Volume 12, No. 1, Art. 28 – Januar 2011
Rezension:
Giulia Montanari
Christian von Scheve (2009). Emotionen und soziale Strukturen – Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung. Frankfurt/M.: Campus; 389 Seiten; ISBN 978-3-593-38911-0; Euro 34,90
Zusammenfassung: Christian VON SCHEVE widmet sich in der vorliegenden Arbeit (der überarbeiteten Fassung seiner Dissertation) den Zusammenhängen von Emotionen und sozialen Strukturen. Aus soziologischer Perspektive bemüht er sich unter Berücksichtigung aktueller neuro- und kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse um Antworten auf die Frage, inwiefern Emotionen einerseits empfänglich für soziale Einflüsse sind und auf welchem Weg sie wiederum gesellschaftliche Strukturen hervorbringen. Mit der ausführlichen Darstellung einer Vielzahl an empirischen Ergebnissen aus den genannten Disziplinen ermöglicht die Lektüre ein anschauliches Bild der Mechanismen, die hierbei wirksam sind. Wenn auch keine endgültige Antwort auf die Fragen erwartet werden kann, liefert die Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um den "Mikro-Makro-Link" wie auch zur Frage nach den Einschränkungen von Akteursmodellen. Emotionen stoßen derzeit auf ein verstärktes Interesse in den Sozialwissenschaften, was in der vorliegenden Rezension knapp veranschaulicht wird und zeigen soll, welche Diskussionsstränge dieses Forschungsfeld bereichern kann.
Keywords: Emotionen; Akteursmodelle; Mikro-Makro-Link; kognitive Psychologie; Neurowissenschaften
Inhaltsverzeichnis
1. Die sozialwissenschaftliche Wende zu den Emotionen
2. Emotionen als Mikro-Makro-Schnittstelle – Aufbau der Argumentation
2.1 Überblick
2.2 "Soziologien der Emotionen"
2.3 Erlernte "Gefühlswelten"
2.4 Ohne Emotionen kein gesellschaftliches Agieren?
2.5 Das Zusammentreffen emotionsbefähigter Individuen
3. Kritische Würdigung und mögliche Impulse für Empiriker/innen
1. Die sozialwissenschaftliche Wende zu den Emotionen
Mit dem vorliegenden Werk nimmt sich Christian VON SCHEVE eines Themenkomplexes an, mit dem sich seit vielen Jahren immer mehr Sozialwissenschaftler/innen beschäftigen (S.15), nämlich den Zusammenhängen zwischen (individuellen) emotionalen und sozialen Phänomenen. Damit soll gleichzeitig der neuerliche Versuch einer (Auf-) Lösung der sozialwissenschaftlichen "Mikro-Makro-Problematik" unternommen werden, indem Emotionen als verknüpfendes Moment mit Erklärungskraft nach beiden Seiten hin konzipiert werden (S.16). [1]
Im Verlauf des Buches wird an verschiedenen Stellen dargestellt, welche Soziolog/innen die titelgebende Frage nach den Zusammenhängen zwischen Emotionen und sozialen Strukturen bereits gestellt haben (u.a. Max WEBER, Anthony GIDDENS, Arlie HOCHSCHILD) – umfassende Antworten, die zudem Erkenntnisse anderer Disziplinen zu integrieren versuchen, liefert allerdings nach Meinung VON SCHEVEs bislang kaum jemand (S.15). Hier fehle eine grundlegende Arbeit, die er sich nun zur Aufgabe gemacht hat. Dieses Vorhaben ist nur zu unterstützen, denn es gibt zwar nicht wenige sozialwissenschaftliche Arbeiten, die sich an der philosophischen Begründung der Beschäftigung mit Emotionen versuchen – unter Rückgriff auf Vertreter/innen der Phänomenologie bzw. des Existenzialismus –, eine umfassende (sozialwissenschaftliche) Auseinandersetzung mit einer empirisch arbeitenden Psychologie fehlt dagegen auch nach meinem Wissen. Gleichzeitig sind die Versuche, die Mikro- und Makroperspektive zu integrieren, bisher noch sehr überschaubar, wie auch Katharina SCHERKE anmerkt (2009, S.81ff.). [2]
Die Veröffentlichung des Buches erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu dem der Begriff des emotional turn bereits bei einigen Autor/innen gefallen ist und im deutschsprachigen Raum für Disziplinen wie die Literaturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Philosophie, Psychologie und eben auch die Soziologie konstatiert wurde (siehe ANZ 2006; DÖRING 2009; SCHÜTZEICHEL 2006). Daher ist VON SCHEVEs interdisziplinärer Ansatz (er hat sich mit Erkenntnissen der Neurologie sowie der kognitiven Psychologie beschäftigt), sicherlich angebracht (und bietet meiner Ansicht nach – so viel sei vorweggenommen – einen guten Einstieg in das Thema für Sozialwissenschaftler/innen). [3]
Ich betrachte als Geografin die Arbeit aus der Perspektive einer Sozialwissenschaft, für die sich zumindest im angloamerikanischen Raum ebenfalls eine sehr deutliche Hinwendung zu Emotionen finden lässt (vgl. BONDI, DAVIDSON & SMITH 2005; THRIFT 2004; für eine theoretische Einordnung des Buches mit stärker fokussiertem Blick auf die Soziologie sei an dieser Stelle auf die Rezension von Andreas PETTENKOFER [2009] verwiesen). So befassen sich inzwischen viele angloamerikanische "Emotionsgeograf/innen" mit der Bedeutung einzelner Emotionen in bestimmten sozialen Zusammenhängen, z.B. PAIN (2006), DAVIDSON (2003), THRIFT (2005) oder ANDERSON (2006). Des Weiteren gehen einige Autor/innen auf die Lokalisation von Gefühlen, die Bedeutung von Emotionen im Zusammenhang mit Identität sowie auf die u.a. symbolische Vermittlung von Emotionen ein (s. BONDI et al. 2005). Seit 2008 erscheint bei Elsevier zudem die Fachzeitschrift Emotion, Space and Culture, was inzwischen zu einer schier unübersichtlichen Menge an (englischsprachiger) Literatur zu dem Thema geführt hat. In der deutschsprachigen Geografie wurde die Forderung nach einer Berücksichtigung von Emotionen schon vor einiger Zeit formuliert (HASSE 1999, 2003; HELBRECHT 2003), und in der Tat ist ein vermehrtes Interesse an den Empfindungen der Menschen aus phänomenologischer Perspektive zu beobachten (vgl. hierzu KAZIG & WEICHHART 2009; FALTER & HASSE 2001). Allerdings beschränkt sich diese Forschungsrichtung stark auf die Beziehung Mensch – materielle Umwelt (bzw. genauer: die Wirkung der materiellen Umwelt auf den Menschen). Auch wenn hierin in Form der "gebauten Umwelt" ein soziales Moment enthalten ist, wurden die Potenziale einer näheren Betrachtung von Emotionen für eine Sozialgeografie im engeren Sinne bislang noch nicht ausgelotet. Mit Blick auf das hier diskutierte Buch kann an dieser Stelle umso mehr dafür plädiert werden, das zu tun. Denn VON SCHEVEs Ausführungen sind nicht nur geeignet, Gedanken über das "Wesen des Sozialen" anzuregen, sondern sie leisten auch einen Beitrag zur u.a. in der Geografie geführten Diskussion um die Frage, inwiefern Menschen (und damit auch Wissenschaftler/innen) als rationale Akteure konzipiert werden können und welche Bedeutung im Gegenzug dem "Irrationalen" zukommt (siehe z.B. HASSE 2006; LIPPUNER 2003, S.90f.). [4]
Um dies zu veranschaulichen, wird im Folgenden zunächst der Inhalt der Arbeit VON SCHEVEs umrissen. Anschließend soll knapp die Frage angesprochen werden, welche Impulse seine Ausführungen für empirisch arbeitende Sozialwissenschaften geben können (und welche Ansätze bereits vorhanden sind). [5]
2. Emotionen als Mikro-Makro-Schnittstelle – Aufbau der Argumentation
Christian VON SCHEVE konzeptionalisiert Emotionen als "bidirektionale Vermittlungsinstanz zwischen Handlung und Struktur" (S.16), die also zum einen selbst sozial strukturiert sind und zum anderen gesellschaftliche Strukturen hervorbringen bzw. verstetigen. Daher erfolgt (nach der Erläuterung der Mikro-Makro-Problematik und der bisherigen soziologischen Perspektiven auf Emotionen in Kapitel 2) zunächst die Darstellung kognitions- und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse im Hinblick auf die Frage, wie Emotionen entstehen (Kapitel 3; hier werden besonders die Momente herausgearbeitet, in denen die soziale Umwelt wirksam wird). In Kapitel 4 wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die zuvor erläuterten Erkenntnisse für die Konzeption des Menschen als "handelnder Akteur" besitzen und inwiefern die aktuellen Akteursmodelle unzureichend sind. Anschließend integriert VON SCHEVE die letzten beiden Kapitel mit der Frage, wie Emotionen menschliche Interaktionen strukturieren und gleichzeitig Emotionen in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt reguliert werden (Kapitel 5). Mit einer Schlussbetrachtung endet die Arbeit. [6]
2.2 "Soziologien der Emotionen"
Nachdem VON SCHEVE in einem einführenden Kapitel noch recht allgemein auf die Mikro-Makro-Problematik in der Soziologie eingeht, wird diese im zweiten Kapitel ("Strukturen und Emotionen: soziologische Perspektiven") noch etwas genauer betrachtet – stets mit der Frage verbunden, welches "Potenzial von Emotionen in Bezug auf die Verbindung von individuellem Handeln und sozialen Strukturen" besteht (S.20). So stellt VON SCHEVE fest, dass sich derzeit die Mikro- und Makrosoziologien "merklich aufeinander zu bewegen" (S.21) und umreißt kurz das Kontinuum der entsprechenden Ansätze. Im Rahmen eines cognitive turn seien in den letzten Jahrzehnten Mikroansätze entstanden, die sich auf die akteursinternen Prozesse konzentrieren, immer mit Blick auf die sozialen Strukturen, unter deren Eindruck die "impliziten Wissensvorräte" entstehen (hier stützt sich VON SCHEVE vor allem auf KNORR-CETINA, die sich bereits 1981 mit der Frage nach der Notwendigkeit eines psychologisch fundierten Mikroansatzes beschäftigt hat, S.21ff.). Darin findet sich auch die Begründung für die Entscheidung, kognitionspsychologische Erkenntnisse zu berücksichtigen: Die kognitive Psychologie befasse sich zwar mit der auch für die Soziologie bedeutenden Frage, wie Repräsentationen entstehen, ihre Erkenntnisse würden von der Soziologie allerdings bislang wenig rezipiert (S.25). [7]
Im darauf folgenden Abschnitt widmet sich der Autor der soziologischen Emotionsforschung. In Ansätzen findet er eine solche bereits bei DURKHEIM, SIMMEL, WEBER und ELIAS (S.37), detaillierter ausgearbeitet allerdings erst bei COLLINS, KEMPER und HOCHSCHILD sowie im deutschsprachigen Raum bei GERHARDS, VOWINKEL, DUNKEL oder EICHENER, die sich allerdings stets auf Emotionen "als eine von der sozialen Umwelt abhängige Variable" (S.38f.) beziehen würden. Andere Ansätze gebe es inzwischen auch, hier unterscheidet VON SCHEVE vornehmlich zwischen sozialkonstruktivistischen und positivistischen Ansätzen: Erstere lehnten die Relevanz physiologischer Abläufe ab und interessierten sich für die kognitiven Interpretationsleistungen (womit sich deren Vertreter/innen die Kritik einhandelten, nur kulturelle Präsentationen von Emotionen zu betrachten; S.41f.); zweitere knüpften an die Neurosoziologie an und fragten nach der Veränderbarkeit von physiologischen Strukturen (S.45). Im Anschluss an die Darstellung weiterer soziologischer Zugänge (wie Helena FLAMs "emotional man" oder sozialstrukturelle Zugänge, die in negativen dysfunktionalen Emotionen die Ursache für soziale Bewegungen sehen; S.50-65) erläutert er unterschiedliche Definitionsversuche. Dies bildet eine wichtige Grundlage für die weitere Arbeit, die an dieser Stelle recht komplex ausfällt und sowohl unterschiedliche Komponenten von Emotionen (Erregung, Ausdruck, Empfinden), als auch die Unterscheidung von (in erster Linie biologisch determinierten) Basisemotionen und (für soziale Einflüsse empfänglichen) komplexen Emotionen berücksichtigt (S.71f.). Statt der in allen Disziplinen häufig zitierten (und hier ausführlich besprochenen) Basisemotionen favorisiert VON SCHEVE das Konzept der "Affektprogramme", mithilfe dessen Emotionen als komplexe Reaktionsmuster unter Beteiligung der unterschiedlichen Komponenten konzeptionalisiert werden (S.77). [8]
In dem Kapitel "Sozial strukturierte Emotionen" soll vor allem die Frage beantwortet werden, inwiefern die Entstehung von Emotionen durch die soziale Umwelt geformt wird, um "von einer strukturellen Kopplung sprechen" zu können (S.79). Hierfür werden Erklärungsansätze aus der Neurophysiologie und der Kognitionspsychologie dargestellt. Besondere Berücksichtigung findet zunächst die in der Emotionsforschung diskutierte Frage, ob physiologische Reaktionen auf die empfundene Emotion folgen (man hat Angst, also schwitzt man, 1962 vertreten von SCHACHTER und SINGER) oder ob umgekehrt die körperliche Reaktion noch vor dem bewussten Empfinden steht (man schwitzt, also hat man Angst, bereits 1884 vertreten von JAMES; S.81ff.). Dabei widmet sich der Autor der ersten Annahme ausführlicher. Für ein besonders fruchtbares Konzept hält er das der "sekundären somatischen Verstärker", die von der (sozialen) Umwelt ausgehen und beim "Erlernen" von Emotionen wirksam seien (vereinfacht gesprochen handelt es sich um ein physiologisches Belohnungssystem). Insgesamt scheint es so zu sein, dass – folgt man VON SCHEVE – sich die Neurowissenschaften darüber einig sind, dass basale Emotionen größtenteils unbewusst entstehen, komplexe Emotionen dagegen mit Unterstützung der "somatischen Verstärker" erlernt werden (S.95f.). [9]
Im nachfolgenden Abschnitt differenziert VON SCHEVE die Definition von Emotionen noch weiter, indem er die Bedingung der intentionalen Gerichtetheit, motivationale Aspekte sowie die Bewertung wahrgenommener Reize in den Mittelpunkt rückt (S.109). Im Falle von Emotionen seien Reiz und Reaktion entkoppelt, da ein bestimmter für eine Emotion notwendiger Reiz ohne entsprechende Bewertung diese nicht auslösen müsse (S.109). Daher geht es VON SCHEVE nun darum, die "soziale Offenheit" der Emotionen detaillierter zu diskutieren (S.144). Interessant ist im Folgenden vor allem die Darstellung des Phänomens des emotionalen Erinnerns und der neuronalen Plastizität, die die Bedeutung von Erfahrungen verdeutlicht (S.145-159) sowie der sozialen Kognition und Repräsentationen, die die Entstehung von Schemata zu erklären versucht (S.159-174). Damit soll die Bildung und Notwendigkeit von Stereotypen bzw. Vorurteilen neurowissenschaftlich erklärt werden. [10]
2.4 Ohne Emotionen kein gesellschaftliches Agieren?
In dem Kapitel "Emotional strukturiertes Handeln" befasst sich VON SCHEVE mit der Frage, "wie die Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung" mit und durch Emotionen stattfindet (S.178). Es erfolgt eine ausführliche Darstellung und Diskussion zweier Akteursmodelle: Ein jeweils eigenes Kapitel widmet der Autor den "Grenzen der (begrenzten) rationalen Wahl" und damit ESSERs Anerkennung unbewusster mentaler Prozesse (S.189ff.) sowie dem "emotional man". Helena FLAM unterscheidet hier zwischen dem "pure emotional man", Personen also, die ihren Emotionen freien Lauf lassen, und dem "constrained emotional man", stärker von der sozialen Umwelt beeinflussten Personen (S.197ff.). Da in diesen Ansätzen laut VON SCHEVE besonders die starken "eruptiven" Emotionen thematisiert würden (S.205), befasst er sich anschließend aus psychologischer Perspektive mit subtiler wirksamen Emotionen (bzw. den jeweiligen Konzeptionen: dem zustandsabhängigen Erinnern, "mood as information", affektiver Ansteckung sowie der Konservierung/Generierung von Wissensstrukturen). Dabei wird deutlich, dass Emotionen sehr umfassend die soziale Ordnung strukturieren, indem sie bereits beim Abrufen von Repräsentationen wirksam sind (vgl. S.205). [11]
Im Anschluss behandelt VON SCHEVE den Prozess der Entscheidung, wobei er auf die Hypothese der "somatischen Marker" nach DAMASIO zurückgreift, um deutlich zu machen, dass ohne bestimmte neurophysiologische Voraussetzungen viele Entscheidungen nicht möglich seien (S.231): "Somatische Marker" äußern sich als ein Gefühl, das Einfluss auf anstehende Entscheidungen hat. In diesem Zusammenhang werden auch Untersuchungen mit Personen vorgestellt, die Verletzungen am Gehirn erlitten und aufgrund dessen manche emotionale Fähigkeiten verloren haben, was sie in bestimmten Situationen entscheidungsunfähig mache. So wird zum Ende des Kapitels deutlich, dass Entscheidungen und damit Handeln von Emotionen durchdrungen sind und wesentlich strukturiert werden (vgl. S.248). VON SCHEVE hätte an dieser Stelle die Diskussion um den freien Willen aufgreifen können, was er nicht tut, sondern belässt es bei der Erkenntnis, dass Menschen nur so "denken, handeln und reagieren, wie [sie] es auf Grund [ihrer] stofflichen Zusammensetzung" können (MARKOWITSCH 2006, S.41). [12]
2.5 Das Zusammentreffen emotionsbefähigter Individuen
Hier erfolgt nun der letzte Schritt in VON SCHEVEs Argumentation, nämlich die Zusammenführung der bisherig dargestellten Erkenntnisse zu der Frage, inwiefern "Emotionen dazu beitragen, strukturdynamische Effekte in größeren sozialen Zusammenhängen anzustoßen" (S.249). Unter der Überschrift "Emotional strukturierte Interaktionen" befasst sich VON SCHEVE zunächst mit der Kommunikation von Emotionen bzw. der En- und Dekodierung von Emotionsexpressionen (die in erster Linie in der Mimik ihren Ausdruck finden, S.259-280). Zudem wird die emotionale Ansteckung thematisiert, die durch messbare physiologische Reaktionen auf wahrgenommene Emotionen und deren motorische Imitation gekennzeichnet sei – Menschen neigen hiernach dazu, Gesichtsausdrücke zu imitieren und die übermittelten Emotionen ebenfalls zu empfinden (S.280-287). Anschließend werden Emotionsregulation und soziale Kontrolle dargestellt, wobei VON SCHEVE hier ausführlich auf HOCHSCHILDs "Emotionsarbeit" zu sprechen kommt. Ausgangspunkt ist hierbei die Beobachtung, dass empfundene und erwartete Emotionen manchmal in einem Missverhältnis stehen können und eine Anpassung z.B. in Form von Unterdrückung von Emotionen provozieren. Die Sorge, dass ein solcher Umgang mit Emotionen sich negativ auf die Gesundheit auswirke, kann VON SCHEVE anhand der gesichteten kognitionswissenschaftlichen Literatur nur teilweise bestätigen, denn manche Vermeidungsstrategien seien durchaus erfolgreich (S.305). Des Weiteren wird in diesem Kapitel deutlich, welche Rolle Emotionen bei der Durchsetzung sozialer Normen spielen (so die Scham bei denen, die Normen verletzen oder die Wut beim "Sanktionierer", vgl. S.330). Zuletzt erfolgt eine "Schlussbetrachtung", die sehr ausführlich und pointiert die gesamte Arbeit und deren wesentliche Ergebnisse zusammenfasst (S.331ff.) und einen Ausblick auf künftige Forschungsfelder gibt. [13]
3. Kritische Würdigung und mögliche Impulse für Empiriker/innen
Wie aus meiner Besprechung hervorgegangen sein sollte, finden sich in dem Band sehr viele Erkenntnisse und Modelle aus den jeweiligen Psychologien, die sich mit Emotionen beschäftigen, wieder. Daher entsteht stellenweise der Eindruck, ein einführendes Werk zur Neuropsychologie und Kognitionswissenschaften zu lesen – was aber durch den Anspruch, Erkenntnisse anderer Disziplinen in ihrer Breite in die Soziologie einzuführen, gut begründet ist. Insofern handelt es sich um den Versuch, die Vielzahl möglicher Anknüpfungspunkte zwischen den Disziplinen zu verdeutlichen – das ist in jedem Fall gelungen. Was sehr knapp ausgefallen ist und daher auch weniger überzeugt, ist die Behandlung der Frage, wie sich gesellschaftliche Änderungen vollziehen. VON SCHEVE meint, mit negativen Emotionen (Wut oder Verzweiflung) eine Antwort gefunden zu haben – was grundsätzlich einleuchtet (z.B. mit Blick auf soziale Bewegungen und die Emotionen, die eine Person beispielsweise dazu bewegen, sich an Protesten zu beteiligen). Da negative Emotionen aber gleichzeitig auch zur Verstetigung gesellschaftlicher Strukturen beitragen (indem sie zur Sanktionierung abweichenden Verhaltens führen, wie VON SCHEVE in Kapitel 5.2.3 ausführt), scheint mir die Argumentation an dieser Stelle noch wenig ausgereift und würde eine weitere Ausarbeitung lohnen. [14]
Das berührt meines Erachtens dennoch nicht die grundsätzlich nachvollziehbare Konzeption von Emotionen als physiologisch und sozial strukturiertem (und wiederum strukturierenden) Merkmal menschlichen Daseins – diese ist sehr vielseitig und überzeugend dargestellt. Damit emanzipiert VON SCHEVE Emotionen aus der Betrachtung als bloße Störfaktoren (als welche sie zumeist in Handlungstheorien konzipiert werden, s.o.) und führt sie als Bindeglied zwischen der Mikro- und Makroebene ein. [15]
Unabhängig davon, mit welcher theoretischen Perspektive man an eine Forschungsarbeit herantritt, wird man hier wertvolle Hinweise zur Entstehung von Emotionen und zur Bedeutung der individuellen Emotionen für das Soziale finden. VON SCHEVE betont allerdings selbst, dass der Abstraktionsgrad sehr hoch ist und sich daher nach wie vor ganz grundsätzlich die Frage stellt, wie akteursinterne Prozesse erfasst werden können (S.345). Worüber gesprochen werden sollte – will man denn auch auf eine empirische Herangehensweise nicht verzichten – ist die Frage, wie Menschen Emotionen in Worte fassen bzw. auch anders als über Sprache kommunizieren. VON SCHEVE bietet hier erste Hinweise mit seinen Ausführungen über die emotionale Kommunikation (Kapitel 5.1 "Expression und Kommunikation von Emotionen", S.254ff.). Hier werden die Sozialwissenschaftler/innen, die noch sehr stark auf textliche Repräsentationen (in Form von Gesprächstranskripten) fixiert sind, ihr Methodenwerkzeug hinterfragen und gegebenenfalls verfeinern oder auch erweitern müssen. Einen interessanten Ansatz hierzu zitiert bspw. Katharina SCHERKE (2009, S.79), nämlich den Versuch von Helen LEWIS, mithilfe u.a. verbaler "Marker" Emotionen ausfindig zu machen. Als bisher kaum genutzte Methoden seien außerdem die Introspektion, die Beobachtung, das Experiment oder an Therapieformen angelehnte Methoden genannt; theoretische Ansätze und empirische Versuche hierzu sind z.B. bei BINGLEY 2003; HEENAN 2005; WYLIE 2005 sowie – wesentlich grundsätzlicher – bei KLEINING und WITT 2000 zu finden. Besonders in der deutschsprachigen Geografie werden diese Ansätze allerdings bislang kaum rezipiert. Daran anschließend könnte auch darüber diskutiert werden, inwiefern eine andere Ausbildung vonnöten ist, die im engen Austausch mit Psycholog/innen stattfinden könnte (ohne diesen Konkurrenz machen zu wollen). [16]
Fazit: Mit "Emotionen und soziale Strukturen" liegt ein sehr gut lesbares Buch vor (die schnörkellose flüssige Sprache soll explizit gelobt werden), das umfassend informiert und die Ansätze zur Beleuchtung des "Mikro-Makro-Links" um einen überzeugenden Beitrag bereichert. [17]
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Giulia MONTANARI ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Länderkunde im DFG-Projekt "Wohnstandortentscheidungen in polyzentrischen Stadtregionen"; zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Geografie der LMU München (2009-2010); von 2003 bis 2009 Studium der Geografie an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Zeitgeografie, Multilokalität von Familie, räumliche Bindung, Wohnstandortentscheidungen
Kontakt:
Giulia Montanari
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauer Str. 9
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Tel.: +49-0341-60055-177
E-Mail: g_montanari@ifl-leipzig.de
Montanari, Giulia (2011). Rezension: Christian von Scheve (2009). Emotionen und soziale Strukturen – Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung [17 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(1), Art. 28, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1101287.