Volume 12, No. 2, Art. 16 – Mai 2011
Vorgänger-Nachfolger-Übergänge in institutionellen und interpersonalen Bezügen. Die Entwicklung einer Theorie des Transfers persönlicher Objekte
Franz Breuer
Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird der Entwurf einer sozialwissenschaftlichen Theorie zu Vorgänger-Nachfolger-Übergängen in sozialen (institutionellen, interpersonalen) Kontexten vorgestellt: Leiter/in- bzw. Besitzer/inwechsel in Familienunternehmen, bei Universitätslehrstühlen, in Partnerschafts- bzw. Familien-Konstellationen, auch bei Körperorganen – um einige prominente Anwendungsmöglichkeiten dieser Theorie zu nennen. Der dabei herausgearbeitete Kernbegriff heißt "Transfer persönlicher Objekte" – und es geht um den Verfügungswechsel solcher Objekte, die sich für ihre/n jeweilige/n Besitzer/in durch identifikatorisch-identitäre Relevanz auszeichnen. Es werden einige theoretische Dimensionen der Kategorie ausdifferenziert. Methodologisch lässt sich dieser Entwurf als "formale Grounded Theory" verstehen: Durch den Vergleich unterschiedlicher empirischer Felder und Fälle entsteht auf hermeneutischem Weg eine Disziplinen umspannende sozialwissenschaftliche Kategorie, die zur Konzeptualisierung der Entwicklungsdynamik interpersonaler, sozialer, institutioneller Strukturen herangezogen werden kann – speziell bezüglich der Verquickung und des Zusammenspiels materieller und symbolischer Komponenten, des Individuellen und des Sozialen sowie von Vergangenheit und Zukunft.
Keywords: Erben; Familienrollen; Familienunternehmen; Freiheit und Gebundenheit des Handelns; Generationen; Grounded Theory; Identifikation; Identität; interpersonale Aushandlung; Lehrstuhlnachfolge; Objekt-Transfer; Organtransplantation; persönliche Objekte; Perspektiven; transgenerationale Weitergabe; Transzendenz; Vererben; Vorgänger-Nachfolger-Übergänge
Inhaltsverzeichnis
1. Transgenerationale Weitergabe
2. Entstehung und Charakteristik eines Theorieentwurfs
3. Grundkomponenten interpersonalen Objekttransfers
4. Analysedimensionen von Vorgänger-Nachfolger-Übergängen
4.1 Transfermuster
4.2 Vieldeutigkeiten – Interpretationen und Perspektiven
4.3 Gebundenheit und Freiheit im Transfer-Handeln
4.4 Identifikation und Transzendenz
4.5 Zeitstrukturen
4.6 Aushandlungs- und Passungsprozesse
5. Theoriesubstanz und Rezeptionsresonanzen
1. Transgenerationale Weitergabe
In den vergangenen Jahren habe ich mich um die Ausarbeitung eines sozialwissenschaftlichen Theorieentwurfs bemüht, der die Weitergabe bzw. Übernahme persönlich bedeutungsvoller Objekte von Vor- auf Nachbesitzer/innen zum Thema hat (BREUER 2009). Der konzeptuelle Ausgangspunkt dieser Theorieentwicklung war der Begriff der transgenerationalen Weitergabe. Dieser Ausdruck ist theoretisch vieldeutig, ihm kommen in unterschiedlichen Theorie- und Diskurswelten unterschiedliche Bedeutungsintensionen und Implikationen zu. Das kann ich hier nur andeuten und nicht tiefgründig ausdifferenzieren (s. dazu etwa LÜSCHER & LIEGLE 2003, S.33ff.).
Der Weitergabe-Begriff in Biologie bzw. Genetik bedeutet im Wesentlichen Vererbung, die auf dem Weg über bestimmte zelluläre Träger (v.a. Chromosomen) im Rahmen von Fortpflanzung erfolgt. Die generationale Trennung und Abfolge (Eltern → Nachkomme) ist klar und eindeutig. Die phänotypische Ausbildung der weitergegebenen genetisch fixierten Anlagen geschieht aufseiten der Nachkommen schicksalhaft-"erleidend", sie ist nicht durch aktives Aneignungshandeln gekennzeichnet.
Weitergabe lässt sich auch im Kontext interpersonaler Interaktion und Kommunikation darstellen. Dabei geht es zum einen um Prozesse der Erziehung, (Aus-) Bildung und Aushandlung. Bestimmtes Wissen, bestimmte Denkweisen, Weltanschauungen, Werthaltungen, Handlungsmuster etc. werden in sozialisatorischen und erzieherisch-pädagogischen Kontexten weitervermittelt – und hierbei spielen bestimmte Generationenlagen (Alt → Jung) typischerweise eine Rolle (vgl. etwa ECARIUS 2008). Zum anderen werden in solchen Konstellationen auch Besitztümer (materielle Objekte, ökonomische Werte – typischerweise als "Erbe") übertragen (vgl. etwa LETTKE 2003). Die generationale Trennung wird dabei unschärfer und uneindeutiger. Sie ist nicht mehr zwangsläufig an ein Verhältnis Vater/Mutter zu Sohn/Tochter gebunden. Sie kann sich vielmehr auf Unterschiede in Wissen, Fertigkeiten und (Lebens-) Erfahrung relativieren (in unterschiedlichen sozialen Konstellationen, z.B. einem Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnis). Ferner ist der Part des Empfängers oder der Empfängerin in hohem Maße durch (mehr oder weniger kooperative) Eigenaktivität und Aneignungshandeln gekennzeichnet.
Schließlich lässt sich der Weitergabe-Begriff im gesellschaftlich-institutionellen und kulturellen Kontext verorten. In diesem Rahmen wird die historische Bestandswahrung bzw. die Kontinuität gesellschaftlicher Institutionen, kultureller Konstrukte, Praktiken und Gedächtnisse fokussiert, die über mehr oder weniger stark formbestimmte Prozeduren (Gesetze, Regelwerke, Rituale, Traditionen etc.) bewerkstelligt wird (vgl. etwa BERGER & LUCKMANN 1990; ASSMANN 1997). Die Wahrung des Überkommenen wird in diesem Zusammenhang jedoch durch Wandel und (Um-) Brüche relativiert, die aufgrund unterschiedlicher Bedingungsfaktoren ins Spiel kommen können. Der Generationenbegriff löst sich dabei weitgehend von der Eltern-Kinder-Konstellation ab, wird zunehmend diffus und bekommt einen mehr mentalitätslogischen Charakter (die "Nachkriegsgeneration", die "68er Generation", die "Generation Golf" etc.). [1]
Der hier vorgestellte Ansatz bewegt sich vorwiegend auf der 2. Ebene. Die 3. Ebene stellt allerdings einen gesellschaftlich-kulturellen Rahmen dar, ohne den sozial-interaktives Weitergabe- und Übernahmehandeln theoretisch nicht angemessen fassbar und darstellbar ist. Die 1. Ebene der Biologie/Genetik spielt in dieser Theorie keine gegenstandstheoretisch konstitutive Rolle, sie wird hier nicht fokussiert. Allerdings kommt sie als Mentalitäts- und Diskursphänomen dann ins Spiel, wenn einschlägige Vorstellungen, Normen und Ideale der beteiligten Akteure salient sind (wenn beispielsweise Annahmen über genealogisch-familiäre Zusammenhänge als handlungsbegründende Prinzipien wirksam werden u.Ä.). [2]
2. Entstehung und Charakteristik eines Theorieentwurfs
Angefangen hat die Entwicklung des hier vorgestellten Theorieansatzes mit Studien zur transgenerationalen Weitergabe kleiner Unternehmen, vornehmlich von Familienbetrieben: münsterländischen Bauernhöfen, handwerklichen Familienbetrieben, gastronomischen Kleinunternehmen (Restaurants, Hotels, Kneipen). Hier haben wir1) uns Weitergabe- und Übernahmegeschichten von unterschiedlichen Beteiligten erzählen lassen – aus der Sicht von Mitgliedern der Vorgänger- und der Nachfolger-Generation, von Müttern und Vätern, Söhnen und Töchtern sowie Zugeheirateten. Ich habe versucht, diese Verlaufsdarstellungen und Perspektiven in einer systematisieren Weise zu rekonstruieren (s. BREUER 2009, S.273ff.). [3]
Im Laufe der Zeit habe ich das Spektrum der inspizierten empirischen Felder erweitert, u.a. in folgende Richtungen:
Weitergabe in andersartigen Organisationen: z.B. die Lehrstuhlnachfolge an Universitäten oder die Nachfolge in der Leitung pädagogischer und kultureller Institutionen – also i.w.S. in staatlichen Einrichtungen;
Weitergabe bzw. Übernahme von Partnerschafts- und Familienrollen: etwa neue (Ehe-) Partner und Partnerinnen oder neue Väter/ Mütter im Rahmen der Um- und Neukonfiguration von Familienverbänden, beispielsweise bei Scheidung oder Adoption;
Weitergabe/Übernahme von Körperorganen im Rahmen von Organtransplantationen. [4]
Diese Beispielaufzählung gibt einen Eindruck vom Umfang der Phänomenbereiche bzw. Domänen, um den es bei diesem Theorieentwurf gehen kann. Bei dem Thema sind eine Vielzahl anthropologischer, kultureller, makro- und mikrosozialer sowie psychologischer Dimensionen involviert. Betrachtet man die soziale Alltagswelt mit einer derartigen Vorgänger-Nachfolger-Optik, entdeckt man schnell eine Vielzahl von Bereichen und Beispielen, die in der gemeinten Hinsicht strukturelle Parallelen, Ähnlichkeiten und Bezüge aufweisen. [5]
Methodologisch lag der Akzent dieses Projekts auf Theorienentwicklung und -elaboration und war vom Forschungsstil der Grounded-Theory-Methodik (vgl. STRAUSS 1991) und einer damit gepassten selbstreflexiven Forschungshaltung (BREUER 1996, 2010) geprägt. Unter einer selbstreflexiv-induktiven (bzw. abduktiven) Orientierung wurden aus beobachteten alltagsweltlichen sozialen Phänomenen und deren subjektiven Darstellungen (etwa in Form von Narrationen) theoretische Modellierungen entwickelt. Das methodologische Prinzip des Vergleichens bzw. der Kontrastierung zwischen empirischen Fällen und Domänen spielte als heuristisches Mittel dabei eine wesentliche Rolle. Von dieser Maxime inspiriert ergab sich eine mäandernde Suchbewegung über unterschiedliche Weitergabe-/Nachfolge-Fälle und empirische Felder von Objekt-Transfer hinweg. Die Entwicklung ging dabei von einer bereichsbezogenen Theorie zur Nachfolge in Familienunternehmen aus in Richtung auf eine (in der Terminologie der Grounded-Theory-Methodik so genannte) formale Theorie. Es handelt sich im Ergebnis um einen Modellentwurf, der sich über das ursprünglich fokussierte Anwendungsfeld hinaus auf heterogene, zunächst durchaus als disparat erscheinende empirische Domänen, in denen solche Besitzübergänge bzw. Besitzer/innenwechsel eine Rolle spielen, anwenden lässt. Vom methodologischen Prinzip des Entwicklungsvorgehens lässt sich das in analoger Weise zur Darstellung der Genese der Theorie der "Bewusstheitskontexte" bei STRAUSS (1991, S. 303ff.) kennzeichnen: Es handelte sich um einen kreativen Prozess, bei dem das Spektrum der einbezogenen materialen Gegenstandsfelder im Laufe der Zeit ausgeweitet wurde – auch in Bereiche hinein, an die ich zu Beginn der Beschäftigung mit dieser Thematik gar nicht gedacht hatte. Die Verwendung einer "Vorgänger-Nachfolger-Optik" bei der Betrachtung lebensweltlicher Themen und Domänen öffnete die Augen für die Universalität und Vielfalt einschlägiger Prozess-Muster. [6]
Da der Ansatz mehr und mehr auf unterschiedliche empirisch-alltagsweltliche Felder bezogen wurde, entstand ein kategoriales Vokabular, das sich durch einen gewissen Abstraktionsgrad auszeichnet. Im Zusammenhang der Untersuchungen an Bauernhöfen und Handwerksbetrieben beispielsweise habe ich meinen Fokus zunächst noch mit dem Begriff der transgenerationalen Weitergabe gekennzeichnet. Ich habe dann – unter Berücksichtigung des Aspekts der Aktivitätsrollen beider konstitutiver Protagonist/innen und ihrer Perspektivendivergenzen – von transgenerationaler Weitergabe und Übernahme gesprochen und schließlich den (in diesem Zusammenhang unscharfen bzw. einengenden) Generationen-Begriff herausgenommen und den extensional offeneren Ausdruck Vorgänger-Nachfolger-Übergang verwendet. [7]
Dabei geht es im Kern um "Objekte", die von einem/einer "Besitz-Protagonist/in A" zu einem/einer "Besitz-Protagonist/in B" "transferiert" werden. Ich nenne diesen Transfer-Typ auch Protagonistenwechsel. Ich unterscheide das vom sogenannten Objektwechsel, bei dem der Protagonist/die Protagonistin konstant bleibt und das Besitzobjekt ausgetauscht bzw. ersetzt wird – darauf gehe ich hier aber nicht weiter ein (vgl. BREUER 2009, S.38ff.). [8]
Bei dem "Objekt", das hinsichtlich des "Besitzes" von A zu B transferiert wird, kann es sich um einen materiellen Gegenstand, eine organisationelle Position oder eine soziale Rolle handeln. Die Ausdrücke "Besitz" und "Besitzer/in" sind in einem sehr allgemeinen Sinn gemeint. Mitunter spreche ich – stärker abstrahierend und weniger bedeutungsvorbelastet, aber umständlicher – von einer "Person-Objekt-Koppelung". [9]
Für ihre/n Besitzer/in – und das ist eine wesentliche Voraussetzung der theoretischen Überlegungen – handelt es sich dabei nicht um ein triviales bzw. gleichgültiges, sondern um ein subjektiv bedeutungsvolles, signifikantes Objekt. Es geht um Dinge, die sich durch eine personale Charakteristik auszeichnen. Ich nenne sie in Anlehnung an einen Ausdruck von Tilmann HABERMAS (1996) persönliche Objekte. Damit ist gemeint, dass wir es mit Formen idiosynkratisch-transaktionaler Koppelung von Objekt und Besitz-Protagonist/in zu tun haben. Beide sind miteinander verquickt und verschmolzen, sodass das eine gewissermaßen einen Ausdruck und identifikatorischen Bezugspunkt des anderen darstellt. Es handelt sich um individuell gestaltete Objekte, die mit Begriffen wie persönliche Prägung oder Verpersönlichung gekennzeichnet werden können. Idealtypisch handelt es sich um die Bindung an ein Lebenswerk oder die Stiftung einer spezifischen Tradition oder Schule. Die Person spiegelt sich im Objekt – und das Objekt ist gewissermaßen beseelt durch seine/n Schöpfer/in bzw. Gestalter/in. Ich spreche auch von identitär-identifikatorischer Koppelung von Person und Objekt und einer entsprechenden – auch affektiv aufgeladenen – Relevanzbeziehung zwischen den beiden Seiten. [10]
Eine Theorie, die diese Charakteristik angemessen fassen kann, muss sensitiv sein für subjektive Interpretationsprozesse, für Prozesse persönlicher Sinn- und Identitätsstiftung, für die Wichtigkeit von Beteiligten-Perspektiven und interaktionalen Bedeutungsaushandlungen, und sie muss schließlich Konzepte für soziale Muster, Tradition und Kultur beinhalten. In meinen Augen geht es hier um eine sozialwissenschaftlich-hermeneutisch ausgerichtete Theorie mit Disziplinen umspannendem Charakter. [11]
Im Folgenden skizziere ich einen Entwurf grundlegender Begriffe und theoretischer Dimensionen, die den Weg zu einer solchen Theorie vorzeichnen. [12]
3. Grundkomponenten interpersonalen Objekttransfers
Im Laufe der Zeit der Beschäftigung mit Transfer-Beispielen aus unterschiedlichen empirischen Kontexten habe ich ein elementares Basisvokabular für die Beschreibung derartiger Phänomene entwickelt. In kurzer Übersicht besteht dies aus folgenden begrifflichen Grundkomponenten (vgl. BREUER 2009, S.43ff.):
die Protagonist/innen der Weitergabe/Übernahme: Vorgänger/in und Nachfolger/in;
das Objekt der Weitergabe bzw. Übernahme: eine gestaltete persönliche Struktur und die damit verknüpften Beziehungen;
der Kontext und dessen Akteure: historische, politische und institutionelle Gegebenheiten und die Beteiligten dieser Felder;
Muster und Reglemente: soziale Schemata des Transfers; geltende Gesetze, Rechte und Pflichten von Vorgänger/in und Nachfolger/in, Traditionen; formelle und informelle Regeln;
Haltungen und Identifikationen der Protagonist/innen und der übrigen Akteure: Einstellungen, Motivlagen – speziell bezogen auf die relevanten Objekte;
Interessen der Protagonist/innen und Akteure aus ihren jeweiligen Positionen bzw. Rollen im Weitergabe-/Übernahme-Zusammenhang;
Strategien der Protagonist/innen und Akteure zur Realisierung ihrer interessenbezogenen Ziele. [13]
4. Analysedimensionen von Vorgänger-Nachfolger-Übergängen
Über diese Grundbegriffe hinaus habe ich im Zusammenhang mit dem Vergleichen beschriebener Transferfälle und lebensweltlicher Domänen einige von Vorgänger-Nachfolger-Übergängen gemeinsam geteilte Dimensionen herauspräpariert, auf denen sich solche Transfers über unterschiedliche Kontexte hinweg charakterisieren lassen, und die konstitutive Analyseebenen der Transfer-Theorie darstellen. [14]
Dabei handelt es sich um folgende Aspekte:
die Musterhaftigkeit des Objekttransfers,
die Deutungshaltigkeit der Übergangsprozesse, ihre Perspektivenabhängigkeit,
die personal-willentliche Verfügung über das Transfergeschehen bzw. dessen gebundene bzw. erzwungene Verlaufscharakteristik,
der transzendentale Charakter des Objekttransfers,
die zeitliche Strukturiertheit in den Objektbesitz-Übergängen zwischen Vorgänger/in und Nachfolger/in,
die Aushandlungscharakteristik des Prozesses zwischen den Geschehensbeteiligten. [15]
Im Folgenden gebe ich einen Eindruck von der Charakteristik dieser Beschreibungsebenen. [16]
Für den Transferverlauf sind bestimmte soziale Muster2) von Bedeutung: Die Beteiligten benutzen in ihren einschlägigen Interaktionen konventionelle Schemata zur Handlungsorientierung. Deren Skripte beinhalten Reglemente, Rollen, Verpflichtungen und Erwartungen der beteiligten Parteien (BREUER 2009, S.61ff.). Für unsere gesellschaftliche Praxis der Distribution von Objekten als Waren ist beispielsweise das Transfermuster Verkaufen – Kaufen ziemlich charakteristisch. Es gibt in unserer Lebenswelt eine Vielzahl analoger Schemata, die je besondere Eigenschaften, Reglemente und Rollencharakteristika beinhalten. So können für uns beispielsweise Formen der Objektübergabe bzw. -übernahme zwischen einem Vorbesitzer/einer Vorbesitzerin und einem Nachbesitzer/einer Nachbesitzerin – konventionell geregelte legale und friedfertige Muster wie das (Ver-) Erben zwischen Angehörigen verschiedener Familiengenerationen und das Schenken (das Machen und Empfangen von Geschenken), aber auch illegale und gewaltförmige wie das Erobern (im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen) oder das Rauben (z.B. von Familienschmuck aus meiner Wohnung) von Interesse sein. [17]
Dabei lassen sich sog. reziproke und redistributive Weitergabe- bzw. Übernahme-Strukturen unterscheiden: Erstere werden im Kern durch einen unmittelbaren Austausch zwischen zwei Protagonist/innen ins Werk gesetzt (prototypisch: ein/e Schenkende/r und ein/e Beschenkte/r; Vater und Sohn bei der Unternehmensweitergabe). Die redistributiven Varianten benötigen strukturell eine dritte Instanz, einen zusätzlichen Akteur aus einem oberen Kontext (Prototypen: die administrative Struktur bei einer Lehrstuhlnachfolge an der Universität, der Rektor bzw. die Rektorin, das Ministerium o.Ä.; einschlägig organisierte Institutionen des Medizinsystems bei Organtransplantationen – Kliniken, Ärzt/innen, die internationale Koordinierungsstelle zur Organverteilung "Euro-Transplant"). [18]
4.2 Vieldeutigkeiten – Interpretationen und Perspektiven
Die Szenarien von Vorgänger-Nachfolger-Übergängen sind vieldeutig und hochgradig interpretationsgeprägt (BREUER 2009, S.82ff.). Handlungsorientierungen und -deutungen besitzen einen standpunktgebunden-perspektivischen Charakter, und sie bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Es lassen sich formelle und informelle Züge, offene und verdeckte, Vorderbühnen- und Hinterbühnencharakteristika solcher Transfers unterscheiden. Was beispielsweise auf den ersten Blick als Prozess des Vererbens und Erbens erscheint, kann hintergründig oder aus anderem Blickwinkel als eine Form des Ergaunerns und Erschleichens angesehen werden. Beteiligte können die Deutungsoptik "Nachfolge" in zeitlich synchroner oder asynchroner Weise fokussieren: So kann z.B. für einen Unternehmensgründer seit der Geburt seines ersten Sohnes das Weitergabethema salient sein, der Sohn wird sich dagegen erst zu einem späteren Zeitpunkt seiner familiären Sozialisationsgeschichte mit der Problematik der Leitungsübernahme konfrontiert sehen. Beim Konzept "Nachfolge" – so kann man generell sagen – haben wir es mit einem Interpretationskonstrukt zu tun. [19]
Im Rahmen von Herztransplantationen wird aus medizinischer Sicht häufig die Sichtweise propagiert, beim Herzen handele es sich um einen Muskel, das alte Organ sei eine verschlissene oder defekte Pumpe, an deren Stelle ein leistungsfähiges Ersatzteil tritt. Organempfänger/innen drängt sich im Laufe der Geschichte ihrer subjektiven Organintegration u.U. eine andere Deutungsfigur auf – nämlich eine, die Nachfolge-Implikationen besitzt: Sie nehmen das eingepflanzte Herz als beseeltes Objekt eines Vorbesitzers oder einer Vorbesitzerin wahr, das eine personal geprägte Vorgeschichte hat. Und sie beschäftigten sich mit der Frage, ob bestimmte empfundene Veränderungen am eigenen Leib etwas mit der Personcharakteristik des sog. "Organspenders" bzw. der "Organspenderin" zu tun haben, die zusammen mit dem verpflanzten Herzen auf sie überkommen sind. [20]
Bei der historisch jungen medizinischen Technologie der Organtransplantation handelt es sich – hinsichtlich der sozialen Beziehung und Interaktion zwischen Vor- und Nachbesitzer/in – um einen Objekt-Transfer, für den es keine soziokulturell etablierte Musterdeutung und rollenbezogene Handlungsanleitung gibt. Durch die Kennzeichnung als Spenden-Akt, bei dem die Identität der Protagonist/innen beidseitig im Verborgenen bleibt, soll dem transferierten Organ – so die Intention innerhalb der institutionellen Struktur des deutschen Transplantationswesens – eine depersonalisierte Charakteristik verliehen werden. Aufseiten des Empfängers bzw. der Empfängerin ruft diese Vorgabe häufig Nachfragen und identitäre Verunsicherung hervor. Diese werden in ihrer Interpretationsarbeit bezüglich des leitenden Transfermusters sichtbar: Akzeptieren sie die Sichtweise der anonymen Spende, oder favorisieren sie eine Deutung, die sich dem Muster Schenken oder dem Muster Opfern zuordnen lässt? Wenn es sich um ein Geschenk handelt, ergibt sich die konventionelle Verpflichtung und der persönliche Wunsch des interpersonalen Sich-Bedankens. Und mancherlei Überlegens- und Recherche-Aktivitäten von Herz-Empfänger/innen im Verlauf der Verarbeitung ihrer veränderten Lebenssituation (etwa bezüglich der Beschäftigung mit der Identität des Organ-Vorbesitzers bzw. der Organ-Vorbesitzerin) können unter der Perspektive einer solchen Deutungsunsicherheit und Interpretationsanstrengung verstanden werden (vgl. KALITZKUS 2003; MODLICH 2010). [21]
4.3 Gebundenheit und Freiheit im Transfer-Handeln
Auch die Frage des menschlichen freien Willens spielt bei Vorgängen des Objekt-Transfers eine Rolle: Sind die Weitergabe-Protagonist/innen die Herren (die Herrinnen) des Verfahrens? Oder ist ihr Handeln von Objektstrukturen und Transfermustern erzwungen (BREUER 2009, S.120ff.)? [22]
Herz-Empfänger/innen fühlen sich möglicherweise bestimmten Eigenschaften des Vorbesitzers bzw. der Vorbesitzerin durch dessen/deren geprägtes Objekt schicksalhaft ausgeliefert. Im positiven Fall: Es ist ein Sportler/innen-Herz – und der Empfänger/die Empfängerin bekommt damit auch dessen oder deren Fitness übertragen. Aber was passiert, wenn es sich (real oder auch imaginiert) um das Herz eines Mörders/einer Mörderin handelt? Konstellationen dieser Art bilden den dramatischen Stoff für Romane und Spielfilme zum Thema Organtransplantation (vgl. KRÜGER-FÜRHOFF 2005). [23]
Ein anderer beispielhafter Bereich: Sind es die Gesetze von Haus und Hof, die das Handeln bestimmen? Für das traditionelle bäuerliche Milieu beispielsweise war und ist im Kontext von Nachfolgeregelungen nicht selten ein Denken vom Hof her charakteristisch. Dies wird durch die Redeweise vom "Land, das den Bauern erbt", pointiert gekennzeichnet. Der Hof gilt hier als Protagonist, der die Beziehungen zwischen den Menschen stiftet. Deren Bedürfnisse und Wünsche müssen dem gegenüber zurückstehen. [24]
In Nachfolge-Szenarien herrschen differenziell ausgeprägte Zwänge, die durch Objektmerkmale sowie normative Traditionen unterschiedlichen Zuschnitts und unterschiedlicher Verbindlichkeit konstituiert sind. Die Transferdomänen und -muster bestimmen die Handlungsspielräume der Protagonist/innen mehr oder weniger strikt. Ein reflexiver Umgang der Akteure mit derartigen Voraussetzungen vermag eine Erweiterung von Möglichkeitenräumen individuellen Handelns zu befördern. Vorgänger-Nachfolger-Wechsel sind in diesem Zusammenhang auch Einlasspforten des sozialen Wandels. Vorgänger/innen zeigen sich dabei häufig als Repräsentant/innen des Alten und Etablierten, Nachfolger/innen als Vertreter/innen des Neuen und Offenen. [25]
4.4 Identifikation und Transzendenz
Objekte sind mitunter dauerhafter als ihre Besitzer/innen. Deren Amts- oder Lebenszeit läuft ab, ihre Hinterlassenschaft besteht fort. Das geprägte Objekt weist über die endliche Lebensspanne seines Besitzers bzw. seiner Besitzerin hinaus. Es eignet sich so u.U. als Form personaler Transzendenz – als Medium der Überschreitung von Endlichkeitsgrenzen, des Erlangens eigener Unsterblichkeit in stellvertretender/symbolischer Form: Die Protagonist/innen leben gewissermaßen in ihren Werken weiter (BREUER 2009, S.143ff.). [26]
Ob und wie das gelingt, hängt naturgemäß auch von den Nachfolger/innen und deren Objekthandhabung ab. Vorbesitzer/innen ist häufig daran gelegen, den Umgang der Nachfolger/innen mit ihrem persönlichen Objekt vorauszubestimmen und im eigenen Sinne zu gewährleisten. Dafür gibt es eine Vielzahl strategischer Möglichkeiten. [27]
Ich unterscheide zwischen struktureller und genealogischer Transzendenz. Bei der strukturellen Transzendenz geht es um das Überdauern der Hinterlassenschaft als erkennbar bleibendes persönlich geprägtes Objekt. Der Begriff der genealogischen Transzendenz bezieht sich auf die Charakteristik des interpersonalen Verhältnisses zwischen Vorgänger/in und Nachfolger/in. Prototypische Vorgänger/innen mit Interesse an Objektwahrung im angesprochenen Sinn wünschen sich Nachfolger/innen, die ihnen in relevanten Haltungen und Identifikationen möglichst ähnlich sind. Gelingt es ihnen, diesen Wunsch in die Wirklichkeit umzusetzen, so erreichen sie über ihr Fortleben im gestalteten Objekt hinaus gewissermaßen ein Fortleben in der Person des Nachfolgers oder der Nachfolgerin. [28]
In diesem Zusammenhang erscheinen Eltern-Kind-Konstellationen (etwa in Familienbetrieben) oder Lehrer/in- bzw. Meister/in-Schüler/in-Verhältnisse (etwa bei der Lehrstuhlnachfolge oder bei der Nachfolgeregelung in asiatischen Kampfkunstschulen) aufgrund der engen genetischen und/oder sozialisatorischen Beeinflussung als besonders geeignet. Aus Vorgänger/innensicht eröffnen sich so anscheinend allerbeste Aussichten auf Sicherung der Hinterlassenschaft im eigenen Sinn. Das kann jedoch – wie wir aus mancherlei Vater-Sohn- oder Lehrer/in-Schüler/in-Konfliktgeschichten wissen – auch gründlich daneben gehen: Vorgänger/innen setzen beispielsweise auf Loyalität, Respekt und Fügsamkeit ihrer Nachkommen – diese reagieren u.U. mit Abgrenzung, "eigenem Kopf" und Rebellion. Die Ambivalenz der Generationenverhältnisse und die daraus entspringende Psychodynamik in den Interaktionen der Protagonist/innen begrenzen die Beeinflussbarkeit und Vorausplanung. [29]
Auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene haben wir es bei unserem Thema mit dem Problem der zeitlichen Endlichkeit aller Menschen, Dinge und Verhältnisse zu tun. Gesellschaftlich stellt sich häufig die Aufgabe, den Fortbestand von Institutionen und organisationalen Strukturen zu bewerkstelligen – über das Ausscheiden, den Abtritt der objekt-prägenden Protagonist/innen hinweg. Für einen individuellen Protagonisten bzw. eine individuelle Protagonistin geht es um den Umgang mit der Begrenztheit seiner/ihrer Amts- und Lebenszeit im Zusammenhang mit seiner/ihrer identifikatorischen Koppelung an ein Objekt. [30]
In diesem Rahmen sind eine Vielzahl von Zeitdimensionen und ihre Rhythmen, Phasen und Zyklen von Bedeutung (BREUER 2009, S.172ff.). Ich differenziere in meinem Ordnungsversuch zwischen individueller Zeit (Taktung personaler Lebensabschnitte), Systemzeit (Periodizitäten in Domänen: Amtszeiten, Wahlperioden u.a.) und Kontextzeit (historische Phasen und Wandlungen). Darüber hinaus unterscheide ich noch die Beschreibungszeit, die mit der zeitlichen Distanz, Perspektive und Intention von Transferprozessdeutungen zusammenhängt. [31]
Hier ist die Frage von Bedeutung, wie sich die Wahrnehmungen, Deutungen und Darstellungen von Transfer-Geschichten von Beteiligten, Beobachter/innen, Historiker/innen etc. aus verschiedenen Zeitdistanzen zum Geschehensablauf unterscheiden bzw. wandeln. Dabei spielt die Interpretationskonstruktcharakteristik eine wesentliche Rolle. Wir treffen beispielsweise auf differenzielle Bewusstheit beteiligter Akteure hinsichtlich der Weitergabe-Übernahme-Thematik einer Situation oder einer Zeitphase. Damit ergeben sich für die Protagonist/innen und (Mit-) Akteure jeweils unterschiedliche Möglichkeiten der Geschehensantizipation und der strategischen Handlungsplanung. [32]
Die Zeitstruktur von Objekt-Transfers lässt sich auch in den drei Abschnitten: Planung/Vorbereitung, Durchführung (mit ihren Ritualen) und Nachverarbeitung systematisieren. Hierbei kommen beispielsweise Gesichtspunkte des Zeitmanagements in den Blick – etwa die Problematik von Vorgänger/innen, die von ihrem Objekt nicht lassen können, sich für unentbehrlich halten – und den richtigen Zeitpunkt des Wechsels verpassen. [33]
Ich möchte noch ein weiteres Zeitmuster des Besitz-Übergangs von Vorgänger/innen und Nachfolger/innen ansprechen, bei dem sich typisierend dreierlei Fallvarianten unterscheiden lassen:
Es gibt einen Zeitpunkt, in dem das Besitzverhältnis des Vorgängers oder der Vorgängerin endet, und zeitgleich das Besitzverhältnis des Nachfolgers oder der Nachfolgerin beginnt – also eine Struktur schlagartig-unmittelbarer Aufeinanderfolge (Prototyp: Kaufen eines Objekts bei Barzahlung).
Eine zweite Form ist durch ein Intervall zwischen den Besitzzeiten von Vorgänger/in und Nachfolger/in gekennzeichnet. Diesen Fall nenne ich Vakanz. Aus dem Kontext von Nachfolgeaushandlungen bei Lehrstuhlbesetzungen kennen Mitglieder des universitären Milieus allerlei Fälle, in denen in dieser Übergangsphase turbulente Aushandlungsprozesse zwischen Interessen und Begehrlichkeiten auftreten. Es kommt zu einer ambivalenten Interimsphase: Einerseits gibt es Gelegenheit, über die Notwendigkeit einer Bestandswahrung zu reflektieren, zum anderen kann das "herrenlose Objekt" u.U. auch zum Spielball externer Interessen werden.
Die dritte Form ist die zeitliche Überschneidung der Besitzzeiten von Vorgänger/in und Nachfolger/in. Ich nenne das Kohabitation (BREUER 2008a, 2009, S.252ff.), mitunter findet sich der Ausdruck "Doppelspitze". Im Kontext von Familienunternehmen kommt dieses Übergangsmuster häufig vor: Der Senior oder die Seniorin bleibt in einer bestimmten Position und Rolle im Unternehmen aktiv, auch wenn der Junior oder die Juniorin bereits formell das Zepter übernommen hat. Handelt es sich um eine familiär-genealogische Konstellation, so überdauert – jenseits des formellen Leiter/innenwechsels – das autoritative Eltern-Kind-Verhältnis (so ist z.B. ein Junior nun Chef, aber er bleibt Sohn). Nach meinen Daten sind in derartigen Konstellationen divergent-konträre Deutungen von Protagonist/innenhandeln und dem entsprechend konfliktreiche Beziehungsaushandlungen recht verbreitet. [34]
4.6 Aushandlungs- und Passungsprozesse
Die Objekttransfers vollziehen sich im Rahmen eines Aushandlungsprozesses zwischen den Besitz-Protagonist/innen, den (mitunter selbstaktiven) Objekten sowie anderen Kontext-Akteuren (Familienmitgliedern, Mitarbeiter/innen, Angehörigen einer Administrations- oder Leitungsstruktur etc.). Es spielen unterschiedliche Haltungen, Interessen und Ambitionen im Rahmen sozialer Beziehungen und Regelwerke bzw. Konventionen eine Rolle. In manchen Fällen besitzen Vorgänger/in und Nachfolger/in eine gemeinsame Vorgeschichte (z.B. als Eltern und Kinder, Lehrer/in und Schüler/in, als Peers aus dem gleichen Milieu o.Ä.), die weichenstellende Bedeutung für die Art der Aushandlung des weiteren Umgangs mit dem Transferobjekt besitzt (BREUER 2009, S.216ff.). [35]
Prototypische Vorgänger/innen bzw. Vorbesitzer/innen sind an der Wahrung, Erhaltung und Kontinuität der von ihnen geprägten Objektcharakteristik interessiert, und ihre Vorgehensstrategien sind von dem Bemühen geprägt, ihre Interessen den Nachbesitzer/innen gegenüber durchzusetzen. Prototypische Nachfolger/innen gehen ihrer Ambition der eigenständigen Aneignung und Verpersönlichung des Objekts nach, sie wollen eventuell aus dem Schatten des Vorgängers/der Vorgängerin heraustreten. Ein Nachfolger bzw. eine Nachfolgerin wird die Person und das Werk des Vorbesitzers bzw. der Vorbesitzerin – je nach eigener Interessenlage und der Charakteristik ihrer Beziehung zu diesen – in spezifischer Weise würdigen, wahren, wandeln oder demontieren. [36]
Im Umgang mit dem Objekt wird auch eine Beziehungsaushandlung, eine (neue) Beziehungs-Kalibrierung zwischen den Protagonist/innen ins Werk gesetzt. Dies kann sich in einem Kontext direkter interpersonaler Interaktion (im Vis-à-vis-Kontakt von Vorgänger/in und Nachfolger/in) vollziehen. Es geschieht auch dann, wenn der Vorbesitzer oder die Vorbesitzerin abtritt und dem Nachfolger oder der Nachfolgerin das Feld überlässt: Seine/ihre Hinterlassenschaften (das Objekt und die verbleibenden Kontext-Akteure) besitzen mitunter ein gewisses Maß an Beharrungsvermögen oder ein Eigenleben, und der Nachfolger oder die Nachfolgerin muss sich in seinem/ihrem Aneignungs- und Verpersönlichungshandeln mit diesen Vorfindlichkeiten auseinandersetzen. Der Prozess der Aushandlung um das transferierte Objekt vollzieht sich ebenfalls dann, wenn der Vorgänger oder die Vorgängerin bereits von der Lebensbühne abgetreten ist – etwa bei Maßnahmen der Wahrung seines/ihres Gedächtnisses, in der Erinnerungsarbeit der Hinterbliebenen, im Neu- und Umschreiben der Geschichte des Objekts und der Rolle und Verdienste seines Vorbesitzers oder seiner Vorbesitzerin. [37]
5. Theoriesubstanz und Rezeptionsresonanzen
Auf die Frage, was der Ertrag meiner Theorieentwicklungsbemühung ist, würde ich etwa Folgendes antworten:
Dies ist der Vorschlag eines sozialwissenschaftlichen kategorialen Vokabulars, mit dem sich Vorgänger-Nachfolger-Übergänge eines breiten Phänomenspektrums beschreiben und systematisieren lassen.
Das Kernkonzept des Transfers persönlicher Objekte zwischen Vorgänger/in und Nachfolger/in vermag eine Vielfalt von Geschehensprozessen unserer sozialen Lebenswelt unter einer gemeinsamen theoretischen Perspektive darzustellen und taugt als Entwurf einer interessanten sozialwissenschaftlichen Basiskategorie. Die Gegenstandskonzeptualisierung liegt in einem heuristisch produktiven Schnittbereich von Materiellem und Ideell-Symbolischem, Individuellem und Sozialem, von Persönlichem und Kulturellem, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und involviert eine Vielzahl sozialwissenschaftlich-disziplinärer Grundfragen und Zugriffsdimensionen.
Die angebotene Ausdifferenzierung unterschiedlicher theoretischer Beschreibungsebenen liefert ein Werkzeug zur Analyse von Vorgänger-Nachfolger-Übergängen in einem breiten Spektrum lebensweltlicher Felder.
Es handelt sich um den Entwurf eines empirischen Forschungsprogramms: Der Ansatz leitet eine vertiefende Erforschung und Analyse unterschiedlicher Vorgänger/in-Nachfolger/in-Domänen sowie eine konzeptuelle Verdichtung der Theorie durch Domänen-Vergleiche an.
Empirische Konkretisierungen der Modellvorstellung in alltagsweltlichen Feldern liegen in einigen Studien vor – hier eröffnet sich jedoch noch ein großes Feld interessanter Untersuchungsfragen. [38]
Ich habe in der Vergangenheit einige Erfahrungen mit der Präsentation der Theorie und ihrer empirischen Illustrationen gemacht. Dabei geht es um Resonanzen, die aus solchen Vortrags- und Tagungskontexten stammen, in denen Mitglieder einer alltagsweltlichen Nachfolgedomäne – also vom Thema praktisch Betroffene – anwesend bzw. beteiligt waren. Aus Publikumsreaktionen wurde mir deutlich, dass es sich bei den Objekt-Transfers in diesen Feldern um ein in den Augen persönlich und handlungsmäßig Involvierter intimes Terrain handelt – um identitär und affektiv stark aufgeladene Dinge eben. Empfindsamkeiten und dem entsprechende emotional-affektive Reaktionen sind in diesem Zusammenhang – auch ungewollt – schnell berührt bzw. ausgelöst, dadurch dass bestimmte Phänomene benannt und beschrieben werden. Eine genauere Darstellung dieser Erfahrungen findet sich in BREUER (2011/im Druck). [39]
1) Die Untersuchungen fanden z.T. im Rahmen von Forschungsseminaren an der Universität statt; einige Interviewgespräche wurden von Studierenden geführt. <zurück>
2) Der "Muster"-Begriff wird hier in einem verallgemeinerten Sinn benutzt. Er umfasst sowohl soziologische wie psychologische Ebenen, sowohl (sozio-) kulturelle Ordnungsschemata wie (inter-) aktionale Handlungsskripte. Es wird die Geleitetheit des Einzelfallgeschehens, des individuellen Interpretierens und Handelns durch allgemeine bzw. übergeordnete Strukturen fokussiert. <zurück>
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Franz BREUER ist Professor am Institut für Psychologie der Universität Münster.
Kontakt:
Prof. Dr. Franz Breuer
Westfälische Wilhelms-Universität
Institut für Psychologie
Fliednerstr. 21
D-48149 Münster
E-Mail: breuerf@uni-muenster.de
Breuer, Franz (2011). Vorgänger-Nachfolger-Übergänge in institutionellen und interpersonalen Bezügen. Die Entwicklung einer Theorie des Transfers persönlicher Objekte [39 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(2), Art. 16, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1102165.