
In der "Einleitung" weisen die Herausgebenden auf drei Faktoren hin, die in ihrer Perspektive zentral verantwortlich dafür sind, ob eine Methode als kritisch betrachtet werden kann. So seien das Erkenntnisinteresse, die ergebnisformenden Beschreibungsmuster (Kategorien) und nicht zuletzt die Rezeptionskontexte entscheidend für "den kritischen Gehalt der Forschungsergebnisse" (S.10). Des Weiteren wird zu Beginn der Kritikbegriff diskutiert und auf die "Nicht-Neutralität" (S.8) der Methoden verwiesen, bevor detailliert auf die Struktur des Bandes eingegangen wird. [7]
Die Herausgeber/innen gliedern die Beiträge in vier Teile: "Sprache, Struktur, Diskurs", "Subjekte und ihre gesellschaftliche Positionierung", "Methoden und Wissenschaftskritik" sowie "Dialektik als Methode?". Diese Gliederung scheint nicht auf den ersten Blick einleuchtend, da die vier Kapitel recht unverbunden nebeneinanderstehen. Sie akzentuieren verschiedene Ebenen kritischer Wissenschaft: Kritik an sozialen Strukturen, kritische Betrachtung von Subjekten und Subjektivierungsprozessen, Wissenschaftskritik und Dialektik als Besonderheit kritischer Wissenschaft. (Fachlich eher unerfahrene) Lesende durchschauen die Metastruktur dieser Gliederung wahrscheinlich erst bei näherer Beschäftigung mit der Thematik oder nach Lektüre der Einleitung. Daher stelle ich die Beiträge in kleineren thematischen Einheiten vor, die vielleicht einen direkteren Zugang versprechen als die von den Herausgebenden gewählte Metastruktur. [8]
Die ersten drei Beiträge des Sammelbandes behandeln aus unterschiedlichen Perspektiven die forscherische Praxis der Diskursanalyse. Peter ULLRICH liefert unter dem Titel "Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie. Ein- und Überblick" eine fundierte Einleitung in diesen Ansatz. Angefangen bei der Sprache als Medium der Konstitution von Wirklichkeit erklärt er den Begriff und die Funktion von Diskursen in Rückgriff auf den Begründer der Methode, Michel FOUCAULT. Mithilfe eines Schaubildes zu den "Elementen empirischer Diskursanalyse" werden Fragen der Forschungspraxis näher beleuchtet, wenngleich der Artikel als Lehrbucheinheit zu knapp ausfallen muss und das Schaubild nur einen Versuch darstellen kann, die vielfältigen Stränge der Diskursanalyse darzustellen. Abschließend wird an Beispielen die aktuelle Bedeutung der Diskursanalyse kurz beschrieben. [9]
Lesende können sich nach dieser kurzen Einleitung in die Methode gut gerüstet fühlen, sich mit Besonderheiten der Diskursanalyse zu beschäftigen. Ludwig GASTEIGER geht eher methodisch-reflexiv als methodisch-einleitend wie ULLRICH vor. Im Zentrum steht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines (sozial-) wissenschaftlichen Forschungsprozesses am Beispiel FOUCAULT. Mittels der Analyse Foucaultscher Forschungsarbeiten und seiner "Methodologie der Interpretativen Analytik" an den Studien "Wahnsinn und Gesellschaft" sowie "Archäologie des Wissens" kommt GASTEIGER unter anderem zu dem Schluss, dass gerade an den Grenzen der diskursiven Praxis ihr Potenzial liege: "Diskurse müssen somit als Vermittlungsinstanzen begriffen werden." (S.42) Als Replik auf FOUCAULTs Praxisbezug formuliert GASTEIGER abschließend vier Forderungen für eine kritische (Sozial-) Wissenschaft. Sie müsse 1. eine "dialogische Entwicklung des normativen Standorts" und des Praxisbezugs der Forscher/innen beinhalten und damit die "Unhintergehbarkeit der Perspektivität" anerkennen. Sie müsse 2. von einer "experimentelle[n] Haltung zur Gegenwart" ausgehen, um "präskriptive[n] Regelwerke[n] und versteinerte[n] Machtträume[n]" entgegenzuwirken. Kritische Wissenschaft sei 3. nur mittels einer selbstreflexiven Forschungspraxis möglich. Oftmals übersähen Forscherinnen und Forscher bei der Analyse von gesellschaftlichen Machtstrukturen ihre eigenen Ausschließungs- und Machteffekte, die sie durch Veröffentlichungen, eine spezifische Fachsprache o.ä. fördern. Letztlich dürfe 4. auch in der Gefahr "totalitäre[r] Herrschaftsideologien und -apparate" und dem daraus folgenden Rückzug ins Lokale die Orientierung an einer "idealen Gesellschaft" und einem spezifischen Menschenbild nicht fehlen, um handlungsfähig zu bleiben. GASTEIGER bietet mit "Michel Foucaults interpretative Analytik und das unbestimmte Ethos der Kritik" einen anspruchsvollen, aber gelungenen Einblick, wie Sozialwissenschaft einem kritischen Anspruch gerecht(er) werden kann. [10]
Nach der eher theoretischen Ausrichtung der beiden ersten Beiträge des Sammelbandes widmet sich der dritte Beitrag von Daniel BARTEL und Peter ULLRICH der "kritischen Diskursanalyse" anhand eines Beispiels: "Kritische Diskursanalyse – Darstellung anhand der Analyse der Nahostberichterstattung linker Medien". Dieser methodisch-beispielhafte Artikel eignet sich gut, um das konkrete empirische Vorgehen der Methode, die am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) von Siegfried und Margarete JÄGER entwickelt wurde, nachzuvollziehen. Der Forschungsprozess wird über die Benennung der einzelnen Schritte (Konzeptionierungsphase, Erhebungsphase, Strukturanalyse, Feinanalyse und zusammenfassende Interpretation) erläutert und mittels eines Textbeispiels "durchgespielt". Durch Visualisierungen werden die einzelnen Schritte noch veranschaulicht und machen so die abschließende Würdigung der Methode als eine "kritische" mehr als deutlich. [11]
Der Beitrag von Matthias LEANZA "Kritik als Latenzbeobachtung – Darstellung und Diskussion grundlegender Konzepte der Objektiven Hermeneutik und deren Anwendung am konkreten Fall" verrät im Titel den ähnlichen Aufbau wie der Artikel von BARTEL und ULLRICH. Im Zentrum steht die Methode der objektiven Hermeneutik, die auf Ulrich OEVERMANN zurückgeht. Auch hier wird eine fundierte Einführung in die Besonderheiten der Methode, vor allem in den Begriff der "latenten Sinnstrukturen", geboten, um anschließend an einem Beispiel methodische Schritte zu explizieren. Gerade die Analyse der latenten Sinnstrukturen, d.h. "nicht unmittelbar sichtbare Muster der Selektion von sozialer Realität", mache die objektive Hermeneutik zu einer kritischen Methode. Denn "'Notwendige' und 'nicht veränderbare' Sachverhalte lassen sich nicht sinnvoll kritisieren, sozial hergestellte jedoch schon" (S.87). Anhand eines Zeitungsartikels aus DER ZEIT, der Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektrobranche zum Inhalt hat, wird eine ausführliche Sequenzanalyse durchgeführt, die am konkreten Fall "lediglich eine Auswahl aus einem Raum von Optionen bzw. Möglichkeiten" (S.103) zeigt und daher auch immer "andere Lebenspraxen" denken lässt. [12]
Der Beitrag von Tobias PIEPER steht zwar unter der Kapitelüberschrift "Subjekte und ihre gesellschaftliche Positionierung", passt aber inhaltlich weder genau zu den vorhergehenden noch den nachfolgenden Texten. Er thematisiert "Symbolische und materielle Barrieren beim Zugang zum gesellschaftlich Exkludierten". Seine interessanten Ausführungen berichten über den Versuch und die Schwierigkeiten eines Forschungsprozesses in "Lagern für MigrantInnen und Flüchtlinge[n] mit einem ungesicherten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland" (S.105). Trotz reflektierter Vorarbeiten, eines triangulierten Methodenrepertoires und eines sensiblen Vorgehens mit der Forschungsthematik trifft der Forscher auf Barrieren beim Zugang zu den Lagern, bei der Datenerhebung und letztlich bei der Veröffentlichung der Ergebnisse. So kann eine zentrale Ausgangsfrage der Analyse – nämlich: "Welche politisch-ideologischen und ökonomischen Funktionen übernehmen sie [die Lager] innerhalb der hegemonialen Herrschaftsstrukturen der Bundesrepublik Deutschland?" (S.106) – kritisch wie folgt beantwortet werden. "Die gesellschaftliche Exklusion durch den Einschluss in die Lager wird dabei als Prozess der symbolischen und materiellen Segregation fassbar, der die Lager und ihre Funktion entnennt, die BewohnerInnen einschließt und von der sozialen Umwelt abkapselt." (S.124) [13]
2.3 Ethno(psycho)analyse und Ethnohermeneutik
Antje KRUEGER widmet sich in "Die ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt" einer Kombination von Psychoanalyse und Ethnologie. Auch sie stellt das methodische Repertoire in Grundzügen vor und führt am Beispiel eines Interviewauszuges mit einer armenischen Familie in die Methode ein. Allerdings bleibt bis zum Schluss des Artikels aufgrund mangelnder Darstellung der Auswertungsschritte unklar, worin sich die Methode von anderen Interpretationstechniken unterscheidet. Es wird zwar konstatiert, dass "[d]urch die Erschließung und Einbeziehung von unbewussten Intentionen und Bedeutungen, genauso wie über das Wahrnehmen und Aufdecken immanenter gesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken" das "Unsichtbare" sichtbar und damit "reflektier- und bearbeitbar" (S.143f.) werde, allerdings wird dies m.E. in der Beispielanalyse nicht deutlich. [14]
Auch der Beitrag von Christoph H. SCHWARZ, der sich unter dem Titel "Ethnoanalyse und Ethnohermeneutik: Kritische Sozialforschung als Reflexion der Forschungsbeziehung" einem Fallbeispiel aus der Forschung mit Schülerinnen aus indigenen Gemeinden in einem Internat der Educación Maya2) in Guatemala widmet, lässt die methodische Prägnanz der vorgestellten Ethnohermeneutik vermissen. SCHWARZ stellt das "ethnoanalytische Gruppengespräch" vor und teilt die Interpretation in eine ethnografische, soziologische, psychoanalytische und gruppenanalytische ein. Seine Interpretation fördert allerdings wenig Überraschendes zutage und bleibt an einigen Stellen ungenau und vage. In der "Schlussbetrachtung" formuliert er selbst: "Ich habe versucht herauszuarbeiten, dass Ethnohermeneutik bzw. Ethnoanalyse eher Methodologie denn formalisierte Methode ist" (S.167) und bringt damit eine "Skepsis gegen rigide Regelwerke" zum Ausdruck. Wie die Ethnohermeneutik den Anspruch einer "Aufklärung des gesellschaftlich Verdrängten" (S.168) einlösen kann, bleibt, zumindest für die Wissenschaftler/innen, die sich üblicherweise außerhalb der Ethnoanalyse bewegen, unklar. [15]
2.4 Kritisch-psychologische Methoden
Janne MENDE leitet den Teil der kritisch-psychologischen Methoden mit ihrem Beitrag "'Aber der Kaiser ist ja nackt!' Theoretische Einkleidung psychoanalytischer und Kritisch-psychologischer Methodik" ein. In einer Kritik an der klassischen Psychoanalyse, namentlich an Sigmund FREUD, macht sie deutlich, wie die "Parteinahme für das Subjekt" der Darstellung der gesellschaftlichen "Unterdrückung als unveränderlich und immer gegeben" (S.175) gegenüberstehe. Das Entwicklungskonzept der Kritischen Psychologie sehe dagegen den Menschen als "Produzent seiner Lebensbedingungen" (S.181) an. Am Beispiel der Ethnopsychoanalyse – und hier wird die Verbindung zu den vorhergehenden Artikeln deutlich –, plädiert sie für einen Miteinbezug des/der Beforschten, um das Allgemeine in jedem individuellen Lebensvollzug unter Beachtung der objektiven Bedingungen herauszukristallisieren (vgl. S.191). Wiewohl der Text von MENDE keine empirische Beispielanalyse mittels der Kritischen Psychologie ausführt, werden die Grundintentionen der Methode vor der Folie der klassischen Psychoanalyse nachvollziehbar. Die aufgrund der Darstellungslogik notwendige, deutliche Kritik an der Psychoanalyse würden FREUD-Spezialist/innen jedoch wahrscheinlich so einseitig nicht stehen lassen. [16]
Katrin REIMER führt in ihrem Beitrag die theoretischen Überlegungen einer Kritischen Psychologie auf der Folie der klassischen Analyse von MENDE weiter und stellt Verfahren vor, welche die Beziehungsform zwischen Forschenden und Beforschten thematisieren. Der Beitrag "Wie Methoden die Verhältnisse zum Tanzen bringen können … Eine Einführung in die Kritische Psychologie als eingreifende Forschungstätigkeit" stellt das subjektwissenschaftliche Konzept der "Entwicklungsfigur" und ihrer Gegenseite, der "Stagnationsfigur" (MARKARD 2000) vor und beschreibt die verschiedenen Instanzen/Arbeitsschritte der Methode. Unter Verwendung des Forschungsfeldes "Rechtsextremismus" erläutert sie, dass es darum gehe, Begründungszusammenhänge für "problematische Denk- und Handlungsweisen" (S.211) Einzelner aufzudecken und im Anschluss daran "subjektive Möglichkeitsräume" (a.a.O.) aufzuzeigen. Die Beispielanalyse bleibt – wahrscheinlich aufgrund des begrenzten Umfangs eines Sammelbandbeitrages – vage, und die wissenschaftliche Vorgehensweise bleibt teilweise undurchsichtig. [17]
Der Beitrag von Ulrike FREIKAMP fällt, ähnlich wie der Beitrag von PIEPER, an dieser Stelle etwas aus der Struktur des Bandes heraus. Der Artikel "Bewertungskriterien für eine qualitative und kritisch-emanzipatorische Sozialforschung" befragt aus einer Metasicht Gütekriterien von Sozialforschung auf ihr kritisches Potenzial hin. Bekannte Gütekriterien qualitativer Forschung werden erläutert (Offenheit, Gegenstandsangemessenheit etc.) und anschließend zwei Ansätze der Formulierung von Bewertungskriterien (MAYRING 2002 und STEINKE 1999) vorgestellt. FREIKAMP kommt zu dem Schluss,
"dass die Nutzung spezieller Bewertungskriterien für die qualitative Forschung auch unter der Prämisse eines kritischen emanzipatorischen und partizipativen Anspruches sinnvoll erscheint, erstens, um die an sich selbst gestellten Ansprüche zu prüfen und zweitens, um die Anerkennung und Wirkmächtigkeit kritischer qualitativer Sozialforschung zu erhöhen" (S.231). [18]
Diese Erkenntnis ist sicherlich von Bedeutung, wäre aber am Anfang eines solchen Bandes, da grundlegend und mit einleitendem Charakter, besser aufgehoben. [19]
2.5 Wissenschaftskritik und Genderforschung
Die beiden Beiträge von Heinz-Jürgen VOß und Irina S. SCHMITT widmen sich unter kritischer Perspektive der Genderforschung. Der Erstere diskutiert unter dem Titel "Feministische Wissenschaftskritik am Beispiel der Naturwissenschaft Biologie" den kritischen Beitrag von Frauen in der Forschung und zeigt auf, wie eine feministische Wissenschaft in verschiedenen Wissenschaftsfeldern ihren eigenen Erkenntnisbeitrag leisten kann, sofern sie nicht, wie historisch vielfach geschehen, unter (subtilen) Ausschlussmechanismen leidet. Unter dem Motto "Unterschiedliche Methoden führen zu unterschiedlichen Ergebnissen" (S.250) fordert der Autor, "feministische Wissenschaftskritik stets im Sinne eines methodologischen Grundsatzes in den eigenen Forschungsprozess einzubeziehen" (S.233). [20]
Im Anschluss daran liefert SCHMITT unter dem Titel "'Ich besorg' dir Viagra für deinen Freund'" – Heteronormativität als methodologische Herausforderung in der Forschung mit Jugendlichen" eine eindrückliche Beschreibung von "'sexueller Orientierung' als Verortungsstrategie und Analysekategorie im Kontext vor allem qualitativer Forschung" (S.253). Am Beispiel der eigenen Forschung mit Jugendlichen schildert sie die Schwierigkeiten der Hinterfragung heteronormativer Annahmen während der Datenerhebung, die durch verschiedene qualitative "Instrumente" wie beispielsweise Gruppengespräche und Einzelinterviews, aber auch Skizzen und Foto- bzw. Kassettentagebücher der deutschen und kanadischen Schüler/innen zustande kam. Das Thema wird unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt. Zentral ist aber die Frage nach der eigenen geschlechtlichen Positionierung oder Nicht-Positionierung von Forscher/innen im Forschungsprozess und die Bedeutung für die Teilnehmenden. Der Einfluss auf die Ergebnisse des Forschungsprozesses sowie der Umgang mit diesem "methodologische[n] Problem im Kontext der Institution Universität" (S.254) werden aufgezeigt. SCHMITT stellt abschließend zur Diskussion, ob im jeweiligen Fall eine deutliche Positionierung oder auch eine Zurückhaltung dem Erkenntnisinteresse eher dienlich sei, weist aber auf die grundsätzliche Notwendigkeit der Bewusstmachung und Thematisierung von heteronormativen Erwartungen hin. Dieser Beitrag lebt vor allem von der authentischen und offenen Einsicht in die Komplexität eines Forschungsprozesses, der dem Anspruch, kritisch zu sein, Genüge leisten will. [21]
Thematisch bildet der Beitrag von Antonia DAVIDOVIC wieder einmal eine interessante Ausnahme. Sie untersucht "Die Wirkung archäologischer Ausgrabungsmethoden auf die Herstellung archäologischen Wissens" und stellt dabei fest, dass Methoden als wesentliche Grundlagen eines Übersetzungsprozesses begriffen werden müssten und somit den Forschungsgegenstand beeinflussen, aber auch wiederum durch den jeweiligen Forschungsprozess beeinflusst würden. D.h., es gibt keine "richtigen oder falschen Methoden" (S.284), sondern die Frage nach der Informationsvermittlung der jeweiligen Methoden und ihrer Netzwerke, mit denen sie interagieren (menschliches Wissen und Erfahrung, Instrumente, Inskriptionen etc.), müsse im Mittelpunkt der Methodenentscheidung stehen. DAVIDOVIC spricht sich für eine Methodenkombination und daher für eine "kulturanthropologische Wissenschaftsforschung" aus, ohne jedoch auf die hohen Anforderungen und möglichen Schwierigkeiten eines solchen Anspruchs in der Praxis hinzuweisen. [22]
Die beiden abschließenden Beiträge von Stefan MÜLLER und Ingo ELBE beschäftigen sich noch einmal mit einer ganz anderen Art von Kritik. Unter dem bescheidenen Titel "Dialektik und Methode – Ein kleiner Blick auf eine große Diskussion" bezieht MÜLLER die dialektische auf die aristotelische Logik, um einem "sozialwissenschaftlichen Erklärungsanspruch" (S.288) den Boden bereiten zu können. Er zeigt, wie in den Sozialwissenschaften, z.B. durch die Hinweise auf ADORNOs "versöhnte Gesellschaft", dualistische Konzeptionen überschritten werden müssten: "Subjekt und Objekt fallen nicht zusammen und stehen sich aber auch nicht vermittlungslos gegenüber" (S.297). Sein Ansinnen ist die Erfassung "innere[r] Vermittlungsverhältnisse, wie beispielsweise die Gleichzeitigkeit von Äquivalenz und Widerspruch in der strikten Antinomie" (S.297). [23]
ELBE ist im letzten Beitrag "Eigentümliche Logik eines eigentümlichen Gegenstands? Zur Diskussion um die Spezifik dialektischer Darstellung in der Marxschen Ökonomiekritik" gleichzeitig an einer sowohl "abstrakt-wissenschaftstheoretischen" Darstellung als auch an einer "Sachproblematik der Ökonomiekritik" (S.300) interessiert. Er stellt exemplarisch drei Analysen des Dialektikbegriffs der ersten Kapitel von MARXs "Kapital" vor (SIMON-SCHAEFERS, STEINVORTH, NARSKI) sowie zwei weitere MARX-Analysen (COLETTI, WOLF), die sich dem Widerspruchsbegriff zuwenden, und die ELBE als "nicht-analytische Positionen" bezeichnet. Die erkenntnisleitende Fragestellung ist dabei für den Autor die nach einem "sozialtheoretisch brauchbare[n] Dialektik-Konzept" (S.322), die es unter Ausschluss "der weltanschaulich aufgeladenen Positivismuskeule" (S.323) weiter zu diskutieren gelte. [24]
Gerade die letzten beiden Beiträge des Bandes, hier unter dem Stichwort "Dialektik" zusammengefasst, richten sich eher an ein einschlägig interessiertes Publikum und verlangen schon einen recht hohen Grad an Kenntnis des spezifischen Fachdiskurses. Mindestens diese Artikel wären, so gelungen sie sind, sicherlich in einem Band mit engerem Fokus besser untergebracht und würden dort wohl eher das entsprechende Fachpublikum erreichen. [25]
Der Band schließt mit einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, die knapp in ihren Fachbereichen und Arbeitsschwerpunkten vorgestellt werden. [26]
3. Zusammenfassende Bewertung und Fazit
Die Stärke des vorgestellten Sammelbandes "Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik" ist zugleich seine Schwäche. Gemeint ist die Heterogenität der Beträge unter verschiedenen Gesichtspunkten. So finden sich in der Publikation Beiträge, die sich als Einführung in eine spezifische Methode eignen (z.B. ULLRICH oder FREIKAMP); Beträge, die nur einen relativ engen wissenschaftlichen Teilbereich beleuchten (z.B. REIMER); Texte, die sich an einen bestimmten Lesendenkreis richten (z.B. ELBE) oder auch Artikel, die einen allgemeinen Einblick in verschiedene Forschungsprozesse gewähren (z.B. PIEPER oder SCHMITT). Hinzu kommt, dass die Beiträge von unterschiedlicher Qualität sind. Neben sorgfältig verfassten Beiträgen finden sich Texte, die wohl eher mit der "schnellen Feder" geschrieben sind. Literaturquellen sind nicht immer korrekt angegeben, und es finden sich geringfügig unterschiedliche Zitierweisen. Generell ist dies bei der Gesamtbewertung des Bandes nicht als zu gewichtig anzusehen, allerdings sollte eine explizit "kritische" Wissenschaft auch auf diese Formalia achten. [27]
Aufgrund der zugleich lobenswerten Heterogenität und Interdisziplinarität – denn sie ermöglichen einen Einblick in unterschiedlichste Sicht- und Herangehensweisen gesellschaftskritischer Wissenschaft und kritischer Forschungsmethoden und öffnen die Augen für weitere mögliche kritische Denkansätze – fehlt jedoch am Ende der "rote Faden" und ein Fazit, wie nun mit diesen Ergebnissen umzugehen sei. Die "Einleitung" der Herausgeber/innen versucht zwar zu Beginn, einen Bogen herzustellen, allerdings hätte ich mir am Ende einen richtungsweisenden Ausblick noch gewünscht. [28]
Grundsätzlich ist ein Band über kritische Methoden in den Sozialwissenschaften nur zu begrüßen und in der derzeitigen Hochschullandschaft doch leider eher eine Ausnahme. Eine Diskussion darüber, was als "kritische Methode" gelten kann und wo (ungenutzte) Potenziale solcher Forschungsverfahren liegen, wäre auf breiterer Ebene anzustoßen, um die häufig im aktuellen, nicht-einschlägigen Wissenschaftsalltag anzutreffende Gleichung "kritische Wissenschaft = 70er Jahre Diskurs = überholt" zu hinterfragen. Auch in der Hochschulausbildung fristen – dies meine persönliche Einschätzung – gesellschafts- und methodenkritische Ansätze nur ein Nischendasein. Ein Band, der auf leicht verständlichem Niveau und unter Einbezug gängiger Forschungskonzepte in kritisches Denken einführt, steht also noch aus. Dies wäre aber sicherlich eine lohnende Investition in eine Riege von Nachwuchswissenschaftler/innen, die sich gesellschaftskritisches Forschen wieder bewusst auf die Fahnen schreiben möchten. Alternativen zu bestehenden gesellschaftlichen Systemen zu denken und dadurch eine kritische Entwicklung veränderbarer Verhältnisse anzustoßen, ist angesichts der aktuellen Krisen und weltweiten Problemkonstellationen eine zentrale Aufgabe moderner (Sozial-) Wissenschaft. In diesem Sinne sind weitere Publikationen, die sich explizit einer kritischen Wissenschaft widmen, nicht nur erwünscht, sondern dringend notwendig. [29]
1) Der Band ist unter http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Publ-Texte/Texte-42.pdf frei zugänglich. Siehe auch http://www.rosalux.de/themen/kultur-medien/publikationen/publikation/datum/2008/03/19/kritik-mit-methode/thema/sprachen/sprachen/priorisierung-regional.html. <zurück>
2) Das Internat wird von indigenen Kindern und Jugendlichen aus ländlichen Gemeinden besucht, die dort eine moderne Ausbildung z.B. in Dienstleistungsberufen erhalten sollen. Eine Einführung in das bildungspolitische Programm der Maya-Erziehung liefert der Artikel von Meike HECKT (1999). <zurück>
Jäger, Siegfried (2008). Wie kritisch ist die Kritische Diskursanalyse? Ansätze zu einer Wende kritischer Wissenschaft. Münster: Unrast e.V.
Heckt, Meike (1999). Mayan education in Guatemala: A pedagogical model and its political context. International Review of Education, 45(3/4), 321-337.
Klein, Michael & Klettenhammer, Sieglinde (2005). Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft. Münster: Lit.
Markard, Morus (2000). Verbale Daten, Entwicklungsfigur, Begründungsmuster, Theorieprüfung: Methodische Probleme und Entwicklungen in der Projektarbeit. In Morus Markard & ASB (Hrsg.), Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung (S.227-250). Hamburg: Argument.
Mayring, Philipp (2002). Einführung in die Qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz.
Steinke, Ines (1999). Kriterien qualitativer Forschung. Ansätze zur Bewertung qualitativ-empirischer Sozialforschung. Weinheim: Juventa.
Prof. Dr. Vanessa-Isabelle REINWAND ist Juniorprofessorin für "Kulturelle Bildung" am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der frühkindlichen Kulturellen Bildung sowie der Wirkungen Kultureller Bildung.
Kontakt:
Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand
FB Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation
Institut für Kulturpolitik, Universität Hildesheim
Marienburger Platz 22,
D-33141 Hildesheim
Tel.: 05121/883-628
E-Mail: reinwand@uni-hildesheim.de
URL: http://www.uni-hildesheim.de/de/41671.htm
Reinwand, Vanessa-Isabelle (2010). Rezension: Ulrike Freikamp, Matthias Leanza, Janne Mende, Stefan Müller, Peter Ullrich & Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.) (2008). Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik [29 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(1), Art. 4, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs110143.
Revised: 11/2010