Volume 7, No. 3, Art. 24 – Mai 2006
Tagungsbericht:
Naziker Bayram, Jo Reichertz & Nadia Zaboura
Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des sinnhaft handelnden und kommunizierenden Subjekts. 17.-18. November 2005, Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, organisiert für die Sektion "Wissenssoziologie" durch Jo Reichertz, Naziker Bayram & Nadia Zaboura
Zusammenfassung: Der schnelle Erkenntnisfortschritt in den Neurowissenschaften beschleunigt die Diskussion um spezifisch menschliche Eigenschaften wie den freien Willen oder die Intersubjektivität. Bis dato klassisch geisteswissenschaftliche Fragestellungen wie "wie hängen Leib und Seele zusammen?", "wie manifestieren sich Handlungsrepräsentationen im Gehirn?" "wie funktionieren Wahrnehmung und Denken?" erstrecken sich auf neue Wissenschaftsdisziplinen, die durch empirische Ansätze (z.B. bildgebende, technische Verfahren) neue Impulse schaffen, aber auch immer weiter in das Forschungsfeld der Geisteswissenschaften vordringen. In dieser von den Neurowissenschaften angestoßenen Debatte qualifiziert sich das Gehirn immer mehr zu einem selbständigen Akteur und fordert die Geisteswissenschaften zur "somatischen Wende" (Markus SCHROER 2005, im Spanntext) heraus.
Ziel der Tagung an der Universität Duisburg-Essen war die differenzierte Erfassung neurowissenschaftlicher Positionen, um so die Plausibilität ihrer Argumente besser einschätzen zu können. Dank der Beiträge unterschiedlicher Disziplinen und der abschließenden Diskussion stellte sich heraus, dass die Positionen nicht so unvereinbar sind wie zunächst angenommen, dass aber Begriffe wie "Handlung", "Entscheidung" und "Freiheit" angesichts der steigenden Komplexität in dieser Debatte umso sensibler und genauer umgrenzt werden müssen als bisher.
Keywords: Hirnforschung, Intersubjektivität, Determinismus, Gehirn, Bewusstsein, Theory of Mind, Spiegelneurone, Sinn, Akteur, Willensfreiheit, Entscheidung
Inhaltsverzeichnis
1. Das Gehirn als Akteur – eine Herausforderung für die Geisteswissenschaften?
2. Interdisziplinäre Positionen und Herangehensweisen
2.1 Der so genannte freie Wille aus Sicht der Hirnforschung
2.2 Willensfreiheit vs. Determinismus – eine philosophische Annäherung
2.3 Sinnhaft handelndes Subjekt – quo vadis? Positionen der Soziologie
2.4 Neurowissenschaft und die menschliche Psyche – Einspruch der Psychologie
2.5 Hirnforschung im Lichte der Rezeption – Der Diskurs um den freien Willen im Feuilleton
3. Diskussion und Ausblick
Zu den Autorinnen und dem Autor
1. Das Gehirn als Akteur – eine Herausforderung für die Geisteswissenschaften?
Eine Vielzahl von Neurowissenschaftler/inne/n verkünden in und mit den Medien lautstark das endgültige Ende des Subjekts. Sie stellen dabei das Gehirn bzw. die Gehirnschaltungen als Urgrund und Ursprung menschlichen Tuns vor. Die Vorstellung eines "Ich" ist demnach eine vom Gehirn selbst geschaffene Illusion, die dem Organismus lediglich die falsche Gewissheit liefert, er selbst bzw. eine besondere Inneninstanz sei der Urheber und Autor jeglichen bewussten sinnhaften Handelns und Kommunizierens. [1]
Da die Zeichen für die Gehirnforschung nun gut stehen, nicht nur, weil die Forschungsgelder für solche Untersuchungen üppig fließen, sondern auch, weil die Neurowissenschaften als abschließende, naturwissenschaftlich gesicherte Beseitigung des Subjektivitätsproblems gehandelt werden, sind sie nach dem Poststrukturalismus eine ernstzunehmende Herausforderung für jede Soziologie und Kommunikationsforschung, die nicht in der Systemtheorie aufgeht, sondern weiter darauf besteht, dass Konstitution, Bestand und Entwicklung von Gesellschaft an sinnhaftes Handeln und Kommunizieren gebunden ist. Allerdings ist in dieser Debatte vieles schon gesagt worden, so dass eine Wiederholung alter Argumente nicht wirklich weiterführt (zum Einstieg in das Thema eignen sich diverse Artikel aus der Zeitschrift Gehirn & Geist der Ausgaben 6/2004 und 3/2005, siehe außerdem MARKOWITSCH 2004, S.163 ff.; PRINZ 2004, S.198 ff.). [2]
Auf der zweitätigen, von der Sektion Wissenssoziologie veranstalteten und von Jo REICHERTZ, Naziker BAYRAM und Nadia ZABOURA organisierten Tagung1) wurde das Gespräch mit Vertretern der Gehirnforschung, der Philosophie, der Psychologie und der Kommunikationswissenschaft geführt – dies mit zwei Zielen: Zum ersten sollte die Position der Neurowissenschaft differenziert erfasst werden, um so die Plausibilität ihrer Argumente besser einschätzen zu können. Zum Zweiten sollten die eigenen Argumente und Positionen im Licht der neurowissenschaftlichen Kritik geprüft und gegebenenfalls erweitert werden. Dieses Erkenntnisinteresse pointierte der Kommunikationswissenschaftler Jo REICHERTZ mit seinem einleitenden Vortrag "Das Ende des sinnhaft handelnden Subjekts?" nach dem Begrüßungswort Ronald HITZLERs, Vorsitzender der Sektion "Wissenssoziologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. [3]
2. Interdisziplinäre Positionen und Herangehensweisen
2.1 Der so genannte freie Wille aus Sicht der Hirnforschung
Hans MARKOWITSCH aus Bielefeld stellte aus neurowissenschaftlicher Perspektive die Interdependenz zwischen Gehirn und Verhalten/Handeln anhand zahlreicher Beispiele dar. Mentales Vermögen und geistige Kapazität seien keine Konstanten, sondern im Gegenteil einer ständigen Veränderung durch die Umwelt ausgesetzt. Dies könne am besten an extremen Fällen von plötzlich eintretenden Hirnschäden oder an bestimmten Krankheitsbildern wie z.B. Schizophrenie belegt werden. Unterschiedliche Umwelteinwirkungen würden sich im Zusammenspiel mit den genetischen Anlagen in der Vernetzung des Gehirns widerspiegeln und Denken und Verhalten bestimmen. Der Mensch könne folglich nicht anders handeln, als so, wie ihm die Umwelt "vorgibt"; übrig bliebe dem unreflektiert agierenden Wesen lediglich die Illusion eines "freien Willens" und eines "freien Ichs". Diese Erkenntnisse unterstreichen, so MARKOWITSCH, die Annahme, dass Bewusstsein und Bewusstheit keine verlässlichen Konstanten seien, sondern abhängig von körperlichen Zuständen und Umwelteinflüssen variieren. Persönlichkeit könne als ein Produkt von Nervensystem und Umwelt angesehen werden. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge sei die Ignoranz und vehemente Ablehnung derer, die den Menschen als selbst bestimmtes Wesen begreifen und ihm Wahlalternativen in seinem Handeln attestieren, völlig unverständlich. [4]
MARKOWITSCHs Beitrag lässt den wesentlichen Punkt seiner Position ganz klar erkennen: Die Tatsache, dass Umwelteinwirkungen das Gehirn verändern können und auch verändern, gilt für ihn als ausreichender Beleg, die Handlungsfreiheit zu verneinen. Insbesondere die Philosophen und Soziologen sehen dies anders. Zwar verwerfen neurowissenschaftliche Vertreter die Annahme eines Gehirns als konstante Größe, doch der Kreis schließt sich mit dieser Schlussfolgerung nicht, zumal Begriffe wie "Handlung" und "Perspektive" in diesem Kontext nicht ausreichend differenzierte Betrachtung genießen. [5]
2.2 Willensfreiheit vs. Determinismus – eine philosophische Annäherung
Der Philosoph Albert NEWEN aus Tübingen präsentierte in seinem Vortrag eine mögliche Antwort auf die Frage, wie selbstbestimmtes Handeln in einer determinierten Welt möglich ist. Er orientierte seine Fragestellung an der Möglichkeit der Vereinbarung von Willensfreiheit und Determinismus, wobei als Determinismus die Annahme gelten soll, dass unter bestimmten Anfangs- und Rahmenbedingungen zu einem Ausgangszustand genau ein Nachfolgezustand möglich ist. Zunächst stellte NEWEN zwei extreme Grundströmungen, den Kompatibilismus und den Inkompatibilismus vor. Während ersterer von einer Vereinbarkeit von Determinismus und freiem Willen ausgeht, insistieren Vertreter des Inkompatibilismus auf der Annahme, der Determinismus sei eine unverrückbare Rahmenbedingung, und infolgedessen der Eindruck eines freien Willens nichts weiter als bloße Illusion. NEWEN selbst spricht für die Kompatibilität von freiem Willen und Determinismus: eine Handlung eines kognitiven Systems sei nämlich genau dann selbstbestimmt, wenn es die handlungsleitenden Vorstellungen in ein Selbstbild integrieren könne, und zwar genau in dem Maße, in dem es Einfluss auf die tatsächlichen handlungsleitenden Vorstellungen nehmen könne, also die Möglichkeit der Handlungskontrolle gewährleistet sei. [6]
Die von Kristina MUSHOLT vertretene These lautete, dass man das eigene Gehirn nicht als Gehirn erkennen könne. Der Grund dafür sei, dass man diesbezüglich unter einer "autoepistemischen Limitation" leide: Niemand hat je die neuronalen Zustände in seinem Gehirn als solche und somit aus der Ersten-Person-Perspektive erfahren. Hier fehlt das Gefühl der Meinigkeit ("mineness"). Stattdessen werden sie immer aus der 3.-Person-Perspektive gedeutet, beispielsweise durch die Interpretation bildgebender Verfahren. Dabei stellte die Referentin die Thesen sowohl von COLIN McGINN, der diese epistemische Limitation beschrieb, als auch von Thomas METZINGER dar, der von einer autoepistemischen Geschlossenheit ausgeht, um schließlich (im Anschluss an Georg NORTHOFF) eine eigene Theorie der "autoepistemischen Limitation" aufzustellen, die sich auf die Organisation der sensorischen Kodierung und neuronalen Prozessierung des Gehirns bzw. auf dessen Design zurückführen lasse. Die relevante epistemische Differenz zwischen physikalischen und mentalen Zuständen besteht hiernach in der Relation zum Selbst: Das so genannte "self-related-processing" ermöglicht die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden sensorischen Stimuli und bildet die Basis für subjektive Erfahrung. [7]
Bettina WALDE stellte sich in ihrem Vortrag "Die kausale Relevanz des Mentalen im menschlichen Tun – Illusion oder Realität?" die Frage, ob der Geist im neuroreduktionistischen Licht zum Epiphänomen verkommt und so lediglich neben neurologisch stattfindenden Prozessen "Pseudo-Entscheidungen" treffen kann, die nach dem reduktionistischen Argumentationsstrang weder Bedeutung für die Entscheidungsfähigkeit noch für die darüber stehende Willensfreiheit implizieren. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, hätten nachhaltige und schwerwiegende Folgen, vom Selbstbild des Menschen bis zu bis dato freiheitlich handelnd gedachten Institutionen wie dem Rechtssystem. Der Untersuchung der beiden Hauptargumente der Kognitions- und Neurowissenschaften – der deterministischen und der epiphänomenalistischen – folgte ein alternativer Vorschlag für das Verständnis der kausalen Rolle des Mentalen. Der Ausgangspunkt ist hierbei eine monistische Theorie mentaler Zustände, wonach geistige Vorgänge und Zustände neuronal realisiert, aber in einem epistemischen Sinne irreduzibel sind. [8]
2.3 Sinnhaft handelndes Subjekt – quo vadis? Positionen der Soziologie
Mit den soziologischen Beiträgen erfährt der "Akteur Gehirn" eine differenzierte Betrachtung des Handlungsbegriffs. Dass das Handeln genauso wenig wie das Gehirn als fixe Größe verstanden werden kann, kam in dieser Debatte bisher zu kurz. Was wird als intentionales Handeln verstanden und welche Dimensionen des Handelns sind zu berücksichtigen? [9]
Peter STEGMAIER verdeutlichte in seinem Beitrag aus wissenssoziologischer Sicht die Bedeutung des Handelns. Für ihn lautet die zentrale Frage: In welchem Verhältnis steht die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie zur Hirnforschung und welche Bedeutung kommt hierbei der Perspektive des Handelns in beiden Fällen zu? STEGMAIER betonte, dass der Vorgang des Handelns in Hirn- und Sozialforschung als Prozessperspektive beide Bereiche einander annähern könnte, da Handlungsabläufe zunächst besser beobachtbar seien als das Bewusstsein oder die Psyche. Bislang würden Körperbewegungen in der naturalistischen Hirnforschung stets ontologisch privilegiert behandelt gegenüber dem Gesamtzusammenhang einer Handlung. Die "neuere Wissenssoziologie" in der Tradition von Peter L. BERGER und Thomas LUCKMANN bietet jedoch eine Herangehensweise, die das Alltagswissen und die "gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit" durch Handeln einschließt. Diese Handlungstheorie enthält die denkende, erkennende und wollende Seite des Menschen ebenso wie die physische. Das Selbst konstituiere sich eben nicht allein über das Bewusstsein, sondern im handelnden Umgang mit der Welt. Statt der Beobachtung von Handlungsverläufen oder begleitenden Hirnaktivitäten sei die Analyse komplexer Funktionalitäten, der Sinnhaftigkeit, sowie der Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Prozessphänomene wesentlich aufschlussreicher. Die Wissenssoziologie solle also die Konfrontation und Kooperation mit der Neurologie suchen, um zu verdeutlichen, dass und wie fruchtbar sie die biologisch-anthropologischen, bewusstseinsphänomenologischen und sozialen Dimensionen bereits jetzt zu vereinen vermag. [10]
Gesa LINDEMANN widmete sich in ihrem Vortrag der "Du-Perspektive" in der Hirnforschung und belegte ihre These, dass die Neurowissenschaften klassisch auf Basis der 3.-Person-Perspektive, die Soziologen jedoch mit der 2.-Person-Perspektive argumentieren. In ihrem Bericht einer ethnographischen Studie zur Gehirnforschung untersuchte sie die praktischen Details der alltäglichen Wissensproduktion im Labor. Hierbei wurde v.a. mit Hinblick auf die Annahme gearbeitet, dass die empirischen Neurowissenschaften nicht nach dem PLESSNERschen Prinzip der "offenen Frage" vorgehen, sondern Perspektivenpluralität und damit notwendigerweise ein "Verstehen" innerhalb der Experimentsituation beinhalten. Anhand eines Projekts mit Makaken, das sich der Methode der invasiven Elektrophysiologie bediente, sollte näher beleuchtet werden, ob die an der Studie Teilnehmenden bzw. Involvierten nicht doch – und falls ja in welche – Verstehensprozesse eingebunden sind. Dabei wurde gezeigt, dass diese Forschung nicht darauf verzichten kann, ihre Probanden zu verstehen. Gesa LINDEMANN schloss mit der These, dass das Gehirn das Mittel sei, welches es erlaubt, elementare Freiheitsspielräume gegenüber der Umwelt zu gewinnen. Folglich wäre es unangemessen, davon zu sprechen, das Gehirn würde entscheiden, denn dadurch würde das Organ der Selbststeuerung mit dem Vollzug der Steuerungsleistung identifiziert. [11]
Werner VOGD, Soziologe an der FU Berlin, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit "Fragen zur Theorie und Empirie zugerechneter Intentionalität". VOGD betonte, dass der klassisch soziologische Handlungsbegriff angesichts der derzeit diskutierten neurowissenschaftlichen Befunde zwar nicht an Bedeutung verliere; seine übliche Koppelung an Subjekt und Subjektphilosophie jedoch zugunsten sozialperspektivischer Zurechnungsprozesse aufgegeben werden müsse. Die im Netzwerk sozialer Interaktionen entstehende Erwartungsstruktur ermögliche bzw. fördere die Rekonstruktion individueller Intentionen, da die an der sozialen Welt Beteiligten die Inferenz
als korrekt betrachten und "post hoc" einer geteilten logischen Klasse zuordnen können. Die ursprüngliche Intentionalität
sei somit im Sozialen lokalisiert. Aus dieser Perspektive sei die Frage belanglos, ob das Bewusstsein dem Handeln nachfolge
oder nicht, vielmehr könne das subjektive Bewusstsein in der Koproduktion zwischen Biologischem und Sozialem aus einer ungewöhnlichen
Perspektive wieder ins Spiel kommen und selbst als keineswegs überflüssiger Faktor an dem sozialen Spiel des Gebens und
Nehmens von Gründen teilhaben. [12]
Martin ENGELBRECHTs Ausgangspunkt war die Feststellung, dass Wissenschaftler bei der Beschreibung von Menschen sich selbst und ihre Tätigkeit stets mit beschreiben. Darüber hinaus nutzen Neurowissenschaftler ein Vokabular und bestimmte Konzepte, an die soziologische und hermeneutische Methoden sinnvoll anschließen können und sollten. Diesem Ansatz (auf den ersten Blick) entgegenstehende Konzepte wurden im Vortrag skizziert und ausgeräumt zu Gunsten einer Neudefinition der Selbsteinordnung als auch der Reichweite einer sinnverstehenden Sozialwissenschaft. U.a. wurde erläutert, dass zwar eine Determination auf Mikroebene vorherrsche, dies jedoch gewisse Freiheitsgrade auf Makroebene nicht verbiete. Diesbezüglich wäre es zwar denkbar, komplexe zwischenmenschliche symbolische Interaktionen auf neuronale Prozesse rückzuführen; einzig sei das Ganze ein sinnloses Unterfangen. In Bezugnahme auf George Herbert MEAD unterstrich ENGELBRECHT die Aktualität einer Verbindung zwischen Naturwissenschaft und sinnverstehenden Methoden. Eine sozialwissenschaftliche Hermeneutik könne sich so als Wissenschaft der "symbolisch vermittelten Anpassungsleistungen" menschlicher Individuen und Gesellschaften verstehen, ohne die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auszuklammern. Darüber hinaus plädierte ENGELBRECHT dafür, auch die vor-, außer- und binnensprachlichen Einflussebenen auf menschliche symbolvermittelte Anpassungsleistungen bei der Selbsteinordnung der sinnverstehenden Soziologie näher in Augenschein zu nehmen. [13]
Rainer SCHÜTZEICHEL beschäftigte sich in seinem Vortrag mit "Emotionen zwischen Amygdala und sozialer Semantik". Die Frage nach der Willensfreiheit hängt direkt mit der Frage nach der Emotionalität menschlichen Denkens und Handelns zusammen. Der Hagener Soziologe stellte zuerst verschiedene Emotionskonzepte vor, ging anschließend auf neurobiologische Forschungsergebnisse ein und diskutierte diese schließlich in ihrer möglichen Bedeutung und Relevanz für die Soziologie. Sein Ergebnis war, dass die Neurowissenschaft eine reduktionistische, non-kognitivistische Emotionstheorie vertritt, die einen methodologischen Solipsismus voraussetzt. Die Soziologie beginnt mit ihren Fragen jedoch da, wo es um soziale Beziehungen geht – nämlich zwischen zwei Gehirnen, zwischen ego und alter ego. So konzipierte er einen komplexen Emotionsbegriff, in welchem neuronale, psychische wie soziale Dimensionen unaufhebbar miteinander verschränkt sind. Abschließend konstatierte SCHÜTZEICHEL, dass Emotionen nicht an der Grenze zwischen sinnhaftem und nicht-sinnhaftem Handeln stehen, sondern sowohl Voraussetzung für, als auch integraler Bestandteil des sinnhaften Handelns selbst sind. [14]
Naziker BAYRAM und Nadia ZABOURA stellten in ihrem Beitrag die Entdeckung der Spiegelneurone Mitte der 1990er Jahre vor und diskutierten deren Konsequenzen für die Geistes- und Sozialwissenschaft. Im Zentrum des Interesses stand die Frage, ob und inwiefern Spiegelneurone im menschlichen Gehirn eine physiologische Grundlage einer vorsprachlichen und für sprachliche Verständigung grundlegenden Intersubjektivität darstellen. Verstehen Menschen einander unbewusst und nicht-intentional auf Basis der vorgedanklichen, vorbewusst ablaufende Simulationen evozierenden Neuronen? Nach Einführung in konträre Paradigmen der Theory of Mind in der Alltagspsychologie in Form der Theory-Theory (Verstehen mentaler Zustände durch Theoretisieren) und der Simulation-Theory (Verstehen durch Nachempfinden, vgl. GALLESE & GOLDMAN 1998) konnten zwei wesentliche Ergebnisse, auch dank der anschließenden Diskussion, markiert werden: Zum ersten wird die Einschätzung der Spiegelneurone bezüglich der Debatte um Intentionalität und Bedeutung dadurch erschwert, dass die Texte der Forscher selbst (vgl. RIZZOLATTI & GALLESE 2001) und die manchmal überspitzten Rezeptionen soweit auseinanderdriften, dass eine einheitliche Aussage über die Bedeutung der Spiegelneurone schwer fällt. Zum zweiten darf die Leistung der Spiegelneurone nicht unter- bzw. überschätzt werden. Diese stellen zwar eine somatische Grundlage für die Simulation einfacher zielgerichteter Handlungen dar, schließen jedoch komplexe Handlungen und übergeordnete, kognitive Prozesse keineswegs aus. Eine umfassende Sicherung der Intersubjektivität durch Spiegelneurone – und damit das Abtreten der Geisteswissenschaften innerhalb der Bedeutungs- und Handlungstheorien – ist zu verneinen. [15]
2.4 Neurowissenschaft und die menschliche Psyche – Einspruch der Psychologie
Günther BITTNER stellte in seinem Vortrag den historischen Zusammenhang zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse dar. In eingehender Beschäftigung mit FREUD – der von Haus aus Neurologe bzw. Neurowissenschaftler war – und seiner Triade des Ich, Es, Überich wurden aktuelle Versuche der Annäherung von Neurowissenschaft und Psychoanalyse erörtert. Weiterhin postuliert BITTNER ein "Ich hinter dem Ich", zu welchem er in Anlehnung an SOLMS das limbische System als neurales Substrat betrachtet, das ein komplexes, nach innen gerichtetes System ermöglicht. Als "Hirnmythologie" bezeichnete er die oftmals in der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung vorherrschende Methode, neuronale mit kognitiven Prozessen gleich zu setzen, anstatt von Korrelationen zu sprechen: Interpretationen führten so zu einer Art "Gehirnhermeneutik", die sich nicht mehr nur auf Fakten beruft, sondern Schlussfolgerungen impliziert. Zu der Frage, ob FREUD Recht damit hatte, psychologische Modelle zunehmend unabhängig von neurowissenschaftlichen Vorgaben zu begründen, ließe sich von Seiten der Neurowissenschaften kein Beitrag zur Entscheidung der Kontroverse liefern, da es sich hier um eine rein innerpsychologische bzw. -psychoanalytische Kontroverse handele. [16]
Simone REINDERS stellte ihre Forschung über die dissoziative Identitätsstörung – Empfinden zweier oder mehrerer distinkter Identitäten innerhalb eines Subjekts – vor. In empirischen Projekten ging sie dem Phänomen multipler Persönlichkeiten und ihren neurologischen Entsprechungen in Form neuronaler Kreisläufe nach. Hierbei wurden die Patienten in jeweils zwei unterschiedlichen Zuständen mit neutralen sowie Trauma-beladenen Erinnerungen konfrontiert, um die physiologischen Reaktionen mit psychobiologischen Parametern wie u.a. kardiovaskulären Erwiderungen und regionalem zerebralen Blutfluss (vermittels PET) zu messen. Besonders interessant in Bezug auf das Thema der Tagung erwies sich, dass die bildgebenden Verfahren in Form der PET-Studien Aufschluss darüber gaben, dass unterschiedliche neuronale Netzwerke mit der Verarbeitung einerseits neutraler, andererseits Trauma-beladener Erinnerungen assoziiert werden können. Die unterschiedlichen Identitäten innerhalb eines Subjektes weisen so unterschiedliche subjektive und kardiovaskuläre Reaktionen sowie differierende zerebrale Aktivationsmuster bezüglich Trauma-beladener Erinnerungen auf. Brisant ist hierbei die offenbare Rückführung unterschiedlicher Identitätsstrukturen auf unterschiedliche neuronale Kreisläufe. [17]
Barbara ZIELKE und Joachim RENN widmeten sich in ihrem Vortrag dem Einzug der Neurobiologie in die psychoanalytische Traumatologie als Symptom der gesellschaftlichen Naturalisierung des Subjektiven. Denn auch in tiefenpsychologisch orientierten Kreisen sei die "Brücke" Neurowissenschaft ein regelrechter Renner geworden. Neue Methoden der Traumabehandlung, wie z.B. Eye Movement Desensitizing and Reprocessing würden bei zahlreichen Psychoanalytikern immer beliebter. Da diese bemüht seien, klassische Methoden psychoanalytischer Therapie mit einer aktualisierten Plausibilität auszustatten, erhalte die Psychoanalyse durch diese neurobiologische Übersetzung einen neuen Charakter. Das Leistungsvermögen solcher neuer, neurobiologisch fundierter Methoden wurde im Rahmen des Vortrages in Frage gestellt. Die tiefenpsychologische Übernahme neurobiologischer Beschreibungen des Traumas schließe an einen nur vermeintlich neuen Stand seriöser Forschung an. Die Reduktion des Zugangs zum Unbewussten auf die neurobiologische Rekonstruktion gestörter Interaktion zwischen Hirnarealen hintergehe das Leistungsvermögen und die Errungenschaften klassischer Psychoanalysemethoden und sei somit wenig fruchtbar. [18]
2.5 Hirnforschung im Lichte der Rezeption – Der Diskurs um den freien Willen im Feuilleton
Nicht weniger interessant als die verschiedenen Errungenschaften und Herausforderungen der einzelnen Disziplinen ist die Betrachtung des Diskurses über die Neurowissenschaften selbst. Ein wissenschaftssoziologischer Vortrag bot den Beteiligten abschließend Anlass, die Dynamik und die Karriere der Hirnforschung von einer Meta-Ebene aus zu reflektieren und als Prozess nachzuzeichnen. [19]
Sabine MAASEN stellte eine Diskursanalyse vor, welche die aktuelle Debatte um den freien Willen im Feuilleton zum Gegenstand hatte. In diesem Diskurs hätten sich als Experten auftretende Neurowissenschaftler zu gesellschaftlich relevanten Themen geäußert – ohne jedoch eine gesellschaftliche Diskussion einzuschließen, und sie hätten damit eine "öffentliche Debatte ohne Öffentlichkeit" geführt. Dabei zeichnete sie die Anfänge der Debatte bis zum heutigen Schlagabtausch von Spezialisten durch Manifeste und weitere öffentlichkeitswirksame Methoden auf, in dem aktuelle Wissens- und Medientrends genutzt werden. Des Weiteren ging MAASEN der Eigenpositionierung der Neurowissenschaften als selbst gekürtem Hauptprotagonisten nach sowie der damit verbundenen Sprachlosigkeit der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften; und sie leitete von dort zur Frage über, was diese spezifische Debatte eigentlich über die Gesellschaft, in der sie geführt werde, aussage. Eine Hauptthese lautete: Es ist weniger die Hirnforschung, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formt – vielmehr ist die Hirnforschung die Wissenschaft eben dieser Gesellschaft: Mit einher gehe die Deliberation um die Soziabilität in der heutigen neoliberalen, neosozialen Gesellschaft. Schlussendlich plädierte sie für eine Teilnahme der Sozial- und Kulturwissenschaften am Diskurs, da nur so eine Mitwirkung an der Sinngebung in der wissensbasierten und medialisierten Gesellschaft stattfinden könne. [20]
Die abschließende Diskussion der Tagung zeigte, dass man trotz unterschiedlicher Ansätze und Ansichten durchaus bereit war, zuzuhören und aufeinander einzugehen. Und oft zeigte sich, dass die Positionen nicht so unvereinbar sind wie angenommen. Unter den anwesenden Soziologen/inn/en bestand Einigkeit darüber, dass mindestens drei Punkte in der zukünftigen Debatte Berücksichtigung finden sollten: (a) die soziologische Relevanz der Ergebnisse der Neurowissenschaften sollte ernsthaft geprüft werden; (b) der Diskurs der Neurowissenschaften und der Diskurs über die Neurowissenschaft sollte auch als soziologisch zu verstehendes/erklärendes Phänomen betrachtet werden; und (c) es sollte ernsthaft geprüft werden, ob und inwieweit die Soziologie professions- und gesellschaftspolitisch durch die Neurowissenschaften herausgefordert ist. Des Weiteren muss sich die Soziologie – wie auch alle weiteren geisteswissenschaftlichen Disziplinen – fragen, ob Konfrontationen mit Erkenntnissen anderer Disziplinen weiterhin durch eine rechtfertigende, klassisch-oppositionelle Argumentation gehandhabt werden sollten, oder ob sie in den eigenen definierten Gegenstandsbereich integriert und fruchtbar gemacht werden können. [21]
Betreffen die Ergebnisse der Gehirnforschung die gesamte Soziologie oder doch vor allem handlungstheoretische, also vor allem die interpretativen Ansätze und solche, die dem "Köper" oder dem "Körperwissen" eine wichtige Rolle einräumen? Zugegeben, die Überzahl der Tagungsteilnehmer mit soziologischem Hintergrund färbte und lenkte die Fokussierung des Themas, sodass die Diskussion insbesondere bei dem Punkt der "Handlungsrepräsentationen" an Komplexität gewinnen konnte. Dies führte jedoch alle Teilnehmer zumindest zu dem Konsens, dass die Begriffe "Handlung", "Akteur", "Sinn", "Emergenz", "Kausalität", "Freiheit" und "Entscheidung" vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neurowissenschaften neu zu diskutieren sind. [22]
1) Die Beiträge der Tagung werden im Sommer 2006 als Sammelband "Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des sinnhaft handelnden und kommunizierenden Subjekts" (herausgegeben von Jo REICHERTZ und Nadia ZABOURA) beim VS-Verlag erscheinen. <zurück>
Gallese, Vittorio & Goldman, Alvin (1998). Mirror neurons and the simulation theory of mind-reading. Trends in Cognitive Sciences, 2(12), 493-501.
Gehirn & Geist (2004). Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung". Gehirn & Geist, 6.
Gehirn & Geist (2005). Jeder muss sein Gehirn selbst in die Hand nehmen. Streitgespräch zwischen Henning Scheich und Ansgar Beckermann. Gehirn & Geist, 3.
Markowitsch, Hans (2004). Warum wir keinen freien Willen haben – der sogenannte freie Wille aus Sicht der Hirnforschung. Psychologische Rundschau, 55(4), 163-168.
Prinz, Wolfgang (2004). Kritik des freien Willens: Bemerkungen über eine soziale Institution. Psychologische Rundschau, 55(4), 198-206.
Rizzolatti, Giacomo; Fogassi, Leonardo & Gallese, Vittorio (2001). Neurophysiological mechanisms underlying the understanding an imitation of action. Nature Reviews – Neuroscience. Macmillan Magazines, 2, 661-670.
Schroer, Markus (Hrsg.) (2005). Soziologie des Körpers. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Zu den Autorinnen und dem Autor
Naziker BAYRAM, Jahrgang 1978, Studium der Kommunikationswissenschaft und Sozialwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen; Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Corporate Identity – Corporate Science?" Eine Analyse webbasierter Selbstdarstellung von Hochschulen (Leitung: Jo REICHERTZ). Interessen- und Studienschwerpunkte sind insbesondere Organisationssoziologie, Erkenntnistheorie und Methoden der qualitativen Sozialforschung.
Jo REICHERTZ, Jahrgang 1949, Studium der Germanistik, Mathematik, Soziologie und Kommunikationswissenschaft. Promotion zur Entwicklung der "Objektiven Hermeneutik", Habilitation mit einer soziologischen Feldstudie zur Arbeit der Kriminalpolizei; seit 1993 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen – zuständig für die Bereiche "Strategische Kommunikation", "Qualitative Methoden", "Kommunikation in Institutionen", und "Neue Medien". Arbeitsschwerpunkte: qualitative Sozialforschung, wissenssoziologische Text- und Bildhermeneutik, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Medienanalyse, Mediennutzung, empirische Polizeiforschung, Werbe- und Unternehmenskommunikation.
Nadia ZABOURA, Jahrgang 1979, Studium der Kommunikationswissenschaft und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen; Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Corporate Identity – Corporate Science?" Eine Analyse webbasierter Selbstdarstellung von Hochschulen (Leitung: Jo REICHERTZ). Interessen- und Studienschwerpunkte sind insbesondere interdisziplinäre Forschung im Schnittfeld Sozial- und Neurowissenschaften, Epistemologie und Kulturtheorie.
Kontakt:
Universität Essen
FB 1 – Kommunikationswissenschaft
D – 45117 Essen
Tel.: +49 / 0201 / 183 – 2810 oder 2221
Fax: +49 / 0201 / 183 – 2808
E-Mail: Naziker.Bayram@uni-duisburg-essen.de, Jo.Reichertz@uni-essen.de, Nadia.Zaboura@uni-duisburg-essen.de
URL: http://www.uni-essen.de/kowi/reichertz/
Bayram, Naziker; Reichertz, Jo & Zaboura, Nadia (2006). Tagungsbericht: Akteur Gehirn – oder das vermeintliche Ende des sinnhaft handelnden und kommunizierenden Subjekts [22 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(3), Art. 24, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0603241.