Volume 12, No. 2, Art. 14 – Mai 2011

Sozialfiguren des Protests und deren Bedeutung für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen: Das Beispiel der unabhängigen DDR-Friedensbewegung

Alexander Leistner

Zusammenfassung: Der Aufsatz entfaltet am Beispiel von Schlüsselfiguren der unabhängigen DDR-Friedensbewegung ein Tableau idealtypisch verdichteter Sozialfiguren des Protests, die in sozialen Bewegungen präsent und wirksam sind und differenziert somit das Verständnis für die eigendynamische Formation und Stabilisierung sozialer Bewegungen. Diese Sozialfiguren haben, bezogen auf typische Probleme, eine je spezifische Funktion inne – und sind somit in unterschiedlichen Phasen der Bewegungsentwicklung unterschiedlich bedeutsam. Dazu zählen: Pionier/in, Mentor/in, Märtyrer/in, Veteran/in, Vordenker/in, Vernetzer/in, Fürsprecher/in, Aktionist/in, Renegat/in, Agent Provocateur. Durch die Auswertung biografischer Interviews wird deutlich, dass die von den Sozialfiguren repräsentierten Probleme in allen Interviews präsent und eng verwoben mit der Ausbildung und Stabilisierung einer Aktivist/innenidentität sind. Die Typenbildung schärft zugleich den Blick für die lokalen Konstellationsdynamiken und Akteursdominanzen innerhalb sozialer Bewegungen und deren Rückwirkungen auf die Entwicklung der Gesamtbewegung.

Keywords: soziale Bewegung; Schlüsselfiguren; Leadership; Biografie; Friedensaktivist/innen; DDR-Geschichte; rekonstruktive Sozialforschung; Biografieforschung

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Bedeutung von Führungsfiguren in sozialen Bewegungen – Forschungsstand

3. Gegenstandsbestimmung und Typenbildung

4. Die unabhängige DDR-Friedensbewegung

4.1 Erste Phase: Politisierung individueller Mitmach-Konflikte und Prozesse der Selbstbeauftragung (1962 -1972)

4.2 Zweite Phase: Erste Gruppengründungen (1973-78)

4.3 Dritte Phase: Die konflikthafte Expansion der Friedensbewegung (1979-83)

4.4 Vierte Phase: Stagnation, Stabilisierung und Neuorientierung (1983-1984)

4.5 Fünfte Phase: Die Politisierung der Friedensbewegung und lokale Akteurskonstellationen (1985-1989)

5. Sozialfiguren des Protests

5.1 Pionier/in

5.2 Mentor/in

5.3 Märtyrer/in

5.4 Veteran/in

5.5 Vordenker/in

5.6 Fürsprecher/in

5.7 Vernetzer/in

5.8 Aktionist/in

5.9 Renegat/in

5.10 Agent Provocateur

6. Zusammenfassung

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Der Aufsatz handelt vom Einfluss und der Funktion einzelner, herausgehobener Akteure und Akteurinnen für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen. Man mag dabei sogleich an besondere, aus dem Zeitenstrom herausragende Persönlichkeiten denken, an prominente Wort- und Anführer/innen sozialer Bewegungen: an Martin Luther KING jr., Petra KELLY, Bärbel BOHLEY oder Michael KÜHNEN. Und doch ist die einseitige Fokussierung der gegenwärtigen Leadership-Forschung auf die Sichtbarkeit und zugeschriebene Prominenz, auf die charismatische Wirkung und die Entscheidungsmacht solcher Führungsfiguren zu eng. Stattdessen soll hier nach den spezifischen Funktionen von Schlüsselfiguren auf allen Ebenen einer Bewegung gefragt werden. Diese funktionale Perspektive schärft den Blick für die Vorgeschichte, für die Ränder, das Umfeld und die lokalen Interaktionskontexte einer Bewegung. Denn fasst man den Erklärungsgegenstand der Bewegungsforschung grundlegender als die bisherige Forschung: als Handeln und Ordnungsbildung unter den Bedingungen von Ungewissheit (vgl. PETTENKOFER 2010), und betont man die Fragilität sozialer Bewegungen und die Unberechenbarkeit ihrer Wirkungen, dann werden die fundamentalen Probleme einer solchen prekären Ordnungsbildung deutlich. In welchen gesellschaftlichen und biografischen Konstellationen beginnen die Initiatorinnen und Initiatoren mit ihrem Engagement? Woher kommen Anstoß und Ermunterung? Welche Prozesse lassen das Engagement zu einem Eigenwert werden? Wer vernetzt die teilweise unabhängig voneinander und in verschiedenen Kontexten entstehenden Gruppen miteinander? Was sind eigentlich die Knotenpunkte in dem "Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen"?1) Wer formuliert und aktualisiert jene Deutungsmuster und Ideologeme, die darauf einschwören, warum der Protest nötig und das Engagement sinnvoll ist? Wer vermittelt zwischen den sich ausbildenden Flügeln und Fraktionen einer Bewegung? Und wer vermittelt zwischen den verschiedenen Generationen bzw. zwischen Noviz/innen und "Urgesteinen"? Wer übersetzt Ziel und Anliegen für eine breitere Öffentlichkeit? [1]

Für die Lösung eines Teils dieser Probleme gibt es in professionalisierten Bewegungen des "gemachten Protestes"2) funktionale Äquivalente: Es gibt also entsprechende Zuständigkeiten (Presseverantwortliche, Campaigner), eingespielte Arbeitsstrukturen und Entscheidungsgremien. Aber gerade in der Formationsphase wird Protest nicht von spezialisierten Bewegungseliten gemacht. Protest geschieht unter den Bedingungen schwacher Institutionalisierung. Einzelne Gruppen und (häufig versprengte) Bewegungspionier/innen beginnen mit dem Engagement, ohne dass zunächst gewiss und erwartbar wäre, dass sich aus diesem "harten Kern" von Aktivistinnen und Aktivisten eine Bewegung formt, und ohne dass deren Anliegen zunächst Erfolg versprechend in der Gesellschaft auf Resonanz stoßen würde. Der (biografische) Anstoß zum Engagement, das Anfangen, das Ermutigen, das Vernetzen, das Übersetzen, das Vermitteln – all diese Handlungsaspekte und Prozesse ungewisser Ordnungsbildung sind nicht ausschließlich, aber gerade in sozialen Bewegungen an einzelne Schlüsselfiguren gebunden. Anders als es die engen, auf formale Leitungspositionen und Entscheidungskompetenzen bezogenen Leadership-Ansätze in der Bewegungsforschung nahe legen (vgl. MORRIS & STAGGENBORG 2004), agiert ein Teil dieser Akteurinnen und Akteure im Hintergrund. Sie gehören zum Vor- und Umfeld sozialer Bewegungen sowie zum "harten Kern", ohne dass sich ihr Einfluss und ihre Bedeutung in Prominenz, Entscheidungsmacht und Sichtbarkeit niederschlagen muss. [2]

Der Aufsatz entfaltet vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen ein Tableau idealtypisch verdichteter Sozialfiguren des Protests, die in sozialen Bewegungen präsent und wirksam sind. Sie haben, bezogen auf typische Probleme, eine je spezifische Funktion inne – und sind somit in unterschiedlichen Phasen der Bewegungsentwicklung unterschiedlich bedeutsam. Dazu zählen: Pionier/in, Mentor/in, Märtyrer/in, Veteran/in, Vordenker/in, Vernetzer/in, Fürsprecher/in, Aktionist/in, Renegat/in und Agent Provocateur. Entwickelt und entfaltet werden diese Figuren am Beispiel der unabhängigen DDR-Friedensbewegung. Diese Typenbildung ist in zweifacher Hinsicht von der Auswertung biografisch-narrativer Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der DDR-Friedensbewegung inspiriert und bereichert. Einerseits wird der Einfluss solcher Figuren bzw. der von ihnen repräsentierten Bezugsprobleme in den biografischen Selbstpräsentationen überhaupt erst sichtbar. Andererseits wurden solche "Schlüsselfiguren" direkt interviewt. Aus einer biografietheoretischen Perspektive wird somit deutlich, in welchen gesellschaftlichen und biografischen Konstellationen eine Kerngruppe von Langzeitengagierten entsteht. Die Analyse der Biografien geht in die Typenbildung ein, aber darin nicht auf. Die idealtypisch verdichteten Sozialfiguren sind – wie später genauer dargestellt wird – kein Ergebnis biografischer Fallrekonstruktionen. Das heißt, die strukturierende Logik einer Biografie entspricht nicht automatisch der Funktion (bzw. den Funktionen), die Einzelne für eine soziale Bewegung haben, so wie die Trennung dieser Funktionen eine analytische ist. Diese Typenbildung zielt dabei auf drei Erträge:

Zum Vorgehen: Zunächst möchte ich darstellen, wie der Einfluss herausgehobener Führungsfiguren in der Bewegungsforschung bislang thematisiert wurde und welche Anknüpfungspunkte es für die hier angestrebte Typenbildung gibt (Abschnitt 2). In einem zweiten Schritt stelle ich den Prozess der Typenbildung vor und welche Bedeutung der Auswertung biografischer Interviews, in diesem Falle mit zwanzig Vertreterinnen und Vertretern der DDR-Friedensbewegung, dabei zukommt (Abschnitt 3). In einem dritten Schritt wird die unabhängige DDR-Friedensbewegung als exemplarischer Anwendungsfall vorgestellt (Abschnitt 4). Der Fokus liegt hier auf den verschiedenen Phasen der Entwicklung, den damit verbundenen Prozessen und Problemen und dem Einfluss von Sozialfiguren. In einem ausführlichen vierten Schritt werden dann die einzelnen Sozialfiguren entfaltet (Abschnitt 5). Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Präparierung von Bedeutung und Einfluss dieser Typen auf die Bewegung als Ganzes (die Prozesse der Ordnungsbildung) und auf die Biografien der Aktivistinnen und Aktivisten (die Prozesse der Selbstvergewisserung). Im fünften und letzten Schritt werden die Ergebnisse in zwei Richtungen gebündelt (Abschnitt 6). Zum einen soll ein Beitrag zu einem differenzierten Verständnis der Formationsdynamiken der DDR-Friedensbewegung geleistet werden. Dabei wird auf den Einfluss unterschiedlicher Konstellationsdynamiken in den regionalen Zentren der Oppositionsbewegung auf den Verlauf der "Friedlichen Revolution" hingewiesen. Zum anderen soll gezeigt werden, dass dieses Tableau funktionaler Sozialfiguren ein hilfreiches Instrument für die Untersuchung der Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen ist. [4]

2. Die Bedeutung von Führungsfiguren in sozialen Bewegungen – Forschungsstand

Die Bedeutung herausgehobener Führungsfiguren für soziale Bewegungen gilt vor allem in der nordamerikanischen Bewegungsforschung als noch unzureichend untersucht (vgl. BARKER, JOHNSON & LAVALETTE 2001; MORRIS & STAGGENBORG 2004), in der deutschsprachigen Forschung spielt sie nahezu keine Rolle. Das mag daran liegen, dass die Konzentration auf "Führer"3) einer Bewegung historisch belastet ist und darüber hinaus empirisch unangemessen. Und man mag dabei an die Organisationskultur der Neuen Sozialen Bewegungen der 1980er Jahre, an die Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung mit ihrem ausgeprägt hierarchiefeindlichen Organisationsideal und der Idealisierung basisdemokratischer Entscheidungsprozesse denken. Ein anderer Grund liegt in der theoretischen Engführung der dominierenden Political-Process-Ansätze, die soziale Bewegungen als rational an ihrer Umwelt orientierte, kollektive Akteurinnen verstehen. So unverzichtbar es ist, die sich wandelnden politischen Rahmenbedingungen und die organisatorischen Voraussetzungen für Protest zu untersuchen, so droht dabei aber der Einfluss Einzelner aus dem Blick zu geraten, die exponierte Aufgaben übernehmen: die Missstände aussprechen, Programmatiken formulieren und in öffentlichen Debatten vertreten, die Reden halten, Entscheidungen festlegen und situationsbezogen improvisieren, die Bündnisse schmieden, Emotionen kanalisieren und potenzielle Unterstützer/innen ansprechen. [5]

Frühe Studien zu Leadership in sozialen Bewegungen haben – neben der naheliegenden Anwendung von WEBER's Konzept der charismatischen Herrschaft (1980 [1921], S.140-148) – die unterschiedlichen Führungsanforderungen kenntlich gemacht. So verweist Joseph R. GUSFIELD (1966) auf die Konflikthaftigkeit der mit einer Führungsposition verbundenen Rollenanforderungen. Eine dynamischere Differenzierung leistet Herbert BLUMER (1951), der vier Phasen der Bewegungsentwicklung jeweils unterschiedlichen Anforderungen an deren "Anführer" zuordnet: den "Agitator", der Unzufriedenheiten aufgreift und kanalisiert; den "Propheten", der in der Phase öffentlicher Erregung konkrete Wege zur Veränderung aufzeigt; den "Staatsmann", der die organisatorische Formalisierung betreibt und schließlich den "Administrator", der die Aufgaben sich herausbildender Bewegungsorganisationen bloß noch verwaltet. In ähnlicher Weise unterscheidet STAGGENBORG – angelehnt an den Ressourcenmobilisierungsansatz (vgl. McCARTY & ZALD 1977) – die wechselnden Anforderungen an "Bewegungsunternehmer" im Zuge der Professionalisierung von Bewegungsorganisationen. So brauche es in der Gründungsphase den dynamischen Führungsstil des "Entrepreneurs" oder "Enthusiasten", der trotz ungewisser Erfolgsaussichten Risikoinvestitionen vornimmt. Später bedürfe es dann eher den "Manager" oder "Bürokraten" (vgl. STAGGENBORG 1988 sowie ROCHE & SACHS 1955). [6]

In diesen frühen Arbeiten ist die hier wieder aufgenommene Perspektive schon angelegt. Funktionale Erfordernisse werden phasenspezifisch unterschieden und typologisch zu Sozialfiguren verdichtet, in denen sich grundlegende Merkmale bündeln.4) Ihren wichtigen Einsichten zum Trotz ist diesen Arbeiten ein auf Sichtbarkeit und formale Positionen verengtes Verständnis von Leadership gemeinsam. Am Beispiel der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung haben feministische Forscherinnen diese einseitige Konzentration auf die prominenten, vornehmlich männlichen Repräsentanten und "(Laut-) Sprecher" kritisiert. Diese Kritik zielte in zwei Richtungen: Einerseits sollten die auch in progressiven Bewegungen wirksamen, geschlechtsbezogenen Aufgabenverteilungs- und also Ausgrenzungsmechanismen aufgezeigt werden. Andererseits wurde damit ein grundlegenderes Problem erhellt: Dass in der Forschung der Einfluss informeller Führungsfiguren, die eher im Hintergrund agieren, übersehen werde, und damit auch deren maßgebliche Bedeutung für die Entwicklung der Bewegung (vgl. BARNETT 1993). [7]

Dies aufgreifend hat Belinda ROBNETT die "klassischen" Führungsfiguren im Sinne der "Sprecher", "Repräsentanten", "Bewegungsunternehmer" ergänzt um die Figur des "bridge leaders". Diese überbrücken im Hintergrund als Vernetzer/in oder Vermittler/in die Kluft, "between the prefigurative politics of small towns and rural communities and the strategic politics of movement organizations" (1996, S.1688). Von der normativ eingefärbten Unterscheidung zwischen der "guten", vorwegnehmenden "Politik von unten" und den strategischen Entscheidungen einer Bewegungselite abgesehen sensibilisiert dieser Ansatz für den Einfluss solcher "Brückenbauer/innen" auf die nahräumlichen Interaktionsprozesse einer sozialen Bewegung – im konkreten Fall die in vielfacher Hinsicht schwierige und ungewisse Mobilisierung von Aktivistinnen und Aktivisten in den kleinen, von der Rassentrennung besonders stark geprägten Städten und Gemeinden im Süden der USA. In einzelnen Fallstudien wurde diese Sicht noch einmal differenziert. So zeigt Ann HERDA-RAPP (1998), wie informelle Schlüsselfiguren ihren starken wie subtilen Einfluss trotz und gerade aufgrund ihrer "zentralen Randständigkeit" innerhalb der Bewegung entfalten können. Sie sind zentral, weil sie aufgrund ihres Status' als "Bewegungsveteran/in" anerkannt und sehr gut vernetzt sind. Sie sind zugleich formal randständig, weil sie keine offizielle Position innerhalb einer Bewegungsorganisation (mehr) haben und sich unabhängig von den Phasen und Anforderungen der "Tagespolitik" machen. In ihrem spezifischen Einfluss auf die Bewegungen werden implizit verschiedene funktionale Sozialfiguren gebündelt erkennbar. Als Urgestein und Storyteller der Bewegung vermitteln sie zwischen den Generationen, "between the old movement and the new movement by providing continuity during periods of abeyance, historical perspective, practical experience and connections to an established movement network" (S.344). Als Mentor/innen unterstützen sie die Aktiven in strategischen Fragen, ermuntern, vernetzen und platzieren Jüngere in Schlüsselpositionen und üben dergestalt "Strippen ziehend" über ein dichtes Beziehungsgeflecht starken Einfluss auf die Entwicklung der Bewegung aus. So wichtig diese Sensibilisierung für die vielfältigen Funktionen solcher informal leader auf allen Ebenen einer Bewegung ist, so überzeugend ist die kritische Anfrage, ob das noch sinnvoll als Leadership bezeichnet werden kann (MORRIS & STAGGENBORG 2004, S.177). [8]

Die Zusammenschau all dieser Überlegungen, Korrekturen und Einwände in der Forschung macht deutlich: Wo auf der einen Seite die Bedeutung prominenter Führungsfiguren, die sich auf Charisma und/oder Organisationsmacht stützen können, überschätzt wird, macht es auf der anderen Seite doch auch nur bedingt Sinn, das weniger sichtbare Hintergrundwirken wichtiger Akteur/innen außerhalb formaler Entscheidungsstrukturen noch als Leadership zu bezeichnen. Die in den Ansätzen entwickelte funktionalistische Perspektive, die die phasenspezifische Funktion von Schlüsselfiguren in sozialen Bewegungen untersucht, soll hier weiterführend aufgegriffen werden. Deren Einfluss ist weder zwingend an formale Positionen in Bewegungsorganisationen gebunden – wenngleich bestimmte Positionen den Einfluss erhöhen oder teilweise überhaupt ermöglichen –, noch muss dieser Einfluss im Sinne strategischer Interaktion intendiert sein und zielgerichtet ausgeübt werden. [9]

3. Gegenstandsbestimmung und Typenbildung

Ausgehend von der Frage nach der Funktion herausgehobener Akteure und Akteurinnen für soziale Bewegungen und mithin für sozialen Wandel ist deutlich geworden, dass die Literaturlage vieles unbeantwortet lässt. Der systematische Stellenwert der Frage wird überhaupt nicht oder allenfalls am Rande thematisiert. Wo es zum Thema wird, verengt sich die Perspektive auf formale Führungspositionen. Schließlich wird der Einfluss in kritischer Auseinandersetzung mit hegemonial-männlichen Geschichtsdeutungen am Beispiel einflussreicher Hintergrundfiguren rekonstruiert – dann aber immer noch mit dem irreführenden Anspruch, dies als Leadership zu etikettieren. Damit mag zwar den Betreffenden erinnerungskulturell "Gerechtigkeit widerfahren", aber analytisch verdeckt ein solches Vorgehen deren indirekte und teilweise unbeabsichtigte Einflüsse auf eine Bewegung. [10]

Stattdessen soll hier von Sozialfiguren des Protestes gesprochen werden. Der Begriff zeigt an, dass hier idealtypisch eine auf ein zentrales Problem gerichtete spezifische Funktion realisiert wird. Diese Funktion wird zu einer Sozialfigur verdichtet. Diese mag – wie die Pionier/innen – ursprünglich zumeist aus anderen gesellschaftlichen Feldern stammen.5) Aber durch die Prägnanz von Funktion oder Tätigkeit hat sie sich im sozialen Raum verselbstständigt und ist in sozialen Bewegungen präsent und wirksam: in aktuellen Debatten wie in retrospektiven Selbstthematisierungen (vgl. BURO 2005). [11]

So braucht jede soziale Bewegung formal Initiatorinnen und Initiatoren, die ungewissen Erfolgsaussichten zum Trotz mit ersten Aktionen und rudimentären Formen der Selbstorganisation beginnen. Diese Funktion und das damit verbundene sozialtheoretische Grundlagenproblem verdichten sich dann in der Sozialfigur der Pionier/innen, die mit hoher Risikobereitschaft ausgestattet, ausprobierend zu Wegbereiter/innen werden. Dies ist nicht zu verwechseln mit Rollen oder professionellen Tätigkeiten in sozialen Bewegungen – auch wenn es da Zusammenhänge geben mag. So ist "Pionier/in" eine rückblickende Funktionszuweisung eines Handelns in einer spezifischen historischen Konstellation. Andererseits sind die Schlüsselfunktionen auch stark positionsgebunden. Ob jemand für viele Jugendlichen zu einer Mentorin oder einem Mentor überhaupt werden kann, hängt natürlich an formalen Positionen: die Jugendpfarrerin mit höherer Wahrscheinlichkeit als der Friedhofsgärtner. Dass heißt nun aber nicht, dass diese formale Position automatisch funktional, etwa Rat gebend oder initiierend, ausgefüllt wird. Das hängt wiederum, um in diesem Bild zu bleiben, stark mit der Biografie der Jugendpfarrerin zusammen und ihrem professionellen Selbstverständnis, aber immer auch mit der biografischen "Resonanz" der Jugendlichen. Diese erste gedankenexperimentelle Anwendung lässt also nach Art und Weise der Typenbildung fragen. [12]

Bisher konnte es so erscheinen, als würden die Sozialfiguren "von oben nach unten" entworfen (WOHLRAB-SAHR 1994, S.271), von einer theoretisch unterstellten Erweiterungsbedürftigkeit klassischer Leadership-Ansätze her, also mittels eines Verfahrens, das sich des empirischen Materials dann allenfalls zur Veranschaulichung bedient. Drei Schritte sind stattdessen notwendig – die Sensibilisierung für das Verständnis sozialer Bewegungen, die dementsprechend sensibilisierte Rekonstruktion des konkreten Gegenstandes "DDR-Friedensbewegung" und schließlich die Rekonstruktion von Prozessen der Verselbstständigung und Stabilisierung des Engagements in den biografischen Interviews. Die Darstellung dieser Schritte folgt dabei der Logik der Argumentation.

Die narrationsanalytische Auswertung dieser biografischen Interviews erschließt für die hier durchgeführte Typenbildung zwei Zugänge: Einerseits werden zeithistorisch bedeutsame Personen, von denen zu vermuten war, dass sie eine oder mehrere zentrale Funktionen im Sinne der Sozialfiguren erfüllten, selbst interviewt und die gesellschaftlich-biografischen Konstellationen rekonstruiert, die sie dazu werden ließen. Anderseits sind die von den Sozialfiguren repräsentierten Probleme9) in allen Interviews präsent und eng verwoben mit der Ausbildung und Stabilisierung einer Aktivist/innenidentität. Für die im Aufsatz verfolgte Fragestellung geraten somit vor allem jene Textgattungen in den Blick, in denen sich diese Bezugsprobleme ausdrücken. In den Lebensgeschichten – gerade von Langzeitaktivist/innen – gibt es typische, engagementbezogene Storys. HUNT und BENFORD (1994) haben dies als Identity Talk bezeichnet und entsprechende Identity Tales identifiziert (S.493). So finden sich auch in meinem Sample typischerweise Geschichten des Bewusst- und dann des Aktivwerdens, die häufig als eine Konversionsgeschichte erzählt werden, als Geschichte einer Identitätstransformation etwa vom naiven leichtgläubigen Jugendlichen zum überzeugten Pazifisten/der überzeugten Pazifistin, und dies meist verbunden mit Textpassagen, die implizit oder explizit den Einfluss signifikanter Anderer für das "Erwachen" oder für die Stabilisierung des Engagements den Umständen oder Desillusionierungen zum Trotz thematisieren (S.503-506). Daraus ergibt sich die Besonderheit dieser Typenbildung (vgl. WOHLRAB-SAHR 1994; PRZYBORSKI & WOHLRAB-SAHR 2008, S.335ff.). Die entwickelten Sozialfiguren sind somit nicht das verdichtete Resultat der jeweiligen Fallstruktur einer Biografie, und sie sind doch mit der Logik des Einzelfalles verwoben. Sie sind Anlass zur Selbstvergewisserung der Aktivist/innenidentität – etwa wenn das Martyrium, die Bereitschaft, Leid zu ertragen, verhandelt, wenn also über die Kosten gesprochen wird, die mit dem Einstehen für die eigene Haltung verbunden sind bzw. waren. [14]

Zusammengefasst zielt die Entfaltung der Sozialfiguren des Protestes also darauf, die strukturierende Wirkung markanter Akteurskonstellationen auf soziale Bewegungen und deren kontingentes Zusammenwirken in diesen Bewegungen zu rekonstruieren und in generalisierender Absicht zu zeigen, wie diese Figuren in den Bewegungen, aber auch in den biografischen Selbstthematisierungen präsent und wirksam sind. [15]

4. Die unabhängige DDR-Friedensbewegung

Die empirische Grundlage der folgenden Ausführungen entstammt meiner laufenden Dissertation über das Langzeitengagement von Aktivistinnen und Aktivisten der unabhängigen DDR-Friedensbewegung. Gerade diese Friedensgruppen, die vor allem Ende der 1970er Jahre in Opposition zur offiziellen "Friedenspolitik" der SED und unter dem Dach und im Umfeld der evangelischen Kirche entstanden, scheinen aufgrund ihrer schwachen Institutionalisierung und Professionalisierung zur Untersuchung der Frage nach Funktion und Bedeutung solcher Sozialfiguren geeignet. Das mag verwundern, da in der Forschung glaubhaft und vielfach bezweifelt wird, ob es sich bei der sich selbst "Friedensbewegung" nennenden Protestströmung überhaupt um eine soziale Bewegung handelt (vgl. KNABE 1988; BRAND 1997; POLLACK & RINK 1997; WIELGOHS 2008), um ein soziales Gebilde, das in der Forschung definiert wird als "ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen" (RUCHT 1994, S.76f.). Die auf Joachim RASCHKEs frühere Bestimmung (1985, S.75-90) aufbauende Definition bestimmt soziale Bewegungen über deren soziale Gestalt, den Inhalt und die Richtung des Protests sowie über die verschiedenen Formen, aktiv zu werden. [16]

Gerade die besondere ambivalente gesellschaftliche Entstehungskonstellation der DDR – die repressive Herrschaftsdurchsetzung und der legitimatorische Gründungsmythos, "das andere Deutschland" zu sein, hatte auf Gestalt und Aktionsrepertoire keinen unerheblichen Einfluss. Einerseits wurde jegliche Form politischer Selbstorganisation unterbunden, zugleich gab es aber mit den evangelischen Kirchen einen leidlich abgesicherten und manchmal nur halbherzig zur Verfügung gestellten Schutzraum für die Gründung politisch alternativer Gruppen (vgl. grundlegend und wegweisend POLLACK 1994, 2000). Anderseits blieben den Friedensgruppen die Möglichkeiten verwehrt, die Bevölkerung auf die eigene Existenz, geschweige denn die eigenen Inhalte aufmerksam zu machen. Begrifflich lässt sich also präzisieren: Die sich in der DDR formierende Friedensbewegung10) war staatsunabhängig, da sie ihre Problemdeutungen, ihre Friedensverständnisse und ihre konkreten Schlussfolgerungen in Abgrenzung zur offiziellen und allgegenwärtigen Friedenspropaganda entwickelte. Als unabhängige Friedensbewegung formierte sie sich unter dem Dach und im Schutz- und Kommunikationsraum von Teilen der evangelischen Kirche.11) Dies hatte verschiedene Gründe, die hier nur angedeutet werden können. Neben ihrem Status, die einzige eigenständige Großorganisation in der DDR zu sein, mit der sich mehr oder minder intensiv eine politische Stellvertreterrolle verband, gab es auch inhaltliche Gründe. Innerhalb der evangelischen Kirchen entwickelten sich recht früh nach der Staatsgründung "eigenständige" friedensethische Positionen. Die Position, dass sich für die Kirche angesichts der Weltkriegserfahrungen und angesichts eines Zeitalters wechselseitiger Vernichtungsdrohungen im Kalten Krieg die Friedensfrage neu stellte, war prominent und kontinuierlich mit einzelnen Theolog/innen verbunden. Es gab auch organisatorische Gründe, da die ersten Friedensarbeitskreise und Friedensseminare an der kirchlichen Basis gegründet wurden und sich "auf die theologische Arbeit in den Kirchen und die legalen kirchlichen Strukturen" (NEUBERT 1997, S.299) stützen konnten bzw. an vielen Stellen Pfarrerinnen und Pfarrer und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu den Hauptakteur/innen zählten; schließlich rekrutierten sich die Gruppen anfänglich vor allem aus kirchlichen und kirchennahen Kreisen. Aufgrund des Organisationsmonopols des Staates blieben die Gruppen – bis in die 1980er Jahre hinein – auf die Ressourcen der Kirchen angewiesen. POLLACK charakterisiert die Bewegung deshalb wie folgt:

"Im Unterschied zur Friedensbewegung in Westeuropa, die sich durch relativ feste Strukturen, ein organisiertes Kommunikationsnetz, funktionale Differenzierung und das Vorhandensein von Sprechern, Konten und Publikationen auszeichnete, besaß die 'Friedensbewegung' in der DDR eine amorphe, dezentrale und polyphone Struktur, der es an Steuerungszentren ebenso fehlte wie an prägenden Führungsgestalten oder einem zentralen Programm" (2000, S.89). [17]

Für die Frage nach der Bedeutung einflussreicher Schlüsselfiguren – die sich von sichtbaren "Führungsgestalten" in POLLACKs Sinne unterscheiden – in Prozessen ungewisser Ordnungsbildung ist diese Konstellation besonders aufschlussreich. Die Gründung erster Gruppen in den 1970er Jahren war individuell riskant und im Wortsinn aussichtslos; ohne dass eine gesellschaftliche Wirkung abzusehen und wahrscheinlich gewesen wäre (sofern eine solche Wirkung nach außen überhaupt bezweckt wurde). Die in den 1970er Jahren entstehenden ersten Gruppen waren über die ganze Republik verstreut. Ansätze einer Vernetzung entstanden erst sehr allmählich und vor allem in den 1980er Jahren: teils institutionalisiert im Rahmen von lokalen Koordinationsgremien von Kirchenvertreter/innen und Gruppendelegierten, teils als privater Freundeskreis, teils als jährliches DDR-weites Vernetzungstreffen der politisch-alternativen Gruppen wie "Frieden konkret" (WUNNICKE 2008). Allmählich formte sich ein informelles Netzwerk von Friedensgruppen. Ein Blick auf die Phasen dieser Formationsgeschichte macht die zentralen Probleme und die Bedeutung einzelner Schlüsselfiguren kenntlich und bereitet am und aus dem historischen Material die Präparierung der Sozialfiguren und ihrer Schlüsselfunktionen vor. [18]

4.1 Erste Phase: Politisierung individueller Mitmach-Konflikte und Prozesse der Selbstbeauftragung (1962 -1972)12)

Die erste Phase beginnt mit der Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1962 und endet mit der Gründung der ersten unabhängigen Friedensgruppen Anfang der 1970er Jahre. Sie ist geprägt von drei Entwicklungen: 1. Die Wehrgesetzgebung im Kontext des Kalten Krieges führte in Teilen der evangelischen Kirche der DDR zu Diskussionen über eine grundsätzliche Positionierung in der Friedensfrage, die über die Forderung nach Ausnahmeregelungen für kirchliche Mitarbeiter/innen weit hinausging. Vielen jungen Männern nötigte sie wiederum einen grundsätzlichen "Mitmach-Konflikt"13) auf, in dem die Verweigerung des Wehrdienstes für den Einzelnen die Inhaftierung und berufliche Diskriminierung zur Folge hatte. Diese Positionierung gewann ihre diskursive Legitimität aus dem historischen Ereignis von Vernichtungskrieg und Holocaust (und der Frage nach Schuld und Verantwortung) und ihre subjektive Plausibilität aus der innerfamiliären Thematisierung oder Nicht-Thematisierung des Geschehens (vgl. MIETHE 1999, S.236-242). [19]

Dies gipfelte 2. 1964 in der durchaus überraschenden Einrichtung eines waffenlosen "Wehrersatzdienstes" in kasernierten Baueinheiten der Nationalen Volksarmee, der für die Kirchenleitung der Anlass für die Ausarbeitung einer Handreichung zum "Friedensdienst der Kirchen" war (vgl. KOCH & ESCHLER 1994; SCHICKETANZ 2004; PAUSCH 2004). Das Papier legitimierte einerseits die individuelle Entscheidung zur Wehrdienstverweigerung und deutete sie nicht mehr als eine rein private Gewissensentscheidung, sondern als Teil des "Friedensdienstes" der Gesamtkirche. Zugleich wurden die Militarisierung der Gesellschaft und die Eskalationsmechanismen des Kalten Krieges prägnant kritisiert. Wenngleich dieses politisch brisante Dokument im Sinne einer ideologischen Flaschenpost erst Jahre später und eher indirekt auf Kirche und Friedensbewegung wirkte, wenngleich sich in der Folge nur wenige Bischöfe diese Position zu eigen machten, so traten mit den Theologen Heino FALCKE und Hans-Jochen TSCHICHE hier erstmals federführend intellektuelle Köpfe in Erscheinung, die auf unterschiedlichen Ebenen der kirchlichen Hierarchie und neben anderen zu Vordenkern der Friedensbewegung werden sollten. [20]

Unter denen, die in dieser Zeit den Waffendienst verweigerten und die zu den ersten Jahrgängen der sogenannten "Bausoldaten" gehörten, war ein auffällig hoher Anteil an Persönlichkeiten, die später innerhalb der Friedensbewegung als Aktivisten markant und prominent in Erscheinung traten und mit der Gründung erster Gruppen als Initiatoren und Pioniere der Bewegung wirkten. Die Konzentration und Kasernierung der räumlich versprengten Kriegsgegner führte zur Politisierung der individuellen, teilweise unreflektiert religiös begründeten Mitmach-Konflikte und schuf immer neue: Darf man den Eid ablegen, darf man an militärischen Anlagen mitbauen, wie geht man damit um, wenn bei Bauarbeiten die Skelette von Weltkriegsteilnehmern ausgegraben werden usw.14) [21]

Diese Akteurskonstellation und die weltkriegsbedingten Deutungsstrukturen veranschaulichen wie unter einem Brennglas, dass sich soziale Bewegungen – und das wäre die 3. Entwicklung – vor allem unter den Bedingungen nahräumlicher Interaktion bilden, an sozialen Orten15), die eine folgenreiche biografische Dynamik der Abweichungsverstärkung in Gang setzen (vgl. SCHIMANK 2008). Unter den Bedingungen dieser klösterlichen Vergemeinschaftung und den gemeinsam durchlebten wie durchlittenen Mitmach-Konflikten bildete sich bei einigen Beteiligten eine identitäre Selbstbeauftragung zum Friedensdienst. So lautete eine Losung: "Bausoldat ist man lebenslänglich" (vgl. KLUGE 2004b, S.94-98), eine Gruppe schrieb unter dem vielsagenden, den Charakter einer Bekenntnisgemeinschaft unterstreichenden Namen "Bruderkreis Prenzlauer Bausoldaten" einen "Aufruf an alle Christen", und es gab bald nach der Entlassung der ersten Jahrgänge Versuche der Selbstorganisation. Es entstanden Facharbeitskreise "Friedensdienst" in den Landeskirchen, es gab jährliche Treffen und Materialsammlung. Es gab private Bausoldatenkreise, aus denen heraus in Leipzig bspw. die Gruppe entstand, die ab 1982 die Leipziger Friedensgebete durchführte. Bausoldaten gehörten schließlich zu den Initiatoren für die Einrichtung einer Arbeitsstelle für Friedensfragen beim Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR, aus der dann 1974 das Studienreferat "Friedensfragen" bei der Theologischen Studienabteilung entstand. Mit Joachim GARSTECKI wirkte hier ein Fachreferent, der alsbald durch die Arbeit an Studien, Handreichungen und Materialsammlungen sowie durch rege Vortragstätigkeiten in den Gruppen zu einem hauptamtlichen Vordenker der Friedensbewegung werden sollte. [22]

Diese Entwicklung wurde verstärkt und begünstigt durch die Bildung engmaschiger Netzwerke unter den Bausoldaten, die nach dem Ende der Bausoldatenzeit Kontakt behielten. Sie unterstützten sich und stimmten eigene Initiativen teilweise miteinander ab. Eine dieser einflussreichen Triaden bildeten bspw. Angehörige des zweiten, 1967 entlassenen Bausoldatenjahrgangs. Der Kraftfahrzeugelektriker Hansjörg WEIGEL gründete 1973 eines der ersten Friedensseminare in der DDR (vgl. KLUGE 2004a), der Pfarrer Rudolf ALBRECHT 1975 das Friedensseminar Meißen (vgl. SCHMID 1998). Harald BRETSCHNEIDER wurde schließlich 1979 Landesjugendpfarrer in Sachsen und gehörte zu den wichtigsten Inspiratoren christlicher Friedensarbeit, er war an der Vorbereitung der ersten Friedensdekade beteiligt und schuf das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" (vgl. SILOMON 1999). [23]

4.2 Zweite Phase: Erste Gruppengründungen (1973-78)16)

Diese Phase ist geprägt von einer Intensivierung der inhaltlichen Auseinandersetzung durch die Vordenker/innen innerhalb der Kirche sowie die Pionier/innen der lokalen Friedensarbeit in den entstandenen Friedensgruppen bzw. ab 1977 in den Evangelischen Studentengemeinden (ESG). So veröffentlichte das Studienreferat "Friedensfragen" bei der Theologischen Studienabteilung 1982 [1976] die Arbeitshilfe "Erziehung zum Frieden", die konkrete "Anregungen und Vorschläge für die Durchführung von Gemeindeveranstaltungen" enthielt. Für die Themen der ersten Friedensseminare war die intensive Auseinandersetzung mit einem – über die bloße Verweigerung des Wehrdienstes hinausgehenden – Friedensdienst von Christen charakteristisch. Sie verfeinerten die theologischen wie sicherheitspolitischen Legitimationen einer solchen rigorosen Positionierung und fragten, wie der Widerspruch unter den politischen Bedingungen der DDR konkret realisiert werden könne.17) Sie analysierten die Eskalationsmechanismen des Kalten Krieges und die Militarisierung der Gesellschaft, gaben ausführliche Anweisungen, wie das "klösterliche Leben" bei den Soldaten "geistig und geistlich" zu gestalten sei18) und setzten sich mit dem Friedensverständnis des Marxismus auseinander. Referenten waren meist Mitglieder jener ersten Bausoldatengenerationen (vgl. KLUGE 2004c). Neben diesen Orten eines politisierten "Laienintellektualismus" (WEBER 1980 [1921], S.308), die aus dem Bedürfnis nach Information und Legitimation in den Mitmach-Konflikten entstanden, formierte sich in den 1970er Jahre ein zweites Resonanzfeld in der sogenannten "Offenen Arbeit" mit unangepassten Jugendlichen, die sich von innerkirchlicher Glaubensstärkung wie von sozialdiakonischer "Nach-Beelterung" und Problembearbeitung erheblich unterschied. Es ging um Jugendliche, die in Aussehen und Auftreten ihren Ausstieg aus der DDR-Gesellschaft signalisierten; junge Bauarbeiter, die tagsüber sozialistische Satellitenstädte hochzogen, derart die Utopie in Beton gossen und nach Feierabend von ihrer Langeweile ertränkt wurden; im Szenejargon sich "Kunden" Nennende, die sich, gemeinsam Musik hörend, die Welt weit träumten (zur Geschichte dieser jugendkulturellen Strömung vgl. RAUHUT & KOCHAN 2004; PIETZSCH 2005). Für all diese jungen, nicht religiös gebundenen Menschen sollten an einzelnen Orten die Kirchentüren (oder Kellerräume, Hinterhöfe, kirchliche Freizeitheime) geöffnet werden. Statt "diakonisch" das individuelle Straucheln der Unangepassten bloß aufzufangen oder "missionarisch" den rechten Lebensweg zu weisen, sollten die Jugendlichen in ihrer Verweigerungshaltung ernst genommen und die gesellschaftlichen Stolpersteine thematisiert und letztlich aus dem Weg geräumt werden. Kulturelle wie theologische Konflikte innerhalb von Kirche und Gemeinden und politische Konflikte mit dem Staat waren vorprogrammiert (zur Geschichte der Offenen Arbeit vgl. NEUBERT 1997, S.289-299; PIETZSCH 2005). Eine DDR-weite Schlüsselfigur für diese Arbeit war Walter SCHILLING: Als Leiter eines kirchlichen Jugendheims kam er in Kontakt mit Jugendgruppen aus der ganzen Republik, baute überregionale Netzwerke aus und wirkte als Mentor und Vermittler im Hintergrund. Für ihn wie andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war charakteristisch, dass sie die Hinwendung zu den ausgegrenzten Jugendlichen und damit zugleich die Distanz zu staatlichen wie religiösen Autoritäten verkörperten: in der schnoddrigen Sprache, in der subkulturellen Transformation religiöser Praktiken, im eigenen Aussehen – den langen Haaren, den Sandalen, der kurzen Hose. Die biografische Prägekraft signifikanter Mentor/innen für Jugendliche liegt hier vor allem in der Charismatisierung und Politisierung gesellschaftlicher Stigmata, durch das offensive Bekenntnis zum Anderssein und die diskursive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen. [24]

Neben dieser jugendkulturellen Selbststigmatisierung sind es zwei weitere Prozesse, die erklären, warum das Engagement der Initiator/innen und Pionier/innen in den 1970er Jahren abgekoppelt von den realen gesellschaftlichen Erfolgsaussichten einen stabilisierenden Eigenwert bekam. In den ersten Friedenskreisen ging es vor allem um die Selbstvergewisserung der eigenen Überzeugungen und um die Thematisierung des daraus folgenden (Friedens-) Zeugnisses – die exemplarische Verweigerung und das Bekenntnis zur Friedensarbeit –, das aufgrund der damit verbundenen Repressionen und Benachteiligungen als "Martyrium" zu verstehen ist.19) Das sich ausbildende Verständnis christlicher Friedensarbeit, das die Kritik an der staatlichen Politik mit der Selbstbeauftragung "zu den kleinen Schritten" im eigenen Lebensumfeld verband, ähnelt Max WEBERs Verständnis ethischer Sendungsprophetie (1980 [1921], S.273ff.), die auf die ethische Durchdringung des Alltagshandelns drängt (den Abbau von Feindbildern, die Erziehung zum Frieden). Es entstanden an der Basis somit zwei Reformströmungen innerhalb der Kirche: Die Offene Arbeit steht für die Radikalisierung und politische Kontextualisierung einer Hinwendungsprogrammatik gegenüber den als "asozial" abgestempelten Jugendkulturen samt all der angestauten Frustration über die "todlangweilige" Enge der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zugleich die (amts-) kirchlichen Strukturen und religiösen Traditionsbestände infrage stellte. Und mit den ersten Friedensgruppen entstand eine radikalisierte Zeugnisgemeinschaft von "Friedensdiener/innen", die sich gegen die staatliche Politik richtete und zugleich das kirchendiplomatische Zögern und Zaudern kritisierte. In dieser eigenartigen Konstellation eines politischen, religiösen und kulturellen Nonkonformismus, der latent in Konflikt zur institutionell verfassten Religiosität geriet, waren diese Friedens- und Jugendgruppen dauerhaft auf parteiische Vermittler/innen angewiesen – auf Fürsprecher/innen innerhalb der kirchlichen Strukturen. [25]

Als im Jahr 1978 das obligatorische Unterrichtsfach "Sozialistische Wehrerziehung" eingeführt wurde, führte dies wiederum zu vielfältigen Protestschreiben, Appellen und Eingaben. Damit einher ging ein initialer Mobilisierungsschub, der die Geschichtsschreibung dazu führte, das Jahr 1978 als Beginn der unabhängigen Friedensbewegung zu datieren. [26]

4.3 Dritte Phase: Die konflikthafte Expansion der Friedensbewegung (1979-83)20)

Diese an Ereignissen reiche und in die weltweiten Proteste gegen die atomare Hochrüstung des "Zweiten Kalten Krieges" eingebettete Zeitspanne (vgl. WITTNER 2009) kann hier nur hinsichtlich wichtiger Prozesse skizziert werden. Insgesamt ist eine eigendynamische Verdichtung von innen- und außenpolitischen Schlüsselereignissen in dieser Zeit zu beobachten. Die Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens ging einher mit dem NATO-Nachrüstungsbeschluss. Die wachsenden Repressionen gegen die aufkeimende Friedensarbeit (etwa die Verhaftung einflussreicher Pionier/innen der 1960er und 1970er Jahre) waren verwoben mit der laut tönenden und immer unglaubwürdiger erscheinenden Inszenierung als "Friedensstaat". Unter die Angst vor atomarer Vernichtung mischten sich – vor allem bei Jüngeren – die Ernüchterung über die Reformunfähigkeit des politischen Systems und die Enttäuschung über kirchendiplomatische Kompromisse. Dies beförderte das später durchaus konflikthafte Zusammenfließen verschiedener Protestströmungen zu einem Protestfeld, das inhaltlich über das Friedensthema integriert wurde und strukturell noch stark mit lokalen kirchlichen Strukturen verwoben war (zur feldtheoretischen Rekonstruktion sozialer Bewegungen vgl. PETTENKOFER 2008, 2010). Marxistische Intellektuelle aus den kirchenfernen linksoppositionellen Zirkeln der 1970er Jahre arbeiteten beispielsweise in Friedenskreisen der Evangelischen Studentengemeinden mit, Vertreter/innen der Kulturopposition – Schriftsteller/innen, Musiker/innen, bildende Künstler/innen – traten bei Veranstaltungen der Friedensbewegung auf. Die Jugendlichen der Offenen Arbeit bildeten fortan eine wichtige Basis der Bewegung. Der seit 1976 unter Hausarrest stehende Regimekritiker Robert HAVEMANN veröffentlichte gemeinsam mit dem Pfarrer Rainer EPPELMANN – einem Bausoldat aus den besagten ersten Jahrgängen – einen medienwirksamen Abrüstungsappell. [27]

Es gab in dieser Zeit eine ganze Reihe begrenzt öffentlichkeitswirksamer Aktionen und Kampagnen. 1980 wurde erstmals die fortan jährlich stattfindende Friedensdekade durchgeführt. Die entsprechenden Spannungen waren vorprogrammiert, da sich aus diesem Institutionalisierungsversuch Eigendynamiken entwickelten, die kaum zu kontrollieren waren: Zur Friedensdekade 1981 entstand mit dem Logo und dem Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" ein von tausenden Anhänger/innen getragenes Symbol, das zum öffentlichen Ausdruck oppositioneller Haltungen werden sollte. Die massiven staatlichen Gegenmaßnahmen zwangen die Kirchenleitungen zur Distanzierung von "ihrem" Symbol und förderten die Distanz zur friedensbewegten Basis. Die funktionsgebundene Anerkennung von Kirchenoffiziellen als Vermittler zwischen Kirchen und Basis begann zu verblassen. Weitere Aktionen waren die Forderung nach einem "Sozialen Friedensdienst", eine von Jugendlichen 1982 initiierte Schweigedemonstration zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens, die dann als "Friedensforum" mit 5.000 Jugendlichen in der Kreuzkirche durchgeführt wurde, sodann der "Berliner Appell"21) von HAVEMANN und EPPELMANN, die Gründung des Netzwerkes "Frauen für den Frieden" sowie weitere, auch in den westlichen Medien wahrgenommene Aktionen. [28]

Charakteristisch für diese emotional dichte wie ereignisreiche Zeit ist die gestiegene "Zeugnis-" und also Risikobereitschaft der Aktivisten und Aktivistinnen. Dies wurde verstärkt, da nun jugendliche Anhänger/innen in die Bewegung hinein und angesichts der Bedrohungslage zur Aktion drängten. Es bildeten sich in der Folge um Aktionist/innen herum unabhängige Gruppen wie die Friedensgemeinschaft Jena oder später die Gruppe Wolfspelz in Dresden. (In deren Selbstbezeichnung "Schafe im Wolfspelz" sind die Konflikte mit der Kirchenleitung um die Radikalität von Aktionsformen eingeschrieben.22)) Die Friedensbewegung formierte sich größtenteils in der Folge wechselseitiger Anregungen (vgl. WUNNICKE 2008). Eine Schlüsselfunktion hatten dabei lokale Multiplikator/innen und überregional bedeutsame Vernetzer/innen, so z.B. Heiko LIETZ, der – angeregt durch Seminarbesuche in Königswalde – begann, ein Geflecht von Friedensseminaren und Friedensgruppen im Norden der DDR aufzubauen (vgl. PROBST 1997) oder Bärbel BOHLEY, die zu einer maßgeblichen Initiatorin für die Gründung und Ausbreitung zahlreicher unabhängiger Frauenfriedensgruppen in der DDR wurde.23) [29]

In dieser Zeit traten zudem parteiische Fürsprecher/innen und "Übersetzer/innen" der Anliegen in Westdeutschland in Erscheinung, berichteten westdeutsche Medien ab 1982 vermehrt über die Aktivitäten der unabhängigen Friedensbewegung und sorgten damit dafür, dass deren Existenz unter der DDR-Bevölkerung bekannter wurde. Darüber hinaus gab es jüngere Journalist/innen wie Peter WENSIERSKI oder Wolfgang BÜSCHER, die Textdokumentationen (BÜSCHER, WENSIERSKI & WOLSCHNER 1982) und Reportagen zusammenstellten: "Bald wurden sie zu exzellenten Kennern der Situationen, die oft einen besseren Überblick hatten als Oppositionelle in der DDR selbst" (NEUBERT 1997, S.483). Durch diese indirekte Selbstbeobachtung festigte sich unter den Gruppen das Selbstbild von republikweit agierenden Gruppen und das Selbstverständnis als Friedensbewegung. [30]

4.4 Vierte Phase: Stagnation, Stabilisierung und Neuorientierung (1983-1984)24)

Eine Zäsur stellte der Herbst 1983 dar. Auf den Beschluss der Raketenstationierung durch den Deutschen Bundestag folgte eine Zeit der Resignation.25) Mit diesem zyklischen Abebben der Protestwellen (vgl. KLANDERMANS 2010) gingen typische Probleme einher: Die Bewegung schmolz zurück auf einen harten Kern von Aktivistinnen und Aktivisten, Resignation machte sich breit, der Fortbestand des Engagements schien gefährdet. Die Phase war geprägt von Prozessen der Stabilisierung und der inhaltlich-strategischen wie organisatorischen Neuorientierung. Es verstärkte sich die inhaltliche und politische Ausdifferenzierung des Protestfeldes. Zu markanten Konfliktlinien wurden in dieser Zeit: die Frage des oppositionellen Selbstverständnisses zwischen Dialog, Legalität, "dem Weg der kleinen Schritte" und Reform auf der einen und die radikale Infragestellung des politischen Systems auf der anderen Seite; außerdem die Frage nach der Selbstverortung des Engagements im kirchlich-religiösen Raum: als identitäre Reformbewegung von Gesellschaft und Kirche oder als instrumentell auf die kirchlichen Ressourcen angewiesenes Engagement; und zuletzt die Frage nach dem Umgang mit Ausreisewilligen. Dies waren keine strategisch-kalkulierenden Fragen, sondern identitäre Selbstvergewisserungen des eigenen Engagements. Indem die Ausreisewilligen als Renegat/innen – die den Gesellschaftsveränderungsauftrag verrieten – wahrgenommen und kritisiert wurden, festigte sich die Selbstbehauptung der eigenen Aktivist/innenidentität auch unter widrigen äußeren Bedingungen. Zugleich führte es zum teilweisen, regional verschiedenen Ausschluss der Ausreisewilligen aus dem Protestfeld. [31]

Diese lokal ausgetragenen Konflikte setzten in der Folge feldimmanente Eigendynamiken in Gang, die nicht mehr allein durch die je unterschiedliche Orientierung an den wechselnden gesellschaftlichen Umständen erklärt werden können. Berücksichtigt werden müssen auch die folgenreiche "Sektenkonkurrenz" zwischen den Fraktionen (vgl. PETTENKOFER 2010, S.199ff,) und die Interaktionsdynamiken zwischen unterschiedlichen Schlüsselfiguren. So entwickelten sich allmählich und vor allem in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre regionale Protestfelder mit je unterschiedlichen Akteurskonstellationen und Akteursdominanzen. In Dresden oder Erfurt konnten über Jahre glaubwürdige und parteiische Fürsprecher wie Heino FALCKE oder Christof ZIEMER ihre lokal kirchenleitende Funktion (als Probst bzw. als Superintendent) nutzen, um die Gruppenszene unter dem Dach der Kirche als funktions- und arbeitsfähiges Netzwerk zu stabilisieren. Vor allem in Berlin und Leipzig differenzierten sich die Gruppenszenen in folgenreichen Politisierungsprozessen weiter und je verschieden aus. [32]

4.5 Fünfte Phase: Die Politisierung der Friedensbewegung und lokale Akteurskonstellationen (1985-1989)26)

Diese Differenzierung erfolgte republikweit entlang einer größeren thematischen Bandbreite. Sie äußerte sich aber auch innerhalb einzelner Friedensgruppen in der Bildung thematischer Arbeitsgruppen zu Ökologie-, Zwei-Drittel-Welt-, Erziehungsthemen; in der Heterogenität der verhandelten Themen; schließlich in der (Aus-) Gründung entsprechender eigenständiger Gruppen (vgl. exemplarisch SUBKLEW-JEUTNER 2004, S.95). Daneben existierten regional Unterschiede in der Wahl der Aktionsformen. Viele Gruppen traten – auch durch den Zulauf deutlich jüngerer Aktivistinnen und Aktivisten – konfrontationsbereiter gegenüber dem Staat auf. Das Jahr 1985/1986 markiert hier einen Wendepunkt. Der Friedenskreis Friedrichsfelde thematisierte die "Politikfähigkeit der eigenständigen DDR-Friedensbewegung", die auf den Anspruch auf Mitgestaltung gesellschaftlicher Veränderungen zielte. 1986 gründete sich mit der "Initiative für Frieden und Menschenrechte" (IFM) eine einflussreiche oppositionelle Gruppe, die den Erfolg der Friedensarbeit von der Durchsetzung demokratischer Grundrechte abhängig machte. [33]

Mit dieser Politisierung verschärften sich einerseits die Konflikte zwischen den Gruppen, so vor allem in Berlin, wo sich ein von Auslegungskonkurrenzen geprägtes und über programmatische Fragen zerstrittenes Protestfeld etablierte. Anderseits veränderte sich, angestoßen durch die Frage nach Dialog oder Konfrontation mit dem Staat, das Verhältnis zwischen den Gruppen und den Leitungen und Ortsgemeinden der evangelischen Kirche grundlegend: "Die politisch alternativen Gruppen wollten Konflikte eher verstärken. Die Kirche dagegen richtete ihr Handeln fast durchweg auf Konfliktminimierung oder sogar -vermeidung aus" (POLLACK 2000, S.102). Diese Entwicklungen gingen einher mit einer Professionalisierung der Arbeit: Es gab Versuche, die Arbeit zu vernetzen und zu strukturieren. Mit der Etablierung einflussreicher Gremien und formeller Positionen (der Vorbereitungskreis des Vernetzungsseminars "Frieden konkret") wurden Symbolfiguren – im engen Sinne Führungsfiguren – bekannt und sichtbar, die oppositionelles Handeln und oppositionelle Haltungen prominent verkörperten. [34]

Auch und gerade in dieser Phase waren Schlüsselfiguren wichtig. Die Unterschiede zwischen lokalen sowie thematischen Protestfeldern traten in dieser Zeit markant zutage. [35]

1. So führte die Debatte um das Verhältnis zwischen der "Kirche und ihren Gruppen" – so eine einschlägige Konfliktformel aus dieser Zeit (zum Überblick über die Positionen in diesem Konflikt vgl. POLLACK 1990) – keineswegs zwangsläufig zur Emanzipation der bloß unter das Kirchendach geflüchteten Aktivistinnen und Aktivisten. Gerade in den kirchennahen Gruppen war die Verflechtung von Politik und Religion identitär und die Stoßrichtung eine doppelte: auf Reform von Kirche und Gesellschaft ausgerichtet (vgl. LEISTNER 2011). So waren es kirchliche Vordenker und "Strippenzieher" wie Heino FALCKE und Christof ZIEMER, die eine Funktion dieser Gruppen als "Unruheherd" theologisch legitimierten (vgl. FALCKE 1990 [1985] sowie SCHORLEMMER 1990 [1985]) und versuchten, ein durch die Anfragen, die Anliegen und die Arbeit der politisch-alternativen Gruppen aufgewühltes religiöses Feld im "konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" grundlegend zu erneuern.27) [36]

2. Zu dieser DDR-weiten und weitgehend innerkirchlichen Entwicklung traten je spezifische lokale Konstellationen wie in Leipzig: Durch jüngere Oppositionelle forciert, durch professionelle Vernetzer/innen gebündelt und von einflussreichen Mentoren wie Christoph WONNEBERGER, der ab 1987 die Friedensgebete koordinierte und politisierte, unterstützt, entstanden konfrontationsbereite Gruppen. Sie drängten zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen und immer stärker aus der Kirche auf die Straße. Sie öffneten sich zugleich – anders als in anderen Städten – für "Ausreiseantragsteller/innen". Jene, die mit der DDR abgeschlossen und nichts mehr zu verlieren hatten, bildeten schließlich die kritische Masse risikobereiter Aktionist/innen, die auf der Straße dann wortwörtlich die "Wegbereiter/innen" der ersten Reihe stellten (SCHWABE 1999). Charakteristisch für die republikweit folgenreiche Akteurskonstellation ist in Leipzig die Dominanz von Aktionist/innen, die in den Massendemonstrationen des Revolutionsherbstes mündete (vgl. TIMMER 2000, S.151-175). [37]

3. Anders die schismatische Entwicklung in Berlin:

"Neben bürgerrechtlichen Positionen, die etwa von Bärbel Bohley, Wolfgang Templin, Peter Grimm und Ralf Hirsch vertreten wurden, standen anarchistische Gesellschaftsvorstellungen von Wolfgang Rüddenklau und Reinhart Schult; dem mehr individualistischen Verständnis der Menschenrechte der IFM stand das mehr sozialistisch orientierte Menschenrechtsverständnis von Gegenstimmen gegenüber" (POLLACK 2000, S.119). [38]

Diese Entwicklung hatte dann erheblichen Einfluss auf die Gründung der Bürgerbewegung(en) im Herbst 1989. Charakteristisch für die republikweit folgenreiche Akteurskonstellation ist in Berlin die Dauerkonkurrenz der Akteure, die zur Ausdifferenzierung politischer Ansätze führte und schließlich in der Bildung der verschiedenen Bürgerbewegungen mündete, die sich in ihren ideologisch-politischen Positionen, vor allem aber in den organisationspolitischen Vorstellungen unterschieden (vgl. TIMMER 2000, S.125-140; RINK 2008).28) [39]

4. Wieder anders verlief die Entwicklung beispielsweise in Dresden. Hier wurden über Jahre die feldimmanenten Konflikte (zwischen Gruppen und Kirchenleitungen; unter den Gruppen) durch das Engagement vermittelnder Fürsprecher/innen teilweise entschärft: "Leitende Amtsträger wie Superintendent Ziemer oder Landesjugendpfarrer Bretschneider sorgten indes durch ihr persönliches Engagement und durch ihre Doppelfunktion, gleichsam Mitglieder 'der' Kirchenleitung wie der Gruppen zu sein, dafür, daß die Fragen der Gruppen in der Kirche aktuell blieben" (SCHMID 1999, S.182). Diese besondere Konstellation ermöglichte es den Gruppen, intensive inhaltliche Konflikte mit dem Staat auszutragen – etwa mit demonstrativen Aktionen gegen den Bau eines Reinstsilizium-Werkes29) – wobei eine Zuspitzung und Eskalation des Konfliktes mit SED-Staat wie Kirchenleitungen eingedämmt wurde. Charakteristisch für die republikweit folgenreiche Akteurskonstellation ist hier die Dominanz einflussreicher Fürsprecher/innen, die einerseits die Verhandlungsmacht der lokalen Kirche und der Gruppen machtvoll und erfolgreich bündelten und andererseits den Staat in einen Dialog verstrickten, aus dem er sich nie wieder befreien konnte (vgl. SCHMID 1998). [40]

Alle vier Akteurskonstellationen, die sich jeweils lokal und interaktionsnah in oppositionellen Zentren der DDR ausbildeten, gingen dann je spezifisch in die kontingente Umbruchdynamik des Revolutionsherbstes ein (vgl. POLLACK 2000, S.209-252; TIMMER 2000, S.123-174, 240-249).30) [41]

5. Sozialfiguren des Protests

Nach der historischen Rekonstruktion von Bedeutung und Funktion von Schlüsselfiguren des Protestes folgt nun deren systematische Entfaltung. Die Darstellung orientiert sich dabei an den Phasen einer Bewegung: an der (prekären) Entstehung, der organisatorischen wie ideologischen Formation und Festigung und an der (konflikthaften) Stabilisierung. Bei der Charakterisierung der idealtypisch verdichteten Figuren geht es nicht um zugeschriebene Kompetenzen und Eigenschaften konkreter Akteure und Akteurinnen. Einer funktionalen Perspektive folgend werden stattdessen und in generalisierender Absicht deren Wirkungen und Funktionen auf verschiedenen Ebenen (im Vor- bzw. Umfeld einer Bewegung und in den Gruppen selbst) und in verschiedenen Phasen einer Bewegung dargestellt und am Material entfaltet. Dabei ist einerseits zwischen der Funktion für die Bewegung (das zentrale Problem wäre dann die prekäre Ordnungsbildung) und der Funktion für die Akteur/innen (das zentrale Problem wären hier Identitätsbildung und Selbstvergewisserung) zu unterscheiden. Andererseits werden die gesellschaftlich-biografischen Konstellationen sichtbar, die dazu führten, dass Akteur/innen eine solche Schlüsselfunktion innehatten. Es geht somit um das Wirken von konkreten Sozialfiguren auf die Bewegung sowie um das Reden der Akteure über Sozialfiguren und die folgenreiche Auseinandersetzung mit ihnen. [42]

5.1 Pionier/in

Die Sozialfigur der Pionier/innen vereint zwei grundlegende Aspekte: den Beitrag als Wegbereiter/innen für die Entstehung einer Bewegung – ganz gleich, ob dies geplant war oder sich nachträglich erst einstellte – und zudem die Situation, in der das Engagement beginnt. Pionier/innen sind zeitlich Erste. Der Erfolg ist ungesichert und ungewiss. Sie präsentieren somit den theoretisch interessanten Fall eines Protestes, der unter den Bedingungen ungünstiger Gelegenheitsstrukturen31) und angesichts fehlender Ressourcen stattfindet und sich davon unabhängig macht: weil die Orientierung an messbarer Resonanz keine Rolle spielt, weil das Engagement selbst einen identitären Eigenwert hat – wie am Beispiel der Selbstbeauftragung der Bausoldaten zum Friedensdienst deutlich wurde. [43]

Welche Mechanismen dazu führen, möchte ich am Beispiel des biografischen Interviews mit dem 1943 geborenen Michael Rüstig*32) zeigen, der sechs Jahre nach seiner Entlassung aus dem Bausoldatendienst eine Friedensgruppe gründete. Sehr gerafft schreibt er über die zweite Hälfte der 1960er Jahre:

"Dann hab ich meine Frau kennen und lieben gelernt. Die war damals noch sehr jung 15 Jahre, der bin ich dauernd hinterher gerannt und, die ist in de Junge Gemeinde33) gegangen in Gruppendorf*, und da bin ich och in de Junge Gemeinde gegangen, und irgendwo hat mich das nicht mehr losgelassen, also sowohl meine Frau als och das was in der Jungen Gemeinde gemacht worden is das hat damals der [Name des Gemeindepfarrers] gemacht, und das hat mich hat mich sehr fasziniert was er gemacht hat und wie er's gemacht hat sehr beeindruckt und, aus diesen Erfahrung=Erfahrungen heraus hab ich dann, alle meine, de GST34) aufgegeben ausgetreten aus der FDJ35) ausgetreten hab Erklärungen geschrieben und hab dann später en Wehrdienst äh en bewaffneten Wehrdienst verweigert"36) (Michael Rüstig, Z.274-282). [44]

Über die Liebe zur zukünftigen Frau kommt der gelernte Polsterer in Kontakt mit der örtlichen Kirchengemeinde, speziell zu deren Jugendgruppe. Diese Zuwendung zur Kirche wird nicht als bekenntnisorientierte oder politisch motivierte Hinwendung geschildert, sondern als Hineingeraten über soziale Netzwerke in eine für den aktiven Funktionär der FDJ und Schießausbilder der GST fremde Welt.37) Besondere Bedeutung wird im Text der Person des Ortspfarrers zugeschrieben. Dessen Arbeit in der Jungen Gemeinde wird als entscheidende Prägung evaluiert. Diese zunehmende Nähe zur Kirche erzeugt einen Mitgliedschaftskonflikt und führt nach wachsender Distanz zum Bruch mit dem politischen System. Der (erklärungsbedürftige) Einschnitt hat einen zweifachen Kontext: Er ist eingebettet in das Ringen mit der Verstrickung des Vaters in der NS-Zeit, die den Konflikt mit der eigenen Wehrpflicht verschärft. Zugleich wird diese Auseinandersetzung auch legitimatorisch intensiviert, in dem Rüstig in der Person des Ortspfarrers dessen Wehrdienstverweigerung miterlebt – die damals noch strafrechtlich sanktioniert war. Er erzählt:

"Dann haben wir geheiratet haben, ein Kind gekriegt dann bin ich zu den Bausoldaten gekommen, das war für mich ne wichtige Zeit (4) und da hab ich, naja da hab ich eigentlich unsagbar viel gelernt, und, da hab ich irgendwo in mir, äh (2) die Entscheidung gewachsen Entscheidung, ha gewachsen wenn ich wieder rauskomme aus der ganzen Scheiße äh das weiterzubetreiben" (Michael Rüstig, Z.282-286). [45]

Die Konversion des Michael Rüstig von der Identifikation mit dem politischen System der DDR zum Engagement in Kirche und Friedensbewegung, die sich in der religiös begründeten Wehrdienstverweigerung ausdrückt, wird als Zeit der Läuterung beschrieben (und im Nachfrageteil des Interviews ausführlich detailliert). Die 18 Monate Dienst, nach denen – aus der Sicht des Biografen – nichts mehr war wie vorher, verschärften überhaupt erst die Mitmach-Konflikte. Sie wühlten – den Weltkrieg noch vor Augen – die Frage nach individueller Verantwortung auf.38) Sie führten zu einer klösterlichen Vergemeinschaftung, in der die religiöse Praxis verwoben wurde mit intensiven politischen Diskussionen und gemeinsamen Lektüren (neben der Bibel vor allem pazifistische Literatur, Bücher von und über Martin LUTHER KING, die zivilisationskritischen Texte von Günter ANDERS, vgl. KLUGE 2004b, S.93). Damit verbunden war die Aufwertung des Engagements als ein Zeugnisablegen sowie die derart identitär aufgeladene Selbstbeauftragung zur Friedensarbeit, die aber unmittelbar nach 1967 noch ohne Resonanz bleibt:

"und das hab ich dann versucht bin beim ersten Mal kläglich gescheitert, kurze Zeit nach den Bausoldaten 1 oder 2 Jahr später alle Bausoldaten eingeladen zu einem Seminar und da hat glaub ich ein einziger oder gar keiner zugesagt, von den 90 Leuten die ich eingeladen hatte, da wurde man erst mal resigniert und irgendwann hat der [Name des Freundes] en Freund von mir der mit mir bei'n Bausoldaten war und dann Pfarrer war immer gesagt: 'Mensch mach Gemeindearbeit fang doch ganz unten an, mach erst mal Gemeindearbeit und dann wird dann wird schon irgendwie was wachsen'" (Michael Rüstig, Z.286-292). [46]

In dieser Sequenz verdichtet sich noch einmal das Grundproblem der Pionier/innen: Mit der identitären Aufladung einer Haltung, "unbedingt etwas tun zu müssen", geht nicht automatisch einher, dass sich etwas tut, dass sich das Engagement verselbstständigt. Dem steht das entgegen, was die Forschung unter "ungünstigen Gelegenheitsstrukturen" versteht und was erklären soll, warum Protest unter diesen Bedingungen nicht in Gang kommen kann. Aber er kommt in Gang, auch weil Michael Rüstig unter dem ermutigenden Einfluss signifikanter Mentor/innen beginnt, günstige Mikromobilisierungskontexte selbst überhaupt erst herzustellen und über die Jugendarbeit, über das eigene Wirken als Mentor, einen Resonanzraum für das Anliegen zu schaffen. Maßgebliche Prozesse in der Phase sind also die Selbstbeauftragung zum Engagement und die Selbstvergewisserung des Engagements. Mit dieser prekären Entstehung sind weitere Probleme verbunden. Woher kommen Anstöße für das Engagement? Wie bekommt das Engagement einen Eigenwert? [47]

5.2 Mentor/in

In dieser Figur verdichtet sich im engen Sinne 1. die Bedeutung von wohlwollenden Ratgeber/innen und Ermunterer/innen39) um in eine intensive, meist informelle Austauschbeziehung, in die Asymmetrien eingeschrieben sind: zwischen der Älteren, Erfahrenen und den Noviz/innen. Es meint 2. in einem weiteren Verständnis die Beziehungen zu signifikanten Anderen, die (implizit) zur Beauftragung, diesen Weg zu gehen, führen. [48]

1. Mentor/innen haben zwei wichtige Funktionen. Sie unterstützen – als externe Personen – die ersten Aktivitäten. Häufig waren dies hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche, meist Jugend- oder Studentenpfarrer/innen oder Jugendmitarbeiter/innen. Durch Diskussionsrunden, Gespräche oder die eigene exemplarische Positionierung in den politischen Konflikten wurden die individuellen Mitmach-Konflikte in einen übergreifenden Deutungshorizont eingebettet: in die Erfahrungen von und die Auseinandersetzung mit der Verantwortung für das Weltkriegsgeschehen, in die innerkirchlichen Debatten um diesbezügliche Erneuerungen der Kirchen, in das Ringen um die Legitimierung der Wehrdienstverweigerung oder die Thematisierung der persönlichen Folgekosten, schließlich und immer wieder die Thematisierung gesellschaftlicher Widersprüche. Daneben gibt es Formen geistiger Mentor/innenschaft: einmal die Orientierung an exemplarischen Lebensläufen prominenter Aktivistinnen und Aktivisten, in denen die eigene Situation wiedererkannt wurde; zum anderen die aktive Ratsuche bei bekannten Leitfiguren in diesen gesellschaftlichen Konflikten. In den 1950er und 1960er Jahren gab es hierfür vor allem im Raum der Kirche eine spezifische Form der halböffentlichen Ratsuche. Exemplarische Einzelne, etwa Köpfe der Bekennenden Kirche oder prominente Pazifist/innen, wurden in öffentlichen relevanten Konflikten per Brief um Rat ersucht. So baten zwei Pfarrer 1958 den Theologen Karl BARTH um eine Stellungnahme zur christlichen Existenz in der DDR, die als "Brief an einen jungen Pfarrer in der DDR" unter Theolog/innen kursierte und in der Schweiz als Buch erschien (BARTH 1958); 1962 schrieb der junge Wehrdiensttotalverweigerer und Gründer einer Friedensgruppe Georg MEUSEL jr. an Martin NIEMÖLLER mit der Bitte um Rat. Die ebenfalls innerhalb kirchlicher Kreise kursierende Antwort NIEMÖLLERs macht noch einmal die Funktion dieser Mentor/innen deutlich: "Für mich heißt Kriegsdienst bzw. Wehrdienst ohne weiteres Verleugnung des christlichen Glaubens" (KLUGE 2004a, S.100). Neben konkreter Ermutigung wurden diese individuellen Positionierungen normativ aufgeladen und zur Bekenntnisfrage erhoben. [49]

Eine zweite Funktion von Mentor/innen ist die des "Hineinfindens" von Anhänger/innen, die an einer Mitarbeit interessiert sind, in bestehende Gruppen und Aktionszusammenhänge einer sozialen Bewegung. Als "Fremdenführer/innen" agieren sie weniger aus einer hierarchischen stark asymmetrischen Beziehung, sondern sie erleichtern vielmehr in informellen Bildungsprozessen das Hineinfinden in die "fremde Welt" einer sozialen Bewegung mit ihrer eigenen Sprache, ihrer spezifischen Aktions- und Kommunikationskultur, ihrer komplexen Geschichte und den damit verbundenen mythischen Erzählungen, "Insider"-Geschichten und Anekdoten (vgl. MADISON & SCALMER 2006, S.58ff.). So berichtet Ellen Schumann* über die ersten Jahre ihrer aktiven Mitgliedschaft als Zugezogene in einer Friedensgruppe:

"der Vorbereitungskreis hat mich dann aufgenommen damals war das noch nicht so einfach da wurde geheim darüber beraten ob man aufgenommen wird oder nicht (hm) ja die hatten also och ihre Erfahrung mit der Stasi, oder Vermutungen, und war'n da eben, ein bisschen vorsichtig (hm) ja das war also dann, so bin ich dann allmählich dort reingewachsen am Anfang, war das was dort gesprochen wurde och die Namen die da fielen ich bin ja nicht in der evangelischen Kirche zu Hause, und das war mir alles sehr fremd (hm) da war ich erst mal hauptsächlich still und hab zugehört" (Ellen Schumann, Z.310-316). [50]

Zweierlei wird sichtbar: Zum einen wurde in dieser Zeit die Funktion von Mentor/innen aufgewertet. Das vor allem in den 1980er Jahren in den Gruppen kursierende Misstrauen gegenüber neuen Mitgliedern führte dazu, dass vor allem persönliche, die Integrität und Vertrauenswürdigkeit garantierende Kontakte den Zugang erleichterten (vgl. MORITZ 2000, S.144-148; SUBKLEW-JEUNTNER 2004, S.97-100). Zum anderen machen die Schilderungen deutlich, dass – wenn solche Schlüsselfiguren fehlen – die Teilnahmeschwellen vor allem für "Neu- und Seiteneinsteiger/innen" generell hoch bleiben und die Fremdheitsempfindungen über längere Zeit anhalten. [51]

2. Die Biografien lassen zudem erkennen, dass neben Mentorinnen und Mentoren im engen Sinne Familienmitglieder eine entscheidende, wenngleich verwickelte Rolle für die Beauftragung zum Engagement spielen (vgl. MIETHE 1999). Es findet sich häufig die Konstruktion von familialen Traditionen, in denen das Engagement dann spezifisch verortet wurde: als Fortführung, als kritische Aneignung oder als Abkehr (a.a.O., S.115ff.) von den Aktivitäten der meist männlichen Bezugspersonen (Vater, Großvater). [52]

5.3 Märtyrer/in

Die Figur der Märtyrer/innen steht in sozialen Bewegungen für das Problem, das mit dem Engagement nicht zwangsläufig der "Opfertod", aber doch häufig Repressionen, Willkür, Ausgrenzung und Gewalt verbunden sind. Zugleich ist diese Figur gleich in zwei Richtungen symbolisch aufgeladen: als "Zeug/innen" verkörpern Märtyrer/innen den Mut und die moralische Rigorosität der eigenen Haltung; in der Gestalt der "unschuldigen Opfer" wird zudem der Unrechtscharakter des Kritisierten skandalisiert (vgl. JASPER 1997). Durch Skandalisierung und Solidarisierung kann das öffentlichkeitswirksame Martyrium – sofern es nicht eine zentrale Führungsperson, einen Prophetic Leader "trifft" (vgl. BOB & NEPSTAD 2007) – eine starke Beunruhigungs- und Mobilisierungsfunktion haben. In der DDR traf dies u.a. für den Pfarrer Oskar BRÜSEWITZ zu, der sich 1976 aus Protest gegen staatliche Repressionen öffentlich verbrannte sowie für Matthias DOMASCHK, engagiert in Junger Gemeinde und Friedensbewegung, der 1981 unter ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ums Leben kam. [53]

Auch wenn es nur in wenigen Bewegungen reale Märtyrer/innen gibt, so sind sie als diskursive Figur präsent. In den von mir untersuchten Biografien gibt es diskursive Verweise auf Märtyrer/innen oder (meist implizit) die Deutung des eigenen Erlebens als Martyrium. So werden historische Märtyrer/innen zur diskursiven Absicherung und Selbstvergewisserung des eigenen, derart kostenintensiven Engagements herangezogen – wie von Dorothee König*, die in der Friedensbewegung aktiv und Mitbegründerin der Anti-AKW-Bewegung der DDR war:

"obwohl man wenig davon sieht aber das das, ist das hab ich vorhin schon mal gesagt mein Glauben, das also so wie die Geschwister Scholl, total gescheitert sind wie Jesus total gescheitert ist, Martin40)=wo sie hingucken wollen die Großen äh, und wir wissen wir wissen das sie leben, sie leben in unserem, in unserem Gedächtnis weiter und, sind Vorbild (hm) insofern ist mein kleines Tun, nicht sinnlos" (Dorothee König, Z.468-473). [54]

Andererseits werden eigene Haft- und Unrechtserfahrungen als Martyrium gedeutet und religiös als "Kreuz auf sich nehmen" aufgewertet (vgl. MIETHE 1999, S.151f.). Zur Selbstvergewisserungsfunktion gehört aber auch das Abwägen, ob man selbst zu dieser Unbedingtheit bereit wäre und wie vertretbar die Folgen eigentlich sind. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Gruppendiskussion. die Ingrid MIETHE mit Mitgliedern einer Frauenfriedensgruppe in der DDR geführt hat:

"Elke Buchenwald41) war als einzige Frau der Gruppe aus politischen Gründen inhaftiert. Sie war damit, wie in der Gruppendiskussion von den anderen Frauen festgestellt wird, bereits 'über die Schwelle gegangen' vor der die anderen immer Angst hatten. Die Hafterfahrung ist es, die Elke von den anderen Frauen unterscheidet. Im Diskurs wird Elke von der Gruppe zur Heldin und Märtyrerin stilisiert und gleichzeitig marginalisiert. Obwohl sie noch anwesend ist, findet der Diskurs über und nicht mehr mit Elke statt: 'Das ist der Unterschied zwischen Elke und mir gewesen. Ich hab da immer wahnsinnig Schiß gehabt, und sie hat's als Erfolg verbucht', sagt Helga Schlesinger. Unmittelbar im Anschluß an diese Thematik beginnen die Frauen über die negativen Folgen ihres Handelns für ihre Kinder zu sprechen. Die zentral von Erika Busch eingebrachte Gegenposition dazu: 'wie komme ich dazu, das Schicksal meiner Anverwandten zu provozieren=sie haben mich nicht darum gebeten'" (a.a.O., S.100). [55]

In diesem Abwägen wird die Mehrdeutigkeit solcher normativ und symbolisch aufgeladener Leidenserzählungen sichtbar. Einerseits können sie Anlass und Legitimation für eine herausgehobene Position innerhalb der Bewegung sein. Wechselt aber der Deutungsrahmen der Beteiligten wie in dieser Gruppendiskussion zwischen "mein politisches Engagement" hin zu "meine Verantwortung für andere", dann werden andererseits diese Prestigeordnungen und die Definitionsmacht der Sprechenden prekär, und in den bewunderten Märtyrer/innen schimmert dann ein abschreckender Rigorismus durch. Dieser spielt denn auch eine wichtige Rolle in der Legitimation der eigenen Zurückhaltung gegenüber Außenstehenden. Er bildet den Kontrasthorizont, von dem man sich absetzt und die eigene – vom bloßen Mitläufer/innentum weit entfernte – Positionierung begründet (vgl. WOHLRAB-SAHR et al. 2009, S.332-336). [56]

5.4 Veteran/in

Ob die Aktivistinnen und Aktivisten der Anfangszeit als Pionier/innen wahrgenommen werden, hängt stark vom Fortgang des zunächst ungewissen und punktuellen Protestes und von dessen erinnerungskultureller Inventarisierung ab. Mit Blick auf die Entwicklung des Engagements der Pionier/innen können zwei Konservierungstypen42) unterschieden werden. [57]

In der Sozialfigur der Veteran/innen sind die frühere Bedeutung oder die Erfolge konserviert. Im Unterschied zum Langzeitaktivismus wird sie nicht über die langjährige Erfahrung von immer noch Aktiven definiert, sondern vor allem über die Erinnerungen an das frühere Engagement. Die Figur ist für Bewegungen relevant, weil sich am Status der Veteran/innen einer Bewegung erinnerungskulturelle Deutungskämpfe entzünden – etwa um öffentliche oder bewegungsinterne Anerkennung. Solche bewegungsinternen oder erinnerungskulturellen Prestigeordnungen werden sichtbar, wenn die erzählten Geschichten sehr verschieden oder nur zu bestimmten Anlässen auf Resonanz stoßen – in der Gesellschaft wie innerhalb der Bewegung (vgl. POLLETTA 2006). Es ist daher kein Zufall, dass (meist männliche) Veteran/innen zuweilen selbst zu einflussreichen (oder marginalisierten) Akteur/innen der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung der DDR-Geschichte werden – als Schreiber/innen und Archivar/innen wortwörtlich "ihrer" Geschichte – mit jeweils markanter und biografisch geprägter Akzentuierung ihrer Forschungen (zu den verschiedenen Ausprägungen der Erinnerung an die DDR vgl. SABROW 2009). [58]

In den Biografien meiner Studie sind sie zugleich die Kontrastfolie für die kritische Auseinandersetzung und den Überdruss mit der zugeschriebenen Rolle als Vorzeige-Aktivist/in. Am konkreten Beispiel wird dies vor allem am Gebrauch des Etiketts "Bürgerrechtler/in" deutlich, das als Veteran/innenformel häufig abgewehrt wird und das dazu provoziert, in den Biografien die immer noch kritische Haltung und das immer noch fortdauernde Engagement zu unterstreichen. So betont Jakob Brückner* – ein wichtiger Inspirator kirchlicher Oppositionsgruppen:

"ich denke, äh, das ich mich nicht einfach, das ich mich nicht damit nähren kann von dem was da gewesen ist, also ich kann nicht von dem zehren was da gewesen ist (hm) das funktioniert bei mir nicht, trägt auch nicht es ist gut, ich bin, also sage zum Beispiel zu der Wende das ist eine phantastische Erfahrung, aber, ich äh, und ich hab eine es ist äh, es gehört zu meinen, eine wunderbare Geschichte erzählen zu können, äh und daran beteiligt zu sein aktiv da mit gewesen zu sein, aber, das ich daraus, also ich kann daraus kein Kapital schlagen (hm) also das ist schwierig also ich kann damit nicht, äh und es ist gut auch diese Geschichte diese Erfahrung gemacht zu haben das ist sicher was Kostbares aber, man muss sich sehr davor hüten, das irgendwo übertragen zu wollen auf andere Situationen und zu denken ich kann mit diesen, äh in Situationen zu gehen, ich hab immer das Gefühl gehabt ich muss in neuen Situationen völlig neu mich bewähren" (Jakob Brückner, Z.813-824). [59]

Gerade die Wucht des historischen Ereignisses der Revolution von 1989/90 scheint dazu zu (ver-) führen, die eigene Identität um dieses Veteran/innentum zu zentrieren. Das verweist auf einen gesellschaftlichen Anerkennungsautomatismus, der allerdings nicht für alle Fraktionen der Oppositionsbewegung gilt (vgl. GEHRKE & RÜDDENKLAU 1999) und von vielen noch aktiven Langzeitaktivistinnen und -aktivisten problematisiert, gar abgewehrt wird. [60]

Im Unterschied zu Veteran/innen liegt beim "Urgestein" einer Bewegung der Fokus dagegen auf dem aktuellen Status "immer noch dabei zu sein". Die Immer-schon-dabei-Gewesenen verkörpern als Urgestein zwar auch frühere Erfolge, aber vor allem das generationenübergreifende Alter der Bewegung und in der Unbeirrbarkeit ihres Engagements das Überdauern des Anliegens. In dieser Funktion wirken sie häufig – sofern ihre Movement Stories noch auf Resonanz stoßen – als Brigde-Leader, wie es Ann HERDA-RAPP am Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Hattie KENDRICK entwickelt hat:

"Kendrick often encouraged the leaders and lawyers by drawing on the movement's history. Telling stories of past problems or encounters, she illustrated how they were part of a larger picture, framing their actions as part of a legacy. Through the use of narratives, then, she infused the movement leadership with a feeling of camaraderie and connectedness to the past. She was able to motivate them to continue by putting their problems into perspective" (HERDA-RAPP 1998, S.349). [61]

5.5 Vordenker/in

Die Funktion von Vordenker/innen ist ambivalent. Sie sind wichtig, weil sie die politischen Anliegen in breitere gesellschaftliche Kreise hineintragen, übersetzen und somit (begrenzt) Öffentlichkeit herstellen (vgl. DIANI 1997). Weil damit eine gewisse Sichtbarkeit und Prominenz einhergeht, weil sie als Textproduzent/innen am ehesten historisch greifbare und soziologisch verwertbare Daten produzieren, wird deren Einfluss zuweilen aber überschätzt. Er wird dann in der Forschung zugespitzt auf die Funktion von Bewegungseliten, wahrnehmungsleitende und handlungswirksame Deutungsmuster bzw. Frames "herzustellen" (vgl. SNOW, ROCHFORD, WORDEN & BENFORD 1986). Dieses auf den strategischen Gebrauch verengte Verständnis von Framing-Prozessen verliert aber die Auslegungsdynamiken an der Bewegungsbasis ebenso aus dem Blick wie jene Deutungsmuster, die nicht konstruiert werden, sondern (unverfügbar) dem Protest vorausgehen oder im Zuge von Protestereignissen überhaupt erst entstehen (vgl. PETTENKOFER 2010, S.67-74). Das heißt, dass in die anlassbezogen benötigten Situationsdeutungen (der Umgang mit dem Nachrüstungsbeschluss, das Verhältnis von Kirche und Gruppe) ältere Deutungsmuster und Ideologien eingehen (vgl. OLIVER & JOHNSTON 2000), und das schärft schließlich den Blick für die Vielfalt einflussreicher Deutungsproduzent/innen und die verschiedenen Ebenen, auf denen sie agieren. [62]

Es gibt die Auslegungseliten einer Bewegung, die in den einzelnen Gruppen federführend an der Ausarbeitung von handlungsleitenden Arbeitspapieren, Diskussionstexten, Analysen und Appellen beteiligt sind. Zugleich werden zwischen ihnen die Deutungskämpfe der einzelnen Fraktionen einer Bewegung ausgetragen, und die Konflikte zwischen ihnen führen überhaupt erst zu Abspaltungen und Neugründungen (vgl. NEUBERT 1997, S.521-526). Daneben gibt es Expert/innen, die als Vertreter/innen spezialisierter Professionen einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung einer Bewegung liefern, etwa, indem sie durch juristische Aufklärung über die eigene rechtliche Stellung in der DDR überhaupt erst Handlungsoptionen erschlossen; indem sie als Naturwissenschaftler/innen über die Folgen einer atomaren Verseuchung in der DDR informierten; indem sie als hauptamtliche Friedensreferent/innen zahlreiche Studien und konkrete Arbeitsmaterialien produzierten. Hierzu gehören schließlich einflussreiche Intellektuelle, die durch eine relative institutionelle Unabhängigkeit oder ihre Reputation die Anliegen der Gruppen mit übergreifenden Deutungshorizonten verbanden, in der DDR-Friedensbewegung z.B. prominente Vertreterinnen und Vertreter einer kritisch-emanzipatorischen Theologie wie Heino FALCKE oder marxistische Intellektuelle wie Robert HAVEMANN. Die unterschiedliche institutionelle Einbindung und die sich wandelnde ideologische Anschlussfähigkeit der Deutungsmuster sind der entscheidende Grund für die äußerst unterschiedliche Resonanz auf deren "Theorieproduktion". Die Funktion lag darin, dass sie als Fürsprecher/innen innerhalb der Kirchen die Arbeit der Gruppen theologisch legitimierten, dass sie ohne Rücksicht auf akademische Karrieren kritische Zeitdiagnosen riskierten oder dass sie als prominente Stimme und anerkannte Regimekritiker/innen für die Anliegen der Opposition eine Öffentlichkeit herstellten. [63]

Zugleich waren mit der Funktion und Dominanz von Auslegungsexpert/innen – vor allem in den Gruppen – Anerkennungskonflikte verbunden. So berichtet Magdalena Hirsch*, Mitglied einer Frauenfriedensgruppe:

"Deswegen sagte ich vorhin auch so einen Randständigkeit. Ich war nie so eine Intellektuelle dabei. Das ist nie meine Rolle gewesen. Ich war immer die, die es nett gemacht hat, die – also ohne das jetzt abzuwerten – die eine bestimmte Atmosphäre hergestellt hat, die auch, ja, auf der Beziehungsebene viel ermöglicht hat. Das war eher meine Rolle" (Magdalena Hirsch, S.3).43) [64]

Die Art der Tätigkeit und deren unterschiedliche Anerkennung innerhalb einer Gruppe hatte somit starken Einfluss auf interne Hierarchiebildungen, und es gelang den Gruppen sehr unterschiedlich, diese Spannungen auszubalancieren und somit letztlich handlungsfähig zu bleiben (vgl. MORITZ 2000, S.149-154). [65]

5.6 Fürsprecher/in

Zur Besonderheit der historischen Konstellation gehört, dass die Friedensbewegung eingebunden und konflikthaft verwoben mit den kirchlichen Strukturen war. Einige hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inspirierten und initiierten die Gründung von Friedensgruppen. Wo dies nicht der Fall war und die Gruppen von Lai/innen gegründet wurden oder sich nicht als kirchliche Gruppen verstanden, agierten sie doch in den meisten Fällen unter dem Dach von Kirchgemeinden. Sie waren also notwendig auf die Zusammenarbeit mit der lokalen Kirchenleitung angewiesen. [66]

Aber dieses Eingebundensein war zugleich ambivalent. Es gab kirchliche Gruppen, die ihrem Selbstverständnis nach "christliche Friedensarbeit" machten und identitär auf das religiöse Feld bezogen waren (vgl. LEISTNER 2011). Sie agierten politisch und sie waren von Verhaftungen und Repressionen betroffen – aber sie verstanden sich als religiöse Reformbewegung, die im WEBERschen Spannungsfeld zwischen Institution (der zögerlichen Amtskirche) und Charisma (dem Auftrag der Gruppen) agierte. Ihnen ging es um die Ausweitung der Feldgrenzen (Verantwortung der Kirche für die Welt) und die Reform der Spielregeln (Aufwertung der Lai/innen). Es gab aber auch eine Vielzahl kirchenferner Gruppen, deren Engagement vor allem auf Interventionen und Aktionen gegenüber dem Staat zielte. Ihnen ging es tendenziell um Überschreitung der Feldgrenzen (Opposition als politische Akteurin) und die Etablierung eigener Spielregeln (Emanzipation von kirchlicher Bevormundung). Die Übergänge zwischen beiden Grundorientierungen waren innerhalb der einzelnen Gruppen selbst diffus und die Konfliktlagen entsprechend komplex. Verstärkt wurden die Konflikte dadurch, dass das religiöse Feld in der DDR vom Staat "übermannt" wurde und seine fragile Eigenständigkeit kirchendiplomatisch auszuhandeln hatte (vgl. POLLACK 1994). Und gerade im Konflikt mit den Gruppen und Akteur/innen der Friedensbewegung übte der Staat immer wieder einen Disziplinierungsdruck auf die Kirchenleitungen aus und versuchte, innerreligiöse Debatten um Grenzen und Regeln des Feldes politisch zu instrumentalisieren – was die Gruppen misstrauisch werden ließ, wenn zuständige Ortspfarrer/innen den "religiösen Charakter" einer Veranstaltung einforderten. [67]

In dieser Konfliktkonstellation agierten also die Hauptamtlichen, und in diesem komplexen Gefüge von Rollenerwartungen differenzierten sich verschiedene Typen aus. Strukturell war es eine Mittlerposition zwischen den Interessen von Ortsgemeinde und Kirche und den Anliegen der Gruppen. In dieser Schlüsselposition gab es ein Bündel von Rollenanforderungen, mit denen Fürsprecherinnen und Fürsprecher konfrontiert waren. Ihr Handeln konnte erscheinen als eines von Repräsentant/innen kirchenleitender Positionen, im Falle der inoffiziellen Mitarbeit in staatlichen Überwachungsinstitutionen als Handeln von Agent/innen der staatlichen Oppositionsbekämpfung oder als Handeln von in diesem Konflikten glaubhaft schlichtenden Vermittler/innen. Die nachträgliche Etikettierung dieser Positionen ist in der Bewegung selbst hoch umstritten und stark positionsabhängig. [68]

Fürsprecher/innen übersetzten und integrierten zudem die Anliegen der Gruppen in unterschiedlich folgenreiche kontextuelle Theologien über Auftrag und Gestalt von christlicher Religion (vgl. etwa FALCKE 1986). Sie sicherten – gerade in der schwierigen Umbruchszeit von 1984/85 – die Existenz der bedrängten Gruppen und schafften strukturelle Arbeitsbedingungen (vgl. TAYLOR 1989). Deutlich wird dies in folgenden Auszug aus dem biografischen Interview mit Jakob Brückner* – einem einflussreichen Fürsprecher:

"zu dieser Zeit waren ja, sind ja die wesentlichen Impulse ausgegangen von Gruppen, die am Rand, und in den Kirchen da waren und ähm, wir hatten da in (Name der Stadt), acht neun zehn Friedensgruppen, nicht, die wurden dann, äh äh, und wir hatten als Superintendenten […] und wir, ähm und die Superintendenten hatten ja die Funktion, äh, diese Art dieses übergemeindliche Engagement zu tragen das spielte für uns eine große Rolle und ich, ähm war da bei fast allen diesen Dingen engagiert" (Jakob Brückner, Z.397-402). [69]

Brückner berichtet hier über die lokalen Institutionalisierungsversuche Anfang der 1980er Jahre und spricht dabei aus der Sicht der lokalen Kirchenleitung. Interessant ist die Funktionszuschreibung: Die Gruppen sind nicht Unruheherde – was sie kirchenpolitisch faktisch waren – sondern "Impulsquellen". Und die Parteinahme der Kirchenleitung wird – als historisch keineswegs selbstverständliche Position – überhaupt nicht weiter begründet, sondern als "Funktion" beschrieben, die sich aus dem zugeschriebenen Stellenwert ("große Rolle") selbstverständlich ergibt. Jakob Brückner fährt in der Erzählung fort und bettet sie in eine subjektive Theorie kirchlicher Aufbrüche seit den 1960er Jahren ein:

"der dritte Schub der Erneuerungsbewegung ist durch diese Gruppen gekommen, in den 80er Jahren da ist noch mal sozusagen als Basisbewegung noch mal ein Schub gewesen der, wiederum eine Aufbruchstimmung bedeutet hat, und es ist ja in all diesen Dingen immer um etwas gegangen was nur sehr bruchstückhaft realisiert worden ist, wir haben immer mit einem Überschuss an Hoffnung gelebt gar keine Frage, es war immer äh, vieles was äh, was nicht realisiert war äh, und äh, äh, was uns aber, eigentlich nicht gehindert hat äh, es zu also deswegen abzulegen" (Jakob Brückner, Z.470-476). [70]

Hier wird die Bedeutungszuschreibung der Gruppen konkretisiert. Ihr Engagement spielt für ihn eine "große Rolle", weil sie als Teil einer kirchlichen Erneuerungsbewegung gesehen werden, eine Bewegung, der sich Brückner selbst verpflichtet fühlte, an die er seine (berufliche) Identität knüpfte und zwar so sehr, dass im Text die Sprecherposition wechselt: Aus der hierarchischen Position des formal zuständigen Superintendenten wird dann das gleichgesinnte "Wir". Erklären lässt sich das mit der biografischen Selbstbeauftragung zahlreicher Theolog/innen, an der "Erneuerung der Kirche" mitzuwirken. Sie waren meist kirchlich sozialisiert in der Tradition der Bekennenden Kirche. Damit einher ging ein Selbstverständnis des religiösen Feldes, in dem der "Verantwortung der Kirchen für die Welt" ein weitaus höherer Stellenwert zugewiesen wurde als etwa institutionellen Eigeninteressen (vgl. FINDEIS 2002). [71]

5.7 Vernetzer/in

Gerade in schwach institutionalisierten Bewegungen, die sich wie die unabhängige Friedensbewegung dezentral entwickeln und lange Zeit keine etablierten Kommunikationskanäle ausbilden können, besteht ein hoher Bedarf an struktureller und personeller Vernetzung. Aber auch mit der fortschreitenden Professionalisierung bleibt für soziale Bewegungen charakteristisch, dass sie aus einem Netzwerk von Gruppen und Organisationen, von Gewerkschaften und Parteien bestehen, die sich anlassbezogen zu Kampagnen zusammenschließen und auf aktive Vernetzungsarbeit angewiesen sind (sei es durch eine ausgebildete Mobilisierungsinfrastruktur, sei es durch Schlüsselfiguren, die im Hintergrund Kontakte einfädeln und Netzwerke knüpfen). [72]

In der DDR geschah dies anfänglich über die Bekanntschaft bei gemeinsamen Besuchen DDR-weiter Veranstaltungen (wie Friedensseminaren, Friedenswerkstätten oder dem "Mobilen Friedensseminar"), später dann im exklusiven, mit einem Delegierungssystem der Basisgruppen agierenden Koordinationskreis "Frieden konkret". Wo lokal eine Vernetzung der verschiedenen kirchennahen bzw. kirchenfernen Gruppen mit kulturellen und kirchlichen Milieus gelang, konnte sich ein durchsetzungsfähiges Protestfeld ausbilden (NEUBERT 1997, S.783-788). Eine wichtige Akteurin in einem solchen Zusammenhang war Berit Max*. Nachdem ihr als Pfarrerstochter weiterführende Bildungswege verschlossen waren, arbeitete sie als Katechetin in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit. Diese Position nutzte sie zu einer sich professionalisierenden Vernetzungsarbeit in den verwickelten Konfliktkonstellationen zwischen Staat, Kirche und Gruppen. Sie erzählt:

"ich habe dann außerdem dass ich in meiner Stammgruppe weitergearbeitet habe habe ich ganz viel Vernetzungsarbeit gemacht nannte man damals auch nicht so /I:Hm/ ne also ich habe halt /I:Hm/ Termine koordiniert. Ich habe dann so ein kleines Infoblättchen kreiert /I:Hm/ [Name des inoffiziell innerhalb der oppositionellen Szene erscheinenden Blattes] hieß das, wo ich von allen Gruppentermine und und so Vorhaben angesammelt habe und [...] da hatte ich einen Adressverteiler für zweihundert Adressen und habe denn halt rumgeschickt auch außerhalb von [Name des Ortes], und (1) So habe ich dann sehr viel bin ich dann praktisch zwischen den Gruppen rumgesprungen und kam bisschen in so eine Rolle von so einem Koordinator /I:Hmhm/ und das war auch sehr vorteilhaft für die Gruppen die nicht so eng an Kirche angebunden waren /I:Hmhm/ weil ich kannte mich in kirchlichen Strukturen ziemlich gut aus .. und .. äh ich konnte auch so, also ich konnte halt mit Pfarrern und Superintendenten reden und da manchen Dinge so bisschen auf dem diplomatischen Wege klären.[...] Wir sind dann auch halt nach Berlin gefahren haben andere Gruppen kennengelernt ne. Dann gab es diese großen DDR-weiten Treffen 'Frieden konkret' /I:Hm/ in Berlin in Cottbus waren wir dann überall dabei. Wahnsinnszeit. Also das ging eigentlich bis neunundachtzig und wurde immer stärker. So gleichzeitig hatte ich in meiner Kirchgemeinde mordsmäßige Probleme /I:Hmhm/ [...] mit dem Pfarramtsleiter und meinem Chef der das überhaupt nicht gut fand was ich da alles machte" (Berit Max, Z.198-222) [73]

Dass sie diese Funktion derart intensiv ausüben konnte, hatte mehrere Gründe: In ihrer Tätigkeit einerseits als kirchliche Mitarbeiterin und zugleich als Mitglied einer der ältesten Gruppen der Stadt verfügte sie über zahlreiche Kontakte und einen Vertrauensvorschuss bei den Gruppenvertreter/innen. Die Nutzung der Arbeitsstelle ermöglichte die Professionalisierung des Engagements – wenngleich dies zu Konflikten mit der Gemeinde führte. Dass sie diese Funktion wiederum dergestalt ausübte, hängt mit der konkreten Verortung des eigenen Engagements im Spannungsfeld von Religion und Politik zusammen. Aus der Perspektive von Berit Max' engagement-zentrierter Positionierung beinhalteten eigene politische Aktivitäten unter dem Dach der Kirchen einen auch, aber nicht ausschließlich christlich motivierten Veränderungsanspruch, dem die Kirchen sowohl inhaltlich als auch organisatorisch hinterherhinkten, der andererseits die Instrumentalisierung ihrer Arbeitsstelle selbstverständlich legitimierte (vgl. LEISTNER 2011, S.330f.). [74]

5.8 Aktionist/in

In dieser Sozialfigur verdichtet sich einerseits das Drängen auf eine stärker konfrontative politische Auseinandersetzung und andererseits und vor allem die Bereitschaft zur Durchführung hoch riskanter Aktionen, wie sie etwa die sogenannten Freedom Rider in den Südstaaten durchführten: Auf ihren Überlandfahrten in den Süden der USA "testeten" sie die Geltungskraft der gerichtlich durchgesetzten Aufhebung der Rassentrennung und wurden wiederholt zum Opfer gewalttätiger Übergriffe (vgl. McADAM 1986). Die Gründe für ein Dominantwerden solcher "radikaler Flügel" sind vielschichtig. Sie sind Ausdruck eines unterschiedlichen Selbstverständnisses, sie sind Produkt von Feld-Differenzierungen (etwa zwischen moderaten oder aktionsorientierten Gruppen) oder von Generationenunterschieden. So dominierten ab Mitte der 1980er Jahre vor allem jüngere Oppositionelle die zunehmend aktionsorientierten Gruppen:

"Die Jüngeren waren nicht mehr geprägt von den Prager Ereignissen des Jahres 1968 und auch nicht mehr von der mit der Biermann-Ausweisung in Zusammenhang stehende Einschnürung der DDR-Kulturszene in den siebziger Jahren. Sie standen dem System illusionsloser gegenüber und waren daher wichtige Träger der Politisierungs- und Entideologisierungsprozesse in der Gruppenszene" (POLLACK 2000, S.98). [75]

Mit den sich wandelnden Politisierungskontexten veränderte sich auch die subjektive Plausibilität von Deutungsmustern, die einen Teil von Aktivis/tinnen an die Kirchen band, oder an die Idee eines "verbesserlichen Sozialismus" (programmatisch dazu FALCKE 1986, S.12-32). Hinzu kamen dann vor allem in Leipzig die Ausreiseantragsteller/innen, die aufgrund ihres Status und der aufgekündigten Loyalitäten "biografisch verfügbar" (McADAM 1986) und also besonders risikobereit waren. [76]

5.9 Renegat/in

Die Figur der Renegat/innen ist vor allem eine Zuschreibungskategorie des Redens über Sozialfiguren. Der Austritt aus der Bewegung, der Abbruch des Engagements (vgl. DOWNTON & WEHR 1997) wird dann als Abtrünnigwerden von einem gemeinsam geteilten Wertesystem gedeutet, als "Verrat an der guten Sache". Dies liegt in der Feldstruktur der wechselseitigen Überwachung der Aktionen oder Verlautbarungen anderer Gruppen und Akteur/innen sowie am permanenten Abgleich, ob dies noch den Normen des Protestfeldes entspricht. Ein Beispiel mag der heftige Konflikt innerhalb der Berliner Oppositionsbewegung sein, "als sich Mitglieder des Samariterfriedenskreises und der IFM [...] mit CDU-Bundestagsabgeordneten getroffen hatten" (NEUBERT 1997, S.730) und damit ideologische Tabus verletzten bzw. überhaupt erst sichtbar machten. Die Funktion der Renegat/innen liegt also darin, dass sie in der Bewegung, aber auch in den je individuellen Biografien Mechanismen der Identitätsvergewisserung in Gang setzen und somit zur Stabilisierung des Engagements beitragen können – aber nicht müssen. Die massenhafte oder prominente Abkehr von Ziel und Anliegen einer Bewegung stellt prinzipiell eine Gefährdung, mindestens eine Irritation der eigenen Aktivist/innenidentität dar. Und die Äußerungen über ein solches Renegat/innentum erfolgen in der Regel im Rückblick, nach der gelungenen diskursiven Bearbeitung des Problems. [77]

Deutlich wird dies am Beispiel von Arne Heiter*, der – in den 1980er Jahren zu einer Friedens- und Anti-AKW-Gruppe gehörend – über seine Enttäuschungen spricht, die er in der Zeit nach 1989 erlebte:

"viele Neues-Forum-Weggefährten, die so in der Zeit als es dann langsam ungefährlich wurde, äh dazukamen, die sind dann in die äh CDU gegangen das war och meine Schuld denk ich mit also ich hab denen klipp und klar gesagt liebe Leute mit euern mit euern Positionen so die Position ich bin schon so alt und ich will noch was haben vom dem was ich jetzt hier riskiert habe, ich hab dann eben gesagt was ihr in euerm Leben offenbar nie riskiert habt sonst wärt ihr schon viel eher dazu gekommen oder zu wenig Konsequenz riskiert habt das wollmer jetzt noch ernten, das schaffmer nur wo wir die D-Mark bekommen das war das Arg- Argument von vielen damals (hm) tragenden Leuten und ähm da hab ich gesagt: 'liebe Leute ihr seid für mich viel besser inner CDU aufgehoben geht doch einfach lasst aber, lasst also macht mir mein Neu- Neues Forum hier in [Name der Stadt] nich kaputt' und da sin aber och ne Reihe Leute tatsächlich gewechselt, einer von denen war dann jahrelang Fraktionsvorsitzender der CDU im Stadtparlament und hat mit seiner politischen Dummheit, 'n guter [Berufsbezeichnung] aber politisch so was von dumm, so was von dumm also wirklich Schwachsinn und und gute fachliche Kompetenz so dicht nebennander ja dass ich, hab manchmal 's Zweifeln bekommen" (Arne Heiter, Z.266-280). [78]

Zunächst wird deutlich, dass neben der Fraktionsbildung innerhalb der Bewegung und dem Umgang mit den Ausreisewilligen44) vor allem die Ereignisse um 1989 beim verbliebenen Kern von Aktivistinnen und Aktivisten, die immer noch engagiert waren, eine intensive Beobachtungs- und Bewertungsdynamik ausgelöst haben. Der eigene Weg und das eigene Selbstverständnis wurde dann intensiv abgeglichen mit alternativen, nicht legitimen Optionen: dem Weg als Berufspolitiker/in, dem Rückzug in frühere Berufe (vgl. FINDEIS, POLLACK & SCHILLING 1994). Zugleich scheint in dem Zitat eine andere Spannung auf: zwischen den Pionier/innen als Verwalter/innen des eigenen Selbstverständnisses und der adäquaten Normauslegung, die qua Dauer und Investitionseinsatz eine herausgehobene Position beanspruchen, und den neu hinzukommenden Noviz/innen oder Free Riders. [79]

5.10 Agent Provocateur

Zuletzt möchte ich mich auf eine Figur konzentrieren, in der sich die Reaktionen staatlicher Interventions- und Überwachungsinstanzen oder gegnerischer Bewegungen auf Protestphänomene ausdrückt (vgl. DAVENPORT, JOHNSTON & MUELLER 2005): auf die Informant/innen und den Agent Provocateur. Es waren eingeschleuste oder angeworbene Aktivistinnen und Aktivisten, die – an möglichst zentraler Position – Informationen beschafften (sei es als Ehemann einer Bürgerrechtlerin, sei es als Protokollführer einer Friedensgruppe). Es waren "inoffizielle Mitarbeiter ", die – in wichtiger Funktion oder in offiziellen Entscheidungsgremien – auf das Agieren der Friedensbewegung Einfluss nehmen sollten. Durch die intensive Überwachung der unabhängigen Friedensbewegung durch das MfS ist dessen Wirken in der DDR-Zeitgeschichtsschreibung gut erforscht. In der Bewegungsforschung wurde der Einsatz von Informant/innen dagegen bisher nur spärlich thematisiert (vgl. MARX 1974; DELLA PORTA & FILLIEULE 2004). Interessant (wenngleich wenig verwunderlich) ist, dass dem Handeln des MfS implizit eine "Theorie" über die Bedeutung und Funktion markanter Schlüsselfiguren innerhalb sozialer Bewegungen zugrunde lag. Informant/innen und steuernde Agents Provocateurs wurden sehr gezielt in ganz bestimmten Schlüsselpositionen eingesetzt (und in anderen gerade nicht):

Wenngleich dies einerseits für viele dramatische persönliche Folgen hatte und andererseits durch gegenseitiges Misstrauen das Klima in den Gruppen vergiftete, so war der Einfluss dieser Figuren auf das Protestfeld doch nicht ausschließlich zerstörerisch. Er war für die Bewegung funktional im Sinne wichtiger inhaltlicher Klärungen; funktional, weil die allzu offensichtliche Parteinahme religiöser Expert/innen für die offizielle SED-Politik zur Isolation ihrer Positionen im religiösen Feld führte; schließlich funktional, weil stabilisierende wie eskalierenden Binnendynamiken in Gang gesetzt wurden. Es entstanden Akteurskonstellationen,

"in denen heterogene Auslegungen geteilter Werte einander gegenüberstehen, einerseits selbststabilisierend wirken (und dabei auch ihre eigenen kulturellen Grundlagen auf Dauer stellen); andererseits einen stabilen Motor sozialer Dynamiken bilden, der 'kreative' Prozesse der Überbietung und der Nischensuche in Gang setzt – was auch Eskalationsprozesse erklären kann" (PETTENKOFER 2010, S.250). [81]

6. Zusammenfassung

Der Aufsatz zielte darauf, in drei Zügen ein Tableau idealtypischer Sozialfiguren und deren zentrale Funktion für die Entwicklung und Stabilisierung sozialer Bewegungen zu entwickeln: zunächst in der kritischen Diskussion von Leadership-Ansätzen der Bewegungsforschung (Abschnitt 2); sodann in der Präparierung von Grundproblemen und von Schlüsselfiguren am konkreten Fall der unabhängigen DDR-Friedensbewegung (Abschnitt 4); schließlich in der systematischen Darstellung der einzelnen Idealtypen, deren Funktion im Hinblick auf die Bewegung und deren Beitrag für die Stabilisierung des Engagements aus der Perspektive von Biografien (Abschnitt 5). Indem verschiedene disziplinäre Fäden aufgenommen werden, soll zugleich ein spezifischer Beitrag zum Forschungsfeld geleistet werden:

Der vorgeschlagene Analyserahmen wurde nahe am und aus dem Material entfaltet. Damit bleibt die Verallgemeinerbarkeit zunächst begrenzt. Sie ist gebunden an die spezifischen Entstehungsbedingungen in der DDR. Offene Fragen für weitere Forschungen und den Vergleich mit anderen sozialen Bewegungen sind insoweit: Ist dieses Figurentableau in allen Bewegungen gleichermaßen präsent und wirksam? Fehlen Sozialfiguren oder gibt es zusätzliche? Welchen systematischen Einfluss haben solche Schlüsselfiguren für den Fortgang einer Bewegung, für deren Erfolg, wie für deren Niedergang und deren (Selbst-) Zerstörung? In welchem Maß verändert sich deren Bedeutung im Zuge der Ausdifferenzierung und Professionalisierung einer sozialen Bewegung? [83]

Danksagung

Für hilfreiche Anmerkungen zum Aufsatz danke ich Martina SCHIEBEL und Katja MRUCK sowie meinen Leipziger Kolleginnen und Kollegen Uta KARSTEIN, Jurit KÄRTNER, Melanie EULITZ, Timmo KRÜGER und Thomas SCHMIDT-LUX, sodann der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Finanzierung meines Promotionsprojektes. Mein Dank gilt zudem den Bürgerrechtsarchiven in Jena, Leipzig und Werdau für die Unterstützung und Zusammenarbeit und schließlich meinen Interviewpartnerinnen und -partnern für die Bereitschaft, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Anmerkungen

1) So eine gängige Definition der Sozialgestalt sozialer Bewegungen (RUCHT 1994, S.76f.). <zurück>

2) Durch die Konzentration der Bewegungsforschung auf die zweckorientierten Mobilisierungs-anstrengungen und Deutungsbemühungen, mithin also auf den gemachten Protest, erscheinen soziale Bewegungen – stark zugespitzt – bisher vor allem als Handeln professioneller Bewegungseliten, die sich zur "kleinen Lage" treffen, die politischen Rahmenbedingungen beobachten und die Gunst der Gelegenheit ergreifen, zielgerichtet Strategien entwerfen, Bündnisse schmieden und sodann Sprachregelungen nach innen und nach außen festlegen. <zurück>

3) Die meisten Studien zu Leadership in sozialen Bewegungen haben die prominenten, männlichen Führungsfiguren vor Augen. Geschlechtsbezogene Aufgabenungleichverteilungen und Unsichtbarkeiten bleiben dabei verdeckt, weshalb die Sprachform hier übernommen und nicht gendersensibel korrigiert wurde. <zurück>

4) Teilweise werden – und das unterstreicht die analytische Stärke von Sozialfiguren – dabei Äquivalente aus anderen gesellschaftlichen Bereichen bemüht. Etwa im "Movement entrepreneur", der an Werner SOMBARTs Idealtypus des okzidentalen Risiko-"Bourgeoisen" erinnert (2003 [1913]). In eine ähnliche Richtung zielt der Aufsatz von NEPSTAD und BOB (2006), die verschiedene Typen von Leadership verschiedenen Phasen der Bewegungsentwicklung zuordnen und mit der Aufforderung verbinden, diese Funktionen stärker zu systematisieren. <zurück>

5) "Sozialfiguren sind zeitgebundene historische Gestalten, anhand deren ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann. Sie sind nicht zu verwechseln mit bestimmten Rollen, die der Einzelne im Laufe seines Lebens sukzessive oder auch zu einem bestimmten Zeitpunkt gleichzeitig übernimmt. Eine Rolle lässt sich zumeist einer bestimmten Sphäre des Sozialen zuordnen [...] Die Sozialfiguren dagegen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die verschiedenen Sphären übergreifen. Für sie ist typisch, dass sie zwar aus verschiedenen Feldern stammen, ihre Tätigkeiten sich aber mehr und mehr verselbständigen" (MOEBIUS & SCHROER 2010, S.8). <zurück>

6) "Die durch die Feldstruktur radikalisierte interne Konkurrenz motiviert ein wechselseitiges Überwachen und Ermahnen, was die Einhaltung dieser Normen angeht; die konkurrierenden Gruppen beobachten das Verhalten der jeweils anderen und prangern Verletzungen der Feld-Normen an. Dieser Stabilisierungsmechanismus setzt nicht allein auf der Ebene von Organisationen an, sondern auch direkt auf der Ebene der einzelnen Teilnehmer. […] die Stabilität dieses Selbstverständnisses wird erst gewährleistet durch ein Regime gegenseitiger Überwachung, das die geltenden Normen den Beteiligten dauernd präsent hält und durch die feldinterne Konkurrenz die Selbstzweifel und das schlechte Gewissen bestätigt, die dem Sekten-Muster entsprechen" (PETTENKOFER 2010, S.257). <zurück>

7) Aus diesem Grund und im Sinne "verstehenden Erklärens" ist die Rekonstruktion des Gegenstandes, konkret der Entstehung und Entwicklung der Friedensbewegung, ein wichtiger Teil der Dissertation. In diesem Aufsatz werden deshalb nicht primär die eigentlichen Ergebnisse der Dissertation präsentiert – also die Rekonstruktion jener biografischen Prozesse, die zu einer identitären Selbstbindung an das Engagement auch über den 1989er Zeitenbruch hinaus geführt haben und die Frage nach "biografischen Pfadabhängigkeiten". Vielmehr steht ein "Nebenertrag" im Vordergrund: die Entfaltung eines gegenstandssensiblen Analyserahmens. <zurück>

8) "Theoretische Sättigung" meint jenen Punkt der Erhebung, wo die Auswertung neuen Materials keine neuen Erkenntnisse einbringt (vgl. STRÜBING 2008, S.33). <zurück>

9) Die da wären: der Umgang mit Ungewissheit, die mit dem Engagement verbundenen Repressionen und Ausgrenzungen, die Auseinandersetzung und Deutung des Abbruches des Engagements durch andere. <zurück>

10) Der Begriff "Friedensbewegung" wird hier als Selbst- und Sammelbezeichnung der im Umfeld der evangelischen Kirche entstandenen Friedensgruppen verwendet. Damit geht keine theoretische Festlegung auf die Charakterisierung der Gruppen als Neue Soziale Bewegung einher. <zurück>

11) Durch diese Funktion und Bedeutung der Kirche für die Protestbewegung ergeben sich Parallelen zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die wegweisend von Michael HASPEL ausgearbeitet wurden (1997). <zurück>

12) Die Periodisierung orientiert sich ab 1978 an der einschlägigen Forschung (NEUBERT 1997), setzt allerdings – dem theoretischen Verständnis sozialer Bewegungen geschuldet – schon zu einem deutlich früheren Zeitpunkt ein. Zur Ereignisgeschichte der Friedensbewegung in dieser Zeit vgl. NEUBERT (1997, S.187-200). <zurück>

13) Charakteristisch für die Herrschaftsformation der DDR waren je nach historischer Phase unterschiedlich scharf ausgetragene Mitgliedschafts-Konflikte zwischen Staat und Kirche, die aus dem umfassenden Geltungsanspruch der SED-Führung herrührten und politisch-weltanschauliche Gegnerschaften produzierten. Dieser Konflikt hatte dabei immer mehrere Ebenen. In Bezug auf die Kirchenzugehörigkeit folgte er der Logik "sich wechselseitig ausschließender Mitgliedschaften in Partei und Kirche" (WOHLRAB-SAHR, KARSTEIN & SCHMIDT-LUX 2009, S.143) und führte im Falle der Aufrechterhaltung der Kirchenbindung zu vielfältigen Ausgrenzungserfahrungen und teilweise zu Prozessen der Selbstgettoisierung – viele Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung rekrutierten sich denn auch aus Pfarrersfamilien und christlichen Haushalten. Auf der Ebene der Weltdeutungen zeichneten sich neben anderen schon in den 1950er Jahren Konflikte in der Haltung zur Friedensfrage ab. Band sich der offizielle Friedensbegriff an Klassenkampfideologie und die identitäre Selbstbeschreibung der DDR als "Friedensstaat", so beharrte die evangelische Kirche auf der grundsätzlichen Fragwürdigkeit eines jeden Krieges und dem Recht auf Wehrdienstverweigerung als das "deutlichere christliche Friedenszeichen" (NEUBERT 1997, S.74). Auf der Ebene von Weltdeutungen trat somit in den 1960er Jahren mit der Einführung der Wehrpflicht für pazifistisch gesinnte Kirchenmitglieder ein weiterer Konflikttyp auf, den ich Mitmach-Konflikt nennen möchte (zur Konfliktgeschichte der Wehrdienstverweigerung in der DDR vgl. WIDERA 2004). Vom Mitgliedschafts-Konflikt unterscheidet diesen Typ, das er keinem institutionalisierten Entweder-Oder-Automatismus folgt, sondern die Positionierung dem/der Einzelnen überlassen bleibt. Der Konflikt referiert nicht auf Zugehörigkeit, sondern auf Gewissen (vgl. LEISTNER 2011). <zurück>

14) "Es versteht sich, dass diese 'Lösung' in Form der Konzentration von Pazifisten in Baueinheiten neue Probleme verursachte: Man schuf ein legales Sammelbecken von zumindest dem Regime distanziert gegenüberstehenden Verweigerern unterschiedlicher Weltanschauung (jedoch überwiegend Christen), die von Anfang starke Latenz zu Formationsbildungen aufwiesen. Solcherart staatliche Begünstigung der Kooperation zuvor vereinzelter Verweigerer führte zu Bestrebungen im Kollektiv, die schnell Merkmale von oppositionellem und widerständigem Verhalten zeigten, also über bloße Verweigerung hinausgingen" (KLEIN 2007, S.54). <zurück>

15) Dabei stehen die Bausoldateneinheiten nur für einen solchen möglichen und in der DDR relevanten Ort: andere waren die Studentengemeinden, die Kellerräume der Offenen Arbeit, die privaten Freundes- und Gesprächskreise, die informellen Diskussionszirkel dissidenter Marxist/innen, schließlich die sub- und jugendkulturellen Milieus. <zurück>

16) Zur Geschichte vgl. NEUBERT (1997, S.269-272, S.289-314) und POLLACK (2000, S.77-83). <zurück>

17) "Frieden machen heißt in erster Linie Bewußtseinsbildung. Bei uns sind Aktionsformen des Friedensdienstes, wie sie in Ländern anderer Gesellschaftsordnungen möglich sind, nicht zu realisieren. Diese Einsicht kann zu blinder Aggression führen oder aber – falsch interpretiert – zu Gleichgültigkeit. Im ersten Fall begeben wir uns in Widerspruch zum Evangelium, das Gewaltlosigkeit predigt; im zweiten Fall verzichten wir auf's Denken, auf die Suche nach Möglichkeiten des Friedensdienstes, trotz aller Einschränkungen des Aktionsspielraumes des Einzelnen. Unsere Aufgabe ist Bewußtseinsbildung" (WEIGEL 1973, zit. nach KLUGE 2004c, S.12). <zurück>

18) "Dann solltet ihr versuchen, einen Plan über die Freizeit aufzustellen. Und zwar wäre er aufzuteilen in geistige und geistliche Arbeit. Wir hatten einmal in der Woche einen Themenabend (Buchlesung, Probleme des FD [Friedensdienstes A.L.], sexuelle Fragen, theologische Probleme, Marxismus). Desweiteren war jede Woche eine Andacht geplant und wurde auch durchgeführt. Das waren alles gemeinsame Abende. Es wurde auch regelmäßig eine Posaunenübungsstunde gehalten. Jeden Sonntag war im Objekt Gottesdienst" (a.a.O., S.16f.). Auch wenn es die eine oder andere Namensgebung von Gruppen wie "Bruderkreis" oder "Shalom-Gemeinschaft" nahelegt, zur Ausbildung ordensähnlicher Zeugnisgemeinschaften wie dem Jonas-Haus der US-amerikanischen Pflugscharbewegung kam es in der DDR nicht (vgl. NEPSTAD 2008). <zurück>

19) So wurde bei Gemeindeabenden als Bildmeditation eine Collage des Grafikers Matthias KLEMM verwendet. Zu sehen ist die Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars, versehen mit der Banderole "Angeklagt wegen Anstiftung zum Frieden". <zurück>

20) Zur Geschichte vgl. NEUBERT (1997, S.335-498) und POLLACK (2000, S.83-91). <zurück>

21) Anfang des Jahres 1982 verfassten der Berliner Pfarrer Rainer EPPELMANN und der Dissident Robert HAVEMANN mit diesem Appell (eine Art Pedant zum westdeutschen "Krefelder Appell") einen innenpolitisch brisanten Abrüstungsvorschlag angesichts des atomaren Wettrüstens. Durch die Verbreitung in Westmedien – und das unterschied ihn vom Jenaer "Appell für Abrüstung", der in der Offenen Arbeit entstand – bekam das Schriftstück und mithin die Friedensbewegung eine bisher ungekannte Öffentlichkeitswirkung (vgl. NEUBERT 1997, S.405-407). <zurück>

22) Zur Geschichte vgl. NEUBERT (1997, S.335-498) und POLLACK (2000, S.83-91). <zurück>

23) Bärbel BOHLEY entspricht in ihrem Wirken im Hintergrund, ihrem Einfluss und ihrer Bedeutung, dem was in der Forschung als Brigde-Leader beschrieben wird (vgl. HERDA-RAPP 1998). <zurück>

24) Vgl. NEUBERT (1997, S.485-531). <zurück>

25) Nachdem der NATO-Rat 1979 die Stationierung von nuklear bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II) beschlossen hatte, stimmte der Bundestag nach heftigen Protesten im November 1983 der Stationierung zu (vgl. COOPER 1996, S.151-210). <zurück>

26) Vgl. NEUBERT (1997, S.539-823), POLLACK (2000, S.96-136), KLEIN (2007), RÜDDENKLAU (1992), TIMMER (2000). <zurück>

27) 1983 schlug die Delegation des BEK unter maßgeblicher Federführung Heino FALCKEs auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Vancouver vor, ein gesamtchristliches Friedenskonzil einzuberufen. Dies mündete – da der "Konzilsbegriff" theologisch nicht durchsetzbar war – in einem sogenannten "Konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" der Weltkirchen. In Vorbereitung der Ökumenischen Weltversammlung in Seoul wurden in den einzelnen Ländern Ökumenische Versammlungen durchgeführt. Dort wurden die globalen Überlebensherausforderungen für den jeweiligen nationalen Kontext konkretisiert. In der DDR fanden u.a. auf Anstoß Christof ZIEMERs und unter starker Beteiligung politisch alternativer Gruppen zwischen 1988 und 1989 drei Ökumenische Versammlungen statt (vgl. SEIFERT 2000). <zurück>

28) "Dieses Konkurrenzdenken bzw. die Angst vor einer Dominanz einzelner Gruppen oder Führungspersönlichkeiten waren vor allem in Spannungen zwischen Gruppen aus der 'Provinz' und denen aus Berlin, aber auch zwischen diesen selbst spürbar. Sie verhinderten bis in den Herbst 1989 hinein ein konzertiertes Auftreten gegenüber dem Staat wie auch gegenüber der Öffentlichkeit" (OHSE 2010, S.93). <zurück>

29) Zur Umsetzung der ehrgeizigen Ziele auf dem Gebiet der Mikroelektronik wurde 1987 der Bau eines Reinstsiliziumwerkes in Dresden-Gittersee geplant. Ende 1988 bildete sich in der ansässigen Kirchgemeinde und durch den Ökologischen Arbeitskreis des Kirchenbezirkes entschiedener Widerspruch gegen die Verarbeitung dieser hochgefährlichen Substanzen. An einem Fürbittgottesdienst im April 1989 nahmen 3.000 Menschen teil. Ab Sommer 1989 formierten sich erste Demonstrationen, die von der Polizei gewaltsam beendet wurden. Zum letzten Fürbittgottesdienst erschienen 8.000 Menschen. Die letztlich erfolgreichen Proteste (ein Baustopp wurde erreicht) gegen dieses Bauprojekt verschmolzen mit den Ereignissen des Umbruchherbstes (vgl. BUTHMANN 2003). <zurück>

30) "Die Leipziger Montagsdemonstrationen und die oppositionellen Gruppen in Berlin, die jeweils im September 1989 Gestalt gewannen, waren die ersten Keime der sich formierenden Bewegung. Sie nahmen Linien vorweg, entlang derer sich der Protest später landesweit entfaltete. Die Entwicklungen in Leipzig und Berlin wurden dabei jeweils auf ihre Art strukturbildend für die Aktionen der Bürgerbewegung, die im Oktober durch Friedensgebete und Demonstrationen einerseits und die Gründung oppositioneller Gruppen andererseits Menschen in der ganzen DDR mobilisieren sollte" (TIMMER 2000, S.123f.). "Ebenso aber wie der Ausnahmefall Leipzig durch seine Sonderstellung eine Vorbildfunktion für die Friedensgebete und Demonstrationen einnahm, gewann das Dresdener Modell des Dialogs in dem Moment eine Signalwirkung, als Gespräche mit der Staatsmacht nach dem 18. Oktober auch in anderen Städten möglich wurden" (S.241). <zurück>

31) Das schließt den anderen Fall nicht aus – dass es gerade jene sind, die die "Gunst der Stunde" für Protest erkennen. Das Grundproblem bleibt, dass im Fall der Bewegungspionier/innen weder das Thema selbst noch die Infrastruktur institutionalisiert und nicht damit zu rechen ist, dass andere folgen. <zurück>

32) Alle mit "*" gekennzeichneten Namen und Ortsbezeichnungen wurden anonymisiert. Dies gehörte einerseits zu den Voraussetzungen, dass die Interviewpartner/innen zum Erzählen ihrer Lebensgeschichte bereit waren. Andererseits folge ich damit der Richtung des Aufsatzes, von konkreten zeitgeschichtlichen Einzelpersonen auf funktionale Schlüsselfiguren zu abstrahieren. <zurück>

33) Bezeichnung für die Jugendgruppen in evangelischen Kirchgemeinden. <zurück>

34) Gesellschaft für Sport und Technik (GST) – vormilitärische Jugendorganisation in der DDR. <zurück>

35) Freie Deutsche Jugend (FDJ) – größte Jugendorganisation in der DDR; die Nicht-Mitgliedschaft führte zu erheblichen Nachteilen im Bildungssystem. <zurück>

36) Zur Erläuterung der Transkriptionsregeln: "," bedeutet kurzes Absetzen; "(4)" bezeichnet die Dauer der Pause in Sekunden; "((hustet))" Kommentar des Transkribierenden; "nie", d.h. fette Markierung zeigt an, wenn etwas betont ausgesprochen wurde; "(…...)" der Inhalt der Äußerung ist unverständlich; "ja=ja" verweist auf den schnellen Anschluss zwischen zwei gesprochenen Wörtern. <zurück>

37) Zum Einfluss sozialer Netzwerke auf die Teilnahme in sozialen Bewegungen vgl. PASSY und GIUGNI (2001). <zurück>

38) So heißt es in einem Brief aus dieser Zeit: "Unser neues Objekt entsteht auf einem Gelände, dass uns in erschreckender Deutlichkeit mahnt, sich auf keinen Fall durch unsere scheinbare Erfolglosigkeit entmutigen zu lassen. Auf dieser Stelle fand 1945 die letzte große Kesselschlacht des Zweiten Weltkrieges statt. [...] Vorgesternnacht wurden neben einer Strasse in 40 cm Tiefe 3 Soldaten gefunden, nur noch Gerippe und Dienstgradabzeichen. [...] Vorige Woche 6 Leichen, die nicht mehr identifizierbar waren. Verblendete jungen Menschen, sinnlos in den Tod gejagt. Nach 22 Jahren werden sie wieder ausgegraben. Von wem? Von Soldaten!" (zit. nach KLUGE 2004a, S.81) <zurück>

39) Die Mentor/in-Protegé-Beziehung konkretisiert hier einen Typ sozialer Beziehungen, die generell in Form persönlicher Netzwerke für die Rekrutierung in soziale Bewegungen wichtig sind (vgl. SNOW & EKLAND-OLSON 1980; DIANI & McADAM 2003). <zurück>

40) Gemeint ist – das zeigt der Gesprächskontext – der Bürgerrechtler Martin LUTHER KING. <zurück>

41) Anonymisierung durch Ingrid MIETHE. <zurück>

42) "Konservierung" meint hier die Art und Weise, in der das Engagement rückblickend thematisiert wird. Veteran/in meint die aus dem (verdienstvollen) Engagement "Entlassenen"; Urgestein wiederum die immer noch Aktiven. <zurück>

43) Dieses Interview wurde als Zeitzeug/inneninterview im Rahmen der Arbeit des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk" geführt und dokumentiert. <zurück>

44) Exemplarisch für das Verhältnis vieler Aktivist/innen zu den Ausreiseantragssteller/innen sei Berit Max* zitiert: "als wir praktisch schon mordsmäßig Opposition gemacht haben da hatten wir richtig Wut auf die ganzen Ausreißer. /I:Mhmh/ Weil wir gesagt haben 'Die was soll denn das? Wir wir versuchen hier zu machen und die schwächen uns die hauen hier alle ab. Die sollen doch lieber mit uns zusammen /I:Mh/ die sollen doch lieber die Bewegung verstärken' (lacht) ne /I:Mh/ also das fand ich dann nur..also das fand ich sinnlos" (Berit Max, Z.631-636). <zurück>

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Zum Autor

Alexander LEISTNER hat Soziologie, Erziehungswissenschaft und Evangelische Theologie an der TU Dresden studiert. Er war Mitbegründer und zwischen 1998 und 2002 stellvertretender Vorsitzender des Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltfreiheit und Zivilcourage – Archiv der Bürgerbewegung Südwestsachsens. Zwischen 2004-2007 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Landtagsabgeordneten Elke HERRMANN. Seit 2007 promoviert er am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. In seiner Dissertation untersucht er Persistenzbedingungen für das Langzeitengagement in sozialen Bewegungen. Forschungsschwerpunkte sind: Soziologie sozialer Bewegungen, Biografieforschung, Soziologie der Gewalt, Rechtsextremismus.

Kontakt:

Alexander Leistner

Universität Leipzig
Institut für Kulturwissenschaften
Beethovenstr. 15
D-04107 Leipzig

Tel.:+49 (0)341 97 35 674
Fax: +49 (0)341 97 35 698

E-Mail: a.leistner@uni-leipzig.de
URL: http://www.uni-leipzig.de/~kuwi/bio_leistner.html

Zitation

Leistner, Alexander (2011). Sozialfiguren des Protests und deren Bedeutung für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen: Das Beispiel der unabhängigen DDR-Friedensbewegung [83 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(2), Art. 14, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1102147.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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