Volume 12, No. 2, Art. 15 – Mai 2011

Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat

Gisela Notz

Zusammenfassung: Im Rahmen des Forschungsprojekts "Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 – 1969" wurden 38 Biografien von allen sozialdemokratischen Frauen im Parlamentarischen Rat (1948/49) und in den Bundestagen der ersten bis fünften Wahlperiode (1949 – 1969) erstellt. In diesem Beitrag geht es um die Biografien von zwei dieser Mitglieder, Frieda NADIG und Dr. Elisabeth SELBERT. Zunächst werden das methodische Vorgehen und die Quellenlage erläutert. Anschließend werden die Biografien der beiden SPD-Parlamentarierinnen bis zu der Zeit ihres Zusammentreffens im Parlamentarischen Rat vorgestellt. Dabei soll auch die NS-Zeit angesprochen werden, die für die parlamentarische Arbeit beider Politikerinnen einen wichtigen Hintergrund darstellte. In einem dritten Schritt folgt die Darstellung ihres gemeinsamen politischen Kampfes um die Einschreibung des Satzes "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Durch einen Ausblick auf die Weiterarbeit in verschiedenen politischen Gremien soll die Relevanz der Institutionen, die den Lebenslauf der beiden Politikerinnen gestalteten und das individuelle Leben konstruierten und repräsentierten, in der historischen Situation erfasst werden.

Keywords: Sozialdemokratinnen; Grundgesetz; Gleichberechtigung; Frauenpolitik; politische Arbeit; politisch-historische Forschung; Biografieforschung; qualitative Inhaltsanalyse; problemzentriertes Interview

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Rahmung

2. Zum methodischen Vorgehen

2.1 Zur Quellenlage

3. Elisabeth SELBERT (1896 – 1986) und Friederike (Frieda) NADIG (1897 – 1970)

3.1 Elisabeth SELBERT

3.1.1 Kindheit, Elternhaus, Begegnung mit Adam SELBERT (1896 – 1918)

3.1.2 Erste politische Arbeit (1919 – 1933)

3.1.3 Nationalsozialismus (1933 – 1945)

3.1.4 Aufbau der Bundesrepublik Deutschland (1945 – 1948)

3.2 Friederike (Frieda) NADIG

3.2.1 Kindheit, Jugend und erste politische Arbeit (1897 – 1929)

3.2.2 Arbeit im Westfälischen Provinziallandtag (1929 – 1933)

3.2.3 Nationalsozialismus (1933 – 1945)

3.2.4 Aufbau der Bundesrepublik (1945 – 1948)

3.3 Gemeinsame Arbeit im Parlamentarischen Rat

3.3.1 Männer und Frauen sind gleichberechtigt

3.3.2 Die Sternstunde des Politikerinnenlebens

3.3.3 Der Kampf war nicht zu Ende

4. Schlussbemerkungen

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung und Rahmung

Im Rahmen des Forschungsprojekts "Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 – 1969", das ich in der Abteilung Sozial- und Zeitgeschichte im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn durchgeführt habe, wurden in einem ersten Schritt 26 Biografien aller sozialdemokratischen Frauen im Parlamentarischen Rat (1948/49) – dem Gremium, welches das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland formuliert hat – und in den beiden ersten Bundestagen (1949 – 1953 und 1953 – 1957) erhoben. In einem zweiten Schritt folgte die Rekonstruktion der zwölf Biografien der sozialdemokratischen Frauen, die während der dritten bis fünften Wahlperiode (1957 – 1969) für die SPD neu in den Deutschen Bundestag gewählt worden waren. Eine solche Gesamtübersicht auf alle SPD-Parlamentarierinnen, gleichgültig, ob sie später berühmt wurden oder in Vergessenheit gerieten, existierte bis dahin nicht. Die Erforschung der Biografien der Politikerinnen wurde in dem genannten Forschungsprojekt mit der ausführlichen Analyse zur politischen und gesellschaftlichen Situation in Westdeutschland bzw. in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Erst mit dieser Einbettung erscheint es in der politisch-historischen Forschung sinnvoll, mit Biografien zu arbeiten. Es geht also weniger um die Darstellung biografischer Texte, in der die Biografin als Erzählerin auftritt, sondern darum, Brüche und Kontinuitäten in den Biografien der Politikerinnen sowie in ihrer Arbeit darzustellen. [1]

Aus dem Forschungsprojekt sind zwei Veröffentlichungen hervorgegangen, die beide im Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn erschienen sind (NOTZ 2003 und 2007). Unter den dargestellten Frauen im Buch "Frauen in der Mannschaft" (NOTZ 2003) sind die beiden "Mütter des Grundgesetzes" Frieda NADIG und Dr. Elisabeth SELBERT. Ihre Biografien sind den 24 Biografien der weiblichen Bundestagsabgeordneten der beiden ersten Bundestagsperioden vorangestellt. Die Bundestagsabgeordneten sind Luise ALBERTZ, Lisa ALBRECHT, Maria ANSORGE, Franziska BENNEMANN, Margarethe BERGER-HEISE, Clara DÖHRING, Luise HERKLOTZ, Dr. Elinor HUBERT, Irma KEILHACK, Alma KETTIG, Liesel KIPP-KAULE, Lisa KORSPETER, Lucie KURLBAUM-BEYER, Gertrud LOCKMANN, Anni MELLIES, Trudel MEYER, Emmy MEYER-LAULE, Luise PETER, Dr. h.c. Annemarie RENGER, Margarete RUDOLL, Marta SCHANZENBACH, Louise SCHROEDER, Käte STROBEL und Jeanette WOLFF. Die sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten, die während der dritten bis fünften Wahlperiode neu in den Bundestag gewählt worden waren, sind Elfriede EILERS, Dr. Ilse ELSNER, Brigitte FREYH, Ingeborg KLEINERT, Edith KRAPPE, Dr. Ursula KRIPS, Dorothea LÖSCHE, Hedwig MEERMANN, Hildegard SCHIMSCHOK, Elfriede SEPPI, Helene WESSEL und Else ZIMMERMANN. [2]

Durch die Darstellung von Einzelbiografien sollten alle SPD-Frauen, die im Parlamentarischen Rat und in der ersten bis fünften Wahlperiode Mitglieder des Deutschen Bundestags waren, sichtbar werden, auch diejenigen, über die bis jetzt nichts oder wenig dokumentiert worden ist. Die Darstellung erfolgte alphabetisch, nachdem zunächst die beiden Mitglieder des Parlamentarischen Rates vorgestellt wurden. Eine Sortierung der Frauen nach Kategorien wurde nach sorgfältiger Überlegung ebenso verworfen wie eine Typisierung. [3]

Anhand der Biografien sollte der Frage nachgegangen werden, in welcher Form und in welchen Zusammenhängen die einbezogenen Frauen auf frauenpolitisch brisante Politikbereiche – wie den Kampf um den Gleichberechtigungsparagrafen im Grundgesetz, die Wiederaufrüstung und atomare Aufrüstung der Bundesrepublik, die Überarbeitung des Ehe- und Familienrechts, auf die Wohnungsbau- und die Jugend-, Sozial- und Gesundheitspolitik – Einfluss nehmen konnten. In diesem Artikel wird der Kampf um den Gleichstellungsparagrafen in den Mittelpunkt gestellt, und die Biografien der beiden "Mütter des Grundgesetzes", Frieda NADIG und Elisabeth SELBERT, werden rekonstruiert. [4]

Zu Beginn sollen das methodische Vorgehen und die Quellenlage erläutert werden. Anschließend werden die Biografien der beiden weiblichen SPD-Parlamentarierinnen im Parlamentarischen Rat vorgestellt, zunächst bis zu der Zeit des Zusammentreffens in diesem Gremium nach dem Zweiten Weltkrieg, denn bis dahin gingen sie weitestgehend getrennter Wege. Dabei soll auch die NS-Zeit nicht ausgeblendet werden, die für die politische Arbeit beider Politikerinnen einen wichtigen Hintergrund für ihre weitere parlamentarische Arbeit darstellte. In einem dritten Schritt folgt die Darstellung ihres gemeinsamen politischen Kampfes um die Einschreibung der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Durch einen Ausblick über die Weiterarbeit in den jeweiligen politischen Gremien soll die Relevanz der Institutionen, die den Lebenslauf der Politikerinnen gestalteten, in der historischen Situation erfasst werden (vgl. auch DAUSIEN 2010, S.362-375). [5]

2. Zum methodischen Vorgehen

Für die Erhebung der Biografien wurde mit einem qualitativen Methodenmix gearbeitet. Das heißt, es wurden für die Untersuchung mehrere Methoden der Datenerhebung genutzt und miteinander verbunden. So konnten verschiedene Perspektiven, mit denen die Frauen betrachtet wurden, verglichen und ein differenziertes Bild der in die Untersuchung einbezogenen Frauen gewonnen werden. Zum einen wurden biografische, themenzentrierte Interviews mit den noch lebenden ehemaligen Abgeordneten und anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (Ehemann1), Töchter, Weggefährtinnen und Weggefährten) geführt. Zum anderen wurden vorhandenes Archivmaterial (aus dem Archiv der sozialen Demokratie und verschiedenen anderen Archiven, z.B. Bundestagsarchiv, Archiv der Deutschen Frauenbewegung in Kassel, kommunale und Landesarchive), Manuskripte mit Lebenserinnerungen, Fotos, Lebensläufe, Autobiografien und Biografien, historische und aktuelle Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte, Protokolle des Parlamentarischen Rats und von Bundestagssitzungen und biografische und zeitgenössische Sekundärliteratur sowie vorhandene Nachlässe ausgewertet. [6]

Für die Durchführung der lebensgeschichtlichen Interviews wurde einer Methode gefolgt, die zwischen der des narrativen, erzählenden Interviews, wie sie von SCHÜTZE (1978 und 1982) entwickelt wurde, und dem problemzentrierten Interview (WITZEL 1982, 2000) vermittelt, indem Elemente des leitfadenorientierten Interviews und des narrativen Interviews verbunden wurden (NOTZ 1991, S.20-32). Zunächst wurde ein Leitfaden erstellt, der alle Phasen des Lebenslaufs von der Kindheit über Jugend und (Aus-) Bildung, die erste politische Arbeit, Leben und Wirken im Nationalsozialismus, Wiederaufbau und Parteiarbeit nach 1945 hin zur Arbeit im Parlamentarischen Rat/Deutschen Bundestag und zur Weiterarbeit nach dem Ausscheiden aus dem Parlamentarischen Rat/Deutschen Bundestag erfasste. Dieser Leitfaden wurde jedoch nicht Punkt für Punkt abgearbeitet. Es wurde darauf geachtet, dass die Strukturierung in der Interviewsituation möglichst weitgehend den befragten Individuen überlassen blieb. Damit sollten die Prinzipien der Offenheit und Kommunikativität (LAMNEK 1995, S.17f.) eingelöst werden. Dennoch achtete ich als Interviewerin darauf, dass die Erzählerin oder der Erzähler sich nicht auf eine individuelle Problematik des eigenen Lebenslaufs beschränkte, sondern auch den politischen Bezug von Ereignissen einbrachte. Das setzte die Bereitschaft auf beiden Seiten voraus, offen miteinander zu reden. Zu Beginn und während der Interviews musste ich den Kommunikationsfluss des Erzählens in Gang setzen und aufrechterhalten. Durch eine Eingangsfrage2) versuchte ich, eine längere Haupterzählung (vgl. BORKOWSKY & STRECKEISEN 1989, S.213) hervorzulocken. Die Strukturierung dieser Haupterzählung nahmen die Interviewten weitestgehend selbst vor. Erzählanreize (z.B. Zeigen von Fotos oder Zeitungsartikeln) und Nachfragen dienten einer systematischen Reflexion des Zusammenhangs zwischen Erinnerung und verdrängten oder vergessenen Ereignissen. Dabei ging es nicht darum, herauszufinden oder zu bewerten, wie das Leben und das Agieren, von dem erzählt wurde, wirklich gewesen ist, sondern um die Entwicklung einer dichten, am bereits vorhandenen Material plausibilisierten (politischen) Lebensgeschichte. Niemand wurde überredet, zu Inhalten Aussagen zu machen, zu denen sie oder er nichts sagen wollte. [7]

Aus den Tonbandaufzeichnungen wurden Protokolle erstellt, die den gesamten für die Projektfragestellung wichtigen inhaltlichen Verlauf der Gespräche genau, zum größten Teil wörtlich, wiedergeben. Teilweise wurde eine Selektion der Informationen, die für den beforschten Zusammenhang nicht wichtig waren, vorgenommen; dabei wurde versucht, die Gefahr des Umschreibens und "Zurechtstutzens" von Antworten zu umgehen (SHEATSLEY 1965, S.132). In wenigen Fällen, in denen die Befragten nicht zu Tonbandinterviews bereit waren, wurden möglichst wortgetreue stenografische Protokolle erstellt. Notizen, die ich während des Gesprächsverlaufs, vor allem zum nonverbalen Geschehen, gemacht hatte, wurden protokolliert und ebenfalls ausgewertet. Den befragten Männern und Frauen wurden Kopien der Protokolle ihrer eigenen Interviews angeboten. Korrekturen wurden von den Befragten nur in ganz wenigen Fällen in inhaltlich nicht bedeutender Form vorgenommen. [8]

Alle Interviewten beteuerten am Ende der Interviews, dass ihnen die Gespräche Anregungen zur Reflexion über ihr Leben und ihre politische Arbeit gegeben haben. Einige der Parlamentarierinnen sprachen nur sehr zögerlich über Dinge, mit denen sie Angehörigen durch sich wiederholende Erzählungen offensichtlich schon "auf die Nerven gefallen" waren und wunderten sich, dass sie in mir eine ermunternde Zuhörerin fanden (NOTZ 2003, S.14 und 2007, S.15). Da ich aus vergleichbaren familiären Verhältnissen komme wie die Arbeitertöchter unter den Politikerinnen, die Nachkriegszeit aus Erzählungen und eigenem Erleben kenne und zudem die Bereitschaft mitbrachte, auch mich befragen zu lassen und nicht nur selbst zu fragen, war ich nach einiger Zeit für die Gesprächspartnerinnen keine fremde Person mehr; manchmal stellte sich sogar Nähe her. Das wiederholte "Du weißt ja, wie das ist" am Ende von Erzählungen kann als Beispiel gelten. Schließlich ging es nicht nur um große Erzählungen, wie sie in der Politik oft üblich sind (vgl. KRIECHBAUMER 2001), sondern es wurden auch Schwierigkeiten und Schwächen der Politikerinnen deutlich. Lucie KURLBAUM-BEYER (1914 – 2008), MdB3)1953 – 1969, hatte nie überwinden können, dass sie als Kind armer Leute keine Gelegenheit zum Studium gehabt hatte und sie beneidete mich – obwohl sie in der Politik hoch aufgestiegen war – dass es mir gelungen war, ein Studium später nachzuholen. [9]

Eine solche Interviewmethode kann nicht ohne Vertrauen gegenüber dem oder der Interviewenden funktionieren, ohne dass es sich deshalb allerdings um einen symmetrischen Austausch (BÖTTGER 1990, S.5) handeln würde. Auch wird die Tatsache, dass ein Interview immer "eine wissenschaftliche Ausbeutungsform" (WICHTERICH 1990, S.14) ist, durch das Vertrauen nicht vollständig aus dem Weg geräumt. Primär profitieren die Wissenschaftler/innen, nicht die Interviewten. So habe ich nicht nur für die Projektarbeit profitiert, sondern auch Einblick in Lebensläufe erhalten, die mir vorher verschlossen waren, oder ich habe sogar Anregungen bekommen, die für die eigene Lebensgestaltung nutzbar gemacht werden konnten. Die Erfahrungen anderer Wissenschaftler/innen, dass Gesprächspartner/innen aussteigen, weil die Untersucher/innen eigene Reaktionen und Positionen in die Gespräche einbringen (THÜRMER-ROHR 1984, S.73) musste ich im Falle dieser Arbeit nicht machen. Eine der befragten Politikerinnen, Lucie KURLBAUM-BEYER, wurde durch das Interview angeregt, ihre Autobiografie zu schreiben, und sie bat mich bei der Abfassung um Hilfe (KURLBAUM-BEYER 2004). [10]

Die vielfältigen, keinesfalls nur positiven Erfahrungen im Umgang mit Medien, die die meisten befragten Politikerinnen und Politiker gemacht hatten, kann allerdings auch zu Vorsicht bei neuerlichen Interviews führen. Der über 90-jährige Hans-Heinz BAUER (SPD), das letzte zum Zeitpunkt der Durchführung der Interviewphase noch lebende Mitglied im Parlamentarischen Rat, verweigerte nach negativen Erfahrungen, die er mit einem Rundfunkinterview gemacht hatte, jede Art von Interview. [11]

Die Auswertung der Interviews erfolgte, ebenso wie die Auswertung des gedruckten veröffentlichten und unveröffentlichten Materials und der Archivalien und Dokumente nach einem qualitativen, strukturierten inhaltsanalytischen Verfahren (MAYRING 1993). Dieses Verfahren hat das Ziel, bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern und unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material unter bestimmten Kriterien einzuschätzen. Ein solches Verfahren schien geeignet, die Komplexität der verbalen Äußerungen auf relevante Informationen einzuschränken (LISCH & KRIZ 1978). Mir ging es weniger darum, das Material auszufiltern, als es systematisch zu ordnen. Deshalb nahm ich keinen Querschnitt durch das Material vor, sondern bearbeitete es nach der thematischen Relevanz. So entstand kein Kategorienschema, sondern relevante Textausschnitte wurden der bereits im Gesprächsleitfaden entwickelten chronologischen und inhaltlichen Systematik zugeordnet, der dann auch die Gliederung der einzelnen Biografien folgte. Die Schwerpunkte dieser Systematik werden in jeder Biografie deutlich: Kindheit, Jugend und Ausbildung; erste politische Arbeit; Leben im Nationalsozialismus; Wiederaufbau und Parteiarbeit nach 1945; Arbeit im Parlamentarischen Rat/Deutschen Bundestag; Weiterarbeit nach dem Ausscheiden aus dem Parlamentarischen Rat/Deutschen Bundestag. Im Mittelpunkt stand die Arbeit in den parlamentarischen Gremien, ihr wurden verschiedene Schwerpunkte, die dem Schwerpunkt der Arbeit der biografisierten Person entsprachen, untergeordnet. [12]

Obwohl Verstehen immer eine gewisse Interpretation beinhaltet und erfordert, wurden die Interviews nur sehr sparsam interpretiert. Es wurde lediglich versucht, Ambivalenzen und Widersprüche herauszuarbeiten, die sich bei den Interviewten im Blick auf ihre eigenen Erwartungen und ihr tatsächliches Verhalten bzw. hinsichtlich der Erwartungen und Handlungen derjenigen, über die sie befragt wurden, ergaben. Da lebensgeschichtliche Erzählungen nicht "Erlebnisse und Geschehnisse, wie sie in der historischen Situation geschehen und erlebt worden sind" (WELZER 2000, S.51), sondern "lebensgeschichtlich verarbeitete und auf den Adressaten des Erzählens hin formulierte Geschichten sind" (BOLL 2001, S.16), wurde die Berücksichtigung des jeweiligen zeitgeschichtlichen und sozialen Entstehungszusammenhangs von vorhandenen älteren Interviews und Erinnerungstexten in die Auswertung einbezogen. Es wurde auch danach gefragt, welche Rückschlüsse sich aus der Nichterwähnung bestimmter Probleme ziehen lassen. [13]

Für die beiden im Folgenden präsentierten Fallgeschichten wurden die Informationen, die die Interviews enthielten, weitgehend zur Unterfütterung des vorhandenen Materials verwendet. Die Vorbereitung der Gespräche erfolgte nach dem Studium vorhandener (Auto-) Biografien und von Archivmaterialien. Aus dieser Informationssammlung wurden die jeweils spezifischen Fragestellungen entwickelt. Es sollte vermieden werden, dass die Befragten genau das erzählen, was sie ohnehin schon aufgeschrieben oder Anderen erzählt hatten und was bereits über sie schriftlich festgehalten war. Die gezielte und umfassende Vorbereitung und das vorhandene Vorwissen über die befragte Person nach der Auswertung aller vorhandenen Materialien trugen zur Bildung des Vertrauensverhältnisses im Interview bei. Die Interviewten erkannten das Interesse an ihrer je spezifischen Lebenslage und ihrem je spezifischen Wirken. Die Auswertung von Quellen und die Interviewführung erfolgten parallel. Durch dieses Vorgehen konnten Quellenanalysen mit den Interviewerfahrungen während des Forschungsprozesses kombiniert und konfrontiert werden. Alexander von PLATO sieht in einem solchen Vorgehen den "Versuch, bekanntes Quellenmaterial unter erfahrungsgeschichtlichem Blickwinkel neu zu verstehen und zu interpretieren, wie auch umgekehrt die erfahrungsgeschichtlichen Ergebnisse der Prüfung durch traditionelle historische Quellenkritik und Analyse auszusetzen" (1987, S.7). Ein solches Vorgehen erschien sinnvoll, weil – so wurde es aus den im Rahmen des Forschungsprojekts geführten Gesprächen deutlich – die historische Realität durch Retrospektive, Wunschdenken und subjektive Veränderungen vielfach gebrochen ist und die Aussagekraft der Ergebnisse der Interviews erst in Kombination mit anderen schriftlichen Quellen aussagekräftig werden. Auch konnte es vorkommen, dass Erlebnisse in einen anderen Zeitraum verlegt wurden, was bei der Konfrontation mit vorhandenen Quellen sichtbar wurde. Manchmal verschmolzen Fantasie und Wirklichkeit in einer solch intensiven Weise, dass die Befragten selbst oft nicht mehr zu unterscheiden vermochten, was Realität, was Erzählungen, die sie von anderen übernommen hatten, und was Fiktion ist (NOTZ 2003, S.14). Alle Facetten der Erinnerung sind, ebenso wie die schriftlichen Quellen, Perspektiven auf die Vergangenheit und schaffen theoretische Verknüpfungsmöglichkeiten, die in die Interpretation der Ergebnisse einfließen und systematisch reflektiert werden müssen. Bettina DAUSIEN (2010, S.370) spricht von doing biography. [14]

2.1 Zur Quellenlage

Die Quellensuche erwies sich als kompliziert und langwierig. Das Material ist äußerst heterogen. Das hängt (nicht nur) mit dem prinzipiellen Problem der "Frauengeschichte" zusammen, die für viele Historiker/innen noch immer weniger wichtig erscheint als die "Männergeschichte". Außerdem sind in der Zeit des Nationalsozialismus bei der in das Forschungsprojekt einbezogenen Politikerinnengeneration viele interessante Materialien durch nationalsozialistische Konfiszierungen zerstört worden (WICKERT 1985, S.213), durch die Beteiligten und die Verfolgten selbst oder deren Familien aus Angst vor Verfolgung vernichtet worden oder aber bei Emigration oder Flucht verloren gegangen (NOTZ 2007, S.15f.). Personalakten existierten lediglich für Frieda NADIG (Stadtarchiv Bielefeld). Generell gibt es wenig Nachlässe, weil – wenn das Material nicht als Depositum an ein Archiv übergeben wurde, was in den seltensten Fällen geschah – Nachkommen die Relevanz vorhandener Unterlagen nicht begriffen und sie vernichteten. Regine MARQUARDT (1999, S.40) macht z.B. die "proletarische Bescheidenheit" für die "schlechte Nachlasssituation" verantwortlich. Da sie im Gegensatz zu meinem Forschungsprojekt, das sich lediglich auf SPD-Frauen bezieht, Frauen aus verschiedenen Parteien in ihre Untersuchung einbezogen hat, konnte sie den Vergleich zwischen "bürgerlichen" und "proletarischen Frauen" im Blick auf die Nachlasssituation ziehen. Christl WICKERT (1981, S.52) stellte im Rahmen ihrer Untersuchung über sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete fest, dass schriftliche Äußerungen von Mitgliedern der Arbeiterschicht sehr rar waren. Möglicherweise wollten die Frauen die Unterlagen auch gar nicht als persönliche Andenken behalten. [15]

Ausgehend von den Namen und groben Lebensdaten der Parlamentarierinnen im Parlamentarischen Rat und im Bundestag wurde nach veröffentlichten und unveröffentlichten (Auto-) Biografien, biografischen Sammlungen, Nachlässen, Erinnerungen von einzelnen und über einzelne Frauen gesucht. Zum Teil wurden auf detektivische Art und Weise Materialien gefunden bzw. Zeitzeug/innen ausfindig gemacht. Zum Beispiel wurde die Tochter von Dr. Elinor HUBERT (1900 – 1973), MdB 1949 – 1969, über die kaum Informationen vorhanden waren, durch einen Artikel, den ich am 2.6.2002 in der Zeitung "Täglicher Anzeiger Holzminden" veröffentlichte (NOTZ 2002, S.5). auf das Forschungsprojekt aufmerksam und war gemeinsam mit ihrer Schwester zur Mitarbeit bereit.4) Im Laufe der biografischen Arbeiten wurden zahlreiche ehemalige Bundestagsabgeordnete, Wissenschaftler/innen, die über diesen Zeitraum arbeiten, Politiker/innen und andere Zeitzeug/innen telefonisch, schriftlich oder am Rande von Veranstaltungen befragt. Die umfangreichen und aufwendigen Recherchen, verbunden mit langen, aber teilweise ergebnislosen Gesprächen und einem ausführlichen Schriftverkehr, der kaum verwertbare Ergebnisse über Leben und Wirken der Abgeordneten brachte, können hier nicht dokumentiert werden. Erstaunlich war, wie wenig sich vorwiegend männliche, aber auch weibliche Parteigenoss/innen teilweise erinnern konnten, vor allem dann nicht, wenn die Zusammenarbeit mit der Betreffenden nicht konfliktfrei verlaufen war. [16]

Vorhandene Quellen, Dokumentationen und (Auto-) Biografien zu einzelnen Politikerinnen weichen qualitativ und quantitativ erheblich voneinander ab. Nachschlagewerke vernachlässigen weibliche Parlamentsangehörige mitunter gänzlich. Das Forschungsprojekt und die beiden erschienenen Bücher sowie einige Aufsätze konnten einen Beitrag dazu leisten, dass gerade die beinahe "namenlosen Frauen" ans Tageslicht geholt wurden und nicht in Vergessenheit geraten. [17]

Veröffentlichte Autobiografien liegen von einigen Bundestagsabgeordneten vor (KURLBAUM-BEYER 2004; THÖRMER 1996; DEUTSCHER BUNDESTAG 1985; RENGER 1993; WOLFF 1980). Von Elisabeth SELBERT und Frieda NADIG existieren mehr oder weniger ausführliche Einzelbiografien (BÖTTGER 1990; DRUMMER & ZWILLING 1999; FUCHS 1996/97 und 1999). Nachlässe existieren von wenigen Bundestagsabgeordneten. Im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) finden sich die Nachlässe von Ilse ELSNER, Hedwig MEERMANN, Annemarie RENGER, Helene WESSEL sowie ein Teilnachlass von Lisa ALBRECHT. Im Franz-Neumann-Archiv finden sich Teilnachlässe von Edith KRAPPE und Dora LÖSCHE. Der gesamte Nachlass von Elisabeth SELBERT steht im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel. Für Elfriede EILERS wurde im AdsD ein Depositum angelegt. Alle vorhandenen Sammlungen sind von mir eingesehen und nach den chronologischen Kategorien des Interviewleitfadens inhaltsanalytisch ausgewertet worden. Das gesamte Material (außer Helene WESSEL) war zum Zeitpunkt der Recherche nicht verzeichnet. [18]

Einige Parlamentarierinnen haben eigene Schriften publiziert (dazu gehört auch Elisabeth SELBERT). Die Schriften wurden für diese Studie zusammengetragen und ebenso nach den Kategorien des Interviewleitfadens inhaltsanalytisch ausgewertet. Auch wurden die Jahrgänge 1948 – 1965 der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift "Genossin", ab 1950 "Gleichheit. Organ der arbeitenden Frau", inhaltsanalytisch ausgewertet; ebenso einige Tageszeitungen wie z.B. einige Jahrgänge der in Rheinland-Pfalz nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinenden SPD-Zeitung "Die Freiheit" und die ersten Nachkriegs-Jahrgänge der "Rheinischen Zeitung" in Bonn.5) Da es keine Register für diese Zeitungen gibt und die Autorinnen oft nur mit den ersten Buchstaben ihrer Namen gekennzeichnet sind, erwies sich dieses Vorhaben als äußerst schwierig. Darüber hinaus wurden Nachschlagewerke (KUHN 1985; HERVÉ & WURMS 2006), Handbücher und Jahrbücher (VORSTAND DER SPD 1946 – 1983 und 2000) sowie Sekundärliteratur (siehe in NOTZ 2003 und 2007) herangezogen. Dabei konnte auch auf eigene Vorarbeiten zur Biografieforschung (NOTZ 1991, 1999, 2001a; NOTZ & WICKERT 2001) und zur Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg (NOTZ 1996 und 2001b) zurückgegriffen werden. [19]

Die interviewten Parlamentarierinnen und Zeitzeug/innen sind auch nach den biografisierten Frauen, die sich nicht schriftlich über ihr Leben geäußert haben und denen kaum jemand Beachtung in schriftlichen Äußerungen geschenkt hat, von denen also kaum Material zur Verfügung stand, gefragt worden. Besonders hilfreich waren dabei die Gespräche, die ich mit den neun während der Interviewphase noch lebenden Frauen der Untersuchungsgruppe der Bundestagsabgeordneten geführt habe. Von ihnen lebt leider nur noch Elfriede EILERS (geb. 1920, MdB 1957 – 1980). Mit acht Töchtern, zwei Söhnen, einem Ehemann, anderen Familienmitgliedern und Weggefährtinnen von während der Interviewphase bereits verstorbenen MdBs sowie mit der Historikerin und Zeitgenossin Prof. Dr. Susanne MILLER wurden unterschiedlich ausführliche Interviews geführt. Dass während der ersten Phase (NOTZ 2003) ausschließlich Töchter befragt wurden, ist dem Zufall geschuldet; entweder hatten die Parlamentarierinnen keine Söhne oder die Söhne standen für Interviews nicht zur Verfügung. Die im Mittelpunkt dieses Artikels stehenden beiden weiblichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates konnten nicht mehr interviewt werden, weil sie bereits verstorben waren. Etliche Interviews lassen dennoch Rückschlüsse auf ihr Leben und ihre Arbeit zu, denn die Verbindungen unter den dargestellten Parlamentarierinnen waren äußerst vielfältig. [20]

Schließlich spiegelt die Heterogenität der dargestellten Biografien auch die heterogene Popularität, die die Dargestellten während der Zeit ihrer Aktivität oder darüber hinaus genossen haben, wider. Selbst die im Folgenden porträtierte Frieda NADIG, die schließlich im verfassungsgebenden Parlamentarischen Rat saß, ist, wie andere namenlose und unentdeckte Frauen, beinahe in Vergessenheit geraten. Lediglich Elisabeth SELBERT wurde durch Forscherinnen aus der Frauenbewegung der 1970er Jahre – vor allem durch Barbara BÖTTGER – "entdeckt", weil sie nach dem Anteil der Mütter des Grundgesetzes forschen wollten, wurden doch ständig einseitig die Väter hervorgehoben (BÖTTGER 1990). Anlässlich der zahlreichen Feiern zum fünfzigsten Jahrestag des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999 wurde der für Frauen bahnbrechende Artikel 3(2) des Grundgesetzes "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" kaum erwähnt. Den Veranstalter/innen fehlte oft der spezifische Blick auf die Auswirkungen des Grundgesetzes für die Rechtsgleichheit der Geschlechter. Es waren vor allem Frauen- und Geschlechterforscherinnen, die Elisabeth SELBERT und deren Verdienst erneut ins Blickfeld rückten. Frieda NADIG und viele der weiblichen Bundestagsabgeordneten, die für die Durchsetzung der de jure verbrieften Rechte der Frauen kämpften, blieben auch hier weitestgehend unerwähnt. Eine Ausnahme bildete die Tagung "50 Jahre Grundgesetz – Menschen- und Bürgerrechte als Frauenrechte", die der Verein Frauen und Geschichte Baden-Württemberg e.V. vom 14. bis 16. Oktober 1999 in Karlsruhe durchführte (FRAUEN UND GESCHICHTE BADEN-WÜRTTEMBERG 2000). Erst bei den SPD-Feierlichkeiten zu "60 Jahre Grundgesetz" wurden NADIG und SELBERT entsprechend gewürdigt (vgl. NOTZ & WICKERT 2009). [21]

3. Elisabeth SELBERT (1896 – 1986) und Friederike (Frieda) NADIG (1897 – 1970)

Als Mitglieder des Parlamentarischen Rates gelten Elisabeth SELBERT und Frieda NADIG (beide SPD) neben Helene WEBER (CDU, 1881 - 1962) und Helene WESSEL (Zentrum, 1898 - 1962) als die "Mütter des Grundgesetzes" für die Bundesrepublik Deutschland. Gemeinsam mit 61 männlichen Abgeordneten haben sie während der neun Monate der verfassungsgebenden Beratungen in den Jahren 1948/1949 das Grundgesetz (GG) erarbeitet. Dass die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Artikel 3(2) des GG festgelegt wurde, ist vor allem dem mutigen Kampf von Elisabeth SELBERT und Frieda NADIG zu verdanken, die gegen die Empörung der Abgeordneten aus allen Fraktionen und oft auch gegen die Empörung ihrer Geschlechtsgenossinnen aus den konservativen Parteien beharrlich blieben. Seit 1949 heißt es eindeutig: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt". In Artikel 7 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vom Oktober 1949 hieß es sinngemäß: "Mann und Frau sind gleichberechtigt". Einen Gleichstellungsparagrafen gab es bereits in der Weimarer Verfassung. Danach hatten Frauen und Männer jedoch lediglich "die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" erhalten. SELBERT und NADIG wollten eine weiter gehende Regelung, denn kaum jemand hatte aus der Weimarer Formulierung die vollständige Geschlechtergleichheit vor dem Gesetz abgeleitet. Wie Löwinnen haben beide Frauen für die Durchsetzung dieser Formulierung gekämpft. Wer waren die beiden Frauen? [22]

3.1 Elisabeth SELBERT

3.1.1 Kindheit, Elternhaus, Begegnung mit Adam SELBERT (1896 – 1918)

Martha Elisabeth ROHDE wurde am 22. September 1896 geboren. Sie wuchs als zweite von vier Schwestern in einer ganz "normalen", von ihr selbst als christlich bezeichneten Familie in Kassel auf. Ihr Vater, Georg ROHDE, war gelernter Bäcker, später Berufssoldat und Justizbeamter. Ihre Mutter, Eva Elisabeth ROHDE, geb. SAUER, arbeitete als Haushälterin, bevor sie für den eigenen Haushalt und die Kinder sorgte. Wie die meisten Mädchen ihrer Generation bekam Elisabeth ROHDE eine typische Mädchenerziehung: Sie lernte sticken, stricken und nähen und hatte wenig Zeit zum Lesen. Es war der Großvater, der sie in ihren intellektuellen Fähigkeiten, in ihrem außerordentlichen Interesse, mehr wissen zu wollen, förderte. Gegen die Mutter musste sie sich auflehnen, weil sie lieber Bücher geschenkt bekommen wollte als Teile für die Aussteuer (vgl. WIEDNER 1986, S.14). Heiraten wollte sie ohnehin nicht. Das Oberlyzeum, die Höhere Schule für Mädchen, war für die Familie nicht bezahlbar, und so besuchte sie ab 1912 die Kasseler Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins. Ihr Ziel, Lehrerin zu werden, ließ sich mangels finanzieller Mittel nicht realisieren. Sie wurde Auslandskorrespondentin bei einer Import-Exportfirma und verdiente fortan ihr eigenes Geld (DRUMMER & ZWILLING 1999, S.22). [23]

Der Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 beeinflusste das Leben von Elisabeth ROHDE nachhaltig. Nachdem sie ihre Stelle bei der Import-Exportfirma verloren hatte, arbeitete sie als Postbeamtenanwärterin im Telegrafendienst der Reichspost; eine Anstellung, die nur geringe Aufstiegs- und Qualifizierungschancen bot. Am Postschalter lernte sie 1918, mitten in der Novemberrevolution, ihren späteren Mann, den gelernten Buchdrucker und damaligen Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates in Niederzwehren bei Kassel, Adam SELBERT, kennen. Nach dem Besuch einer SPD-Kundgebung Ende 1918 trat sie auf seinen Fußstapfen in die SPD ein. Er wurde ihr Partner (auch) im Alltag (BÖTTGER 1990, S.129). Ihre Familie schien von dem Mann nicht besonders begeistert gewesen zu sein. Er war als "roter Funktionär" verfemt, und auch Elisabeth gehörte nun für die Familie "zu den Roten", wie sie selbst sagte (S.135). Mit den "Roten" wollten damals viele nichts zu tun haben. Schließlich warnten zu dieser Zeit die Pfarrer von der Kanzel vor den "Roten" und man hatte die spätere "Höllenfahrt" zu befürchten, wenn man sich entschlossen hatte, sie zu wählen. Erst etliche Jahre danach, als sie schon Anwältin war, fand die gesamte Familie den Weg zu ihr zurück. [24]

3.1.2 Erste politische Arbeit (1919 – 1933)

Nachdem das Frauenwahlrecht gerade durchgesetzt war, sprach Elisabeth ROHDE auf vielen Veranstaltungen über die Pflicht der Frauen, sich politisch zu informieren und zu engagieren. Sie wollte Frauen motivieren, Aufgaben in der Politik und in den Parlamenten zu übernehmen. Es galt jetzt, "die Gleichberechtigung in der Praxis bis zur letzten Konsequenz" durchzusetzen, dafür wollte sie, wie sie während des SPD-Parteitags vom 10. bis 16. Oktober 1920 in Kassel versicherte, arbeiten (DRUMMER & ZWILLING 1999, S.32). 1920 kandidierte sie erfolgreich für einen Sitz im Gemeindeparlament in Niederzwehren. Gleichzeitig wurde sie Mitglied des Bezirksvorstandes der SPD und arbeitete weiter im Telefonamt. In einer frauenpolitisch programmatischen Rede im Oktober 1920 als Delegierte zur ersten Reichsfrauenkonferenz in Kassel kritisierte sie, "dass wir zwar heute die Gleichberechtigung für unsere Frauen haben, dass aber diese Gleichberechtigung immer noch eine rein papierne ist" (BÖTTGER 1990, S.135). Im letzten Teil ihrer Rede wies sie darauf hin, dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf dem Standpunkt stünden, dass "Wohlfahrtspflege eine Aufgabe des Staates ist" und daher endlich Schluss gemacht werden müsse "mit der privaten und öffentlichen Bettelei" (S.131). [25]

1920 heiratete sie Adam SELBERT und 1921, nach der Geburt des ersten Kindes Gerhard, übernahm sie, wie fast alle Frauen ihrer Generation, Haushalt und Kindererziehung, während Adam SELBERT, wie fast alle Männer seiner Generation, eine Karriere begann; er wurde Gemeindebeamter und stellvertretender Bürgermeister. Vierzehn Monate später kam der zweite Sohn Herbert zur Welt. Die kommunalpolitische Arbeit verband die Eheleute weiterhin. Beide waren mit politischen Ämtern ausgefüllt. Elisabeth SELBERT war bis 1925 weiter Mitglied im Gemeindeparlament Niederzwehren und bis 1933 Mitglied des SPD-Bezirksvorstandes in Kassel und, wie sie selbst sagte, "daneben mit der Erziehung und Sorge um meine Kinder" beschäftigt (a.a.O.). [26]

1925, sie hatte nun zwei drei- und vierjährige Söhne, entschloss sie sich, in Kassel als Externe die Mittlere Reife und das Abitur nachzuholen. Danach studierte sie in Marburg Rechts- und Staatswissenschaften. Sie konnte sich später nicht erinnern, in Marburg je eine andere Frau im Kolleg gesehen zu haben, während sie nach ihrem Wechsel zur Universität Göttingen immerhin eine unter fünf Frauen war. Die Tatsache, dass an den Universitäten fast ausschließlich Männer studierten, störte sie nicht sonderlich, eher taten ihr die Professoren leid, die manchmal durch die weibliche Präsenz überfordert schienen. Unterstützt wurde Elisabeth SELBERT vor allem durch ihre Familie: Die Kinder versorgte die Großmutter, den Haushalt eine Schwester, und ihr Mann half hin und wieder, vor allem indem er sich nachmittags um die beiden Söhne kümmerte. Später sagte sie, dass ihr das Studium nur "durch die vorbildliche Partnerschaft" ihres Mannes möglich geworden sei: "Er war politischer Beamter und infolgedessen sehr in Anspruch genommen, aber er kümmerte sich daneben noch um die beiden Kinder" (REIS 1984, S.XVIII). Jedenfalls war es eine für damalige Verhältnisse äußerst ungewöhnliche Ehe. [27]

Gute Freundinnen, Freunde, Genossinnen und Genossen halfen über manche finanziellen Engpässe hinweg. 1929 bestand sie das juristische Staatsexamen und promovierte vier Monate später zum Dr. jur. (LENKEWITZ 1996, S.15). In ihrer Dissertation zum Thema "Ehezerrüttung als Scheidungsgrund" (SELBERT 1930) kritisierte sie das damals geltende Ehe- und Familienrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), das Frauen fast rechtlos stelle und deshalb als patriarchalisch entlarvt werden müsse. Sie selbst trat für eine "Entgiftung des Scheidungsprozesses" ein, indem das "Zerrüttungsprinzip" an die Stelle des Schuldprinzips treten solle (a.a.O.). Ganz entschieden setzte sie sich dafür ein, dass in einer Ehe der Frau alleine das Recht auf ihren Körper und damit die Entscheidung darüber, ob sie ein Kind bekommen will oder nicht, zustehen sollte. Damit war sie nicht nur ihrer Zeit weit voraus, sondern sie überforderte auch ihre Professoren, die ihre Doktorarbeit nicht gut bewertet haben. (Ihr Doktorvater war Prof. OERTMANN von der Universität Göttingen.) Erst im Rahmen der Eherechtsreform 1977, also 47 Jahre später, wurden ihre Vorschläge umgesetzt: Der sozialliberalen Koalition gelang es, das Schuldprinzip abzuschaffen. Obwohl Elisabeth SELBERT immer wieder als bescheidene Frau bezeichnet wird, kränkte es sie sehr, dass auf ihre Arbeit niemals zurückgegriffen wurde. Nachdem sie im März 1933 auf der hessischen Landesliste der SPD für den Reichstag kandidiert hatte, hätte sie unter Umständen die Gelegenheit bekommen können, nachzurücken, wenn der Reichstag weiter bestanden hätte. [28]

3.1.3 Nationalsozialismus (1933 – 1945)

Nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus wurde Adam SELBERT als stellvertretender Bürgermeister von Niederzwehren aufgrund des Berufsbeamtengesetzes entlassen und für einige Monate im KZ in Weidenau in "Schutzhaft" genommen. Es war Elisabeth SELBERT, die ihn mithilfe des ihren juristischen Argumenten gegenüber aufgeschlossenen Lagerleiters aus dem KZ herausholte. Das geht aus einem Brief aus ihrem Nachlass, den Elisabeth SELBERT am 24. Juli 1933 an den "Herrn Polizeipräsidenten in Kassel" geschrieben hatte, hervor. Adam SELBERT blieb bis Kriegsende unter Gestapo-Aufsicht, er war erwerbslos und fortan aufgrund der körperlichen und seelischen Demütigungen, die er erlitten hatte, ein kranker und gebrochener Mann, wie Elisabeth SELBERT in einem Interview (BÖTTGER 1990, S.141) äußerte. [29]

Elisabeth SELBERT hatte nun einen kranken Mann und den Haushalt alleine zu versorgen und legte unter diesen schwierigen Umständen im Frühjahr 1934 die große Staatsprüfung beim Preußischen Prüfungsamt in Berlin ab. Ihre berufliche Karriere schien bereits beendet. Der überzeugte Nationalsozialist Otto PALANDT, der zuvor Präsident des Landgerichts in Kassel gewesen war, war seit dem 1. Dezember 1933 Präsident des Reichsjustizprüfungsamtes und damit sowohl für die Jurist/innenausbildung als auch für die Zulassung zu juristischen Berufen zuständig. Am 22. Juli 1934 trat die neue Justizausbildungsverordnung und am 20. Dezember 1934 das Gesetz zur Änderung der Rechtsanwaltsordnung in Kraft. Das Gesetz besagte, dass Frauen als Anwälte nicht mehr zugelassen waren, weil es einen "Einbruch in den altgeheiligten Grundsatz der Männlichkeit des Staates" bedeutet hätte, wenn Frauen solche Positionen innehätten. Tatsächlich wurden ab 1935 nur noch Anträge männlicher Bewerber auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft genehmigt. Elisabeth SELBERT hatte jedoch Glück: Sie bekam durch zwei ältere Richter des Kasseler Oberlandesgerichts – gegen den Willen des nationalsozialistischen Präsidenten Otto PALANDT, gegen das Votum der Rechtsanwaltskammer und gegen die Entscheidung des Gauleiters und des NS-Juristenbundes – am 15. Dezember 1934 die ersehnte Zulassung (LEY 1986, S.37). Nach Heike DRUMMER und Jutta ZWILLING (1999) befand sich der Präsident zu dieser Zeit in Urlaub: Otto PALANDT hatte nach der Verabschiedung der neuen Gesetze unmissverständlich formuliert, es sei "Sache des Mannes, das Recht zu wahren" (PALANDT, RICHTER & STAGEL1939, S.6). Die Senatspräsidenten sprachen Elisabeth SELBERTs Zulassung in Vertretung des Oberlandesgerichtspräsidenten aus (LANGER 1994, S.286). Heike DRUMMER und Jutta ZWILLING vermuten, dass SELBERT Otto PALANDT persönlich kannte, weil sie auf sein Gratulationsschreiben anlässlich ihres bestandenen Examens besonders stolz war. Möglicherweise habe er für die Kandidatin ein "gutes Wort" eingelegt (DRUMMER & ZWILLING 1999, S.50f.; LANGER, LEY & SANDER 1994, S.286). Sie konnte ihre anwaltliche Praxis eröffnen. Da ihr Mann bis 1945 erwerbslos blieb, musste sie nun die Familie ernähren. [30]

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Elisabeth SELBERT vorgeworfen, sie habe eine jüdische Anwaltskanzlei unentgeltlich übernommen und sei Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)6) gewesen. Das wird in Zusammenhang damit gebracht, dass sie nicht von den hessischen, sondern von den niedersächsischen Genoss/innen in den Parlamentarischen Rat geschickt worden war. Was war geschehen? [31]

Elisabeth SELBERT bezog im Dezember 1934 eine Kanzlei am Kasseler Königsplatz. Mit einem Darlehen von Genoss/innen, das sie bald zurückzahlte, übernahm sie die komplette Sozietät der beiden jüdischen Rechtsanwälte Karl ELIAS und Leon ROSSMANN. Beide planten zu diesem Zeitpunkt ihre Ausreise nach Palästina bzw. Großbritannien und benutzten das Geld, das SELBERT ihnen für die Einrichtungsgegenstände bezahlte, für die Flucht. Vermutlich hat Elisabeth SELBERT auch einen Teil der Mandantinnen und Mandanten aus der Sozietät ELIAS/ROSSMANN übernommen (DRUMMER & ZWILLING 1999, S.53f.). Die Praxisübernahme hat sie korrekt abgewickelt und sich auch nicht finanziell bereichert, im Gegensatz zu vielen anderen, die die Notlage der Emigrierenden schamlos ausgenutzt haben. Später sagte sie über die Umstände der Kanzleiübernahme: "Ich hatte damals von einem jüdischen Kollegen auf seine Bitte hin seine Bibliothek und einige Einrichtungsgegenstände übernommen, weil dieser Kollege Geldmittel zur Flucht brauchte" (zit. nach FABRICIUS-BRAND, BERGHAHN & SUDHÖLTER 1982, S.188). [32]

Aus Angst um die Existenz ihrer Familie befolgte sie den Rat von guten Freund/innen und trat 1938 in die "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt" ein. Wie aus einer in ihrem Nachlass vorhandenen, auf Anordnung der Militärregierung vom 27.2.1945 erstellten "Verzeichnung des Rechtsanwalts- oder Notariatsbüros: Dr. Elisabeth Selbert" hervorgeht, war sie zudem 1934 dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (NSRB)7) und 1940 dem Deutschen Frauenwerk (DFW)8) beigetreten. Sie schrieb später in der "Freiheit", dass immer "das Damoklesschwert neuer politischer Verfolgungen" über der Familie geschwebt habe. Es sei "ein gütiges Schicksal" gewesen, dass sie überhaupt überlebt habe (SELBERT 1947). Später sagte sie gegenüber dem Bonner "Generalanzeiger":

"Ich habe im Hitlerreich natürlich sehr vorsichtig sein müssen, obwohl ich nie einen Kotau vor dem Nationalsozialismus gemacht habe. Ich bin wiederholt zitiert worden, um mich wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen zu verantworten. Ich konnte mir keine politischen Eskapaden erlauben, ohne meine Existenz und die meiner Familie aufs Spiel zu setzen" (REIS 1984, S.XVIII). [33]

Barbara BÖTTGER hielt ihr zugute, dass sie natürlich eine gewisse Vorsicht walten lassen musste, weil sie "der Ernährer der Familie" war (1990, S.142). Auf die Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen und auf die Kanzleiübernahme geht BÖTTGER nicht ein. [34]

Während des Krieges konnte sich die Anwältin Elisabeth SELBERT kaum vor Arbeit retten. In einem Interview sagte sie Antje DERTINGER (1986, S.17) gegenüber:

"Ich war doch damals nur mit zwei, drei Kolleginnen als Anwältin tätig. Viele männliche Kollegen gingen zum Militär, oder sie wurden einberufen. So hatten die wenigen Alten und wir drei weibliche Anwälte unwahrscheinlich viel zu tun in einem so großen Gerichtsbezirk wie Kassel." [35]

Dabei sagte sie nichts darüber, dass der Anwälte-Mangel vor allem der Vertreibung der jüdischen Juristen und Juristinnen im Nationalsozialismus geschuldet war. Das Adress- und Einwohnerbuch der Stadt Kassel führte 1940 nur noch 72 Rechtsanwält/innen auf, 1933 waren es 91. Elisabeth SELBERT wollte sich inhaltlich vor allem mit "unpolitischen Sachen" wie Fragen des Familienrechts und kleineren Wirtschaftsvergehen beschäftigen (DERTINGER 1986, S.17). Ihre Plädoyers wurden dennoch von der Gestapo überwacht. Es dauerte nicht lange, da musste sie sich auch mit Fällen der Verweigerung der Arbeitsdienstpflicht sowie mit den vermögensrechtlichen Seiten der Judenverfolgung befassen. Nach den Novemberpogromen 1938 setzten die Nationalsozialisten die noch in Deutschland lebenden jüdischen Bürger und Bürgerinnen unter Druck, das Land zu verlassen. Um die Flucht in das Exil bezahlen zu können, versuchten immer mehr Menschen, in letzter Minute ihr Eigentum zu veräußern. Elisabeth SELBERT wurde wiederholt gebeten, die Kaufverträge aufzusetzen. In der Erinnerung sprach sie von "Bekundung" der Dokumente; ihre Zulassung als Notarin, um solche Geschäfte wahrnehmen zu können, wurde aber erst 1945 ausgesprochen (DRUMMER & ZWILLING 1999, S.56). Nach Kriegsbeginn wurde sie häufig in die "Judenhäuser" in Kassel gerufen, um weitere Vertragsgeschäfte vorzunehmen. In den Wohnungen der Gettohäuser mussten in der Regel vier bis sechs jüdische Familien unter elenden Bedingungen zusammenleben. Auf diese Weise wurde Elisabeth SELBERT Mitseherin, Mithörerin und Mitwisserin des verbrecherischen Handelns während der NS-Zeit (KUHN 1994, S.6). Auch als Scheidungsanwältin kam sie direkt mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik in Berührung, schließlich diente das Ehe- und Scheidungsrecht im Nationalsozialismus offen bevölkerungspolitischen Zwecken. [36]

Wie viele ihrer sozialdemokratischen Zeitgenoss/innen glaubte sie lange Zeit fest an das baldige Ende der Diktatur. Als sich deren längerer Fortbestand abzeichnete, fürchtete sie vor allem um ihre eigene Existenz und die ihrer Familie. Wiederholt musste sie sich wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen verantworten. Aufgrund ihrer sozialdemokratischen Vergangenheit war sie von politischen Strafsachen vor dem Hochverratssenat ausgeschlossen. In Interviews verwies sie auf einen "Kreis von Anwälten", die sich in leichten Fällen mit dem zuständigen Strafrichter verabredeten: "Bitte, um Gottes willen keinen Freispruch in der Strafsache, sondern eine milde Strafe," weil vor dem Gerichtssaal schon die Gestapo-Beamten standen, die die Beschuldigten nach einem Freispruch "sehr oft auf Nimmerwiedersehen" verschwinden ließen (BÖTTGER 1990, S.142). Antje DERTINGER (1986, S.18) zitiert aus einem Interview mit Elisabeth SELBERT, in dem sie "diese Dinge", die man tun konnte, als "diese kleinen Widerstandsleistungen" bezeichnete. Heike DRUMMER und Jutta ZWILLING (1999, S.57) übernehmen den Begriff "Widerstandsleistungen", schränken aber ein, dass die "Tricks" nicht immer gelangen. Elisabeth SELBERT konnte z.B. nicht verhindern, dass dienstverpflichtete ältere oder kranke Frauen, die als "arbeitsunwillig" galten, zu gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten für die Rüstungsproduktion in Fabriken gezwungen wurden. In der neueren Widerstandsliteratur wird ein solches Verhalten – in Abgrenzung gegen den politischen Widerstand, der auf Behinderung oder letztlich Zerstörung des Regimes zielt – eher als "Dissens" im Gegensatz zum "Konsens" bezeichnet (SCHNEIDER 1999, S.684ff.). Christl WICKERT unterscheidet ebenfalls zwischen "Frauenwiderstand und Dissens im Kriegsalltag" (1993, S.411-427 und 1995). Sie definiert "Dissens im Sinne offener oder versteckter Nichtübereinstimmung" (1995, S.20), gibt aber auch zu bedenken, dass im Nationalsozialismus jeder Ansatz von Kritik verfolgt und ausgeschaltet wurde. Das heißt, dass selbst Dissens wie Meckern, Witze über NS-Führer etc., obwohl er sich durchaus mit der Anerkennung des Regimes vertrug, der Verfolgung unterliegen konnte. [37]

Elisabeth SELBERTs Mann, der nur eine kleine Rente erhielt, fungierte eine Zeit lang als Büroleiter der Anwaltspraxis. Später wollte sie ihm die Bürovorstehertätigkeit nicht mehr zumuten, offensichtlich auch, weil die Klientel mit der untergeordneten Rolle ihres Mannes nicht umgehen konnte (BÖTTGER 1990, S.142). Zwölf Jahre lang hielt sie illegalen Kontakt zu ihren politischen Freund/innen, und – so erinnerte sie sich später in einem Interview mit Antje DERTINGER "ab 1943 fingen wir konkret an, uns auf die Stunde Null vorzubereiten".9) Bei dem großen alliierten Luftangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943 wurde ihre Rechtsanwaltskanzlei vollständig zerstört. Sie überstand den Krieg, die Bombenangriffe und die Evakuierung. Die beiden Söhne kehrten von der Ostfront zurück. [38]

3.1.4 Aufbau der Bundesrepublik Deutschland (1945 – 1948)

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Elisabeth SELBERT von der Militärregierung beauftragt, beim Wiederaufbau der Justiz und der Verwaltung mitzuarbeiten. Sie wurde Strafverteidigerin bei amerikanischen Militärgerichten, nahm die kommunalpolitische Arbeit wieder auf und baute von ihrer Kanzlei aus die Arbeiterwohlfahrt und den SPD-Ortsverein mit auf. Ab Mai 1945 arbeitete sie im Ausschuss zur Neuordnung der Justizverwaltung in Kassel mit. Sie war fest davon überzeugt, dass sie sich am demokratischen Aufbau der Bundesrepublik unbedingt beteiligen müsse. Die erneute Berufstätigkeit ihres Mannes erlaubte ihr, ihre politische Arbeit wieder aufzunehmen. Ab August 1945 wurde Adam SELBERT Personaldezernent bei der Bezirkskommunalverwaltung. Kurz darauf ernannte ihn der kommissarische Landeshauptmann von Kurhessen zu seinem Stellvertreter und beförderte ihn im April 1946 zum ersten Landesrat (DRUMMER & ZWILLING 1999, S.64). [39]

Im "überparteilichen Ausschuss", dem Vorläufer des Stadtparlaments, übernahm Elisabeth SELBERT ihr erstes politisches Amt nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde bei den ersten Kommunalwahlen als Stadtverordnete gewählt, eine Funktion, in der sie von 1946 bis 1950 verblieb. 1946 wurde sie Mitglied im Bezirks- und Parteivorstand der SPD und in der Verfassungsgebenden Landesversammlung Groß-Hessen, später kamen ihre Mandate als Abgeordnete im Hessischen Landtag und 1948/49 im Parlamentarischen Rat hinzu. Im Parteivorstand war sie Beisitzerin im verfassungspolitischen, rechtspolitischen und im Frauenausschuss. [40]

Wie aus einem von ihr geschriebenen Papier (ohne Datum in ihrem Nachlass) hervorgeht, vertrat sie gegenüber den überparteilichen Frauenorganisationen der Nachkriegszeit zunächst eine strikt ablehnende Haltung. Sie war der Meinung, "dass in einem demokratischen Staat die politische Willensbildung des Volkes in den und durch die politischen Parteien erfolgt". Daher bezeichnete sie es als "einen grundlegenden Fehler der überparteilichen Frauenbewegung, sich als Kräftereservoir anzusehen, aus dem die politischen Parteien bei Bedarf an Kandidatinnen für Parlamente und zur Besetzung freiwerdender Stellen schöpfen könnten". Neutrale Frauengruppen oder gar Frauenparteien hielt sie für gänzlich ungeeignet und sah in ihnen "politische Irrwege der Frauenbewegung". Diese Meinung sollte sie später relativieren und damit in Konflikt mit der Auffassung des Parteivorsitzenden Kurt SCHUMACHER geraten. [41]

3.2 Friederike (Frieda) NADIG

3.2.1 Kindheit, Jugend und erste politische Arbeit (1897 – 1929)

Friederike Charlotte Louise NADIG wurde am 11.12.1897 in Herford als Tochter der Näherin Luise Henriette Friederike NADIG, geb. DREWES, und des Tischlers Wilhelm NADIG geboren. Später war ihr Vater Lagerhalter beim Konsum-Verein in Herford. Von 1919 bis 1931 war er für die SPD Mitglied des preußischen Landtages. Das Interesse an Sozialismus und Sozialpolitik verdankte Frieda NADIG – wie viele ihrer in die Forschungsarbeit einbezogenen Weggenossinnen - der Erziehung in ihrem sozialdemokratischen Elternhaus. 16-jährig, als andere Mädchen ihrer Generation vielleicht schon ans Heiraten dachten, trat sie in die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) ein und zwei Jahre später in die SPD. In der Arbeiterjugend fand sie gleichgesinnte junge Menschen. Ihr sozialistisches Bewusstsein behielt sie ihr Leben lang bei. Die SPD schien für sie die passende Partei, weil sie unter August BEBEL schon NADIGs eigenes Anliegen, die Emanzipation der Frau, agitatorisch in den Vordergrund gestellt hatte. [42]

Wie aus ihrer Personalakte bei der Stadt Bielefeld hervorgeht, absolvierte Frieda NADIG, nachdem sie die Volksschule, damals Bürgerschule genannt, abgeschlossen hatte, ebenso wie ihre zwei Jahre jüngere Schwester durch die Vermittlung ihres Vaters vom November 1912 bis November 1914 eine Lehre als Verkäuferin im Konsum-Verein Herford. Anschließend war sie bis zum 10. Oktober 1920 als Verkäuferin tätig. Während dieser Zeit versuchte sie, wie sie in ihrem Lebenslauf schrieb, Lücken ihrer Volksschulbildung durch Teilnahme an Lehrgängen und Vorträgen auszugleichen. Ihr fürsorgerisches Interesse veranlasste sie bereits 1916, an einer Weiterbildung für die Kranken- und Säuglingspflege teilzunehmen. Mit Stolz verwies sie später darauf, dass es ihr gelang, ihren eigentlichen Berufswunsch aus eigenen Mitteln zu realisieren: Sie besuchte gemeinsam mit einer Freundin aus Minden die Soziale Frauenschule in Berlin, deren Leiterin Alice SALOMON war (FUCHS 1999, S.75). In ihrem Lebenslauf schrieb sie auch, dass sie neben der theoretischen Ausbildung ein neunmonatiges Praktikum in der Jugendfürsorge und Gerichtshilfe des Berliner Stadtbezirks Charlottenburg durchlief. Weitere Praktika leistete sie beim Wohlfahrtsamt der Stadt Herford, wo sie zeitweise die Polizei-Fürsorgerin vertrat. Die Eltern unterstützten sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht nur ideell, sondern auch materiell. So konnte sie 1922 das Staatsexamen als Wohlfahrtspflegerin im Hauptfach Jugendwohlfahrt mit der Note "gut" absolvieren. Anschließend, am 1. Juli 1922, trat sie eine Arbeitsstelle als Jugendfürsorgerin im Wohlfahrtsamt, Abteilung Jugendamt, beim Magistrat der Stadt Bielefeld an. Für die 1919 gegründete Arbeiterwohlfahrt (AWO) blieb sie auch neben ihrer hauptamtlichen Arbeit ehrenamtlich aktiv. Bei den "Sozialistischen Frauentagen", die der Bezirksvorstand Östliches Westfalen im März 1925 veranstaltete, war sie eine der Referentinnen, die, wie aus einem Bericht in der "Volkswacht"10) vom 11.2.1926 hervorgeht, nicht nur als fachlich geschulte Kraft eingeschätzt wurde, sondern zudem in der Sozialistischen Arbeiterjugend praktische Erfahrungen gesammelt hatte und im öffentlichen Dienst der Wohlfahrtspflege stand. Viele Referentinnen kamen damals aus der Arbeiterbewegung und hatten diese "Doppelqualifikation" (vgl. WICKERT 1985). Wie aus Berichten von Ulrich HERZOG (1987, S.56ff.) über die Arbeit der AWO im Bezirk Östliches Westfalen für die Zeit zwischen 1919 und 1933 sowie aus der "Volkswacht" vom 13. September 1929 hervorgeht, trat sie zwischen 1925 und 1929 immer wieder als Referentin auf und sprach zum Kinderschutzgesetz, zu "Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung", zu "Wohlfahrtspflege und Jugendfürsorge" und über "Die Sozialistische Betätigung der Frau". Danach referierte sie zum Beispiel im Rahmen der "Sozialistischen Schule", die durch den SPD-Bezirk Östliches Westfalen im Oktober 1925 veranstaltet wurde, zum Thema "Soziale Fürsorge" und bei einer AWO-Frauenkonferenz im Oktober 1928 zum Thema "Die Frau in der Kommunalpolitik". Gegen Ende der Weimarer Republik, als Erwerbslosigkeit und Armut zunahmen und sich der Staat aus der Wohlfahrtspolitik zurückzog, trat das Engagement im unmittelbaren Dienst an der notleidenden arbeitenden Bevölkerung sowohl in der Arbeiterwohlfahrt als auch in der SPD in den Vordergrund. Um die unmittelbare Not zu lindern, wurden Volksküchen, Nähstuben und Ähnliches eingerichtet, während die übergeordnete politische Arbeit in den Hintergrund trat. [43]

3.2.2 Arbeit im Westfälischen Provinziallandtag (1929 – 1933)

Für Frieda NADIG waren es vor allem die praktischen Erfahrungen, die sie durch ihre Tätigkeit in der Jugendfürsorge gesammelt hatte, die den Wunsch in ihr weckten, ihr politisches sozialistisches Engagement gerade zu diesen Notzeiten zu verstärken. Vor allem wollte sie auf die Sozialgesetzgebung Einfluss gewinnen, um so eine bessere Möglichkeit zu haben, das Los der Armen und Benachteiligten nachhaltig zu verbessern. [44]

1929 wurde die junge Wohlfahrtspflegerin als SPD-Abgeordnete in den Westfälischen Provinziallandtag gewählt, dem sie bis zu seiner Auflösung im Jahre 1933 angehörte. Sie war dort vor allem in den Fürsorge- und Wohlfahrtsausschüssen tätig. Nach Ansicht ihrer Bielefelder Dienstherren hatte sie sich während ihrer zehnjährigen Tätigkeit als Jugendfürsorgerin bewährt. Mit Schreiben vom 11. Januar 1932 wurde ihr zudem bestätigt, dass die Stelle, die sie innehatte, "dauernd notwendig" war. Mit einem Brief vom 19.2.1932 wurde ihr sogar eine Beförderung ausgesprochen. Schon gut ein Jahr später stellten die gleichen Herren ihre Eignung aus politischen Gründen infrage: Stein des Anstoßes waren ihre Kandidatur und Wiederwahl für den Westfälischen Provinziallandtag; beides war für ihre inzwischen nationalsozialistisch engagierten Dienstherren ein Dorn im Auge. [45]

3.2.3 Nationalsozialismus (1933 – 1945)

Die Verfolgungsgeschichte von Frieda NADIG geht aus ihrer Bielefelder Personalakte hervor. Sie begann mit einer "offenen Anfrage an den Herrn Oberbürgermeister", die am 23. Februar 1933 im "Bielefelder Beobachter", einem nationalsozialistischen Sprachrohr, veröffentlicht wurde. Darin wurde die "bekannte Genossin Nadig" beschuldigt, sie sei während der Dienstzeit "in einer SPD-Versammlung gegen die Regierung Hitler zu Felde" gezogen. "Es ist wirklich ein starkes Stück, dass eine städtische Angestellte, die obendrein noch schwer bezahlt wird, ihre Dienststunden benutzt, um gegen die Regierung und für eine Organisation zu sprechen, die zum Staat von heute in schärfster Opposition steht"11) hieß es in der "Anfrage". Noch am Tage der Veröffentlichung wurde der Oberbürgermeister von Bielefeld aktiv. Er stellte richtig, dass "Fräulein Nadig" den Vortrag "in einer politischen Versammlung außerhalb der Dienstzeit gehalten hat, sodass ein Dienstversäumnis nicht infrage kommt"12). Zudem verwies er darauf, dass gemäß der vom Preußischen Staatsministerium erlassenen Verordnung vom 7. Februar 1933 "über die Neuwahlen der kommunalen Vertretungskörperschaften Beamten, Angestellten und Arbeitern, die sich um einen Sitz in einer Vertretungskörperschaft bewerben, der für die Vorbereitung dieser Wahl erforderliche Urlaub zu erteilen" sei.13) Da "Fräulein Nadig" als Kandidatin für die Wahl zum Provinziallandtag aufgestellt war, habe die Bestimmung auf sie zugetroffen. [46]

Mit Brief vom 7. April 1933 teilte Frieda NADIG ihren Dienstvorgesetzten mit, dass sie wieder zum Mitglied des Westfälischen Provinziallandtag gewählt worden sei und bat darum, für die Teilnahme an der Eröffnungssitzung beurlaubt zu werden. Am 25. April 1933 erhielt sie einen Magistratsbeschluss, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie mit sofortiger Wirkung bis auf Weiteres beurlaubt sei und die Dienstgeschäfte zu übergeben habe. Gründe für diese Maßnahme wurden nicht angegeben. Der Protest, den sie noch am gleichen Tag schriftlich erhob, blieb unbeantwortet. Stattdessen wurde ihr am 12. Mai 1933 durch den Magistrat der Stadt Bielefeld in einem Brief mitgeteilt, dass sie "nunmehr auf Grund eines erneuten Beschlusses des Magistrats" wegen "Unzuverlässigkeit im nationalen Sinne"14) fristlos entlassen war. Die formalrechtliche Grundlage bot das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 6. Mai 1933, mit dessen Hilfe die Nationalsozialisten unliebsame Beamte und Angestellte aus politischen und rassischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entließen. Aus ihrem in den Akten vorhandenen Einspruch an den Magistrat der Stadt Bielefeld vom 18. Mai 1933 wird deutlich, dass Frieda NADIG die Entlassung nicht hinnehmen wollte. Sie äußert darin die feste Überzeugung, dass sie sich nichts habe zuschulden kommen lassen und die Entlassung nicht hinnehmen wolle. Sie verwies in diesem Brief darauf, dass sie im Amt weder Politik betrieben, noch sich in irgendeiner Weise gegen die "nationale Bewegung" betätigt habe. Ihre Arbeit innerhalb der SPD habe fast ausschließlich Frauen- und Wohlfahrtsfragen betroffen; ihr Mandat im Provinziallandtag sei vor allem für ihre Berufsarbeit als Fürsorgerin außerordentlich wertvoll gewesen. Im Nachgang zu ihrer Beschwerde benannte sie mit Schreiben vom 18. Mai 1933 und vom 23. Mai 1933, die ebenfalls an den Magistrat der Stadt Bielefeld gerichtet waren, sogar zehn Zeugen und Zeuginnen, die ihre Unschuld beweisen könnten, darunter waren einige Vorgesetzte.15) Alle ihre Beschwerden und auch der Brief vom 28. Juni 1933, mit dem sie beteuerte, dass sie weder im Wahlkampf besonders aktiv gewesen sei, "noch gegen den Führer, Herrn Reichskanzler Adolf Hitler, gehetzt" habe, halfen ihr nichts, denn sie blieben ohne Resonanz oder wurden abgewiesen. Der Gaufachberater für Kommunalpolitik der NSDAP, Gau Westfalen-Nord, F.E. IRRGANG aus Bielefeld, teilte dem Magistrat der Stadt Bielefeld stattdessen mit Brief vom 6. Juni 1933 mit, dass die Entlassung der Fürsorgerin "auf Grund des §4 der zweiten Vorordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" erfolgt sei. "Fräulein Nadig" habe im letzten Wahlkampf, so heißt es in dem Brief, "in außerordentlich aktiver Weise" für die SPD agitiert und in ihren Versammlungen "in schärfster Weise gegen unseren Führer" gesprochen. Durch die Ausübung ihres Mandats im Provinziallandtag habe sie zudem gezeigt, "dass sie auch für die Zukunft für ihre marxistische Einstellung zu kämpfen gedenkt". Frieda NADIG war eindeutig aus politischen Gründen entlassen worden. Mit Schreiben des Preußischen Ministers des Innern vom 9. Juli 1934, das sich ebenfalls in ihrer Personalakte befindet, wurde ihr schließlich sogar mitgeteilt, dass es ihr verboten sei, die Dienstgebäude "aus Anlass von Vorstellungen gegen die Kündigung" zu betreten. Ihrem Anliegen, ihr ein Zwischenzeugnis auszustellen, wurde erst nach längerem Bitten am 29. August 1934, durch ein Zeugnis des Oberbürgermeisters der Stadt Bielefeld, stattgegeben. Da der Entlassungsgrund auf dem sonst wenig aussagekräftigen Papier stand, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich aus ihrer beruflichen und politischen Tätigkeit zu verabschieden. Nun hatte sie nicht nur ihren identitätsstiftenden Aufgabenbereich verloren, sondern stand auch ohne jegliches Einkommen da. [47]

Drei Jahre blieb sie trotz intensiver Bemühungen um andere Erwerbsmöglichkeiten erwerbslos. Die Versuche, sich auf andere Stellen zu bewerben, scheiterten immer wieder an ihrer politischen Kündigung. Die Gründe für diese Kündigung wurden vom Magistrat auf Anfrage potenzieller Arbeitgeber ausführlich dargestellt. Obwohl ihr bescheinigt wurde, dass ihr "im Bezug auf Leistungen und Verhalten (...) nur das beste Zeugnis ausgestellt werden"16) könne, zeigt ein in der Personalakte vorhandener Vorgang, dass der Oberbürgermeister sogar mehr über ihre politische Tätigkeit aussagte, als aus dem Kündigungsvorgang hervorgeht. In einem Schreiben des Stadtoberhauptes von Bielefeld vom 8. März 1934 an die Herzog-Georg-Stiftung für Krankenpflegerinnen in Meinungen, bei der sich Frieda NADIG um eine Stelle beworben hatte, fühlte er sich nicht nur bemüßigt darzulegen, dass Frieda NADIG der SPD angehörte, Abgeordnete im Westfälischen Provinziallandtag war und "noch vor den Märzwahlen 1933" in Wahlversammlungen der SPD Reden gehalten hatte, sondern er machte sogar darauf aufmerksam, dass ihr Vater "ein hervorragender Vertreter dieser Partei" war und sie selbstverständlich in seinem Sinne erzogen worden war. [48]

Ob sie auf Veranlassung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) oder aus eigenem Antrieb von Juni bis September 1935 an einem Nachschulungskursus der Deutschen Arbeitsfront (DAF)17) in Kranken- und Säuglingspflege teilnahm, ist nicht mehr festzustellen. Wie aus einer Bescheinigung der Deutschen Arbeitsfront vom 16. November 1935 und aus einem Ausweis des Regierungspräsidenten in Koblenz vom 30. Juli 1938 hervorgeht, die beide ebenfalls in ihren Bielefelder Personalakten liegen, war sie, nachdem sie den Kurs erfolgreich durchlaufen hatte, "Gesundheitspflegerin". Später wurde sie aufgrund dieser Umschulung zur "Volkspflegerin" mit dem Hauptfach "Gesundheitsfürsorge" ernannt. Bewerbungen bei verschiedenen Gesundheitsämtern blieben aber immer noch ohne Erfolg. Spätestens nach Einsicht der Arbeitgeber in die Personalakte wurden sie abgelehnt. Erst im Januar 1936 gelang es Frieda NADIG, eine bezahlte Beschäftigung in ihrem "neuen" Beruf zu bekommen: Mit Schreiben vom 31. Januar 1936 teilte sie dem Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld mit, dass sie nunmehr Gesundheitspflegerin in Ahrweiler sei. [49]

Über diese Zeit gibt es kaum schriftliche Belege. Aus einem Fragebogen aus ihrer Personalakte, den sie später selbst ausgefüllt hat, geht hervor, dass sie von 1936 bis 1945 der NS-Frauenschaft und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) angehörte. Die Zugehörigkeit zu beiden Organisationen war vermutlich die Bedingung für ihre neue Beschäftigung. Sie füllte während der Zeit des Nationalsozialismus aber keinerlei Ämter aus und ist auch nicht der NSDAP beigetreten. Die Personalakten in Ahrweiler sind nicht mehr vorhanden. Aus einem Interview, das Christel Maria FUCHS am 6. März 1997 mit NADIGs Weggefährtin Elfriede EILERS geführt hat, geht hervor, dass Frieda NADIG ihre berufliche Tätigkeit im Kreis Ahrweiler während der NS-Zeit nutzte, um politisch Verfolgten und Menschen, die von der Euthanasie bedroht waren, zu helfen (FUCHS 1996/97, S.8). [50]

3.2.4 Aufbau der Bundesrepublik (1945 – 1948)

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligte sich Frieda NADIG sofort am politischen Wiederaufbau, 1947 zunächst als Mitglied des Zonenbeirates für die Britische Zone und als Mitglied des Flüchtlingsausschusses. In den Jahren 1947 bis 1950 war sie zudem Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen und Beisitzerin des Bezirksvorstandes der SPD in Ostwestfalen-Lippe. [51]

Nachdem auf Befehl des Alliierten Kontrollrates die Arbeiterwohlfahrt als nicht parteigebundene Organisation wieder gegründet worden war (EIFERT 1993, S.159ff.), wurde die Wiederbelebung des Arbeiterwohlfahrt-Bezirksverbandes Östliches Westfalen zu einem großen Teil Frieda NADIGs Werk. Das trifft auch für die Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei im Bezirk Östliches Westfalen zu, wo sie vor allem als Frauensekretärin aktiv war. An die Stadt Bielefeld richtete sie am 15. Januar 1946 ein ebenfalls noch in ihrer Bielefelder Personalakte auffindbares Schreiben mit dem Antrag auf Aufhebung ihrer 1933 erfolgten Entlassung und Wiedergutmachung. Zwei Monate danach entschied der Personalausschuss, sie wieder zu übernehmen. Aus dem Interview, das die Autorin am 4. Mai 1999 mit ihrer langjährigen Weggefährtin und Nachfolgerin im Bundestag, Elfriede EILERS führte, geht hervor, dass sie die Stelle nicht angetreten und auch die Beschäftigung in Ahrweiler aufgegeben hat, um ab 1. Juli 1946 hauptamtliche Bezirkssekretärin der Arbeiterwohlfahrt Westfalen Ost zu werden. Elfriede EILERS beschreibt sie als eine hervorragende Sozialarbeiterin, die sich in der Nachkriegszeit und darüber hinaus um Flüchtlinge, Obdachlose, hungernde Kinder, alte Menschen und alleinerziehende Mütter kümmerte und mit ihnen in einem Maße, das weit über ein berufliches Engagement hinausging, Kontakte aufbaute. Während ihrer langjährigen ehrenamtlichen Tätigkeit in der Frauenarbeit des SPD-Bezirks Östliches Westfalen motivierte sie unermüdlich Frauen für die parteipolitische Arbeit. Sie war der Meinung, dass die Erfahrungen, die Frauen aus zwei Weltkriegen gewonnen hatten, unbedingt genutzt werden mussten, um an der Sicherung und Erhaltung des Friedens und der sozialen und wirtschaftlichen Neugestaltung eines demokratischen Deutschland mitzuarbeiten. Sie selbst war 1945 49 Jahre alt und konnte ihr bereits in der Weimarer Zeit begonnenes Anliegen, an der Verbesserung der sozialen Gesetzgebung des Landes mitzuwirken, weiterführen freilich nur in dem eng gesteckten Rahmen, den die wirtschaftliche und soziale Not im Lande ebenso beeinflussten wie die Militärregierung. Diese Aktivitäten waren ausschlaggebend dafür, dass die SPD sie in den Parlamentarischen Rat entsandte. [52]

3.3 Gemeinsame Arbeit im Parlamentarischen Rat

Die beiden Frauen wurden im August 1948 in den Parlamentarischen Rat gewählt. Frieda NADIG kritisierte, dass so wenige Frauen in diesem verfassungsgebenden Gremium vertreten waren: "Im Parlamentarischen Rat ist die deutsche Frau zahlenmäßig viel zu gering vertreten. Das Grundgesetz muss aber den Willen der Staatsbürger, die überwiegend Frauen sind, widerspiegeln" sagte sie der "Neuen Zeitung" vom 25. November 1948. Neben Helene WEBER (CDU) gehörte sie als einzige Frau dem Ausschuss für Grundsatzfragen an. Obwohl dieser Ausschuss von hoher Bedeutung war und sie zudem im Organisations- und im Hauptausschuss und als stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Zuständigkeitsabgrenzung teilnahm, wird sie in den Veröffentlichungen über den Parlamentarischen Rat kaum erwähnt. Eine Ausnahme bildet die von der SPD-Bundestagsfraktion im Mai 2009 anlässlich des 60sten Jahrestages der Gründung der Bundesrepublik herausgegebene Broschüre "Die geglückte Verfassung" (NOTZ & WICKERT 2009, S.54-59, S.80). [53]

Beiden Frauen ging es vor allem um die Verankerung der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern im Grundgesetz. Aus dem Protokoll des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates (17. Sitzung, 3. Dezember 1948, Erste Lesung, S.206) ist ersichtlich, dass der Redaktionsausschuss für das Grundgesetz die im Vergleich zur Weimarer Verfassung noch lapidarere Formulierung vorgeschlagen hatte: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln." Elisabeth SELBERT fand – wie aus dem stenografischen Protokoll über die 26. Sitzung des Grundsatzausschusses (30.11.1948, S.52) hervorgeht –, dass das eine gefährliche Formulierung war, die Ausnahmebestimmungen, die sich gegen Frauen richten können, verfassungsrechtlich legitimierte. Als juristische Expertin erkannte sie sofort, dass auf diese Art und Weise Frauen aufgrund ihrer "biologischen Eigenart" nicht auf allen Gebieten gleichgestellt werden konnten. Und auch Frieda NADIG machte darauf aufmerksam, "dass man auf Grund des Zusatzes 'verschieden behandeln' doch wieder eine ganze Reihe von Ausnahmebestimmungen gegen die Frau bekommt" (S.52). [54]

3.3.1 Männer und Frauen sind gleichberechtigt

Elisabeth SELBERT und Frieda NADIG stritten dafür, dass Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten erhalten sollten, und dazu bedurfte es des klaren Satzes: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt". Frieda NADIG brachte den von der Juristin Elisabeth SELBERT initiierten Abänderungsantrag der SPD-Fraktion in die 26. Sitzung des Grundsatzausschusses (30.11.1948) ein (FELDKAMP 1998, S.65; DEUTSCHER BUNDESTAG/BUNDESARCHIV 1993, S.752ff.). Die von ihr und ihren Mitstreiter/innen vorgebrachten Argumente stießen auf Ablehnung bei der CDU/CSU und der FDP. Leider herrschte weder unter den vier Frauen noch innerhalb der Fraktion der SPD eine einheitliche Meinung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Helene WEBER (1881 – 1962, CDU) war im Ausschuss für Grundsatzfragen keine Stütze für Frieda NADIG, weil sie – ebenso wie Helene WESSEL (1898 – 1969, Zentrum) – auf keinen Fall eine, wie sie es nannten, "schematische" Gleichstellung und Gleichberechtigung anstrebten, sondern den "Eigenwert" der Frau bewahrt haben wollten. "Eigenwert" hieß Beschränkung der Frauen auf Mutterschaft und Familie. Durch die Uneinigkeit zwischen den Frauen war es leicht, dem Antrag zu widersprechen (SPÄTH 1984, S.127). [55]

Nachdem der Antrag der SPD am 30. November 1948 durch den Ausschuss für Grundsatzfragen, wo ihn Frieda NADIG vorstellte, abgelehnt worden war, wurde er am 3. Dezember 1948 in der 17. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischer Rats behandelt. Elisabeth SELBERT erklärte dort u.a.: "Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden" (Protokoll 1. Lesung, S.206). Carlo SCHMID (1896 – 1979, SPD) versuchte ihr beizustehen, indem er psychologisch argumentierte: "Es geht den Frauen letzten Endes um die Ehre und nicht um 'Besserstellung'." Und er fügte hinzu, dass er glaube, "dass man nichts zu fürchten braucht, dass man getrost, ohne etwa an Rechtsnachteile oder faktische Nachteile denken zu brauchen, diesem Artikel zustimmen kann" (S.209). Aber auch diese Untertreibung der Ziele der Frauen verfehlte ihre Wirkung. Der Antrag wurde zum zweiten Mal, diesmal durch den Hauptausschuss, mit elf gegen neun Stimmen abgelehnt. Elisabeth SELBERT erkannte, dass sie eine breite Frauenöffentlichkeit benötigte, um ihr Anliegen zu unterstützen. Sie machte wahr, womit sie vor der Abstimmung gedroht hatte:

"Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist" (S.206). [56]

Sie mobilisierte die Frauen in Stadt und Land, indem sie bei unzähligen Veranstaltungen darüber aufklärte, welche Folgen ein solches "Ausnahmegesetz" für Frauen haben werde. Zusammen mit Frieda NADIG sorgte sie dafür, dass ein breites Frauenbündnis aus vielen Frauenverbänden und Frauenorganisationen wie auch autonomen Frauen den unmissverständlichen Text ihres Antrages "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" unterstützte. Es gelangte beiden Frauen, breiten Widerstand zu provozieren. [57]

3.3.2 Die Sternstunde des Politikerinnenlebens

Es regnete Eingaben von unterschiedlichen Frauenverbänden, Berufsverbänden der Frauen, Kommunalpolitikerinnen, weiblichen Belegschaften aus Betrieben, Betriebsrätinnen und vielen anderen Frauen gegen die Ablehnung von SELBERTs Formulierung durch den Parlamentarischen Rat. Die Frauenöffentlichkeit formierte sich rascher, als Elisabeth SELBERT es sich erträumt hatte. Der massive Protest, der über Partei-, Konfessions- und Klassengrenzen hinausging und von autonomen wie organisierten Frauen getragen wurde, war einmalig in der Geschichte, und er musste Erfolg haben. Dieser Erfolg kann nicht geschmälert werden. Auch wenn in anderen Arbeiten die überparteiliche Aktion abgewertet wurde, weil sich beim "größten Teil der Eingaben eine überproportionale Beteiligung von Sozialdemokratinnen nachweisen lässt" (GILLE & MEYER-SCHOPPA 1999, S.28f.) und zudem "viele Kommunistinnen" am Protest beteiligt waren. Auch "der Umstand, dass die 'Selbertsche Formulierung' bereits im SED-Entwurf für eine gesamtdeutsche Verfassung von 1946 stand", kann nicht herangezogen werden, um Elisabeth SELBERTs Verdienst und das der Nachkriegsfrauenbewegung infrage zu stellen, wie dies bei Karin GILLE und Heike MEYER-SCHOPPA (1999, S.28f. und S.38f.) geschieht. [58]

Nach heftigen Diskussionen wurde der Gleichheitsgrundsatz am 18.1.1949 in der Sitzung des Hauptausschusses einstimmig gebilligt und als unveräußerliches Grundrecht in das Grundgesetz eingeschrieben. Einige Parlamentarier/innen bezeichneten ihre vorangegangene Ablehnung als Missverständnis. Im gesamten Parlamentarischen Rat war ein Sinneswandel eingetreten. Plötzlich wollte keiner und keine mehr dagegen gewesen sein. Anscheinend sahen jetzt alle ein, was sie den Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg schuldig waren, warnten aber noch immer vor dem bevorstehenden Rechtschaos, weil die übrigen Gesetze noch von der grundsätzlichen geschlechterspezifischen Ungleichheit und geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung ausgingen. Der spätere Bundespräsident Theodor HEUSS (1884 – 1963, DDP/FDP) sprach amüsiert von einem "Quasi-Stürmlein", das die Frauen initiiert hätten und das völlig unnötig gewesen sei, weil die Auffassungen der Parlamentarier/innen von Anfang an so gewesen sei, "wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben" (PR, Hauptausschuss, 42. Sitzung vom 18.1.1949, Zweite Lesung, S.542). [59]

Mit dem grundgesetzlich verankerten eindeutigen Grundsatz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" wurde gegenüber dem Gleichberechtigungspassus in der Weimarer Verfassung ein riesiger Schritt vorwärts markiert. Innerhalb der CDU warf man beiden SPD-Abgeordneten vor, dass die Öffentlichkeit mit ihren zahlreichen Eingaben an den Parlamentarischen Rat überreagiert habe (FELDKAMP 1998, S.65). Die Hartnäckigkeit der beiden Frauen und die überparteiliche Aktion hatten dazu geführt, dass Frauen in der neu gegründeten Republik de jure die gleichen Rechte wie Männer haben. Den Sieg beschrieb Elisabeth SELBERT später als "Sternstunde" ihres Lebens (BÖTTGER 1990, S.166). [60]

3.3.3 Der Kampf war nicht zu Ende

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz unterzeichnet. Zwölf Abgeordnete von CSU, KPD, DP und Zentrum, darunter auch Helene WESSEL, stimmten dagegen. Nach dem Willen der Mütter und Väter des Grundgesetzes sollte der Gleichberechtigungsgrundsatz auch Konsequenzen für die Gleichstellung in der übrigen Gesetzgebung, besonders im Familien- und Arbeitsrecht haben. Artikel 117 GG sah daher vor, dass bis spätestens 31. März 1953 alle Gesetze, die dem Gleichstellungsparagrafen entgegenstanden, geändert sein mussten. Ein noch zu verabschiedendes zusätzliches Gesetz sollte die Gleichstellung von Mann und Frau zum Inhalt haben und die familienrechtliche Benachteiligung der Frauen aufheben. Die Frist für diesen Stichtag lief jedoch – trotz wiederholter Interventionen und Anstrengungen, durch die sich besonders Frieda NADIG hervortat – ohne jegliche entsprechende Gesetzesänderung ab. Elisabeth SELBERT konnte nicht in den Bundestag einziehen, weil sie nicht genügend Stimmen bekam. Erst am 1. Juli 1958 trat ein unter der Vielzahl von Kompromissen "zahnlos" gewordenes Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. [61]

Mehr oder weniger ergebnislos verlief Frieda NADIGs Kampf um die Verankerung des Rechtes auf Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern im GG. In einem Diskussionsbeitrag während der 6. Sitzung des Grundsatzausschusses am 5.10.1948 sprach sie die große Bedeutung der Frauenlohnarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg an (Protokoll, S.55). Sie wies darauf hin, dass eine explizite Zusicherung auf Lohngleichheit für "das Gros der Frauen, die auf den wirtschaftlichen Gebieten nicht zu ihrem Recht kommen, [...] eine wirklich grundsätzliche Änderung bedeuten" würde. Die bürgerlichen Parteien verwiesen darauf, dass der Parlamentarische Rat nicht in die "Sozialordnung" eingreifen dürfe, was der Fall wäre, wenn das Grundgesetz in die vertragsmäßigen Beziehungen am Arbeitsplatz intervenieren würde (Drucksachen Nr. 850, 854, S.8).18) Die SPD-Genoss/innen ließen sich auf diese Logik ein und trösteten sich damit, dass sich die eindeutige Formulierung von gleichen Rechten für Männer und Frauen auf alle Lebensbereiche erstrecke, also auch auf die Arbeit im öffentlichen Bereich und in den privaten Unternehmen (MOELLER 1997, S.93). In der Praxis hat sich das als Irrtum erwiesen. [62]

1994, nach der Wiedervereinigung, wurde das Grundgesetz ergänzt, indem der Satz eingefügt wurde: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Ohne die Unterstützung von tatkräftigen Frauen aus Gewerkschaften und autonomen Vereinen und Initiativen hätten weder die Frauen, die 1949 im Parlamentarischen Rat, noch diejenigen, die 1994 im Bundestag saßen, diese Formulierungen durchsetzen können. Parlamentarierinnen und außerparlamentarisch aktive Frauen setzten sich für die Gleichstellung von Frauen und Männern ein, weil sie diese als Voraussetzung für eine gerechte, emanzipatorische und demokratische Gesellschaft ansahen. Die faktische Umsetzung des Rechts auf Gleichberechtigung dauert bis heute an. Dass die Umsetzung des Gleichheitsparagrafen so große Schwierigkeiten bereitete, machte Elisabeth SELBERT mit zunehmendem Alter ungeduldiger. Die mangelnde Präsenz von Frauen in öffentlichen Ämtern und in den Parlamenten bezeichnet sie in einem Interview als Verfassungsbruch in Permanenz (DERTINGER 1986, S.18). [63]

4. Schlussbemerkungen

Die ungewöhnlichen Lebenswege der in die Untersuchung einbezogenen 38 Frauen spiegeln die gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts wider. Die Biografien sind so unterschiedlich, wie die Lebenswege von Frauen (nicht nur in dieser Zeit) sind. Die Prägungen, Orientierungen und ersten Politikerfahrungen vor allem der älteren Parlamentarierinnen, die noch im 19. Jahrhundert geboren worden waren, dazu gehörte auch Frieda NADIG, wurden in der Arbeiterjugend gesammelt oder vom sozialistisch und atheistisch geprägten Vater beeinflusst. Die meisten hatten keine "normalen" Lebenswege und hatten keine traditionelle Mädchenerziehung erfahren, dazu gehörte auch Elisabeth SELBERT, die sie allein auf eine spätere Aufgabe als Hausfrau und Mutter vorbereiten sollte. Die Biografien erscheinen voller Brüche und manchmal auch Widersprüche. Viele wuchsen in einer sozialdemokratischen Gegenkultur auf. Nicht selten prägten Armut und Entbehrungen ihre Kindheit. Die meisten erlebten, wie nach dem Ersten Weltkrieg zwar der Kaiser ging, die Generäle aber blieben. Dennoch war die Weimarer Republik für die sozialdemokratischen Familien mit großen Hoffnungen verbunden. Das wird auch aus den beiden dargestellten Biografien deutlich. Mehr als die der später nachfolgenden Politikerinnen-Generationen sind sie von historischen Umbrüchen und "Wendepunkten" geprägt. Die proletarische Herkunft, die bei den "Frauen in der Mannschaft" (NOTZ 2003) noch durchgehend war, ist bei den Frauen, die 1957 – 1969 neu in den Bundestag gekommen waren (NOTZ 2007), schon nicht mehr vorherrschend. Aber auch unter ihnen waren etliche, in deren Familien das nötige Geld für den Besuch einer "weiterführenden" Schule fehlte. Auch Frieda NADIG und Elisabeth SELBERT mussten den schwereren Weg eines zweiten Bildungsweges gehen. [64]

Die Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur prägten die politische Sozialisation aller 38 Frauen. Einige verloren Väter oder Brüder. Alle sahen die Geschlagenen, Niedergezwungenen und Ermordeten. Etliche leisteten Widerstand, führten die politische Arbeit im Exil weiter oder wurden beobachtet, verfolgt oder verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, weil sie sich mit den Verhältnissen nicht abfinden wollten. Viele waren bis an ihr Lebensende getrieben von der Angst, es könnte sich noch einmal wiederholen, und sie kämpften nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit großem Idealismus dafür, dass die neu geschaffene Bundesrepublik ein Land wurde, in dem Unrecht, soziale und geschlechtsspezifische Ungerechtigkeit, Faschismus und Krieg der Boden entzogen ist. Etliche waren über den Weg der Arbeit in über- und außerparteilichen Frauenausschüssen in die SPD gekommen. [65]

Nachdem die einzige Juristin unter den biografisierten Parlamentarierinnen, Elisabeth SELBRT, nach ihrem aufsehenerregenden Kampf im Parlamentarischen Rat um die Durchsetzung des Gleichstellungsparagrafen im Grundgesetz nicht in den Bundestag hatte einziehen können, arbeiteten andere Frauen, allen voran Frieda NADIG, mit großem Sachverstand und viel Geduld für die Reformierung der dem Gleichstellungsartikel widersprechenden Gesetze. [66]

Die Parlamentarierinnen der ersten Stunde, die ich noch interviewen konnte, haben auch nach ihrem Austritt aus der "großen Politik" nicht resigniert, eher waren sie erregt und wütend, wenn andere resignierten. Trotz ihrer oft negativen Erfahrungen waren sie auch nicht verbittert. Sie haben das Interesse an der Politik und am öffentlichen Leben nicht verloren, und wenn ich sie danach fragte, waren sie überzeugt davon, dass sie im Ganzen richtig gehandelt haben. Wie Frieda NADIG und Elisabeth SELBERT wussten sie, dass eine Demokratie ohne Gleichstellung der Geschlechter unvollständig ist. 62 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik und 21 Jahre nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ist die volle Gleichberechtigung von Männern und Frauen immer noch nicht selbstverständlich. [67]

Anmerkungen

1) Leider konnte nur ein Ehemann interviewt werden: Otto BENNEMANN (1903 – 2003), Ehemann von Franziska BENNEMANN, geb. STELLMACHER (1905 – 1985), MdB 1953 – 1961. Die Ehemänner weiterer Parlamentarierinnen waren nicht mehr am Leben. <zurück>

2) Die Eingangsfrage lautete: "Ich möchte Sie bitten, mir zu erzählen, wie Sie dazu gekommen sind, Politikerin zu werden." Für Töchter und Söhne: "Ich möchte Sie bitten, mir zu erzählen, wie Sie ihre Mutter als Politikerin erlebt haben." <zurück>

3) Mitglied des Bundestags <zurück>

4) Schriftliche Aufzeichnungen von Alix HUBERT-FEHLER und Sibylle TRUMM für mich über ihre Mutter Elinor HUBERT vom 13.8.2002 (Privatbesitz). <zurück>

5) Beide sind in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn: http://library.fes.de/. <zurück>

6) Im Zuge der Gleichschaltung nach der Machtergreifung HITLERs 1933 trat mit dem Verbot der Arbeiterwohlfahrt die NSV als Staatsorganisation und Verein neben die sieben verbliebenen Wohlfahrtsorganisationen. <zurück>

7) Berufsorganisation der Juristen im nationalsozialistischen Deutschen Reich von 1936-1945. Allerdings hieß die Organisation damals noch Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ), erst 1936 wurde sie umbenannt. <zurück>

8) Nationalsozialistischer Frauenverband, der 1933 von den Nationalsozialisten gegründet wurde. <zurück>

9) Dertinger, Antje (1996). "In die Parlamente müssen die Frauen!" Elisabeth Selbert: Hundertster Geburtstag im September, zehnter Todestag im Juni. Frankfurter Rundschau vom Juni 1996, ohne weitere Angabe in Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Sammlung Personalia Elisabeth Selbert. <zurück>

10) Zeitung der Arbeiterwohlfahrt, die 1933 mit deren Auflösung verboten wurde. <zurück>

11) Offene Anfrage an den Herrn Oberbürgermeister, in: Bielefelder Beobachter vom 23.2.1933. Der Ausschnitt trägt keine Unterschrift. In Stadtarchiv Bielefeld, Personalakten der Stadt Bielefeld: Frieda Nadig. <zurück>

12) Brief Der Oberbürgermeister an den Bielefelder Beobachter vom 23.2.1933. In Personalakten. <zurück>

13) Ebenda. <zurück>

14) Magistrat der Stadt Bielefeld: Brief an Frieda Nadig vom 12.5.1933. In Personalakten. <zurück>

15) Briefe von Frieda NADIG an den Magistrat der Stadt Bielefeld vom 18.5.1933 und 23.5.1933. In Personalakten. <zurück>

16) Zeugnis des Oberbürgermeisters der Stadt Bielefeld für Friederike NADIG vom 29.8.1934. In Personalakten. <zurück>

17) Die Deutsche Arbeitsfront war während des Nationalsozialismus der Einheitsverband der Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen. <zurück>

18) Anlage zum stenografischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, Parlamentarischer Rat, Bonn 1948/19, schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. <zurück>

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Zur Autorin

Gisela NOTZ, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, Berlin. 1985 bis 1997 Redakteurin der Zeitschrift beiträge zur feministischen theorie und praxis, jetzt Redakteurin LunaPark21. Bis 2007 wiss. Referentin für Frauenforschung im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Arbeitsgebiete: Sozial- und Zeitgeschichte, soziale Bewegungen. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Kontakt:

Gisela Notz

Erkelenzdamm 51
D-10999 Berlin

Tel.: +49 (0)30/69539743

E-Mail: gisela.notz@t-online.de

Zitation

Notz, Gisela (2011). Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat [67 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(2), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1102156.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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