Volume 12, No. 3, Art. 22 – September 2011
Die Performativität der qualitativen Sozialforschung
Rainer Diaz-Bone
Zusammenfassung: In den letzten Jahrzehnten hat sich die qualitative Sozialforschung in den Sozialwissenschaften etabliert. Diese Etablierung ist institutionell und sozio-kognitiv sehr unterschiedlich erfolgt. Von Beginn an haben in der qualitativen Sozialforschung die Wissenschaftskritik, die Wissenschaftssoziologie und die methodologische Reflexion die Selbstbeobachtung bewerkstelligt. Lange stand dabei der Vergleich mit der quantitativen Sozialforschung im Mittelpunkt. In den letzten Jahren fokussiert die Selbstbeobachtung der qualitativen Sozialforschung zunehmend auf ihre eigenen Prozesse und Kriterien. Das Konzept der Performativität erscheint geeignet, diese Fokussierung der Selbstbeobachtung theoretisch zu fundieren. Es hat sich insbesondere in der Actor-Network Theory und den Social Studies of Finance als fruchtbares Konzept erwiesen, um die Analyse der Wissenschaftspraxis zu rekonstruieren. Der Artikel will das Performativitätskonzept einführen und die involvierten Dimensionen im Feld der qualitativen Sozialforschung aufzeigen. Es wird eine erweiterte Perspektive auf eine Soziologie der Sozialforschung entwickelt.
Keywords: Performativität; Soziologie der Sozialforschung; Paul Lazarsfeld; Herbert Blumer; Pragmatismus; qualitative Datenanalyse-Software
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die performative Methodologie des Pragmatismus
3. Performativität – Konzepte
3.1 Perfomativität und Stil
3.2 Performatitivät und Objekte
3.3 Performativität und Theorieeffekt
4. "Performativität" als integrierende Perspektive
1. Einleitung1)
In den letzten Jahrzehnten hat sich die qualitative Sozialforschung etabliert. Nachdem in den 1920er und 1930er Jahren erste methodische Ansätze der qualitativen und quantitativen Sozialforschung entwickelt worden waren, hatte sich insbesondere seit den 1940er Jahren zunächst die quantitative Sozialforschung als dominierende Methodenkultur weltweit institutionalisiert. Seit den 1970er Jahren – zunächst im Ansatz – dann in den 1980er und 1990er Jahren – nun als breite Wissenschaftsbewegung – hat sich die qualitative Sozialforschung ihren Platz zurückerobert und sich ebenfalls in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen etabliert. Die Wissenschaftsgeschichte der qualitativen Sozialforschung ist im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten auch eine Erfolgsgeschichte. Das ist die zeitgenössische Narration und soweit stimmt sie auch. [1]
Die qualitative Sozialforschung hat sich dabei in verschiedener Hinsicht etablieren können, institutionell und kognitiv. "Institutionell" bedeutet, dass sie an vielen sozialwissenschaftlichen Fakultäten über spezifisch ausgewiesene Positionen verfügt, dass sie in Ausbildungs- und Forschungsprogrammen etabliert ist. Eine institutionelle Etablierung hat die qualitative Sozialforschung auch außerhalb der Universitäten und außerhalb der wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen erfahren, wie in der kommerziellen Markt-, Medien- und Meinungsforschung (KÜHN, MARLOVITS & MRUCK 2004). "Kognitiv" bedeutet, dass die empirischen Fächer ihre Problemdefinitionen, ihre Forschungsprozesse und ihre Erklärungslogiken mit qualitativen Methodologien und Methodiken realisieren – wenn auch disziplinär in unterschiedlichem Ausmaß. Denn die Etablierung der qualitativen Sozialforschung ist in den verschiedenen Fächern sehr unterschiedlich erfolgt, in einigen Fächern hat sie immer noch einen eher marginalen Status, in anderen gilt sie als Feld mit einer Pluralität respektabler und eigenständiger Methodenkulturen. [2]
Lange hat sich die qualitative Sozialforschung in den Jahrzehnten ihrer Re-Etablierung an der quantitativen Sozialforschung sowohl vergleichend als auch kritisch absetzend orientiert. Bis heute sind quantitative Paradigmen in Disziplinen wie Ökonomie, Soziologie, Kommunikationswissenschaften oder Psychologie nach wie vor nicht nur dominierende, sondern auch einheitlichere Methodenkulturen als dies für die qualitative Sozialforschung gilt, wo man es mit einer Pluralität von koexistierenden Methodenkulturen zu tun hat. [3]
Diese größere Einheitlichkeit hat in der quantitativen Sozialforschung nicht nur möglich gemacht, dass es eine weitgehende Verständigung über die methodischen Standards gibt. Denn viel weitgehender vereinheitlicht sind hier auch die Vorstellungen über die Designs, über die Abfolge von Forschungsschritten, über die kontrollierte Kausalanalyse, über die Datenformen und die Datenanalysetechniken sowie über die Publikationsformen. Diese größere Einheitlichkeit hat auch etwas anderes früh auf den Weg gebracht, nämlich einmal den Versuch der Kanonisierung von Methoden und zum anderen die Forschung über Methodeneigenschaften, die heute mit dem Begriff der Instrumententheorie in der quantitativen Sozialforschung bezeichnet wird. Das von René KÖNIG herausgegebene Handbuch der empirischen Sozialforschung aus den 1970er Jahren ist ein frühes deutschsprachiges Beispiel sowohl für die Kanonisierung der Methoden als auch für die Systematisierung von Resultaten der Forschung über Forschungsmethoden. Der Vorläufer ist aber Paul LAZARSFELD, der seit den 1940er Jahren an der New Yorker Columbia University die Methoden der empirischen Sozialforschung zu entwickeln und zu systematisieren versucht hat, und der wohl der erste ist, der zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Idee einer Instrumententheorie entworfen und umgesetzt hat. Seine Tätigkeit ging noch einher mit der Perspektive, dass die verschiedenen Sozialwissenschaften letztlich auf der Grundlage einer unified science mit geteilten wissenschaftstheoretischen Grundlagen und einer einheitlichen Methodik möglich sein würden. [4]
Eingangs wurde erwähnt, dass die qualitative Sozialforschung sich auch vergleichend an der quantitativen Sozialforschung orientiert hat. Der Vergleich ist einmal affirmativ-legitimierend erfolgt, um zu zeigen, dass es in der qualitativen Sozialforschung jeweils Äquivalente für die Kriterien, Aufgabenbereiche und Leistungsfähigkeiten gibt, wie sie die quantitative Sozialforschung zunächst für sich definiert. Der Vergleich ist zum anderen auch kritisch-prüfend erfolgt, um zu zeigen, was die quantitative Sozialforschung nicht leisten kann, welche Defizite sie aufweist. Hier ist dann gefolgert worden, wo es unterschiedliche Leistungsfähigkeiten und Zuständigkeitsbereiche gibt, die der qualitativen Sozialforschung einen eigenen Platz in der sozialwissenschaftlichen Methodologie zuteilwerden lassen. [5]
Im entstehenden Feld der qualitativen Sozialforschung ist aber auch eine ganz andere Haltung zur quantitativen Sozialforschung radikal und früh formuliert worden. Spätestens mit dem Aufsatz "Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus" von Herbert BLUMER aus dem Jahr 1969, der so etwas wie die Unabhängigkeitserklärung der qualitativen Sozialforschung darstellt, wird der Bruch mit der quantitativen Sozialforschung und auch der Bruch mit der vergleichenden Orientierung an ihr postuliert (BLUMER 2004 [1969]). Für BLUMER sind die Agenda, die Methoden und die Instrumententheorie der quantitativen Sozialforschung nicht mehr länger als Bezug geeignet für die zu entwickelnde qualitative Sozialforschung. BLUMER sowie der von ihm auf der Grundlage des amerikanischen Pragmatismus entwickelte Symbolische Interaktionismus forderten grundlegend eine gegenstandsbezogene Entwicklung sozialwissenschaftlicher Methodologien, die die symbolvermittelte Interaktion und die bedeutungsstiftenden Praktiken ins Zentrum der Entwicklung von Methoden stellen sollten. Zugleich verzahnte BLUMER – und das ist hier von Bedeutung – die Handlungstheorie, die Erkenntnistheorie und die Wissenschaftstheorie des amerikanischen Pragmatismus in seiner neuen Methodologie. [6]
2. Die performative Methodologie des Pragmatismus
Was hier neu ist, das ist die methodologische Reflexion, die nicht einfach nur die Forschungsphasen über den ganzen Forschungsprozess integriert. Neu ist, dass die metaphysischen Fragen, die organisatorischen Fragen, die politischen Fragen, die kognitiven Fragen, die ästhetischen Fragen, die die Sozialforschung betreffen, die in der Praxis und durch diese aufgeworfen werden, nun in die methodologische Reflexion einbezogen werden und als Probleme der Sozialforschung anerkannt werden. BLUMER und nach ihm Howard BECKER, Anselm STRAUSS und Norman DENZIN entwickelten auf pragmatisch-interaktionistischer Grundlage eine neue Methodenkultur, die nicht nur eigenständig, weil im beschriebenen Sinne vollständig ist, sondern die vollständig ist, weil sie die gesamte Forschungspraxis als die Sphäre begreift, in der von der Arbeit an der Forschungsfrage bis hin zur Präsentation der Forschungsresultate eine Praxis vollzogen wird, die in sich kohärent sein muss und die eine Theorie – hier den Symbolischen Interaktionismus – nicht nur prüft, sondern die eine Theorie vollzieht, das heißt hier in der Forschungspraxis realisiert. Heute ist diese Methodenkultur des Symbolischen Interaktionismus bekanntlich eingegangen in die Grounded-Theory-Methodologie, welche also nichts anderes ist als die methodologische Weiterführung des Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus. [7]
Das bisher Eingeführte soll einmal fokussiert werden. Denn die pragmatische Fundierung des Symbolischen Interaktionismus und der Grounded-Theory-Methodologie bringt erstmals in die Sozialforschung eine Methodenkultur ein, die den praktischen Vollzug der Forschung nicht mehr auf eine Apriori-Methodik bezieht, die auch nicht mehr Teil einer Universalwissenschaft ist, sondern die das unmittelbare praktische Gelingen und die bisher bewährte praktische Erfahrung als einzige grundlegende Kriterien gelten lässt. John DEWEY hat diese Forschungslogik operational a priori genannt und damit betont, dass die Forschungsprozesse selbst die methodischen Grundlagen für die Forschung erarbeiten, ausprobieren, prüfen und stabilisieren müssen (DEWEY 2002 [1938], S.27f.). Der gelingende Vollzug in einer sozialen Umwelt und die praktische Relevanz der Forschung sind für den amerikanischen Pragmatismus die einzig validen Kriterien für die Qualität der Forschung. Diese Methodenkultur, die kein a priori akzeptiert, die den praktischen Vollzug und die praktische Relevanz der Forschung als Grundlage für ihre Selbstbeobachtung heranzieht, kann man aus heutiger Perspektive eine performative Methodologie nennen. Der amerikanische Pragmatismus in der Tradition von William JAMES, Charles Sanders PEIRCE und John DEWEY (NAGL 1998) hat den Begriff der Performativität selbst nicht prominent gemacht – er ist sozusagen eine Performativitätstheorie avant la lettre. Aber er weist bereits in klarer und radikaler Form Positionen auf, die heute mit dem Konzept der Performativität verbunden werden, und der amerikanische Pragmatismus unterliegt heute mehreren aktuellen Methodologien der Sozialforschung. [8]
Bevor auf den Pragmatismus als Position in der Sozialforschung zurückgekommen wird, sollen zunächst aktuelle Verwendungen des Performativitätskonzeptes inspiziert werden. Denn dieses Konzept zirkuliert seit etwas mehr als zehn Jahren nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in den Kulturwissenschaften (WIRTH 2002). Es geht hier um die Identifikation von Aspekten, die mit dem Konzept der "Performativität" verbunden sind, und um die Prüfung, inwiefern diese für die Sozialforschung wertvoll sein können. [9]
Die Kulturwissenschaften haben gerade auch an der Freien Universität Berlin prominente Beiträge geliefert – hier mit den Arbeiten der Theaterwissenschaftlerin Erika FISCHER-LICHTE (2001) oder der Sprachphilosophin Sybille KRÄMER (2001). Die Kulturwissenschaften beziehen sich ihrerseits auf die Arbeiten des Sprechakttheoretikers John AUSTIN, der in den 1950er und 1960er Jahren mit seinen unter dem Titel "How to do things with words" (1975 [1962]) publizierten Vorlesungen den Handlungs- und Vollzugscharakter von Sprechakten untersucht hat. Ernsthafte Aussagen in sozialen Situationen – eben die von AUSTIN sogenannten Sprechakte – sagen nicht nur etwas aus, worin ihr Aussageinhalt besteht, sondern sie sind zugleich Handlungen der Aussagenden, die diese auch verpflichten können, indem die Aussagenden durch die Performanz des Aussagens sich an den in der Aussage gemachten Aussageinhalt binden. Damit vollziehen sie oder "performen" sie eine Handlung. Konkret sagen sie etwas zu, sie versprechen etwas, vertreten die Richtigkeit der von ihnen behaupteten Sachverhalte usw. Worauf es hier ankommt ist, dass vor dem Sprechakt noch keine Handlung vorliegt und dass der Sprechakt nicht einfach nur eine Wiederholung vorsprachlicher Sachverhalte ist, sondern dass er ein Vollzug von Handlung mit Bindungswirkung ist. In diesem Sinne ist das Aussagen im Wortsinn das Performen von Ansprüchen. Die Aufmerksamkeit der Sprechakttheorie fokussiert dann einmal die Bedingungen und sprachlichen Formen, die berücksichtigt werden müssen, damit Sprechakte gelingen, und zum anderen untersucht sie auch die Auswirkungen eben dieser Performanzen. AUSTIN hat mit dieser Forschungsrichtung der Sprachwissenschaft eine pragmatische Wendung gegeben, indem er die Sprechakte als situative Handlungen interpretiert hat. John SEARLE (1983 [1969]) hat diese Forschungstradition fortgesetzt. [10]
Die sprachphilosophische Performativitätsforschung betont mit dem Konzept der Performanz, dass sprachliche Performanzen nicht einfach nur Realisierungen einer vorgängigen und tiefer liegenden Sprachstruktur sind, sondern dass es eben diese Performativität ist, die die Wirklichkeit der Sprache ausmacht und dass von hier aus Strukturen entstehen, die immer wieder aktualisiert und verändert werden (KRÄMER 2001). [11]
Die kulturwissenschaftliche Performativitätsforschung hat ebenfalls an AUSTIN angeschlossen und untersucht, wie die materialen Dimensionen der Zeitlichkeit, der Körperlichkeit, der Räumlichkeit und der Lautlichkeit die künstlerische Performanz mit realisieren, und wie man damit eine Analyse der ästhetischen "Dimensionen des Performativen" aufschlüsseln kann (FISCHER-LICHTE 2001). [12]
Im Mai 2008 ist ein Special Issue in FQS erschienen, das den Performative Social Sciences gewidmet ist (JONES et al. 2008). Hierin wird die Rolle medialer und insbesondere künstlerischer Darstellungs- und Präsentationsformen für die Sozialforschung verhandelt (siehe einleitend YALLOP, LOPEZ DE VALLEJO & WRIGHT 2008). In diesem Jahr ist dann erneut im Januar dieses Jahres in FQS ein Beitrag von Mary und Kenneth GERGEN erschienen, der die 2008 verhandelte Konzeption der Performativität fortsetzt (GERGEN & GERGEN 2011). [13]
Was ist nun die Stoßrichtung und der Gehalt dieser Performativitätsforschung, die sich um die Ästhetik bemüht? Warum ist die Frage der Ästhetik in der Sozialforschung relevant? Muss Sozialforschung und insbesondere qualitative Sozialforschung "schön sein"? Nur oberflächlich besehen geht es um ein randständiges Thema. Denn Ästhetik betrifft das Sinnenempfinden und allgemeiner die Wahrnehmung. Wissenschaftskollektive sind eben nicht nur "Denkkollektive", um ein Konzept von Ludwig FLECK (1980 [1935]) zu verwenden. Sie sind auch Kollektive, in denen die Evidenz von Erfahrung und damit die Anerkennung von Wissenschaftlichkeit durch eben diese medialen und rhetorischen Formen der Wissenspräsentation erst mobilisierbar werden. GERGEN und GERGEN (2011) verweisen hier unter anderem auf die Arbeiten von Deirdre McCLOSKEY. McCLOSKEY ist Ökonomin. Sie hat gezeigt, wie die Verwendung einer spezifischen nomologischen Metaphorik und statistischen Methodik in den Wirtschaftswissenschaften die Wissenschaftlichkeit auf rhetorischer Ebene organisieren hilft und den Wirtschaftswissenschaften damit ihr eigenes Selbstverständnis als rein empirische und objektive Wissenschaft ermöglicht, obwohl sie dafür – so McCLOSKEY (1985, 2009) – einen enormen rhetorischen Aufwand investieren muss. Die Untersuchungen zur ästhetischen Organisation von Wissenschaft setzen bekannte Ansätze aus der Geschichtswissenschaft und der Ethnologie fort. In der Geschichtswissenschaft hat Hayden WHITE in seinem Buch "Metahistory" (1991 [1973]) die verschiedenen Geschichtsschreibformen untersucht und versucht nachzuweisen, dass in der Schreibform der Disziplin sowohl ihr Gegenstandsverständnis als auch ihr Wissenschaftsverständnis nicht nur zutage treten, sondern organisiert werden. In der Ethnologie haben die Arbeiten von BERG und FUCHS (1993) zur so bezeichneten "Krise der ethnografischen Repräsentation" aufgezeigt, dass die ethnologischen Berichte nicht einfach Schilderungen der beforschten Kulturen fremder Ethnien sind, sondern ebenso eine Darstellung anderer Kulturen, in der das eigene Gegenstands- und Wissenschaftsverständnis so in die Darstellung einfließt, dass sie in beide Richtungen konstitutiv ist, in Richtung der Konstruktion des Gegenstandes und in Richtung der Konstruktion des Selbstverständnisses als Wissenschaft. Man könnte mit FLECK formulieren, dass Wissenschaftskollektive nicht nur Denkkollektive sind, sondern auch Schreibkollektive, also solche Gruppen, die eine gemeinsame Vorstellung davon realisieren, wie man Wissenschaft schriftlich verfertigen und schriftlich darstellen muss, wie man Resultate schriftlich, numerisch oder grafisch repräsentieren muss, damit sie als valide Resultate eben diesem Kollektiv als akzeptabel erscheinen. [14]
Diese Praxis ist kaum reflexiv in dem Sinne, dass ein Wissenschaftskollektiv sich tatsächlich für einen Schreibstil bewusst entscheidet. Wer heute in die Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten hineinschaut, wird davon nicht nur nichts nachlesen können, sondern im Gegenteil eher vor einem "Stil" gewarnt werden. Der Erwerb der Kompetenz für diese Praxis findet statt im Rahmen der Formierung des wissenschaftlichen Habitus als Teil des impliziten und praktischen Lehrplanes eines Wissenschaftskollektivs. Nicht nur FLECK, sondern auch Thomas KUHN (1973 [1962]), Diana CRANE (1972) oder Pierre BOURDIEU et al. (BOURDIEU, CAMBOREDON & PASSERON 1991 [1968]) haben hier die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung für die praktische Vermittlung der impliziten und vorreflexiven Elemente dieser Methodenkulturen beforscht und verdeutlicht. [15]
Es gibt noch einen zweiten Aspekt, den dieser Ansatz der Performativitätstheorie pointiert herausstellt. Die Frage nach der ästhetischen Organisation der Forschung ist auch eine nach der internen Kohärenz dieser Forschung, die eben durch die Kohärenz eines Forschungsstils realisiert wird. In den letzten Jahren wird diese Kohärenz der Methodenkultur zum Beispiel mit Konzepten wie dem der "epistemischen Kultur" beschrieben, wie das Karin KNORR CETINA (2002) unternimmt; man kann dies auch mit dem der Episteme bei Michel FOUCAULT beschreiben. In seiner wissenschaftshistorischen Studie "Die Ordnung der Dinge" (1971 [1966]) skizziert FOUCAULT, dass es verschiedene epochale kognitive Tiefenstrukturen in den Wissenschaften gibt, die er jeweils Episteme nennt und die für die Kohärenz des wissenschaftlichen Wissens verantwortlich sind. [16]
3.2 Performatitivät und Objekte
An der Schnittstelle zwischen Performativitätsforschung und Kognitionsforschung ist die Analyse zur Rolle der Objekte und Instrumente wegweisend geworden. Die Psychologen Donald NORMAN (1988) und Edwin HUTCHINS (1995) haben die psychologische Forschung aus dem Labor in natürliche Settings verlagert, um zu zeigen, dass der Vollzug der Kognition nicht auf individuelle Psychen beschränkt ist, sondern dass in realen Settings Kollektive aus Personen und Objekten solche Vorgänge prozessieren, die man als Kognition beschreiben kann und die HUTCHINS "distributed cognition" (1995) genannt hat. Die über viele Personen verteilte Kognition erfolgt objektgestützt, d.h., Objekte haben eine funktionale Rolle in der Organisation und Abarbeitung der Schritte des Kognitionsprozesses, und in das Design der Objekte gehen Formate ein, die diese verteilte Kognition ermöglichen. Das Beispiel, das HUTCHINS heranzieht, ist die Analyse der Navigation auf einem Kriegsschiff der US Marine. Er beschreibt, wie die Navigationsinstrumente mit ihren Skalierungen und optischen Eigenschaften die Positionsbestimmung formatieren, wie Seekarten die Repräsentation von Positionen und Bewegungen organisieren, wie auf der Schiffsbrücke an verschiedenen Stationen die einzelnen Beiträge zur Navigation räumlich und organisatorisch verteilt sind und wie diese im Prozess der Navigation so vernetzt werden, dass kontinuierliche Positionsbestimmungen möglich werden, die keine Einzelperson auf diesem Schiff allein kognitiv bewerkstelligen kann. Objekte wie Navigationsinstrumente und Seekarten sind für den Prozess der Navigation nicht einfach nur für die Seeleute unentbehrlich, und sie bringen die Navigation auch nicht einfach nur in eine Form. In der Interaktion mit Personen prozessieren, formatieren und dokumentieren Instrumente in einem Netzwerk diese Kognition, die nirgends ein echtes Zentrum hat, auch wenn es Hierarchien unter den Personen und unter den Instrumenten gibt, denen in diesem Netzwerk Handlungs- und Entscheidungsvermögen zugerechnet werden. Die ethnografischen Studien von HUTCHINS (1995) und NORMAN (1988) haben die alltägliche Performativität spezifischer Kognitionsformen zum Gegenstand. Diese performative Beteiligung der Objekte an der Kognition ist in verschiedenen Ansätzen auch für die Wissenschaften und die wissenschaftliche Praxis selbst rekonstruiert worden. Hier liegen mittlerweile interessante und viel beachtete Studien der Social Studies of Science, der Actor-Network Theory, der Accountingforschung und der Social Studies of Finance vor. Konkreter sind es zum Beispiel die Arbeiten von Bruno LATOUR (2007), Karin KNORR CETINA (2002), Herbert KALTHOFF (KALTHOFF & VORMBUSCH 2012) und Donald MacKENZIE (2008). [17]
Wenn die performative Bedeutung der Objekte betrachtet wird, dann ist für die Wissenschaftspraxis entscheidend, hier auch Methoden, wissenschaftliche Apparaturen und Forschungsinstrumente als Objekte ethnografisch und praxeologisch auf ihre performativen Eigenheiten hin in den Blick zu nehmen. Dies einmal daraufhin, wie in diese Instrumente sozialwissenschaftliche Theorien eingehen und wie die Instrumente damit zu wissenschaftlichen Vorkonstruktionen für die mit ihnen dann bewerkstelligte Forschungspraxis werden; dann zum anderen daraufhin, wie sich diese Instrumente als Vorkonstruktionen performativ auf die Datenkonstruktion und die Wissensorganisation sowie Wissensrepräsentation auswirken. Denn statistische Verfahren, Softwareprogramme, Klassifikationen, Fragebögen, Leitfäden und andere Instrumente sind epistemologisch nicht neutral. [18]
Diese Form der Performativität hat die französische Epistemologie von Gaston BACHELARD bis Michel SERRES seit den 1930er Jahren untersucht, und sozialwissenschaftliche Ansätze wie die Social Studies of Sciences (PESTRE 2006) oder die Arbeiten Pierre BOURDIEUs und seiner Mitarbeiter (BOURDIEU et al. 1991 [1968]) haben hier die performativen Eigenheiten der wissenschaftlichen Instrumente aufgezeigt. Diese Form der Performativität wird heute intensiv untersucht und ist gerade im Kontext des Berliner Methodentreffens Qualitative Forschung vielfach verhandelt worden (siehe exemplarisch DIAZ-BONE 2007). [19]
Dennoch soll auch ein konkretes Beispiel angeführt werden, nämlich das "KWALON-Experiment", dessen Resultate in diesem Jahr in FQS in verschiedenen Beiträgen vorgestellt wurden (EVERS, MRUCK, SILVER & PEETERS 2011). Hierbei wurden Entwickler/innen verschiedener Softwareprogramme für die qualitative Datenanalyse gebeten, ihre Programme auf einen gemeinsamen Datenkorpus anzuwenden und dabei eine vorgegebene Forschungsfrage zu verfolgen. Dieser Datenkorpus bezog sich auf die Finanzkrise in der Zeit zwischen 2008 und 2009. Zielsetzung war, in der Anwendung der Softwareprogramme sowohl die Vergleichbarkeit dieser Instrumente zu untersuchen als auch die Auswirkungen ihrer Verschiedenheiten. Ein Interesse war dabei genauer zu verfolgen, wie die Unterschiede der Softwarefeatures und die Unterschiede in der Softwareverwendung zu Unterschieden bei den Resultaten bei gleichem Datenkorpus und gleicher Fragestellung führten. Diese vergleichende Untersuchungsanalyse war damit ideal geeignet, die Performativität der Instrumente hervortreten zu lassen. Das KWALON-Experiment setzt in der qualitativen Sozialforschung die Reflexion auf die Instrumenteneffekte der qualitative Datenanalyse-Software fort, die seit den 2000er Jahren eingesetzt hat (KONOPASEK 2008; DIAZ-BONE & SCHNEIDER 2003). [20]
3.3 Performativität und Theorieeffekt
Eine weitere inhaltliche Konzeption von Performativität hat Michel CALLON (1998) formuliert. Das Forschungsfeld, in dem er die Performativität analysiert hat, ist die Wirtschaft. Sein Argument lautet, dass die Wirtschaftswissenschaft die Wirtschaft nicht einfach beobachtet und analysiert, sondern dass die Wirtschaft in die Wirtschaftswissenschaft eingebettet ist, und dass die Wirtschaftswissenschaft mit ihren Vorläufern seit einigen Jahrhunderten die reale Wirtschaft mit ihren Institutionen eingerichtet und ermöglicht hat. Die ökonomischen Akteure haben dabei den Vollzug der Ökonomie nach und nach in den ökonomischen Institutionen erlernt. Die moderne Ökonomie ist damit nicht spontan entstanden, sie ist wissenschaftsinduziert. Kurz formuliert: Die Wirtschaftswissenschaften performen die Wirtschaft. [21]
Eine Studie aus den Social Studies of Finance, die diesen Ansatz von Performativität herangezogen hat, soll hier vorgestellt werden. Sie ist von Donald MacKENZIE und Yuval MILLO (2003) unter dem Titel "Constructing a Market, Performing Theory: The Historical Sociology of a Financial Derivatives Exchange" publiziert worden. Die beiden Autoren haben die Bedeutung finanzwissenschaftlicher Theorien für die Entstehung der Chicagoer Optionsbörse untersucht. Der Optionshandel wurde bis in die 1970er Jahre in den USA nämlich durch die Aufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange Commission) nicht genehmigt. Der Status von Optionen und insbesondere ihre Preisermittlung schienen nicht begründbar zu sein. Optionshandel galt in den USA in der Finanzwelt lange als eine Art Glücksspiel, und es gab lediglich einen Schwarzmarkt dafür. In den späten 1960er Jahren entwickelten nun drei US-Finanzwissenschaftler, nämlich Fischer BLACK und die späteren Nobelpreisträger Myron SCHOLES und Robert C. MERTON, eine Theorie, die praktisch in einer Gleichung dargestellt werden kann, und die ihnen sachlich angemessen erschien, den Wert von Optionen zutreffend zu berechnen (vgl. MacKENZIE & MILLO 2003). Diese Finanzwissenschaftler drängten nun auch darauf, dass die Aufsichtsbehörde den Optionshandel zuließ und dass eine Börse für den Optionshandel ermöglicht wurde. Zusammen mit einigen Aktienhändlern bereits existierender Börsen mussten sie dann aber jahrelang Lobbyarbeit leisten. Nun war das zentrale Problem, dass die neue Formel im Feld der Börsenhändler und in der weiteren Finanzwelt selbst zunächst keine Akzeptanz fand: Die Finanzwelt war nicht bereit an deren Richtigkeit zu glauben. Nachdem Milton FRIEDMAN ein Gutachten für die SEC erstellt hatte, in dem er den volkswirtschaftlichen Nutzen einer Optionsbörse herausstellte, wurde die Gründung einer Börse möglich; 1973 wurde die Chicago Board Options Exchange (CBOE) dann auch gegründet. Das Problem war, dass anfangs kaum jemand Optionen kaufen oder verkaufen wollte. Zudem kamen die Händler auf dem Börsenparkett nicht mit der Formel zurecht, sie war zu komplex, und sie konnten damit auf dem Parkett nicht schnell genug umgehen, ja sie verstanden die Formel und die zugrunde liegende finanzwissenschaftliche Theorie eigentlich gar nicht. Die Finanzwissenschaftler führten dann nach Börsenschluss an den Abenden Schulungen durch und stellten den Händlern Tabellen zur Verfügung, mit denen sie zügig Optionspreise berechnen können sollten. Dennoch kam die Optionsbörse nicht ins Rollen, denn die durch die neue Formel berechneten Preise schienen den Händlern einfach nicht zu stimmen. Ein Händler geriet in Panik, als ihm die Formel deutlich zu hohe Preise für die ihm angebotenen Optionen zu berechnen schien. Denn die Angebotspreise waren zunächst viel niedriger, als sie der Formel zufolge hätten sein dürfen. Er rief einen der drei Finanzwissenschaftler an, der sich die Angebotspreise von dem Händler telefonisch durchgeben ließ. Dieser rechnete sie daraufhin mit seinen Kollegen an der University of Chicago durch und meldete dem Händler telefonisch zurück: "The model is right" (MacKENZIE & MILLO 2003, S.121). Die Finanzwissenschaftler waren fest davon überzeugt, dass die ökonomische Wirklichkeit noch nicht ganz zutreffend funktionierte, und die Händler vertrauten nun in diese Haltung der Finanzwissenschaftler. Die ganze Finanzwelt begann nach und nach, auf diese Formel zu setzen, und tatsächlich richteten sich dann auch nach und nach die empirischen Preise nach den mithilfe der Formel berechneten Preisen aus. [22]
MacKENZIE und MILLO (S.136f.) argumentieren, dass diese Konvergenz nichts anderes darstellt, als dass es der in eine Formel gegossenen Optionstheorie von BLACK, SCHOLES und MERTON allmählich gelang, den Optionshandel zu performen. [23]
Nun geht es hier nicht um die Performativität der Finanzwelt, aber die Studie von MacKENZIE und MILLO ist wegweisend geworden hinsichtlich der Betrachtung, wie empirische Wissenschaften – und die Finanzwissenschaften verstehen sich am Ende auch als solche – mit ihren Theorien, ihren Methoden und den von ihr geschaffenen Artefakten (wie Formeln) im Grunde eben nicht eine Empirie einfach beschreiben oder wissenschaftlich analysieren, sondern wie sie eine Empirie "machen". [24]
Eine Forschungsperspektive eröffnet sich, wenn man sich hieran anschließend die folgende Frage stellt: Wie performt die qualitative Sozialforschung in Bereichen wie Marktforschung, Organisationsentwicklung, Evaluation, Sozialarbeit, Politikberatung und anderen mit ihren Modellen die dortigen sozialen Praktiken? Und wann gelingt ihr das und wann nicht? Die Versozialwissenschaftlichung der westlichen Gesellschaften erfolgt nicht allein durch deren Verzifferung und die Performativität der quantitativen Sozialforschung, sondern zunehmend auch mithilfe der Praktiken der qualitativen Sozialforschung. Mit den Erfolgen ihrer Etablierung erzielt sie eben selbst diese Art performativer Effekte, die das Soziale in die qualitative Sozialforschung einbettet. Diese Perspektive anzusprechen macht denkbar, die von Paul LAZARSFELD in den 1960er Jahren entworfene Soziologie der Sozialforschung (vgl. LAZARSFELD 1962) auf eine performativitätstheoretische Grundlage zu stellen. Die Performativität der qualitativen Sozialforschung würde nun selbst zum Forschungsgegenstand. [25]
4. "Performativität" als integrierende Perspektive
Das Konzept der Performativität wird mit variierender Bedeutung und mit unterschiedlichen analytischen Interessen als Grundlage verwendet. Das zeigt die kurze Skizze. Gemeinsam ist diesen Konzepten aber eine Reihe von Positionen der Performativitätsperspektive:
Zunächst geht diese Perspektive davon aus, dass die Dimensionen und Kriterien der qualitativen Forschung nicht aus einer normativen Perspektive einer Apriori-Methodologie herzuleiten sind, sondern aus einer empirisch-pragmatischen Perspektive beurteilt werden – daraufhin wie gelingende und sich bewährende Forschung faktisch prozessiert.
Sie zeigt auf, nicht nur dass, sondern en détail wie die Forschungspraxis selbst eine Vernetzung von Instrumenten, kognitiven Formaten und kollektiven Praktiken ist, aus der die Forschungsergebnisse als eine Koproduktion dieser Elemente entstehen. In dieser Vernetzung konstituieren und stabilisieren sich aber auch wechselseitig Instrumente und Methoden, dann die Habitusformen und die kognitiven Formate, die Forschungsgegenstände und die Präsentationsformen. Hier steht nun die kritische Inspektion von Methodenkulturen an, ob in diesen diese wechselseitigen Kokonstruktionen wirklich kohärent aufeinander bezogen sind, oder ob eine nicht bewusste Übernahme von nicht kompatiblen Vorkonstruktionen anderer Methodenkulturen zu einer letztlich selbst inkohärenten Forschungspraxis führt. Ein Beispiel ist der Einsatz von Software für die qualitative Datenanalyse, die für Zwecke der Grounded-Theory-Methodologie entwickelt wurde. Wenn diese im Rahmen anderer Methodenkulturen zum Einsatz kommt – beispielsweise für eine Foucaultsche Diskursanalyse – dann stehen die Vorkonstruktionen, die sich in dieser Software materialisieren, der Entfaltung einer kohärenten diskursanalytischen Forschungspraxis nicht nur entgegen, sie bringen Instrumenteneffekte ein, die in die Generierung von Forschungsresultaten verzerrend eingehen. Das nun en détail zu rekonstruieren, wäre Aufgabe einer alternativen, weiter gefassten Instrumententheorie, die auf einer Performativitätsperspektive aufbauen könnte. Nur ein Ausblick: Ebenso kritisch wären Mixed-Method-Designs oder die Praxis der Triangulation performativitätstheoretisch zu prüfen. Auch die eklektische Kombination quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden übersieht diesen hier herausgestellten Vernetzungszusammenhang.
Die Performativitätsperspektive lässt auch Versuche nach der Entwicklung von Gütekriterien in der qualitativen Sozialforschung als fragliche Unternehmen erscheinen, wenn man sich an der klassischen Trias Objektivität-Reliabilität-Validität der Experimentalwissenschaften und an den quantitativen Messtheorien orientiert und nach Äquivalenten für die qualitative Sozialforschung sucht. Das Kriterium der Reliabilität etwa setzt eine spezifische Metaphysik des zu messenden Sachverhaltes voraus: nicht nur, dass er eine der Messung vorgängige epistemologische Realität hat, sondern auch, dass er über eine ihm eigene Stabilität verfügt. Das Kriterium der Validität ist für jede Forschung zwar selbstverständlich und dennoch zugleich aber eine Funktion der Kohärenz der Performativität der jeweiligen Forschungspraxis. Validität zu erzielen bedeutet nichts anderes als den Anspruch zu erheben, eine Theorieperspektive in eine Forschungspraxis von integrer Kohärenz überführt zu haben. Der Begriff Validität wird dann nichtssagend, wenn man ihn von dieser kohärenten Performativität ablöst. Qualitätskriterien müssen letztlich im Rahmen jeder Methodenkultur je spezifisch entwickelt und sie müssen auf den ganzen Prozess bezogen werden – von der Klärung, was warum den Status eines Problems hat, bis hin zur Präsentationsform von sogenannten Resultaten.
Die Performativitätstheorie macht aufmerksam auf die spezifischen und zu einem wesentlichen Teil praktischen und impliziten Forschungskompetenzen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erwerben müssen, wenn sie Teil eines Wissenschaftskollektivs werden wollen. Das ist bereits mit dem Konzept des Habitus angesprochen worden. Es scheint, dass qualitative Sozialforschung anders ausgebildet werden muss, als dies bisher noch häufig erfolgt, nämlich insbesondere so, dass Studierende "sehen lernen", welche Vorkonstruktionen sich in den Instrumenten materialisieren, und dass sie beurteilen lernen, wie diese Vorkonstruktionen mit dem eigenen Forschungsprojekt vereinbar sind. Vereinbarkeit beurteilen können heißt praktisch, dass solche Kompetenzen erworben werden müssen, die für die Entwicklung bzw. Zurichtung und Anpassung von Instrumenten erforderlich sind, die letztlich in einer Kompetenz zur Herstellung dieses Passungsverhältnisses kulminieren. Es gilt auch sehen zu lernen, wie die eigenen Vorkonstruktionen und die Investitionen in Passungen eingehen in die generierten Resultate, die eben nicht einfach nur "Daten" sind. Insbesondere für die qualitative Sozialforschung gilt, dass hier für jedes Forschungsprojekt diese Passungen und die Entwicklungen von Instrumenten je neu auf der Grundlage der verwendeten Theorie erfolgen müssen. Dies ist anders als in den Fächern, die über eine etablierte einheitliche kognitive Matrix verfügen. Was damit gemeint ist, soll am Beispiel der Wirtschaftswissenschaften erläutert werden. Hier gibt es bis heute ein Mainstream-Paradigma. Das ist die neoklassische Wirtschaftstheorie, die den Marktmechanismus und den homo oeconomicus als Modelle zugrunde legt und die seit dem 19. Jahrhundert eine mathematische Darstellungsform angestrebt hat, die sie letztlich seit den 1940er Jahren weltweit konsequent realisiert hat. Für die Wirtschaftswissenschaften ist evident, was die Ontologie der Ökonomie ist, wie die Struktur der wirtschaftswissenschaftlich relevanten sozialen Welt beschaffen ist. Hinzu kommt eine methodologische Basis – diejenige des methodologischen Individualismus – die zusammen mit Regressionstechniken eine geradezu idealtypische Passung aufweist. Hier passt alles für ein Fach zusammen: Weltsicht, Handlungsmodell, zugehörige Erklärungslogik und die verwendeten quantitativen Techniken. Die kognitive Matrix besteht aus diesem Arrangement und der durch dieses Arrangement zur Verfügung gestellten kognitiven Entlastung des Faches, denn hier gibt es keine ernsthafte Infragestellung dieses Arrangements, und Studierende können einfach eingeführt werden in diese kohärente Denkwelt. Sie müssen hier auch nicht mehr selbst über Passungen nachdenken – nachdem die Wirtschaftswissenschaften Jahrhunderte Zeit hatten, die einheitliche kognitive Matrix zu etablieren, die wie eine Infrastruktur für die Evidenz immer schon zur Verfügung steht. Jedes wirtschaftswissenschaftliche Problem lässt sich in Gleichungsform darstellen und regressionstechnisch bearbeiten, oder es ist kein wirklich wirtschaftswissenschaftliches Problem. Absolvierende der Wirtschaftswissenschaften sind selten verunsichert darüber, wie sie ihre Forschung anlegen sollen, denn dieses Fach stattet seine Absolvent/innen mit einem Forschungshabitus aus, der kaum epistemologische Zweifel kennt. Die Welt ist hier strukturell so verfasst, dass die Gleichungen sie angemessen beschreiben. Daten sind einfache Abbildungen dieser Welt. Regressionen sind der richtige Weg, um Probleme zu modellieren und wissenschaftliche Fragen zu beantworten. Ähnliches kann man wohl für die Experimentalpsychologie und ihre Absolvent/innen diagnostizieren, hier sind es dann Varianzanalysen und Strukturgleichungsmodelle anstelle von Regressionstechniken, die Teil der kognitiven Matrix der Experimentalpsychologie sind. Anders in der qualitativen Sozialforschung, die nicht zufällig eher in solchen Fächern etabliert ist, die nicht oder nicht mehr über eine solche kognitive Matrix verfügen. Die Absolvierenden wissen, dass ihr Fach die Selbstverständlichkeit einer einzigen kognitiven Matrix nicht zur Verfügung stellt und dass sie sich in einer von mehreren möglichen Methodenkulturen bewegen, in der sie je erneut die Passungen herstellen müssen, die eine kohärente Forschungspraxis ermöglichen. Ihr Habitus muss eine gewisse Robustheit aufweisen, denn sie müssen eine kontinuierliche Herstellungsarbeit in ihrer eigenen Praxis mitlaufen lassen, die die epistemologischen Probleme kontinuierlich nicht in Zweifel, sondern in gelingende Passungen überführt.
Die Performativitätsperspektive bringt eine weitere Position ein, die hier besonders relevant zu sein scheint und die auch bereits angedeutet wurde. Sie kann eine alternative Grundlage für eine Soziologie der Sozialforschung sein, die Sozialforschung nicht zerteilt in voneinander abgetrennte Zuständigkeitsbereiche wie Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Methodologie, Methodenlehre, Instrumententheorie usw. Stattdessen betrachtet sie das, was hier Methodenkulturen genannt wurde, daraufhin, wie vollständig und kohärent sie selbst alle diese Bereiche implizit oder explizit praktisch ausarbeitet, und sie rekonstruiert interpretierend, wie aus dem Wie dieser Praxis Erklärungen für die Leistungsfähigkeit einer Methodenkultur zu entwickeln sind. [26]
1) Der vorliegende Text geht auf die Mittagsvorlesung vom 15.07.2011 während des 7. Berliner Methodentreffens Qualitative Forschung an der Freien Universität Berlin zurück. Siehe für eine Ausarbeitung einiger der Argumente zur Performativität der Sozialforschung DIAZ-BONE (2010). <zurück>
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Rainer DIAZ-BONE, Dr. phil., Dipl. Soz.-Wiss., 1991 bis 1996 Studium der Sozialwissenschaft (Schwerpunkt: angewandte Sozialforschung) an der Ruhr-Universität Bochum, von 1996 bis 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH), 2002 bis 2008 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie an der Freien Universität Berlin im Lehrgebiet "Empirische Methoden und Statistik", seit 2008 o. Professor für Soziologie an der Universität Luzern mit dem Schwerpunkt qualitative und quantitative Methoden.
Forschungsschwerpunkte: angewandte Diskursanalyse und Epistemologie, empirische Kultur- und Sozialstrukturanalyse, Wirtschaftssoziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung, Wissenschaftstheorie, sozialwissenschaftliche Statistik und Netzwerkanalyse.
Rainer DIAZ-BONE hat in FQS bereits die Sammelbesprechungen Entwicklungen im Feld der foucaultschen Diskusanalyse und Was ist der Beitrag der Diskurslinguistik für die Foucaultsche Diskursanalyse?, die Artikel Milieumodelle und Milieuinstrumente in der Marktforschung, Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse und Die französische Epistemologie und ihre Revisionen, den Review Essay Gibt es eine qualitative Netzwerkanalyse? sowie die beiden Interviews Operative Anschlüsse: Zur Entstehung der Foucaultschen Diskursanalyse in der Bundesrepublik. Jürgen Link im Gespräch mit Rainer Diaz-Bone und Kritische Diskursanalyse: Zur Ausarbeitung einer problembezogenen Diskursanalyse im Anschluss an Foucault. Siegfried Jäger im Gespräch mit Rainer Diaz-Bone veröffentlicht. Er ist Mitherausgeber der FQS-Schwerpunktausgabe 8(2) "Von Michel Foucaults Diskurstheorie zur empirischen Diskursforschung. Aktuelle methodologische Entwicklungen und methodische Anwendungen in den Sozialwissenschaften"; siehe auch eine Liste der Veröffentlichungen in FQS.
Kontakt:
Prof. Dr. Rainer Diaz-Bone
Soziologisches Seminar
Universität Luzern
Frohburgstrasse 3
CH-6002 Luzern
Tel.: + 41 41 229 5559
E-Mail: rainer.diazbone@unilu.ch
URL: http://www.rainer-diaz-bone.de/, http://www.unilu.ch/deu/prof.-dr.-rainer-diaz-bone_300843.html
Diaz-Bone, Rainer (2011). Die Performativität der qualitativen Sozialforschung [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(3), Art. 22,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1103227.