Volume 13, No. 1, Art. 13 – Januar 2012
Die Kunst des forschenden Handelns
Alexa Maria Kunz, Tilo Grenz & Paul Eisewicht
Tagungsbericht:
3. Fuldaer Feldarbeitstage, ausgerichtet von den Sektionen "Wissenssoziologie" und "Professionssoziologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kooperation mit der Hochschule Fulda – Fachbereiche "Sozial- und Kulturwissenschaften" und "Pflege und Gesundheit", 2.-3.6.2011, Fulda
Zusammenfassung: Die 3. Fuldaer Feldarbeitstage im Zeichen der von Anne HONER erarbeiteten lebensweltanalytischen Ethnografie gaben einen breiten Einblick in aktuelle Forschungsfelder und Herausforderungen ethnografischer Forschung. Auf Grundlage der vielfältigen Fragestellungen, die wir als dreiköpfiges Team in vollem Umfang auf der Tagung mitverfolgen und dokumentieren konnten, scheint uns die Schlussfolgerung angemessen, dass in der sogenannten qualitativen Forschung – explizit wie implizit – zwei unterschiedliche Epistemologien des Lebensweltbegriffes vorliegen, d.h. grundverschiedene Verständnisse von Welt als entweder einer subjektiven Konstitutionsleistung oder aber als einem sozialen Gebilde, die entsprechend unterschiedliche methodisch-methodologische Konsequenzen für das forschende Vorgehen zeitigen.
Keywords: lebensweltanalytische Ethnografie; Ethnografie; Wissenssoziologie
Inhaltsverzeichnis
1. Die 3. Fuldaer Feldarbeitstage
2. Das Programm der lebensweltanalytischen Ethnografie
3. Zwischen Tangotanzen und Policyforschung: Die Tagungsbeiträge im Überblick
3.1 (Neue) Forschungsfelder für die LWAE (Track 1)
3.2 Methodische Potenziale und Grenzen der LWAE (Track 2)
3.3 Fundamentale Herausforderungen der LWAE (Track 3)
4. Der Blick auf das Eigene – der Blick auf das Andere: Eine Systematisierung der Tagungsbeiträge
4.1 Der Blick auf das Eigene
4.2 Der Blick auf das Andere
5. Forschungspraktische Fragen im Fokus
6. Abschließende Bemerkungen
Zu den Autoren und zur Autorin
1. Die 3. Fuldaer Feldarbeitstage
Donnerstag, der 2. Juni 2011: ein sonniger Donnerstag, an dem sich 39 Tage nach Ostersonntag in vielen deutschen Kirchengemeinden Menschen zusammenfinden, um mit Prozessionen den christlichen Feiertag "Christi Himmelfahrt" zu zelebrieren. So auch in der 65.000-Einwohner/innen-Stadt Fulda, wo sich am Morgen Gemeindemitglieder treffen, um durch die kopfsteingepflasterten Straßen des osthessischen Bischofssitzes zu ziehen: Fenster sind mit Blumen geschmückt, es riecht nach Weihrauch, und Klänge einer Blaskapelle wechseln sich mit Gebetssprüchen ab. Am Rande dieser Szenerie kommen Menschen einer ganz anderen Community zusammen, um ebenfalls ein für sie besonderes Ereignis zu begehen: die Fuldaer Feldarbeitstage, diesmal ganz im Zeichen des 60. Geburtstags von Anne HONER und dem von ihr entwickelten Ansatz der lebensweltanalytischen Ethnografie (im Folgenden LWAE) stehend. Auf dem Campus der Hochschule Fulda, wo die Sektionen Professions- und Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Kooperation mit und auf Einladung der Fachbereiche "Pflege und Gesundheit" sowie "Sozial- und Kulturwissenschaften" die Veranstaltung ausrichten, sind Büchertische aufgebaut, es riecht nach Kaffee, und ein ständiges Murmeln füllt Flure und Räume. Rund 150 Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen verwandeln mit ihrer Teilnahme an dieser nunmehr zum dritten Mal stattfindenden Veranstaltung den Campus in eine Hochburg der deutschsprachigen Feldforschenden. Auch Anne HONER selbst, die sich seit Februar 2009 im "Wachkoma" befindet,1) zählt dank der tatkräftigen Unterstützung von Pflegekräften aus dem Haus Königsborn zu den Anwesenden. Die einleitenden Worte der Eröffnungsredner/innen gelten entsprechend besonders ihr persönlich – als Jubilarin ebenso wie als Urheberin der Feldarbeitstage,2) aber vor allem auch als umtriebiger Feldforscherin. [1]
Mit Einblicken in verbindende Erlebnisse aus Arbeit und Freizeit mit Anne HONER eröffneten denn auch Simone KREHER (Hochschule Fulda) und Helma BLESES (Hochschule Fulda) die Tagung. In seinem vom Publikum begeistert aufgenommenen Beitrag unterstrich Heinrich BOLLINGER als Dekan des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda HONERs hohe Kompetenz in Forschung und Lehre, in der sie sich stets als durch und durch Professionelle und im wahrsten Sinne des Wortes als "meisterhaft" Lehrende auszeichnete. Als Medizinerin wie auch als Freundin erlaubte Annette GREWE (Hochschule Fulda) einen Blick auf die Ereignisse, die bei Anne HONER zum Wachkoma geführt haben, wobei sie nicht zuletzt das Unwissen und die Unsicherheit über diesen und ähnliche Zustände unterstrich, die auch im Lauf der Tagung Gegenstand mehrerer Vorträge (vor allem in Track 3 der Tagung, siehe dazu Abschnitt 3) werden sollten. Christian SCHRADER hieß in seinem Amt als Vizepräsident die Gäste im Namen der Hochschule Fulda herzlich willkommen und veranschaulichte das forschungsorientierte Profil der stark wachsenden Einrichtung. Reiner KELLER (seinerzeit Universität Koblenz-Landau, jetzt: Universität Augsburg), der für die DGS-Sektion Wissenssoziologie sprach, nahm die Veranstaltung zum Anlass, Anne HONER für ihre Verdienste als Mitglied in den jüngst gegründeten Sektionsrat aufzunehmen. Als Vorsitzende der Sektion Professionssoziologie, deren Vorstandsmitglied Anne HONER seit der Sektionsgründung gewesen ist, begrüßte Michaela PFADENHAUER (Karlsruher Institut für Technologie) ebenfalls die Gäste. Unter dem Titel "Anne auf dem Amt" verlas PFADENHAUER, langjährige Weggefährtin HONERs, zwei bisher unveröffentlichte Feldnotizen und leitete damit den dezidiert der Feldforschung zugewandten Teil der Tagung ein: Ebenso unterhaltsam wie anschaulich wurde einsichtig, mit welch geschultem Blick für die Details sozialer Situationen, aber vor allem mit welch hohem Reflexionsgrad und welcher Sensibilität für die eigene Rolle im Feld – kurz: mit welch inkorporierter ethnografischer Haltung – HONER Soziologie betrieben hat. Nach organisatorischen Hinweisen von Norbert SCHRÖER (Hochschule Fulda), der stellvertretend für das hervorragende Organisationsteam sprach, galt es für die Teilnehmenden, zwischen drei parallel angebotenen Tracks zu entscheiden, innerhalb derer an zwei Tagen ausgehend von 30 Vorträgen ausgiebig über empirische und theoretische Gewinne ethnografischer Zugänge diskutiert wurde. Gerahmt wurde die Tagung durch Vorträge von Hans-Georg SOEFFNER (Konstanz) am Abend des ersten Tages und Hubert KNOBLAUCH (TU Berlin) zum Abschluss der Feldtage (siehe dazu Abschnitt 4). [2]
2. Das Programm der lebensweltanalytischen Ethnografie
Epistemologisch lässt sich das Interesse der Forschung mit und nach der LWAE mit einer bekannten mundanphänomenologischen Grundannahme fundieren: "Das Festhalten an der subjektiven Perspektive ist die einzige, freilich auch hinreichende Garantie dafür, daß die soziale Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt wird, die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat" (SCHÜTZ nach SPRONDEL 1977, S.65f.). Anne HONER, die, vereinfacht gesagt als "Erfinderin" einer Ethnografie gelten kann, welche konsequent an diesem subjektiven Erleben ansetzt, hatte selbst an prominenter Stelle diese überzeugte Äußerung von Alfred SCHÜTZ gegenüber Talcott PARSONS zitiert (HONER 1993, S.47). Es ist ausdrücklich diese Position, die HONER von SCHÜTZ' Mundanphänomenologie übernahm und zur Grundannahme der "lebensweltlichen" bzw. der "lebensweltanalytischen Ethnographie" machte.3) In empirischer Hinsicht kann die LWAE insbesondere als ein gegenwartsangemessener bzw. "modernisierungssensibler" (HITZLER 1999) Forschungsansatz verstanden werden. Westliche Gegenwartsgesellschaften, die ihrer stabilen Ordnungsmuster (sozialstrukturell) und Sinnangebote (mental) verlustig gegangen sind, kennzeichnet eine Existenz, die Benita LUCKMANN als "multi-world existance of modern man" (1978, S.284) ausgewiesen hatte. HONER zeigte im Anschluss an diese Grundlegung am Beispiel der Bodybuilder (1983, 1985) und Heimwerker (1993), inwiefern engagierte Feldforschung schlichtweg notwendig ist, um jene kleinen "sozialen Lebens-Welten" (HITZLER & HONER 1988, S.497) – als typisch modernes Phänomen – und den heutigen Alltag angemessen zu verstehen. Den lebensweltanalytischen Ansatz kennzeichnet HONER dadurch, dass mit ihm
"möglichst viele und vielfältige aktuelle und sedimentierte Äußerungs- und Vollzugformen einer zu rekonstruierenden (Teil-) Wirklichkeit erfasst und zur Interpretation verfügbar gemacht werden sollen, vor allem aber dadurch, dass die 'Innensicht' des/der normalen Teilnehmenden an einem gesellschaftlich-kulturellen Geschehen wenigstens näherungsweise verstanden und nachvollziehbar gemacht werden soll. Nach Möglichkeit soll deshalb eine solche lebensweltliche Forschung methodenplural durchgeführt werden, damit die einzelnen Verfahren sich wechselseitig ergänzen und 'kritisieren' können. Zugleich ist eine existenzielle Perspektivenübernahme durch die Forschenden anzustreben, d.h. sie sollten idealerweise zu beobachtenden Teilnehmenden der thematisierten 'sozialen Veranstaltung' werden. Programmatisch – und sozusagen als Forschungsideal – meint 'lebensweltliche Ethnographie' also die Verknüpfung von praktischen Insidererfahrungen mit feldrelevanten Daten aller Art" (HONER 2011, S.143f.). [3]
Derart wird das von HONER so bezeichnete "existenzielle Engagement" des/der Forschenden im Feld grundlegend für das Verständnis typischen Erlebens in der heutigen Gesellschaft. Das Verständnis der Perspektive der Akteure im Feld kann demnach nur dadurch näherungsweise geleistet werden, wenn Forschende versuchen, die Welt quasi durch die Augen der im Feld engagierten Teilnehmer/innen zu sehen. [4]
3. Zwischen Tangotanzen und Policyforschung: Die Tagungsbeiträge im Überblick
Obwohl die im Rahmen der Feldarbeitstage präsentierten Tracks bewusst offen gehalten wurden und eine große Breite an Themen abdeckten, ließen sich für die Zuhörer/innen durchaus drei unterschiedliche Akzente ausmachen:
Die Vorträge im ersten Track thematisierten vorwiegend die Frage, wie die LWAE für bisher nicht "aufgestoßene" Forschungsfelder und Ansätze fruchtbar gemacht werden könne (z.B. in POFERLs Beitrag zur Kosmopolitisierungsforschung oder in STEGMAIERs Beitrag zur Policyforschung).
Fragen hinsichtlich der Methoden und Methodologie – also nicht zuletzt nach Potenzialen und Grenzen der LWAE – einten vielfach die Vorträge des zweiten Tracks (z.B. in Bezug auf "mobile" Erhebungsverfahren bei KUSENBACH oder zur Bedeutung autoethnografischer Daten bei ZIFONUN).
Im dritten Track wurden insbesondere Forschungen zusammengeführt, bei denen die elementare Vorannahme der Mitmenschlichkeit bzw. Intersubjektivität für die LWAE zur klärungsbedürftigen Frage wird (z.B. beim wachkomatösen, hirngeschädigten oder dementen Gegenüber in den Vorträgen von HITZLER, EBERLE und REBITZKE sowie BEER und KELLER). Thematisch daran anschließend wurde ebenfalls diskutiert, welche materialen Kontexte eine Rolle für die Konstitution von Sozialität spielen (z.B. beim Tangotanzen in LITTIGs oder beim Webcam-Sex in BOLLs Beiträgen). [5]
Bevor wir in Abschnitt 4 eine Ordnungsidee vorstellen, die sich um eine Systematisierung der durchaus unterschiedlichen ethnografischen Forschungsweisen bemüht, wie sie im Rahmen der drei – eher thematisch orientierten – Tracks präsentiert wurden, wollen wir die Möglichkeit nutzen, sämtliche Beiträge zumindest in ihren zentralen Aspekten anzuführen und damit die thematische Breite der Veranstaltung wiederzugeben. [6]
3.1 (Neue) Forschungsfelder für die LWAE (Track 1)
Dass Räume nur zur Anschauung gebracht werden könnten, ja: müssten, weil sie uns visuell vorgegeben sind und sich damit grundlegend der schriftlichen Erfassung entzögen, war der Ausgangspunkt Werner NOTHDURFTs (Hochschule Fulda). Für die Erfassung von Räumen eigne sich also nicht nur der Einsatz von Video, sondern er werde sogar zwingend erforderlich. Dabei wurde auf die Möglichkeiten des "dichten Zeigens" (MOHN 2008) Bezug genommen, was am Beispiel eines Videoclips über eine Damentoilette verdeutlicht werden sollte. Anschließend wurde allerdings problematisiert, ob es sich hier tatsächlich um "dichtes Zeigen" oder nicht doch um scripted reality handele, da die vorgeführten Aufnahmen eher als einem bestimmten Plan folgende Kurzfilme konzipiert waren. [7]
Was Kinder in sogenannten "pädagogikfreien Räumen im Pädagogikraum der Schule" tun, war für Maude HIETZGE (Universität Gießen) der Ausgangspunkt für die Frage nach Körperwissen (von Kindern), das sie mittels Videoaufzeichnungen von Pausenhofgeschehen zu erfassen versucht. Über "Meta-Aktionen" in Form von "agierten (nicht-sprachlichen) Kommentaren" würden die Kinder ihre Lebenswelt reflektieren. Kritisch diskutiert wurde, ob mit diesem Ansatz überhaupt ein Zugang zur Weltsicht – in diesem Fall der von Kindern – möglich ist. [8]
Angelika POFERL (Hochschule Fulda) schlug eine Kombination von LWAE und Kosmopolitisierungsforschung (v.a. nach BECK 2004) vor. Während Erstere die (fortwährende) Herstellung von Gewissheiten im alltäglichen Hier und Jetzt der Menschen betont, geht es der Zweiten um die den Menschen auferlegten strukturellen Risiken, d.h. Ungewissheiten. Durch die LWAE könnten, so POFERL, die subjektiven Wahrnehmungen "existenzieller Verunsicherungen" herausgearbeitet werden. [9]
Nach langjähriger Feldforschung, v.a. im frankofonen Westafrika, bestätigte Gudrun LACHENMANN (Universität Bielefeld), dass heutige Ethnografien ausländischer Kulturen nach wie vor aus einer westlichen Sicht heraus erfolgten. Die "Konstruktion des globalen Südens durch den Norden als 'andere'" (als arm, exotisiert, mystifiziert usw.) werde zudem von der Fehlannahme begleitet, kulturelle Kontexte ließen sich heute noch klar umgrenzen. Dem stellte LACHENMANN die Forderung nach einer global ethnography (BURAWOY 2001) entgegen, welche auf die notwendige "Verwischung" der Grenzen zwischen dem "uns" und dem "Fremden" hinweise. [10]
Volker HINNENKAMP (Hochschule Fulda) setzte sich aus linguistischer Perspektive mit der Mehrsprachigkeit türkischer Jugendlicher in Deutschland auseinander. An "kleinen Erzählungen" im Alltag veranschaulichte er, wie diese Jugendlichen auf kreative, kunstvolle und v.a. kompetente Weise eine sprachliche bricolage erzeugten. Er plädierte dafür, diese "lebensweltliche Vielsprachigkeit" als ein aufschlussreiches, bisher allerdings vernachlässigtes Forschungsfeld der Integrationsforschung zu berücksichtigen und auszubauen. [11]
Wie bewerten Frauen mittleren bis höheren Alters jene Karrieren, die durch Abbrüche, Unterbrechungen, also "Nonlinearität" gekennzeichnet sind? Dieser Frage ging Elisabeth SCHILLING (Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Köln) in Interviews und Beobachtungen von Arbeitnehmerinnen in ihren alltäglichen Arbeitskontexten nach. In der Diskussion wurde v.a. die Andeutung SCHILLINGs aufgegriffen, dass ihre eigene Karriere zunehmend von den Interviewpartnerinnen in den Gesprächen thematisiert worden sei, denn dieser Rollenwechsel im Interviewkontext bedürfe zwingend einer methodologischen Reflexion. Ein zentraler Diskussionspunkt war insofern, ob mit einem solchen Vorgehen tatsächlich die Weltsicht der Anderen oder nicht eigentlich die eigene "gefunden" werden könne. [12]
Welcher Zugang zum Wissen von Kindern gefunden werden kann, reflektierten Simone KREHER (Hochschule Fulda) und Eva MARR (Netzwerk für soziale Dienste Salz) am Beispiel von Forschungen über schulische und familiale Alltagswelten. Beide Welten brachten im Zuge der Forschung wechselseitige Einsichten in den jeweils anderen Ausschnitt der Alltagswelt, wobei KREHER und MARR betonten, dass jede kindliche Lebenswelt ganz eigene Zugänge, Methodenreservoirs und Auswertungsmethoden erfordere. [13]
Diana LENGERSDORF (TU Dortmund) problematisierte aus praxistheoretischer Perspektive die Erforschung subjektiven Erlebens, weil hier unzulässigerweise im Voraus die Existenz eines Akteurs bzw. einer Person unterstellt würde. Vor diesem Grundproblem beschrieb LENGERSDORF, wie sich Akteursgruppen mit typischen Eigenschaften aus der Verkettung verschiedener Praktiken erst ergeben und erklären lassen, die wiederum mit der materialen Ausstattung des Feldes konstitutiv verwoben seien. Sie veranschaulichte dieses Argument am Beispiel männlicher IT-Programmierer. [14]
Welche impliziten Integrationsbegriffe "kommunale Expert/innen" besitzen, war das Forschungsinteresse hinter der grounded theory von Almut ZWENGEL (Hochschule Fulda). Anhand dreier Beratungssituationen im Kontext beruflicher Integrationsmaßnahmen rekonstruierte sie die Perspektive der Beratenden, welche sie mittels des leitfadenorientierten Expert/inneninterviews mit narrativen Sequenzen erhoben hatte. [15]
Peter STEGMAIER (University of Twente) fragte in seinem Vortrag nach den Möglichkeiten der gemeinsamen Bereicherung von LWAE und Policyforschung. Hierfür gab er einen Einblick in die Policyforschung, bei der sich Forscher/innen unterschiedlichster Disziplinen bereits stark selbst in die "intermediäre Arbeit" einbrächten, Forschung und Job miteinander kombinierten und die eigene Erfahrung – allerdings bisher nach dem analytischen Verständnis der LWAE unsystematisch – reflektierten. [16]
3.2 Methodische Potenziale und Grenzen der LWAE (Track 2)
Ausgehend von einer persönlichen Anekdote über ein Seminar, das Darius ZIFONUN (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) als Student bei Anne HONER besucht hatte, eröffnete dieser den zweiten, vor allem den Methoden und der Methodologie der lebensweltlichen und lebensweltanalytischen Ethnografie gewidmeten Tagungsstream. Im Anschluss an HONERs Ausführungen zum Erkenntnispotenzial subjektiver Erfahrungen plädierte ZIFONUN für ein "autoethnografisches Vorgehen" als einzige Möglichkeit zur Erfassung der komplexen Verweisungsstrukturen subjektiver Erfahrungen – auch und gerade unter Einbezug emotionaler Aspekte, frei nach dem Motto (wie es sich in Anne HONERs Feldnotizen aus der Amtsstube finden lässt): "Hier sind Emotionen in Wallung". [17]
Berthold OELZE (Universität Passau) trat mit seiner "Einbeziehung der Erste-Person-Perspektive in der phänomenologischen Sozialforschung" vehement für eine unmittelbar an HUSSERL anschließende Phänomenologie ein und mündete mit seinem Plädoyer in die anschließend kontrovers diskutierte These, Phänomenologie könne immer dann Sozialforschung sein, wenn sie sich mit sozialen Phänomenen beschäftige, wobei mit dem von HUSSERL bereitgestellten Instrumentarium nicht lediglich Selbst-, sondern auch Fremderforschung betrieben werden könne. [18]
Im Rekurs auf ein Projekt zu Spielautomatenspieler/innen entfaltete Jo REICHERTZ (Universität Duisburg-Essen) sein Verständnis einer lebensweltanalytischen Ethnografie, die sich gegenüber anderen Ethnografien durch ihre spezifische Verstrickung zwischen vollständiger Einlassung auf das Feld und "freischwebender Beobachtung" des Feldes auszeichne – ein Dilemma, zu dessen forschungspragmatischer Lösung er selbst für eine Kombination aus beobachtender Teilnahme und teilnehmender Beobachtung sowie deren hermeneutischer Interpretation plädierte. Daran anknüpfend wurde kritisch diskutiert, ob ein hermeneutisches Vorgehen tatsächlich angemessen für derart unterschiedliche Forschungsmodi sei und inwiefern aus beobachtender Teilnahme gewonnene Daten nicht vielmehr einen phänomenologisch orientierten Interpretationsmodus verlangten. [19]
Katja HERICKS (Universität Tübingen) lieferte mit der Reflexion einer von ihr in einem großen deutschen Unternehmen durchgeführten ethnografischen Einzelfallstudie einen Beitrag zur Frage nach der Rolle des Forschenden im Feld. Anhand ausgewählter Gesprächssituationen insbesondere "scherzhaft geführter Geschlechterkämpfe" veranschaulichte sie, dass diese Rolle im Feld eben nicht gesetzt sei, sondern vielmehr mit den Beforschten verhandelt werde. [20]
Mit ihrem Werkstattbericht aus einem laufenden Projekt, das am Beispiel deutsch-indischer Flugbegleiter/innen-Teams interkulturelle Arbeitskontexte untersucht, wiesen Norbert SCHRÖER (Hochschule Fulda), Richard BETTMANN (Universität Duisburg-Essen) und Anandita SHARMA (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) anschaulich auf forschungspraktische Probleme hin, die entstehen, wenn eine Forschungsgruppe interkulturell zusammengesetzt ist und Feldakteure in die Auswertung mit einbezogen werden. Im vorgestellten Projekt werden diese Schwierigkeiten durch ausführliche Interpretationsvorgespräche zu lösen versucht, welche selbst zum Feld einer "quasi-lebensweltanalytischen Ethnografie" werden und zur Kompensation des beschränkten Feldzugangs beitragen sollen. [21]
Thorsten BENKEL (Universität Frankfurt am Main) lieferte mit seinem Vortrag Impressionen von seinen rund zweijährigen Forschungsaufenthalten im Frankfurter Bahnhofsviertel und hob damit das "Erkenntnispotenzial" sogenannter devianter Milieus hervor, das darin bestehe, dass Forschende am "eigenen Leib" die Nichterfüllung normativer Erwartungshaltungen erfahren könnten. Da BENKEL im Feld eine Vielzahl an Rollen (als Mitarbeiter in Fixerstuben, Freier, Drogenkäufer etc.) eingenommen hatte, wurde diskutiert, ob das von Anne HONER als notwendig erachtete "existenzielle Engagement" mit einem solchen Vorgehen geleistet werden könne. [22]
Am Anschauungsbeispiel einer ethnografischen Untersuchung in zwei Schulklassen für "auffällige Jugendliche" legten Achim BROSZIEWSKI und Christoph MAEDER (beide Pädagogische Hochschule Thurgau) eindrücklich das – insbesondere in Bezug auf die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen – spannungsreiche Verhältnis von Forschenden und Feld dar. Dabei wiesen sie auf die organisationalen Rahmenbedingungen hin, in die sowohl das Feld als auch die ethnografische Forschung selbst stets eingebettet seien, deren systematische Beachtung als Einflussfaktor bei den meisten Untersuchungen bislang aber ausstehe. [23]
Andrea LEIPOLD (Hochschule Fulda) lieferte mit ihrem Beitrag ein Porträt von kleinen sozialen Lebenswelten ehrenamtlich tätiger Frauen, die als sogenannte "Gastgeberinnen" ein- bis zweimal wöchentlich mehrere pflegebedürftige Menschen bei sich zu Hause betreuen. Dabei thematisierte sie insbesondere ihre eigene Rolle im Feld (als Teilnehmerin der Gästerunde, als erfahrene Pflegefachkraft sowie als Forschende) und rekonstruierte sehr anschaulich die – nicht zuletzt durch das Konzept des "Gastes" beförderten – ambivalenten Erwartungen und Bedürfnisse der unterschiedlichen Beteiligten, die in dem Projekt zutage treten. [24]
Am Beispiel eines elektronischen Logbuchs beschäftigte sich Michaela PFADENHAUER (Karlsruher Institut für Technologie) mit der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von (elektronisch gestützten) Tagebuchverfahren für die Ethnografie. In ihrer Methodenreflexion stellte sie die "Künstlichkeit" derart generierter Daten und deren Charakter als "veranlasste Selbstauskünfte" heraus und betonte, dass Forschende sich durch ein Zuviel an technischer Unterstützung aus dem Feld zurückziehen könnten und damit gerade das für die Ethnografie so grundlegende existenzielle Engagement aufgäben. Ungeachtet technischer Möglichkeiten gelte daher nach wie vor die Maxime "Dabeisein ist nicht alles, aber ohne Dabeisein ist alles nichts". [25]
Maggie KUSENBACH (University of South Florida) bot in ihrem Vortrag einen Überblick über die im Zuge des spatial turn populärer gewordenen sogenannten "mobilen Methoden". Sie plädierte für deren verstärkten Einsatz in der ethnografischen Forschung, wobei sie zwischen von den Forschenden begleiteten trails und für die Forschenden durchgeführten tours unterschied. Der von ihr vorgelegte Begriffs- und Definitionsvorschlag der mobility methods wurde anschließend insbesondere hinsichtlich seiner Mehrdeutigkeit kritisch hinterfragt, da bisher nicht ersichtlich werde, ob sich der Mobilitätsbegriff eigentlich eher auf die Methodik oder die Mobilität der Beforschten beziehe. [26]
3.3 Fundamentale Herausforderungen der LWAE (Track 3)
Bernt SCHNETTLER und Bernd REBSTEIN (beide Universität Bayreuth) berichteten erste Ergebnisse aus einem Projekt über die Lebenswelt von Migrant/innen, bei dem die Frage nach Formen der Wissenskommunikation im Zentrum steht. Dabei diskutierten sie anhand eines Fallbeispiels die Eignung der LWAE für die Migrationsforschung und zeigten Unterschiede sowie Verknüpfungsmöglichkeiten der fokussierten Ethnografie (KNOBLAUCH 2005) und der LWAE auf: Die Möglichkeiten fokussierter Ethnografie – und gerade der hier gesammelten Videodaten – würden durch die "Erlebnisdaten" der LWAE ergänzt. [27]
Vertretend für eine studentische Forschungsgruppe berichtete Verena FOTH (Hochschule Fulda) über die Ergebnisse aus einer Arbeit zur Rolle von Höflichkeitsformen in Ghana. Anhand verschiedener, dichter Episoden veranschaulichte sie zunächst die eigene Irritation in der für sie fremden Kultur. Daran anschließend verdeutlichte FOTH, inwiefern Höflichkeiten in Ghana dem Aufbau und der Pflege sozialer Netzwerke dienen, welche dort kompensatorische Funktionen für fehlende Absicherungssysteme wie Sozialversicherungen, Arbeitsvermittlung etc. übernehmen. [28]
Thomas EBERLE (Universität St. Gallen) und Verena REBITZKE (St. Gallen) berichteten persönlich und eindringlich über die lebensweltlichen Transformationen infolge einer Hirnblutung. Über die Außenperspektive durch einen Angehörigen (EBERLE) sowie den Versuch der Rekonstruktion der Innenperspektive der Betroffenen (REBITZKE) zeichneten die Vortragenden die Besonderheit dieser als eigenständig zu verstehenden "Sinnprovinz" und deren Zeitstruktur nach. Die Erörterung der von den Vortragenden selbst eingeleiteten Frage, ob es sich bei dieser Arbeit eigentlich um ein phänomenologisches, ein "pseudophänomenologisches" Vorgehen oder doch um eine LWAE handele, fiel allerdings dem Zeitregime zum Opfer. [29]
Aus einem laufenden Projekt zu sogenannten emotionsorientierten Kommunikationsansätzen im Umgang von Pflegepersonal mit Dementen berichteten Thomas BEER (Katharinenstift Wiesbaden-Biebrich) und Christine KELLER (Hochschule Fulda). Mit einer lebensweltlichen Ethnografie suchen sie einen Zugang zu Arten und Weisen des Deutens und Verstehens von (mitunter "herausfordernden") Verhaltensweisen Demenzkranker. Neben diesem "Verstehen des Verstehens" besteht ein weiteres Erkenntnisinteresse darin zu erkunden, wie eben jenes Verstehen z.B. in Schulungen gelehrt wird. [30]
Ausgehend von grundlegenden Bemerkungen zu seinem protosoziologischen Vorgehen lieferte Ronald HITZLER (TU Dortmund) anhand seiner Erfahrungen mit einer Wachkomapatientin die phänomenologische Analyse eines Aspekts der alltäglichen Lebenswelt. Wie HITZLER zeigte, besteht die zentrale Frage in der Begegnung mit einem Alter Ego im Zustand des Wachkomas darin, ob es dieses als konkrete/n Andere/n überhaupt gibt – wobei jede Annahme über die psychische Präsenz des/der Anderen in solchen Grenzfällen hochgradig ungewiss und fragil sei. Entsprechend dieser Einsichten stellte HITZLER prägnant die Intersubjektivitätserfahrung als ein konstitutives Element der alltäglichen Lebenswelt heraus. [31]
Frank MÜCHER (TU Dortmund) und Ansgar HERKENRATH (Haus Königsborn Unna) referierten über den Umgang des Pflegepersonals mit Wachkomapatient/innen. Das Projekt – dargestellt von Frank MÜCHER – besteht darin, die Motive und Deutungen des Pflegepersonals über eine lebensweltliche Ethnografie zu rekonstruieren. Im Anschluss daran berichtete Ansgar HERKENRATH aus seiner persönlichen Erfahrung als Musiktherapeut mit Wachkomapatient/innen. Ein "Anklopfen" an die Lebenswelt des/der Anderen werde möglich durch eine konsequente Orientierung an der Zuwendung zum Menschen im Wachkoma und seinem/ihrem Körper. Dabei, so HERKENRATH, dürfe jedoch keine dauerhafte und regelmäßige Rückkehr des/der Anderen in die Alltagswelt erwartet werden. [32]
In ihrem Vortrag präsentierte Beate LITTIG (Institut für Höhere Studien Wien) eine Analyse der symbolischen und praktischen Bedeutung des Stöckelschuhs beim Tangotanzen. Dabei beschrieb sie nicht nur die körperlichen Auswirkungen des spezifischen Schuhs für die Praxis des Tanzens, sondern rekonstruierte auch dessen Anzeigegehalt (z.B. für andere Tänzer/innen) sowie den Beitrag dieser materialen Technik zur Konstruktion der Außeralltäglichkeit des Tangotanzens. Anhand ihres Gegenstandes unterstrich sie die Verknüpfung von Körperpraktiken und materiellen Dingen im sozialen Handlungsvollzug. Methodisch machte sie dabei die Notwendigkeit teilnehmender Beobachtung, verbunden mit Autoethnografie und Experimenten als Zugangsmöglichkeit zum Verstehen sozialer Phänomene stark. [33]
Über Körperpraktiken in erotischen Situationen beim "Camsex" referierte Tobias BOLL (Universität Mainz). Dabei fokussierte er das Zusammenspiel von Artefakt bzw. Medienumgebung, Körper und Nutzungspraktik, durch das sich erotische Episoden hierbei als distinkte Erfahrungsbereiche auszeichneten. Das erotische Erfahren konstruiere sich dabei erst über das Zusammenspiel von "Setkörper" (der Körper in einer Kulisse mit Requisiten), "Bildkörper" (der im Bildausschnitt sichtbare Körper) und "Praxiskörper" (der Körper in der erotischen Handlung). BOLL verwies dabei auf die Notwendigkeit eines autoethnografischen Vorgehens, ohne welches die jeweils subjektive Sinnzuschreibung in der Situation und die Wahrnehmungsweisen erotischen Erlebens unnachvollziehbar blieben. [34]
Werner SCHNEIDER (Universität Augsburg) schlug einen Zugang über die Dispositivanalyse zum Geschehen des "Sterbenmachens" vor. Im Zentrum des Vorhabens solle dabei stehen, wie das so bezeichnete "Todeswissen" in institutionellen Kontexten an handelnde Subjekte prozessiert wird und wie Menschen dadurch zu Sterbenden gemacht werden. Die daraus resultierende Ausgestaltung der Rolle Sterbender gelte es entsprechend ebenfalls zu betrachten. Zur Analyse dieser Sterbenswelten und der Mächtigkeit ihrer Strukturen schlug SCHNEIDER ein methodenplurales Vorgehen vor, in dem mittels teilnehmender Beobachtung analysiert werden soll, wie das normative Programm "in den Sterbenden" handlungswirksam wird. [35]
Als letzter Vortragender des dritten Tracks referierte René GRÜNDER (Pädagogische Hochschule Freiburg i.Br.) über "riskiertes Verstehen" am Beispiel seiner Forschung zu den Asatru, dem germanischen Neuheidentum. GRÜNDER skizzierte zum einen, was passiert, wenn Forschende von Ereignissen, die Selbstgewissheiten infrage stellen, im Feld überrascht werden. Zum anderen sprach er sich für eine differenzierte Religionsethnografie aus, welche die Handlungsrelevanz religiöser Praktiken in Gegenwartsgesellschaften in den Blick nimmt. [36]
4. Der Blick auf das Eigene – der Blick auf das Andere: Eine Systematisierung der Tagungsbeiträge
Bereits die Bandbreite der Themen und die verschiedenen Akzentuierungen legten den Schluss nahe: So ausdrücklich der Tagungstitel den Forschungsansatz und damit das zugrunde gelegte Verhältnis von Forscher/in, Beforschtem und Feld anzeigte, so heterogen waren dennoch – wie auch aus den Kurzzusammenfassungen hervorgehen dürfte – die in den Beiträgen mitgeführten Ideen davon, was Gegenstand und Ziel der Feldforschung ist und inwiefern (und wo) Anschlüsse an das Programm der LWAE bestehen. Zwar basierten nahezu alle Vorträge auf einem Vorgehen, dessen "kleinsten gemeinsamen Nenner" man als lebensweltlich orientierte Ethnografie bezeichnen könnte, doch es wurde schnell ersichtlich, dass die Vortragenden von zum Teil sehr unterschiedlichen Lebensweltbegriffen – und damit verbunden methodisch-methodologischen Ansätzen, die sich teils ergänzten, teils miteinander konkurrierten – ausgingen. [37]
Einige Referent/innen legten ihren Ausführungen ein phänomenologisch fundiertes Konzept von Lebenswelt zugrunde, demzufolge Lebenswelt – ganz im Sinne der ursprünglichen Konzeption der LWAE durch Anne HONER – ein strikt egologisches Gebilde ist. Die Vortragenden setzten ihre subjektive Perspektive analytisch ein, um darüber zu den – für Feld, Zeit und Personen – typischen subjektiven Erfahrungen zu gelangen (siehe die Beiträge von BOLL, EBERLE & REBITZKE, HITZLER). In der (insbesondere von Ronald HITZLER) avisierten Klärung der – auch in Grenzsituationen funktionierenden – Konstitution eines Gegenübers im Bewusstsein des Beobachters/der Beobachterin bzw. des/der Anwesenden, liegt hierbei ein fundamentales Erkenntnisinteresse, das auch im Abendvortrag von Hans-Georg SOEFFNER aufgegriffen wurde. [38]
So beschloss SOEFFNER, bei dem Anne HONER in ihrer Konstanzer Zeit studiert und geforscht hatte, den ersten Tag mit einem Vortrag, in dem er ausdrücklich Bezug auf HITZLERs Fragestellung nahm: Ist der subjektive Zugang zu einem/einer Anderen möglich, dessen/deren Status als Person grundlegend unsicher ist? Dabei legte er dar, dass die Bearbeitung dieser Frage ihren Ausgang nicht beim theoretischen bzw. reflexiven Wissen nehmen dürfe, da die Entscheidung, wer oder was uns Menschen überhaupt gegenüber ist, in prä-reflexiven Konstitutionsakten geschehe. Wie diese Vor-Entscheidung ausfällt, so SOEFFNER im Anschluss an PLESSNER, habe grundsätzlich mit der Synästhesie aller Sinneswahrnehmungen zu tun, die wiederum – jede für sich selbst – einen wirklichkeitsstiftenden Anspruch erheben. Auf Grundlage dieser Herleitung arbeitete SOEFFNER eine zweifache Leerstelle heraus: Während vorliegende Arbeiten zur synästhetischen Konstitution von (Kunst-) Objekten die "Heftigkeit" eines genuin menschlichen Gegenübers ausblendeten, mangele es den Interaktionstheorien an einer Auseinandersetzung mit der (Sinnes-) Wahrnehmung des Gegenübers. Synästhesien, die also in Begegnungen über den Status von Mitmenschlichkeit entscheiden, seien dabei als veränderliche, stets in Entwicklung begriffene Konstitutionsleistungen zu verstehen. Insofern beruhe die je subjektive Gewissheit, dass da überhaupt "jemand ist" (HITZLER), auf historisierten und "eingelagerten" Entwürfen, weshalb SOEFFNER abschließend für eine "reflexive Synästhesie" plädierte, bei der diese "Gewissheit" der durch die Sinne (jeweils) übermittelten Wahrheiten zur Frage der subjektiven Perspektive (der Forschenden) werden solle. [39]
Einen historisierten bzw. soziokulturell orientierten Lebensweltbegriff beanspruchten diejenigen Referentinnen und Referenten, deren Forschung direkt auf den bzw. die Anderen im Feld zielten. Lebenswelt zu "verstehen" heißt bei diesen Ansätzen vor allem, zu fragen und zu interviewen, teilnehmend zu beobachten, sich vielleicht auch ein- und unterzumischen und dabei die eigene Rolle des/der Forschenden im Feld zu reflektieren, ohne jedoch das eigene Erleben zum zentralen Datum zu machen (siehe etwa die Beiträge von HIETZGE, KREHER & MARR). Entsprechend finden sich mit dieser Lesart eher Forschungsfelder, bei denen es nicht möglich oder auch nicht zielführend scheint, eine radikal subjektive Forscher/innenperspektive einzuholen. [40]
Die damit angesprochene Frage, inwiefern Fremdverstehen als Verstehen des Alltags und Alltag des Verstehens überhaupt möglich ist, diskutierte Hubert KNOBLAUCH im Abschlussvortrag. KNOBLAUCH, seit der gemeinsamen Studienzeit ein Wegbegleiter Anne HONERs, schilderte hierfür zu Beginn seiner Ausführungen eine allen Ethnografien gemeinsame Situation: die Begegnung des/der Forschenden mit dem zum Erforschenden. Bis heute teilten jedoch zwei unterschiedliche Konzeptionen vom zu Erforschenden die Debatte: Entweder wird (ethnologisch auf die Ferne gerichtet) von "Fremden" oder (soziologisch auf die Nähe der eigenen Gesellschaft gerichtet) von "Anderen" ausgegangen. Dem liege, so KNOBLAUCH, die Fehlannahme zugrunde, dass das Verstehen des Forschers/der Forscherin im Feld zwischen "anders" und "fremd" unterscheiden würde. Andere könnten jedoch nie von Grund auf Fremde sein, da das Fremdverstehen der Forschenden phänomenologisch stets vom Ego und dessen Wissen und Relevanzen ausgehe. KNOBLAUCH stellte eindrücklich dar, dass die Lebensweltanalyse diese Einsicht nicht nur reflektiere, sondern sie produktiv zum Programm mache, indem sie ein reflexives Vorgehen mitführe. [41]
5. Forschungspraktische Fragen im Fokus
Quer zu den beiden genannten Begriffs- und damit auch Methodenverständnissen waren für sämtliche Vorträge Themenstellungen vorfindbar, die maßgeblich forschungspraktische Fragen rund um das im weiteren Sinne lebensweltliche Ethnografieren betrafen. So wiederholten sich etwa die Diskussionen darüber, inwiefern 1. LWAE im engeren Sinne (z.B. durch andere Personen wie bei EBERLE oder durch technische Apparate wie bei PFADENHAUER) unterstützt werden kann; 2. welche Feldrollen des Forschers bzw. der Forscherin adäquat sind – ob aktiv "mitmachend", intervenierend oder passiv beobachtend; und 3. wie ein Feld entsteht und was überhaupt als "ein" Feld verstanden werden kann. Überdies beschäftigte die Teilnehmenden die Frage nach der Vermittlung und Vermittelbarkeit von LWAE – und zwar in mehrfacher Hinsicht: Inwiefern können 4. feldforscherische Kompetenzen – zum Beispiel im Rahmen universitärer Lehre – vermittelt werden, insbesondere, wenn der subjektiven Forscher/innenperspektive ernsthaft Rechnung getragen werden soll; ob und wie können 5. die komplexen Erlebensdaten und daraus abgeleitete Einsichten von LWAE Dritten dargestellt werden; und welchen (teil-öffentlichen) Arenen können 6. überhaupt welche Ergebnisse zugänglich gemacht bzw. präsentiert werden, womit letzten Endes die LWAE auch in forschungsethischer Hinsicht Gegenstand der Tagung wurde. [42]
Für uns als Tagungsteilnehmende und Verfasser/innen dieses Berichtes steht am Ende der 3. Fuldaer Feldarbeitstage die Bilanz, dass in Fulda eine außerordentlich vielfältige Veranstaltung mit fesselnden Themen und ebenso engagierten wie aufschlussreichen Diskussionen rund um Potenziale und Grenzen heutiger Feldforschung auf die Beine gestellt wurde. Dabei gelang es, Referent/innen unterschiedlicher Disziplinen produktiv zusammenzuführen und zum Austausch zu bewegen, was sicherlich nicht selbstverständlich ist. Blicken wir zurück, dann bleiben – trotz teilweise nicht ausreichend explizierter Grundverständnisse vor allem des Lebensweltbegriffs – eine Reihe theoretischer wie empirischer Einsichten, die nicht nur als Gewinn für den nunmehr fast zwanzig Jahre alten "lebensweltlichen Ansatz" gewertet werden können. Vielmehr wurde beispielhaft vor Augen geführt, worin die Leistung, aber auch Notwendigkeit einer Ethnografie in heutigen Gesellschaften besteht. Die "Kunst des forschenden Handelns" (KNOBLAUCH) liegt dabei in dem nie endenden Hinterfragen des eigenen Verstehens und Deutens, was letztendlich in den zu Beginn der Tagung verlesenen Feldnotizen von Anne HONER so anschaulich zum Ausdruck kam. [43]
Ein Tagungsband mit Beiträgen der Referenten ist derzeit in Vorbereitung. [44]
1) "Anne Honer ist nach einer aus einem geplatzten Aneurysma resultierenden Hirnblutung und einem auf ein Coiling reagierenden Gefäß-Spasmus am 24. Februar 2009 in den Zustand 'Wachkoma' gekommen" (HITZLER in HONER 2011, S.5). <zurück>
2) Die Fuldaer Feldarbeitstage entstanden aus dem Arbeitskreis Ethnographie in der Sektion Wissenssoziologie der DGS. <zurück>
3) Ursprünglich als "lebensweltlicher Ansatz" (HITZLER & HONER 1988) und konkretisiert als "lebensweltliche Ethnographie" (HONER 1993) bezeichnet, war das Etikett später in "lebensweltanalytische Ethnographie" umgewandelt worden. Einsichten in die Entwicklung des Ansatzes, u.a. zu dessen Bezeichnung (vgl. hierzu HONER 2011, S.268), und eine Reihe empirischer Anwendungen aus HONERs eigener Forschung bietet der Band "Kleine Leiblichkeiten" (HONER 2011). <zurück>
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Zu den Autoren und zur Autorin
Alexa Maria KUNZ, geb. 1979, M.A. (Soziologie), B.A. (Berufspädagogik, Soziologie), seit 2008 Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie_Kompetenzerwerb am Karlsruher Institut für Technologie. Forschungsschwerpunkte: Methoden explorativ-interpretativer Sozialforschung, Studierendenforschung, Stadt-, Architektur- und Raumsoziologie.
Kontakt:
Alexa Maria Kunz
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Soziologie
D-76128 Karlsruhe
Tel.: +49 (0)721 608 45417
E-Mail: alexa.kunz@kit.edu
URL: http://www.pfadenhauer-soziologie.de/
Tilo GRENZ, geb. 1981, Dipl.-Soz., seit 2008 Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie_Kompetenzerwerb am Karlsruher Institut für Technologie. Forschungsschwerpunkte: Mediatisierung, Szeneforschung, Methoden explorativ-interpretativer Sozialforschung.
Kontakt:
Tilo Grenz
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Soziologie
D-76128 Karlsruhe
Tel.: +49 (0)721 608 45418
E-Mail: tilo.grenz@kit.edu
URL: http://www.pfadenhauer-soziologie.de/
Paul EISEWICHT, geb. 1983, Dipl.-Soz., seit 2008 Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie_Kompetenzerwerb am Karlsruher Institut für Technologie. Forschungsschwerpunkte: Konsumsoziologie, Szeneforschung, Methoden explorativ-interpretativer Sozialforschung.
Kontakt:
Paul Eisewicht
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Soziologie
D-76128 Karlsruhe
Tel.: +49 (0)721 608 45412
E-Mail: paul.eisewicht@kit.edu
URL: http://www.pfadenhauer-soziologie.de/
Kunz, Alexa Maria; Grenz, Tilo & Eisewicht, Paul (2011). Tagungsbericht: Die Kunst des forschenden Handelns [44 Absätze].
Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(1), Art. 13,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1201133.