Volume 12, No. 1, Art. 19 – Januar 2011
Rezension:
Gernot Hahn
Michael B. Buchholz, Franziska Lamott & Kathrin Mörtl (2008). Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern. Gießen: Psychosozial-Verlag; 525 Seiten; ISBN: 978-3-89806-881-9; 49,90€
Zusammenfassung: Den AutorInnen des umfangreichen Bandes geht es grundsätzlich um die Versachlichung des Phänomens Sexualdelinquenz. Ihr Beitrag dazu bezieht sich auf die Analyse von Therapiematerial, das mit modernen sozialwissenschaftlichen und psychologischen Methoden ausgewertet wurde. Das Forschungsmaterial, videografierte Gruppentherapiesitzungen, wurde transkribiert und in einer innovativen Kombination von Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse vor dem Hintergrund eines psychoanalytischen Grundverständnisses analysiert. Den LeserInnen ergibt sich so ein äußerst tiefer Einblick in die biografischen Muster, Probleme, die Einsichten, aber auch das Leugnungsverhalten und die Entwicklungsschritte von paraphilen Sexualstraftätern im therapeutischen Kontext. Die AutorInnen, die teilweise selbst in Einrichtungen der Täterbehandlung arbeiten, legen die im deutschsprachigen Raum bislang umfangreichste qualitative Forschung zur Gruppentherapie von Sexualstraftätern vor und beschreiben, was in solchen therapeutischen Prozessen geschieht.
Keywords: Sexualdelinquenz; Gruppentherapie; Therapieverlaufsforschung; Narrationsanalyse; Konversationsanalyse; Metaphernanalyse
Inhaltsverzeichnis
1. Text und Kontext
2. Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse (KANAMA)
3. Der therapeutische Kontext in der Darstellung
3.1 Einstieg
3.2 Abwehrformen in der Gruppe
3.3 Mikrostrukturen der Konversation
3.4 Die Rolle der Metapher in der Konversation
3.5 Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen
4. Diskussion/Fazit:
Nach Geleitworten von Friedemann PFÄFFLIN und Stephan WOLFF und einem Vorwort des AutorInnentrios beschreiben diese zunächst das Forschungsfeld und die mit der vorliegenden Arbeit verfolgten Ziele. Das psychoanalytische Paradigma der beforschten Gruppentherapiesitzungen fokussiert neben der Benennung biografischer Muster und entwicklungspsychologischer Modelle stark auf die intersubjektive Ebene der hier behandelten – ausschließlich männlichen – Patienten, welche als Sexualstraftäter zur Therapie zugewiesen wurden. Vor allem der Zusammenhang zwischen Interaktion und Kognition tritt dabei in den Mittelpunkt: Wie konstruieren Sexualstraftäter ihre Vorstellung der eigenen Delinquenz bzw. wie versuchen sie diese zu verleugnen: "Die ... Straftäter machen in vielfältiger Weise von jenen Möglichkeiten der sozialen Verstellung und der Lüge, der Verharmlosung [...] der Schuldverleugnung und Verschiebung Gebrauch, wie man dies auch alltäglich beobachten kann" (BUCHHOLZ, LAMOTT & MÖRTL, S.29). Täter bezögen diese Strategien jedoch in einem besonders starken Ausmaß auf Verantwortung, Schuld und Tat, sodass dies erhebliche Folgen für ihre gesamten sozialen Beziehungen und für ihre Selbstkonstitution hat. Grundsätzlich unterschieden sie sich in ihren Strategien aber nicht von Anderen, wodurch überhaupt die Basis geschaffen werde, dass Deliktverhalten und der Umgang damit nachvollziehbar und verstehbar werden könne. [1]
Nach dieser Verortung des Forschungsgegenstandes erfolgt zunächst die Rezeption der vorliegenden forensischen Literatur und die Benennung zentraler forensischer Begrifflichkeiten in den Bereichen Diagnostik und Ätiologie. Überblicksartig werden die diagnostischen Leitlinien zu abweichendem Sexualverhalten aus den Diagnose- und Klassifikationsmanualen und die dahinter stehenden Auffassungen und Konzepte ("Sexualpräferenz", "Perversion", "Paraphilie") vorgestellt und diskutiert. Im folgenden Unterkapitel beschreiben BUCHHOLZ et al. ihr Forschungsmaterial: 90 eineinhalbstündige videografierte Therapiesitzungen mit insgesamt 16 Männern, welche im Kontext einer sozialtherapeutischen Anstalt wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen und Mädchen bzw. wegen Exhibitionismus behandelt wurden. Nach einer Voranalyse wurden schließlich 21 Videos, in denen die Teilnehmer über ihren biografischen Hintergrund und über ihre Taten berichteten, für die Transkription ausgewählt. Damit stand für jeden Gruppenteilnehmer ein vollständiges, während der komplett transkribierten Gruppensitzung formuliertes Tat-Narrativ zur Verfügung. In zwei weiteren Unterkapiteln gehen die AutorInnen auf den sozialen Kontext der untersuchten Therapiesitzungen ein: Die Sozialtherapeutische Anstalt stelle als Sonderform des Strafvollzugs einen Zwangsrahmen dar, der einerseits spezifische Probleme (Widerspruch von Hilfe und Kontrolle, Behandlungsmotivation der Patienten und Erwartungshaltung der Institution etc.) generiere, andererseits zur Bühne der Motivfindung, also der Benennung der Gründe, warum es zu Sexualstraftaten gekommen ist, werden solle. Dies gelinge u.a. durch eine weitere spezielle soziale Konstruktion, in der "Strafgefangene" zu "Patienten" werden. Durch diese Konstruktion wende sich der Blick von vermutetem Monströsen im Täter hin zu dessen Symptomatik, die sich in seiner Delinquenz ausdrücke. Damit erfolge im therapeutischen Kontext die Frage nach dem "Sinn der Straftaten", wodurch die verschütteten Motive und auch die Beschädigung der Täter selbst, das "klägliche" Bild ihrer Sexualität, benennbar und bearbeitbar würden. [2]
2. Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse (KANAMA)
Im folgenden Kapitel stellen die AutorInnen ihre Forschungsstrategien und -methoden ausführlich vor. Das von ihnen eingeführte Kürzel "KANAMA" meint die Kombination der Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse, wobei besonders auf die Art und Weise der Schilderungen der Täter fokussiert wird. Die Inhalte der einzelnen Therapiesitzungen werden durch die "Einbettung realbiografischer Tatsachen in konversationelle Darstellungsmittel durch die Mitglieder" (BUCHHOLZ et al., S.66) bedeutsam. Diese Gegenstandsbestimmung, "was wird wie erzählt", lege eine qualitative Forschungsstrategie nahe. Hier zeigt sich für die AutorInnen auch eine konzeptuelle Nähe zwischen psychoanalytischer Herangehensweise und qualitativer Forschungsmethodik: "Was in Gesprächen [...] zwischen Gesprächspartnern geschieht, kann nicht in groben Zuordnungen quantitativ erfasst werden" (S.70). In drei Unterkapiteln werden dann ausführlich auf über 80 Seiten die Grundlagen der Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse beschrieben und dabei umfassende Hinweise zur vorliegenden wissenschaftlichen Literatur, vorwiegend der Psychotherapieprozessforschung und der Säuglingsforschung, gegeben. Grundsätzliche methodische Vorgehensweisen werden erläutert und anhand von Fallbeispielen aus der wissenschaftlichen Literatur in ihrer praktischen Anwendung vorgestellt. Die Kombination der drei Analyseebenen Konversation, Narration und Metapher verstehen die AutorInnen als angemessen differenzierte Herangehensweise, um die komplexen Vorgänge in Therapiesitzungen erfassen und auswerten zu können. Die verwendeten Metaphern der Teilnehmer erlauben z.B., so BUCHHOLZ et al., Rückschlüsse auf die impliziten Deutungsmuster der Beteiligten. Die Art und Weise, wie diese Metaphern im Gruppenkontext, also auf der sozialen Ebene verhandelt werden, mache die Auseinandersetzung der einzelnen Akteure und der Gruppe als Ganzes für Außenstehende einschätzbar. Die Fokussierung auf den Erzählstrang und -kontext der einzelnen Schilderungen erlaube schließlich die Zusammenschau unterschiedlicher psychischer und kognitiver Erfahrungsebenen aufseiten der Erzählenden und mache z.B. kognitive Verzerrungen sichtbar. Hier erfolgt auch eine erste Verknüpfung mit dem Datenmaterial, indem Therapietranskripte aus dem Forschungsmaterial zur Illustration der unterschiedlichen Forschungsmethoden herangezogen werden. Abschließend erfolgt die Darstellung der Computersoftware ATLAS.ti, die für die Textanalyse verwendet wurde. [3]
3. Der therapeutische Kontext in der Darstellung
Im dritten Kapitel wenden sich die AutorInnen den Transkripten der gruppentherapeutischen Sitzungen zu. In mehreren Unterkapiteln werden unterschiedliche Gruppenphasen mit ihren je charakteristischen gruppendynamischen Aspekten vorgestellt. Aspekte der Rangordnung in der Gruppe, der Kampf um das Rederecht, die Installation von Konversationsmustern und die Reaktion der Gruppe bzw. einzelner Teilnehmer auf therapeutische Interventionen werden deutlich. In mehreren Textpassagen fällt auf, welche Probleme die Teilnehmer bei der Benennung biografischer Rahmendaten, des Delikts und der eigenen Befindlichkeit haben bzw. welche Abwehrstrategien sie entwickeln, um nicht zu stark konfrontiert zu werden. Die AutorInnen benennen diese Strategie der Teilnehmer als "Dritte Option", als eine Form des "devianten Konformismus" in der Konversation, wodurch Täter erreichen wollen, als "Person nicht sichtbar zu werden" (BUCHHOLZ et al., S.171), nicht eindeutig zu sein. Das Kommunikationsverhalten der Teilnehmer sei hier stark durch die Redeform des Berichts gekennzeichnet, wodurch die Distanzierung von Belastendem erreicht werde. Die in der Therapie verfolgte Kommunikationsform des Erzählens, mit der eine tiefere Verknüpfung von Kognition und Affekt verbunden sei, habe in den ersten Therapiephasen erst erarbeitet werden müssen, sei aber zunächst durch unterschiedliche "Abwehroperationen" verhindert worden. [4]
3.2 Abwehrformen in der Gruppe
Als zentrale Abwehrform beschreiben BUCHHOLZ et al. die "Zählt-als-Umwandlung" (S.175), eine spezifische kognitive Kategorienbildung, die dem Betroffenen ermögliche, Motivhintergründe des eigenen Verhaltens gleichzeitig darzustellen und ein Stück weit ertragbar zu machen, auch zu rechtfertigen. Mit ausführlichen Hinweisen auf die vorliegende Literatur (z.B. SEARLE 1997; ROSENHAN 1973) zu diesem Phänomen wird beschrieben, wie komplexe und belastende Situationen so ertragbar werden. Als Prototyp dafür stellen die AutorInnen Tom Sawyer, eine Romanfigur des US-amerikanischen Schriftstellers Mark TWAIN, vor, der als Bestrafung für ein Fehlverhalten eine unliebsame Tätigkeit ausführen muss, es aber schafft, vorbeikommenden Freunden zu vermitteln, diese seine Tätigkeit als Vergnügen auffassen. Im Kontext der Sexualdelinquenz zählen hierzu, so BUCHHOLZ et al., die Selbstkategorisierungen der Täter und ihrer Verhaltensweisen als "sexuelles Fehlverhalten" oder "Sexualstraftäter". Dies geschehe, so zeige die Analyse des Datenmaterials, auf Grundlage umfangreicher sozialer Kompetenzen, die als "soziale Scaning-Fähigkeiten" (S.187) bezeichnet werden: Die Teilnehmer sind zu erheblichen empathischen Leistungen in der Lage und können problemlos die Intentionen ihres Gegenübers, auch die der TherapeutInnen, ableiten. Zeitgleich erfolge die Selbstkonstruktion des Täters als "Gutachter" für die eigene Abweichung und die Abweichung der anderen Teilnehmer. Die so konstruierte Rolle als Co-Therapeut und Spezialist führt, und das wird im präsentierten Transkriptmaterial deutlich, zu Distanzierung und Entaktualisierung. Ein weiterer Schwerpunkt der Analyse bezieht sich auf die Kommunikation der Teilnehmer zum Komplex des Tatmotivs. Die Teilnehmer pendeln hier zunächst zwischen Bagatellisierung und Schuldeingeständnis, ein Phänomen, das DEEGENER (1995) bereits unter dem Begriff der "Verantwortungsabwehrstrategien" beschrieben hat. Unterschiedliche Abstufungen einer allmählichen Schuldanerkennung (und damit verbunden: Verantwortungsübernahme) werden in weiteren Unterkapiteln zur "Szenischen Umkehrung", "Passivierung" und "Entsubjektivierung" dargestellt. Die Täter versuchten hier, quasi bewusste Tatmotive zu leugnen bzw. umzudeuten. Derartige Umkehrungen seien die Darstellung des Täters als Opfer, die Darstellung des Opfers als Verfolger und die Konstruktion des Opfers als Komplize. Das AutorInnentrio belegt diese unterschiedlichen Entlastungsversuche der Gruppenteilnehmer durch zahlreiche Transkriptstellen und geht dabei oftmals in konversationsanalytische Details. So wird z.B. die Bedeutung des Wortes "halt" ("Dann habe ich halt gefragt ob die [...] schon Haare hat an der Muschi" (BUCHOLZ et al., S.267) in der Darstellung bei Tätern oder die Verwendung von Zitatformen in der Schilderung von Tatabläufen dargestellt und deren Funktion als Mittel zur Abschwächung und Bagatellisierung bzw. als Mittel zu Erhöhung der Glaubhaftigkeit beschrieben. Die erhobenen Befunde zur "szenischen Umkehrung" werden abschließend unter der Überschrift "Eine Liebe, die schadet" zusammengefasst, sodass die Vielzahl an Einzelanalysen und sehr genauen Diskursbeschreibungen eine orientierende Zuordnung zum Phänomen Missbrauch und seiner schädlichen Auswirkungen erfährt. [5]
3.3 Mikrostrukturen der Konversation
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich zunächst mit den "Glaubhaftigkeitskonstruktionen" der Gruppenteilnehmer. In zahlreichen Beispielen wird belegt, dass gegenseitiges Misstrauen in der Gruppe vorliegt. Glaubhaftigkeitszweifel beziehen sich dabei auf Motive oder Fantasien, die von einzelnen Teilnehmern geäußert werden; Annäherungen an den Wahrheitsgehalt haben auch vereinzelt die Funktion, selbst pädophile Fantasien in der Gruppe zu erregen. Der Anpassung an die TherapeutInnensprache widmen die AutorInnen ein eigenes Unterkapitel. Dieses Phänomen findet hier zunächst die Deutung der Unterordnung der Teilnehmer unter die Deutungsmacht der TherapeutInnen, ein Schritt von der Wahrnehmung konkreter Tatschritte durch die Täter hin zur Anerkennung und Bewältigung von Schuld. Ein weiteres Unterkapitel beschäftigt sich mit der Analyse der Identifikationen der Teilnehmer. Diese können auf den Täter oder auf das Opfer bezogen sein. Die gegenseitige Spiegelung von Täteranteilen und die Identifikation mit dem Opfer als Baustein der Entwicklung von Opferempathie werden hier gut sichtbar. [6]
3.4 Die Rolle der Metapher in der Konversation
Im sechsten Kapitel erfolgt die Darstellung unterschiedlicher Metaphern, welche die Teilnehmer der Gruppentherapie verwenden. Metaphern bieten unterschiedliche Deutungshintergründe, Erklärungs- und Sinnzusammenhänge. In der Vielgestaltigkeit der Gruppendiskussion können diese "passende und nicht-passende Metaphern" (S.362) sein. Ein eigenes Unterkapitel thematisiert die "Metaphorische Biografiekonstruktion" (S.372). Die Teilnehmer suchen hier nach Erklärungsansätzen für ihre Straftaten, versuchen diese in biografischen Wurzeln zu verorten. Als – biografischen – Begründungszusammenhang benennen die AutorInnen vier typische Erzählformate, typische Tatnarrative, die je spezifische Erklärungen für abweichendes Verhalten aufweisen: "1. die Krankengeschichte, 2. der Entwicklungsroman, 3. die Vita Sexualis und 4. das Familiendrama" (S.389). Als Motive tauchen Medienkonsum, Geschlechterverhältnisse in Gesellschaft und Familie, diskontinuierliche Entwicklungsprozesse etc. auf. [7]
3.5 Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen
Das abschließende siebte Kapitel ist mit der Konstruktion des männlichen Selbstbilds von Sexualstraftätern und den darauf bezogenen Weiblichkeitsbildern befasst. Die Gruppenteilnehmer verwenden teilweise tradierte Männlichkeitskonstruktionen, die an Eigenschaften wie Stärke und Überlegenheit orientiert sind, aber auch "weichere" Anteile, welche eher mit "Weiblichkeit" in Verbindung gebracht werden. Dies habe in der Gruppendynamik jedoch mitunter zu Hierarchisierungsprozessen geführt: Einzelne Teilnehmer hätten eine Führungsrolle übernommen, während sich Andere untergeordnet hätten. Aus den Erzählungen der Täter lassen sich den AutorInnen zufolge verschiedene Formen beschädigter Männlichkeit analysieren. Diese kreisten um Aspekte männlicher Dominanz, den sexuell-aggressiven Mann, den verführten Mann bis zur mütterlich-weiblichen Dominanz der Frau, Schamgefühlen und Potenzversagensängsten der Teilnehmer. Die AutorInnen belegen, dass je spezifische Männlichkeitskonstruktionen in der Folge eine besondere Wahrnehmung anderer Menschen und ein spezifisches Sozialverhalten bedingen; z.B. wird anhand einer Interviewpassage die Verknüpfung des "Selbstbezogenen, sexuell-aggressiven Mannes" (S.451) mit der Konstruktion der Partnerin als "naive Ehefrau", deren Funktion als "Selbstobjekt" und die Zuordnung von Kindern als "beliebige Sexualobjekte" beschrieben. Ein weiteres ausführliches Beispiel belegt einen anderen Tätertypus: Beim "impotenten Mann" (S.461) stehe die Kränkung und Versagungserfahrung im Mittelpunkt des Selbstkonzepts. Die Konstruktion der Partnerin als "verständnisvolle, unterstützende Ehefrau" oder "zurückweisende, kastrierende Frau" bedinge in dieser Konstellation die Wahrnehmung eigener oder fremder Kinder als PartnerInersatz. Die so entstehenden Delikthypothesen müssen, so BUCHHOLZ et al., als wesentlicher Beitrag zur Bewältigung der eigenen Täteranteile, als zentrale Ressource und Protektivfaktor im Kontext der Rückfallprävention (HAHN 2007) aufgefasst werden. [8]
Abschließend erfolgt der "Rückblick auf eine lange Strecke": Die AutorInnen fassen die Tendenz der Forschungsergebnisse noch einmal zusammen. Ein erstes Ergebnis ist für sie, dass
"diese Männer ... keine Monster, getrieben von unbeherrschbaren pervertierten Neigungen [sind], sie sind keine Hannibal Lecters1), die sich um ihre Opfer nicht scheren und deren Weg mit Sex-Leichen gepflastert sind. Ganz im Gegenteil, ihre Sexualität ist eher zaghaft, wenig freudig und lustvoll, eher verklemmt als enthemmt, wenn sie versuchen ihren Mann zu stehen" (BUCHHOLZ et al., S.489). [9]
Der Band endet mit einer Literaturliste der verwendeten, umfangreichen Textstellen und Kurzbiografien der einzelnen Gruppenteilnehmer. [10]
Der Hauptverdienst der vorliegenden Studie ist die Versachlichung der Thematik "Sexualdelinquenz" durch Analyse der Interaktionsprozesse in Gruppentherapien für Sexualstraftäter und einen umfassenden, sehr seriösen, unaufgeregten Einblick in das Thema. Wer sich auf die logische Verknüpfung von Biografie-Schädigung-Tat einlässt, wird Hinweise auf die Verwobenheit individueller Erfahrungshintergründe, emotionaler Verarbeitung und Delinquenzentstehung erhalten. Selten wurden therapeutische Prozesse aus der Sexualstraftätertherapie derart umfassend untersucht und dargestellt. Die AutorInnen versuchen nicht, Hinweise auf Veränderungsprozesse und Zielsetzungen in Tätertherapien aufzuspüren, sondern konzentrieren sich weitgehend auf die Vorstellungswelt und die Bewältigungsprozesse der beobachteten Täter in konkreten Gruppentherapiesitzungen. So werden zwar keine Wirkeffekte in stationären Tätertherapien benannt (das bleibt der üblichen Therapie-Outcome-Forschung überlassen), sondern vielmehr zentrale Aspekte wie die Wirkung des therapeutischen Kontexts, Abwehrformen, die Struktur der Konversation als Ebene der kognitiven Umstrukturierung und Reifung oder die Beschaffenheit komplexer Gruppenstrukturen beschrieben. [11]
Durch die Fokussierung der Forschungsgruppe auf das psychoanalytische Paradigma geraten die in Tätertherapien sonst üblichen Behandlungsstrategien, stark strukturierte, multimodale, kognitiv-behavioral ausgerichtete Behandlungsansätze, in den Hintergrund. Es ist gerade die Stärke der vorliegenden Forschungsarbeit, nicht mit einem weiteren Beweis(versuch) für derartige Therapieformen anzutreten, sondern stärker die in Entwicklung begriffenen Selbstdeutungsmuster der betroffenen Männer, deren sich ändernde Selbstkonstruktion als Täter, aufzuzeigen. Dadurch wird das implizite Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit deutlich: die Wahrnehmung der verurteilten Männer nicht als Straftäter, sondern als Patienten. [12]
Durch die gründliche Vorstellung der Forschungsstrategie und der Forschungsmethoden erreichen die AutorInnen eine hohe Transparenz und Verständlichkeit in Bezug auf ihr Forschungsvorgehen. Davon profitieren mit der Thematik befasste PraktikerInnen und EinsteigerInnen, die sich erstmals mit dem Phänomen Sexualdelinquenz und seiner Behandlung befassen. Als einzige Einschränkung ist hier anzuführen, dass möglicherweise durch die Fokussierung auf Therapieprozesse aus einer einzigen Behandlungseinrichtung eine Schwerpunktsetzung auf dort übliche Strategien, Auffassungen und Vorlieben erfolgt sein könnte. Die gründliche Darstellung der methodologischen Grundlagen der vorliegenden Forschungsarbeit und der sorgsame Umgang mit dem umfangreichen Forschungsmaterial, auch die wiederholte Zusammenführung einzelner Analysestränge zu Ergebnisdarstellungen, rücken das Buch fast in die Kategorie eines Lehr- und Arbeitsbuches. Entsprechend sollte die Publikation als Pflichtlektüre in der Ausbildung von TätertherapeutInnen und in Ausbildungskontexten zur qualitativen Sozialforschung verwendet werden. [13]
1) Romanfigur von Thomas HARRIS, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Hannibal_Lecter. <zurück>
Deegener, Günter (1995). Sexueller Missbrauch: Die Täter. Weinheim: Beltz.
Hahn, Gernot. (2007). Rückfallfreie Sexualstraftäter. Salutogenetische Faktoren bei ehemals im Maßregelvollzug behandelten Patienten. Bonn: Psychiatrie Verlag.
Searl, John (1997). Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Reinbek: Rowohlt
Rosenhan, David (1973). On being sane in insane places. Science, 179, 250-258
Dr. phil. Gernot HAHN leitet die Forensische Ambulanz im Klinikum am Europakanal Erlangen. Forschungs- und Interessengebiete: Struktur und Bedeutung protektiver Faktoren in der TäterInnenbehandlung und in der Kriminalprognostik, Versorgungsstrukturen in der ambulanten Behandlung von StraftäterInnen. Lehrtätigkeit in der Aus- und Weiterbildung von SozialarbeiterInnen. Umfangreiche Publikationstätigkeit, zuletzt: Hahn, G. & Stiels-Glenn, M. (2010). Ambulante Täterarbeit. Intervention, Risikokontrolle und Prävention. Bonn: Psychiatrie Verlag; Gahleitner, S.B. & Hahn, G. (Hrsg.) (2010). Klinische Sozialarbeit – Gefährdete Kindheit. Risiko, Resilienz und Hilfen. Beiträge zur psychosozialen Praxis und Forschung 3. Bonn: Psychiatrie Verlag.
Kontakt:
Dr. Gernot Hahn
Klinikum am Europakanal Erlangen
Klinik für Forensische Psychiatrie
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Tel.: 09131/7532646
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Hahn, Gernot (2010). Rezension: Michael B. Buchholz, Franziska Lamott & Kathrin Mörtl (2008). Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(1), Art. 19, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1101199.