Volume 12, No. 1, Art. 26 – Januar 2011
Rezension:
Christian Schmidt-Wellenburg
Rainer Diaz-Bone & Gertraude Krell (Hrsg.) (2009). Diskurs und Ökonomie. Diskursanalytische Perspektiven auf Märkte und Organisationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 339 Seiten; ISBN 978-3-531-156622-4; 49,90€
Zusammenfassung: Der von Rainer DIAZ-BONE und Gertraude KRELL herausgegebene Band "Diskurs und Ökonomie" bietet Lesenden einen umfassenden Einblick in das breite Spektrum diskursanalytischer Perspektiven auf Märkte und Organisationen, das in den vergangenen Jahren zwischen Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Organisationsforschung entstanden ist. Die versammelten Beiträge teilen die Grundannahme, dass die Ökonomie genuin diskursiv und die Erforschung der diskursiven Dimension wirtschaftlicher Phänomene deshalb zum Kerngeschäft der Wirtschaftsforschung zu zählen ist. Der Grundlegung eines solchen "starken" Forschungsprogramms sind neben der Einleitung die theoretischen Texte des ersten Teils gewidmet. Im zweiten Teil versammeln DIAZ-BONE und KRELL exemplarische Anwendungen, die zeigen, welche Einsichten in das Wirtschaften und welchen Reflexionsgewinn für die Wirtschaftsforschung Diskursanalysen bereithalten. Da alle Autor/innen darauf achten, neben den Forschungsergebnissen immer auch die Logik und den praktischen Ablauf des Forschungsprozesses darzustellen, eröffnet die Lektüre vielfältige Anschlussmöglichkeiten für die eigene Forschungspraxis. Die Beiträge des Bandes skizzieren den transdisziplinären Ort im deutschsprachigen Wissenschaftsraum, von dem aus sich das Sprechen und Denken in und über Ökonomien erforschen lässt, stellen verschiedene geeignete Methoden vor und zeigen die methodologischen Konsequenzen ihres Einsatzes im Forschungsprozess auf.
Keywords: Wirtschaft; Diskurstheorie; Diskursanalyse; Methodologie; Rhetorik; Institutionen; Organisationstheorie; Linguistik
Inhaltsverzeichnis
1. Diskurs und Ökonomie: Orte der Analyse
2. Grundlagen: "Tiefenbohrungen" diskursanalytischer Perspektiven
3. Anwendungen: Diskurse in der und über die Wirtschaft
4. Diskurse und Ökonomien: der Ort ihrer Analyse
1. Diskurs und Ökonomie: Orte der Analyse
In den letzten Jahren ist die Diskursforschung mehr und mehr zu einem Teil des theoretischen und analytischen Repertoires der meisten Sozialwissenschaften geworden, sodass vielfach von einem discursive oder linguistic turn die Rede ist (BÜHRMANN et al. 2007; RECKWITZ 2000; SIEBEN in dem besprochenen Band). Diese im Grundsatz richtige Diagnose darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bedeutung, die der Diskursforschung zukommt, von Disziplin zu Disziplin stark variiert. Während in der Soziologie (DIJK 2007; KELLER, HIRSELAND, SCHNEIDER & VIEHÖVER 2001, 2003) und der Politikwissenschaft (ABDELAL, BLYTH & PARSONS 2010; JESSOP & OOSTERLYNCK 2008; NONHOFF 2006; SCHMIDT 2010) mit Recht davon gesprochen werden kann, dass Diskursforschung zu einem etablierten Forschungsprogramm geworden ist, scheint die Ökonomie und besonders die deutsche Volks- und Betriebswirtschaftslehre gegen die Versuchungen eines discursive turn weitgehend resistent zu sein. Der Ort für eine dezidiert wirtschaftswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diskurstheoretischen Ideen und Konzepten, wie er in Frankreich bspw. mit der Gruppe Economie des conventions (DIAZ-BONE & THÉVENOT 2010; EYMARD-DUVERNAY 2010), in Großbritannien mit den Critical Management Studies (GRANT, HARDY, OSWICK & PUTMAN 2004; GRANT, IEDEMA & OSWICK 2009; KNIGHTS 2009) sowie auf europäischer Ebene mit den Organization Studies (GRANT & HARDY 2004) gegeben ist, scheint hier zu fehlen. Diese Tatsache stellt den von Rainer DIAZ-BONE und Gertraut KRELL vorgelegten Sammelband "Diskurs und Ökonomie" vor die schwere Aufgabe, nicht nur verschiedene diskursanalytische Perspektiven auf Märkte und Organisationen vorzustellen, sondern auch den Ort im deutschen Wissenschaftsraum mit schaffen zu müssen, an dem eine transdisziplinäre diskurstheoretische Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften möglich ist. Dabei gehen die Herausgebenden in drei Schritten vor. Erstens postulieren DIAZ-BONE und KRELL, dass die Ökonomie genuin diskursiv ist: "Ohne diskursive Praktiken und ohne diskursive Konstruktionen kann es weder die Ökonomie als Wirtschaftswissenschaft(en) noch die Ökonomie als Wirtschaft geben" (S.9). Die Erforschung der diskursiven Dimension wirtschaftlicher Phänomene dürfe deshalb kein disziplinäres Randphänomen sein, sondern müsse Teil des wirtschaftswissenschaftlichen Kerngeschäfts werden. Dieses Ansinnen ist ein Vorstoß gegen den herrschenden Konsens, der allerdings nur Chancen hat, wenn er im Feld der Wirtschaftswissenschaften selbst auf ausreichend Resonanz stößt und das Versprechen eines Reflexionsgewinns gegenüber einem naiven Realismus zumindest zum Teil einlösen kann. Zweitens liegt DIAZ-BONEs und KRELLs Sammelband ein breites Verständnis von Diskurs zugrunde, was schon in der Einleitung zu einer ausführlichen Darstellung der Vielfalt diskurstheoretischer Perspektiven auf wirtschaftliche Phänomene führt. Die Herausgebenden werden so den verschiedenen theoretischen Konzepten gerecht, eröffnen diverse Anschlussmöglichkeiten, indem sie eine Verengung durch den Bezug auf einzelne Säulenheilige der Diskursforschung vermeiden, und erhöhen damit die Chancen auf eine breite Resonanz auch jenseits der Wirtschaftswissenschaften und im internationalen Kontext. Der erste Teil des Sammelbandes folgt diesem Impetus und umfasst fünf "Tiefenbohrungen", die sich mit ausgewählten prominenten Konzepten auseinandersetzen und einen guten Einblick in die Grundlagen des Forschungsprogramms geben. Drittens zeigen DIAZ-BONE und KRELL anhand der im zweiten Teil des Buches versammelten exemplarischen Anwendungen, welche Einsichten in die Wirtschaft die Diskursanalyse zu vermitteln und welchen Reflexionsgewinn für die Wirtschaftswissenschaften sie zu bringen vermag. Nach der Lektüre der Beiträge ist klar: Wird die diskursive Dimension der Ökonomie ausgeblendet, wird auf wichtige Faktoren für ihr Verständnis verzichtet. [1]
2. Grundlagen: "Tiefenbohrungen" diskursanalytischer Perspektiven
Den Auftakt macht Barbara SIEBEN mit einem Beitrag zur Managementforschung nach dem linguistic turn, der von der WITTGENSTEINschen Philosophie des Sprachspiels, der neuen Rhetorik von PERELMAN und OLBRECHTS-TYTECA sowie FOUCAULTs Archäologie und Genealogie inspiriert ist und sich der Untersuchung der Produktion, Verbreitung und Verwendung von Managementwissen in inner- und transorganisationellen Kontexten widmet. Anhand exemplarischer Untersuchungen zeigt SIEBEN auf, dass Organisationen in der sprachlichen und wissenschaftlichen Praxis konstruiert werden, sich als strukturierte Praktiken rekonstruieren und sprachkritisch analysiert werden können. Die gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen laut SIEBEN einen gezielten Eingriff "in die Dynamiken der Produktion, Verbreitung und Verwendung von Managementwissen" (S.58), was den Praxisbezug dieser Form von Diskursforschung unterstreicht. [2]
Auch Barbara CZARNIAWSKA widmet sich in ihrem Beitrag der diskursiven Konstruktion von Organisationen. Sie geht davon aus, dass organisationale Narrative "die Form [sind], in der sich die Wissensvermittlung und Kommunikation in Organisationen hauptsächlich vollziehen" (S.63). Ihre Analyse der organisationalen Praxis erfolgt in drei Schritten. Zunächst zeichnet CZARNIAWSKA nach, wie Narrative konstruiert und reproduziert werden, wobei sie organisierende von organisationalen Stories unterscheidet. Organisierende Stories seien Prozesse der Sinnproduktion, die unter Beteiligung vieler die soziale Praxis in ihrem Vollzug verstehbar machen und so von unmittelbarem Nutzen wären. Organisationale Stories seien für ein allgemeineres Publikum bestimmt, in sich geschlossen und entlang eines Plots strukturiert. Beide Storytypen gelte es zu dokumentieren, wobei gerade bei Forschungsinterviews große Sorgfalt darauf verwendet werden müsse, die Gesprächspartner/innen zum Erzählen anzuregen. Der zweite Schritt in CZARNIAWSKAs Beitrag ist die Interpretation. Hier stünden fünf Lesarten zur Verfügung: die biografische und die rhetorische Analyse, die Strukturanalyse, die Dekonstruktion und die Analyse von Repräsentationen des Praxisfeldes, wie sie beispielsweise in Romanen und Theaterstücken vorzufinden seien. Nur konsequent ist der dritte Schritt: der Einsatz von Narrativen bei der Präsentation der Ergebnisse ebenso wie in der Lehre (z.B. in Form von Fallerzählungen). Abschließend weißt CZARNIASKA darauf hin, dass auch das entstehende "Managementwissen" eine organisationale Story darstelle und als solche analysierbar und damit der wissenschaftlichen Selbstreflexion zugänglich sei (vgl. CZARNIAWSKA 2003). [3]
Der Text von John R. SEARLE fällt etwas aus dem Rahmen, denn SEARLE verwendet nicht den Begriff des Diskurses, sondern stellt die Institution ins Zentrum seiner Überlegungen. Er geht der Frage nach, welche Rolle der Sprache bei der Konstruktion von Institutionen zukommt, und will durch eine genaue Analyse der Beschaffenheit institutioneller Tatsachen und ihrer Abgrenzung von anderen Tatsachen zu einer allgemeinen Theorie der Institutionen beitragen. Ausgehend von der Überlegung, dass Menschen die Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität ebenso besitzen wie die Fähigkeit, Objekten eine Funktion zuzuweisen, begreift SEARLE Institutionen als kollektive Zuweisung von Statusfunktionen. Die Sprache ist dann konstitutiv für die Konstruktion sozialer Wirklichkeit, weil "eine Statusfunktion nur dann existieren [kann], wenn dem Objekt durch die Art, wie es kollektiv dargestellt und repräsentiert wird, der Status und die damit verbundene Funktion zuerkannt wird" (S.98). SEARLE tritt auf eindrucksvolle Weise einem Verständnis von Sprache oder vom Diskursiven als nachgeordneter Realität entgegen. Institutionelle Analysen hätten sich dem Bereich der Sprache nicht als Ergänzung, sondern als Kerngeschäft zu widmen – gerade auch in Gesellschaften, in denen Institutionen existieren, die ohne physisches Objekt auskommen und ausschließlich auf der kollektiv-intentionalen Zuweisung und damit Repräsentation einer Statusfunktion beruhen, wie dies bei Geld und Unternehmen der Fall sei (S.100-101). SEARLE gelingt eine überzeugende diskursive Fundierung der Institutionenanalyse, und dies ohne den direkten Bezug auf die gängigen Größen der Diskurstheorie, ein Vorgehen, das aufgrund seiner grundlegenden Ausrichtung die Grenzen von Sozial- und Wirtschaftswissenschaften transzendiert und dem zu wünschen ist, dass es gerade deshalb vielfache undogmatische Anschlüsse finden möge. [4]
Deirdre N. McCLOSKEY skizziert die Grundzüge einer rhetorischen Analyse der Wirtschaftswissenschaften. Sie begreift Wirtschaftswissenschaftler/innen als in Metaphern und Erzählungen denkend und diese zu Allegorien – mächtigen Glaubenssystemen – verknüpfend. Die wohl prominenteste dieser Metaphern laut McCLOSKEY "ist die der Menschen als kalkulierende Maschinen und rationale Entscheider" (S.115), wobei die positive Konnotation und der objektive Status dieser Metapher das Ergebnis einer langen Reihe von Auseinandersetzungen und Bemühungen zu ihrer Naturalisierung sei. Nach McCLOSKEY ist es der Konflikt zwischen unterschiedlichen Metaphern, der die Wirtschaftswissenschaften "am Laufen" hält, wobei sie wie auch alle anderen sprachlich vermittelten Bereiche menschlicher Vergesellschaftung an eine rhetorische Logik gebunden seien: "Die Wirtschaftswissenschaften mögen keine Poesie sein, also Kunst; aber sie sind poetisch, also künstlerisch" (S.113). [5]
Im letzten Beitrag des ersten Teils begreift Eve CHIAPELLO die Wirtschaftswissenschaften als einen Diskurs, der zur Konstruktion der Wirtschaft beiträgt, wobei sie das Hauptaugenmerk nicht auf die Funktion rhetorischer Figuren, sondern auf Klassifikationen und die ihnen geschuldete inhaltliche Strukturierung der wirtschaftlichen Praxis legt. CHIAPELLO deckt in ihrem Beitrag auf, wie Rechnungslegungsvorschriften entstanden sind und wie die Resultate der Aktivitäten von Rechnungswesensabteilungen und -akteuren – quantitative und statistische Informationen – das Wirtschaften ebenso wie das Denken und Sprechen über Wirtschaft konstruieren. Wirtschaft sei erst durch das Rechnungswesen als eine Fülle von Ereignissen denkbar, die miteinander verknüpft sind und zwischen denen aufgrund der Möglichkeit, sie als monetäre Größen auszudrücken, Vergleichbarkeit bestehe. Daher sei das Rechnungswesen neben der Sprache des Rechts das zweite strukturrelevante Artefakt, das Wirtschaftsunternehmen zu autonomen Akteuren in einem rein ökonomischen System mache. Das Rechnungswesen sei die Alltagssprache der Wirtschaft und als solche eine ihrer zentralen Konventionen, eine Konvention, die universelle Vergleichbarkeit herstelle und als performativer Mittler zwischen wirtschaftlicher Realität und der Theorie der Ökonomie fungiere. CHIAPELLOs aufschlussreiche Analyse beschert einen transdisziplinären Reflexionsgewinn, der neue gesellschaftstheoretische Einsichten befördert und die Hintergründe der Konstitution von Unternehmen als Akteure und Organisationen im Markt verstehbar macht. [6]
3. Anwendungen: Diskurse in der und über die Wirtschaft
Im zweiten Teil von "Diskurs und Ökonomie" haben DIAZ-BONE und KRELL acht Beiträge versammelt, die einen detaillierten Überblick über den aktuellen Stand der deutschsprachigen Diskursforschung zur Ökonomie geben. Alle Beiträge sind darauf bedacht, neben Forschungsergebnissen immer auch die Logik und den praktischen Ablauf des Forschungsprozesses offenzulegen. Diskursforschung wird so als diskursive und performative Praxis sichtbar; der mögliche Nachvollzug erlaubt einen kritischen, vor allem aber lehrreichen Umgang mit der Methode. Die Beiträge lassen sich entsprechend der untersuchten Phänomene drei thematischen Schwerpunkten zuordnen: wirtschaftliche Kommunikation im organisationalen Kontext, Managementkonzepte und -ideen sowie Märkte. [7]
Auf wirtschaftliche Kommunikation im organisationalen Kontext fokussieren die Beiträge von Gisela BRÜNNER sowie von Ingo MATUSCHEK und Frank KLEEMANN. BRÜNNER skizziert das große Spektrum an möglichen Forschungsvorhaben, das die Perspektive der linguistischen Diskursanalyse im Hinblick auf die Wirtschaftskommunikation eröffnet. Da die linguistische Diskursanalyse Gesprächsforschung ist, hat sie authentische Gespräche der beruflichen und privaten Kommunikationspraxis zum Gegenstand. Entsprechend akzentuiert BRÜNNER, dass diese darauf abziele, die überindividuellen Formen und Strukturen sprachlichen Handelns und der Interaktion aufzudecken, im Gespräch auftretende Probleme zu erkennen und Lösungen vorzuschlagen. Im Anschluss an eine kurze Einführung in die Methodik der Analyse von Wirtschaftskommunikationen demonstriert BRÜNNER am Beispiel von Verkaufsgesprächen detailliert das Vorgehen. [8]
Auch MATUSCHEK und KLEEMANN untersuchen Kundenkommunikation. Am Beispiel von Gesprächen in Callcentern des Finanzdienstleistungssektors gelingt es ihnen, mittels einer Konversationsanalyse die Koproduktion von sozialer Ordnung aufzudecken und ihre strukturierenden Faktoren zu identifizieren. Ihre ethnomethodologische Position erlaubt ihnen zugleich zu zeigen, dass Gesprächspartner/innen gerade auch in kritischen Situationen "im freien Rückgriff auf ihre ureigenen sozialen Kompetenzen zu einer relativ autonomen Instanz der Reparatur fehllaufender Gespräche" (S.195) werden. [9]
Beide Beiträge verdeutlichen, dass Kundenkommunikation auf divergierenden Interessen des Unternehmens, seiner Agent/innen und der Kund/innen basiert und daher grundlegend konfliktträchtig ist. Sie machen deutlich, dass die notwendige Konfliktbearbeitung nur begrenzt durch Kontextstrukturierung, immer jedoch als Koproduktion in situationeller Kommunikationsarbeit erfolgt. [10]
Der Beitrag von KRELL zum Managementkonzept Gender Marketing, der Beitrag von Mario VÖTSCH und Richard WEISKOPF zur Idee der Creative Industries sowie Ruth WODAKs Beitrag zur Rolle neuer ökonomischer Ideologien bei der Ökonomisierung der Hochschulen wenden sich der Bedeutung zu, die Diskurse über das Wirtschaften für das Wirtschaften haben. Die diskursanalytische Perspektive aller drei Beiträge kann als kritisch und an theoretische Einsichten FOUCAULTs anknüpfend beschrieben werden, wobei KRELL sowie VÖTSCH und WEISKOPF auf verschiedene Konzepte zurückgreifen, die der deutschen sozialwissenschaftlichen Diskursforschung entlehnt sind (vgl. KELLER et al. 2001), wohingegen WODAK der Critical Discourse Analysis (FAIRCLOUGH 1992; WODAK & MEIER 2001) verpflichtet ist. Der Fokus liegt bei diesen Texten nicht mehr primär auf Gesprächen, sondern ist auf alle denkbaren Artefakte ausgeweitet, die sich als Produkte einer diskursiven Aussagepraxis begreifen lassen, wenngleich eine Vorliebe für Texte – Gesetztestexte, Bücher, Artikel, politische Reden, Strategiepapiere – vorherrscht. [11]
KRELL interessiert sich in ihrem Beitrag einerseits dafür, welche Strategien, Regeln und Ressourcen in dem Prozess zum Einsatz kommen, in dessen Verlauf Gender Marketing als Gegenstand hervorgebracht und als relevant im Diskursfeld Management positioniert wird; andererseits dafür, welche Bedeutungen und Sinnordnungen dem Gender-Begriff dabei zugeschrieben werden. Sie analysiert die vier zentralen Managementbücher zu Gender Marketing mithilfe einer von KIESER (1996) entwickelten Heuristik und zeigt die spezifische Strukturierungsform des zugrunde liegenden Diskurses auf. [12]
VÖTSCH und WEISKOPF hingegen fragen nicht nach der diskursiven Totalität eines Diskurses oder der sie hervorbringenden Praktiken, sondern sie begreifen die von ihnen untersuchten Creative Industries als diskursive Formation, die ein bestimmtes "making up" (HACKING 1986) von Arbeit und arbeitenden Subjekten ermögliche. Mithilfe von Instrumenten der Kritischen (JÄGER 2004) und Wissenssoziologischen Diskursanalyse (KELLER 2005) untersuchen sie die Form und Wirkung dieser singulären Formation im Zusammenspiel mit anderen Diskursformationen in einem Interdiskurs der Kreativität. VÖTSCH und WEISSKOPF gelingt es, Lesenden zu zeigen, dass ihre Dekonstruktion der Creative Industries erst durch eine Neujustierung des Blicks im Forschungsprozess ermöglicht wurde, wodurch der Reflexionsgewinn der Methode erfahrbar wird. [13]
Auch der Beitrag von WODAK unternimmt eine kritische Dekonstruktion einer gemeinhin als gegeben angesehenen Tatsache: die Dekonstruktion der Ökonomisierung der Universitäten. Durch eine Analyse der diskursiven Strategien, die im Zuge des Projekts Wissensgesellschaft als allgemeine Globalisierungs- und Wettbewerbsrhetorik fungieren und die bei der Produktion der Bologna-Deklaration sowie ihrer Umsetzung im Österreichischen Universitätsgesetz von 2002 ihre Wirkung entfaltet haben, zeigt WODAK auf, dass die Universität erst als mit Wirtschaft und Politik funktional verflochten konstruiert werden muss, bevor ihre Ökonomisierung als Antwort auf die an sie gestellten politischen und ökonomischen Forderungen erscheinen kann, die in der Wissensgesellschaft stetig steigen. [14]
Märkte und die möglichen Formen ihrer diskursiven Konstruktion stehen bei den Beiträgen von Sophie MÜTZEL, Andreas LANGENOHL und Rainer DIAZ-BONE im Zentrum. Alle drei Autor/innen mahnen eine Ergänzung der klassischen Marktkonzepte um eine basale diskurstheoretische Dimension an und fordern damit nicht nur eine diskursanalytische Perspektive auf Märkte, sondern im Prinzip deren (diskurs-) theoretische Rekonzeptionalisierung ein. Ergänzend zur Idee der sozialen oder institutionellen Einbettung von Märkten als Rahmung (GRANOVETTER 1985; BECKERT 2007) wird hier auf deren diskursive Konstruktion als grundlegendes Moment der Bildung eines Marktes als soziale Ordnung verwiesen. [15]
MÜTZEL betont im Anschluss an Harrison WHITE (2008, S.20-62), dass Diskurse, verstanden als der Austausch von Geschichten zwischen Marktakteuren, das Medium sind, das es Marktakteuren erlaubt, sich wechselseitig auf Signale hin zu beobachten, die Aufschluss über die Fremd- und Selbsteinordnung geben. Verfestigen sich die Geschichten, sei eine Identitätsstabilisierung, eine Profilbildung und Nischenfindung möglich, die den Wettbewerb temporär aussetze, Unsicherheit reduziere, Gewinne zulasse und eine dauerhafte Marktordnung herstelle. Das Erzählen von Geschichten, auch über einen längeren Zeitraum, werde so zum integralen Bestandteil der Konstitution und des Wandels einer Marktordung, wie MÜTZEL am Beispiel der diskursiven Ordnungsbildung im Markt der deutschen Tageszeitungen zeigt, die Ende der 1990er Jahre um die Position als die Hauptstadtzeitung konkurrierten. [16]
LANGENOHLs Marktsoziologie setzt nicht an Fragen der sozialen Einbettung oder Entkopplung an, sondern am Mechanismus der Preisbildung. Am Beispiel des Finanzmarktes verdeutlicht er einerseits, dass der Preismechanismus darauf angewiesen ist, dass Ereignisse in Preise übersetzt und damit vergleichbar und öffentlich werden. Andererseits seien Preise als rein numerisches Tauschmedium relativ informationsarm, sodass sie ökonomisches Handeln nicht orientieren können. Deshalb müsse die "Orientierungsinsuffizienz" von Preisen "durch eine diskursive Öffentlichkeit aufgewogen werden" (S.253), die in die bei der Preisbildung leer gelassene Funktionsstelle einrücke und die Entstehung von sozialer Ordnung in Märkten durch den Preismechanismus überhaupt erst ermögliche. LANGENOHL betont gleichwohl, dass der Preismechanismus für Finanzmärkte konstitutiv sei, da ihre Operationen technisch-mathematisch und nicht sprachlich seien, auch wenn sich Finanzmärkte ohne ihre Semantisierung in Diskursen nicht kontinuieren können. Aus dieser Perspektive sind Finanzmarktdiskurse in ihrer sich über die Zeit entfaltenden Wechselwirkung mit Finanzmärkten am besten vor dem Hintergrund einschneidender Ereignisse zu analysieren, was LANGENOHL am Beispiel der Entstehung der globalen Finanzkrise im September und Oktober 2008 demonstriert. [17]
DIAZ-BONE begreift Märkte als soziale Sphären, in denen Akteure ihre wirtschaftlichen Handlungen erfolgreich und dauerhaft koordinieren und so soziale Ordnung herstellen. Die Annahme einer derartigen Ordnungsbildung setze aus diskurstheoretischer Perspektive voraus, dass "die Probleme der Unsicherheit über erwartbare kollektive Zukünfte und über die Qualität und Eigenschaft der Objekte, Akteure und Handlungen in der Wirtschaft kontinuierlich bearbeitet werden" (S.267) und ein gemeinsamer sozialer Sinn der ökonomischen Welt als Handlungskontext zur Verfügung stehe. Diskursanalytisch ergebe sich daraus die Forschungsaufgabe, die diskursiven Praxisformen zu ermitteln, die die Unsicherheitsreduktion ermöglichen, und ihre Konstruktion sowie ihre praktische Wirkungsweise offenzulegen:
"Die diskurstheoretische These ist, dass die 'Qualitäten' von Produkten, aber auch von Handlungen oder Akteuren diskursiv und mit Bezug auf Kategorien und Formen konstruiert werden, wobei sie sowohl durch nicht-diskursive als auch durch diskursive Praxisformen auf Wertigkeitsordnungen (Qualitätskonventionen) bezogen sind." (DIAZ-BONE, S.279) [18]
DIAZ-BONE stellt damit in Anlehnung an die Economie des conventions die handlungskoordinierende Wirkung von Konventionen in den Mittelpunkt, entwirft dann aus diskursanalytischer Perspektive eine Methodologie, die es erlaubt, die Entstehung und Wirkungsweise von Konventionen in einem bestimmten Feld zu analysieren und demonstriert seine Erkenntnisse anschaulich anhand der Bedeutung unterschiedlicher Qualitätskonventionen in verschiedenen Sektoren des Weinmarkts. [19]
4. Diskurse und Ökonomien: der Ort ihrer Analyse
Der Band von DIAZ-BONE und KRELL gibt einen guten Überblick über die Vielfalt der diskursanalytischen Ansätze, die zum Einsatz kommen können, wenn es darum geht, wirtschaftliche Phänomene zu erforschen. Die verschiedenen diskurstheoretisch motivierten "Tiefenbohrungen" des ersten Teils zeigen, dass eine diskursive Grundlegung der Wirtschaftsforschung nicht nur notwendig, sondern auch auf unterschiedliche Weise möglich ist. Die Auswahl der im zweiten Teil vorgestellten materialen Studien eröffnet den Lesenden Einblicke in die konkrete Forschungspraxis und erlaubt ihnen durch die methodologische Reflexion des Forschungsprozesses, Ideen, Anregungen und Einsichten für eigene Forschungsvorhaben mitzunehmen. Hierbei zeichnet sich (neben dem praktischen Mehrwert) die Erkenntnis ab, dass die qualitative Forschungsstrategie eines diskursanalytischen Vorgehens auch im Bereich der Wirtschaftsforschung zur Entwicklung gehaltvoller Theorie beitragen kann. Eine der zentralen Einsichten des Bandes, die durch eine diskursanalytische Forschungsperspektive ermöglicht wird, ist jene in die Theorieeffekte der Wirtschaftswissenschaften. Erst wenn Wirtschaften als diskursiv begriffen wird, ist es möglich, die Frage nach dem Einfluss der Wirtschaftswissenschaften auf moderne Gesellschaften und Ökonomien zu stellen, ihre intendierten und nicht-intendierten Effekte zu erkennen und ihre Praxisrelevanz zu beurteilen – ein Unterfangen, an dem alle Sozialwissenschaften ein Interesse haben müssten. [20]
Wie jede Auswahl ist auch die Auswahl der Beiträge in diesem Band notwendigerweise selektiv, wobei die Abwesenheit politikwissenschaftlicher Perspektiven wie beispielsweise der Cultural Political Economy (JESSOP & OOSTERLYNCK 2008), der Hegemonietheorie (NONHOFF 2006) oder des Discursive Institutionalism (SCHMIDT 2010) auffällt. Es ist zu hoffen, dass der in "Diskurs und Ökonomie" gewagte Blick auf Märkte und Organisationen, der sich auf soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven beschränkt, gerade dadurch eine umso breitere Resonanz in den beteiligten Disziplinen erfährt, sodass ein transdisziplinärer Ort entsteht, von dem aus das Sprechen und Denken in und über Ökonomien diskursanalytisch erforscht werden kann. KRELL und DIAZ-BONE kommt der Verdienst zu, mit ihrem Band eine erste wegweisende Skizze dieses Ortes für den deutschsprachigen Wissenschaftsraum vorgelegt zu haben. [21]
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Christian SCHMIDT-WELLENBURG, Dipl. Soz.-wiss., ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Potsdam. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich Wirtschafts- und Wissenssoziologie, Methodologie der Diskurs- und Feldanalyse sowie Gesellschaftstheorie.
Kontakt:
Christian Schmidt-Wellenburg
Universität Potsdam
Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Allgemeine Soziologie
August-Bebel-Str. 89
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URL: http://www.uni-potsdam.de/u/allg_soziologie/
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