Volume 13, No. 2, Art. 18 – Mai 2012
Rezension:
Lisa Pfahl & Johanna Hess
Hanna Meißner (2010). Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx. Bielefeld: transcript; 306 Seiten; ISBN 978-3-8376-1381-0; 29,80 Euro
Zusammenfassung: In ihrem Buch untersucht Hanna MEIßNER unter Rückgriff auf die Theorien von Judith BUTLER, Michel FOUCAULT und Karl MARX die historischen, rechtlichen und sozialen Bedingungen für das Entstehen moderner Subjekte. Sie etabliert ein kritisches Verständnis von Autonomie bzw. Handlungsfähigkeit und fragt nach dem damit verbundenen Potenzial an widerständige Praktiken innerhalb der bestehenden Verhältnisse. MEIßNERs Analyse überzeugt durch ihren Aufbau und ihre präzisen Argumentationslinien. Sie bietet Anschlussstellen insbesondere für die sich auch im deutschsprachigen Raum etablierenden Disability Studies sowie Diversity Studies und stellt einen wichtigen Beitrag zur Kritik am Ableism sowie zur Bedeutung von individueller Selbstbestimmung und kollektiver Fürsorge dar.
Keywords: Subjekt; Subjektivierung; Autonomie; Handlungsfähigkeit; Theorie; Heteronomie; Diversity; Ableism; Geschlechterverhältnisse; Sorge; Disability
Inhaltsverzeichnis
1. Grenzen der Handlungsfähigkeit
2. Subjektivierung bei BUTLER, FOUCAULT und MARX
3. "Jenseits des autonomen Subjekts"
4. Kritik am Ableism
1. Grenzen der Handlungsfähigkeit
Hanna MEIßNER nimmt sich in ihrem Buch "Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstruktion von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx" die Klärung der Frage vor, ob die "Abkehr von der Vorstellung eines autonomen Subjekts zwangsläufig zu einer strukturdeterministischen Perspektive" (Klappentext) führen muss. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Debatte um den Dualismus von "Individuum/Gesellschaft, Handlung/Struktur, Voluntarismus/Determinismus, Autonomie/Heteronomie" (S.10). [1]
Das Buch stellt eine poststrukturalistisch fundierte, feministisch-gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem modernen Subjektverständnis dar. Es verfolgt das Ziel, die historische, rechtliche und soziale Bedingtheit von Handlungsfähigkeit aufzuzeigen und wendet sich somit sowohl gegen universalisierende Vorstellungen von Handlungsfähigkeit als auch gegen hegemoniale Vorstellungen von Handlungsmächtigkeit bzw. Ableism (d.h. der Beurteilung von Geist und Körper anhand von Fähigkeiten, die Nichtbehinderung als gesellschaftliche Norm setzt und Menschen mit Behinderungen diskriminiert).
"Um die Autonomie des Selbst hervorzubringen, muss das Subjekt seine konstitutive Abhängigkeit vom Anderen verleugnen, der Andere erscheint sogar als potenzielle Gefahr für die eigene Autonomie. Damit ist das Subjekt sowohl einer beständigen Überforderung des Selbst ausgesetzt als auch zu einer potentiell gewaltsamen Härte dem Anderen gegenüber gezwungen" (S.275). [2]
Im Zentrum ihrer Arbeit steht also der Versuch, eine Konzeption von Handlungsfähigkeit zu entwickeln, die ohne den Rückgriff auf eine unabhängige Instanz im Individuum auskommt. Dabei schlägt die Autorin ein Verständnis von Handlungsfähigkeit vor, in denen Individuen erst in Unterwerfung durch die Verhältnisse Erfahrungen und Identität erlangen. Kurz: Was ist Handlungsfähigkeit, wenn das Potenzial zu handeln in der Abhängigkeit liegt? [3]
Für ihre theoretische Untersuchung stützt sich Hanna MEIßNER auf die in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften mittlerweile kanonisierten Ansätze von Judith BUTLER, Michel FOUCAULT sowie auf Karl MARX und untersucht das in den jeweiligen Theorien konstruierte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, um die Bedingungen für das Entstehen von Subjektivität herauszuarbeiten. [4]
2. Subjektivierung bei BUTLER, FOUCAULT und MARX
Das Buch besitzt einen überzeugenden Aufbau, bei dem die Theorieansätze jeweils in eigenen Kapiteln dargestellt und darüber hinaus in Zwischenkapiteln miteinander verbunden werden. In diesen, als "Zwischenspiele" betitelten Kapiteln arbeitet MEIßNER die Anschlussstellen und Begrenzungen der theoretischen Ansätze von BUTLER, BUTLER/FOUCAULT sowie BUTLER/FOUCAULT/MARX heraus und gelangt von den "gesellschaftlichen Bedingungen des ethischen Subjekts" (S.71) zur "Kritik der bio-ethischen Gewalt" (S.153) und den "Subjektivierungseffekten biopolitscher Regulierung" (S.179) schließlich zu einer "Ethik der konstitutiven Angewiesenheit" (S.243). Das Schlusskapitel greift die Frage nach der Entstehung einer (un-) abhängigen Subjektivität, nach einer nicht-normativen Kritik- und Handlungsfähigkeit von Individuen und Gruppen abschließend auf. [5]
Aufgrund dieses Aufbaus bietet das Buch Interessierten einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Theorieansätze. Es eignet sich zur Einführung in die Theorien von BUTLER, FOUCAULT und MARX hinsichtlich ihres jeweiligen Beitrags zur Frage der Konstitution individueller Handlungsfähigkeit. Aufgrund dessen kann das Buch auch sehr gut als Erläuterung dieser theoretischen Ansätze in der Hochschullehre verwendet werden. [6]
Ausgangspunkt ist die poststrukturalistische Idee eines gesellschaftlich konstituierten Subjekts, das verhaftet an Sprache und Gesellschaft hervorgebracht wird. Um Subjektivität zu bestimmen, müssen also die Kontexte untersucht werden, in denen Individuen subjektiviert werden. MEIßNER zufolge richtet Judith BUTLER dabei den Blick vor allem auf die Kosten und Beschränkungen bestimmter Subjektformen, die in den bestehenden Verhältnissen hervorgebracht würden und damit auf die Veränderung der Bedingungen, die zur Realisierung anderer Subjektformen notwendig seien. Als Grenze dieses Ansatzes hebt MEIßNER hervor, dass BUTLER durch ihren starken Fokus auf die normativ-symbolische Konstitution des Subjekts letztlich zu abstrakt bleibe und Subjekte nicht hinreichend historisch und gesellschaftlich verortet werden könnten. Für MEIßNER biete hier der Ansatz von FOUCAULT wichtige Anschlussstellen. Denn ihm zufolge werde wiederum deutlich, wie stark das Subjekt und Fragen nach dessen Handlungsfähigkeit historisch veränderbar seien. MEIßNER zeichnet FOUCAULTs Analyse nach und zeigt auf, wie in der westlichen Moderne die Macht vom Staat an die Einzelnen übertragen würde, in welcher Weise Expert_innen Deutungsmacht über Subjekte zukomme und wie ein institutionalisierter Macht-Wissen-Komplex die bestehenden Machtverhältnisse aufrechterhalte – wobei Letztere von der politischen Ökonomie maßgeblich (mit-) bestimmt würden. Aufgrund dieser Analyse kommt MEIßNER zu dem Schluss, die Bedingungen für die Möglichkeit von Handlungsfähigkeit in der Moderne seien in den juridischen und materialistischen Bedingungen zu suchen, wie dies der Kapitalismuskritik von MARX zu entnehmen sei. Die Autonomie des Subjekts bedeute hier in erster Linie die Vertragsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt: Einzelne würden handlungsfähig, weil sie als autonome Vertragspartner_innen in Erscheinung treten. Es werde deutlich, wie ungleich Personen, die sich mit mehr oder weniger Ressourcen als Vertragspartner_innen gegenübertreten, seien und wie sie sich in diesen Beziehungen vereinzeln. Die auf Privateigentum beruhende Produktionsweise setze Grenzen – Grenzen, die strukturelle Hindernisse für Individuen darstellen und sich sprachlich-normativ Sinngebungen einzelner Personen entziehen würden (S.251). Über Ursula BEER bringt MEIßNER zudem die Frage nach den Geschlechterverhältnissen in diese Überlegung ein und erinnert daran, dass die Vertragsförmigkeit nicht nur die Produktionsweise, sondern auch die "Bevölkerungsweise" einschließe (S.263). An diesem Beispiel zeigt sie, wie trotz historischer Kontinuitäten in den Rechtsformen eine Wandelbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu beobachten sei, die die Handlungsfähigkeit von Einzelnen konstituiere (S.267). [7]
3. "Jenseits des autonomen Subjekts"
Insgesamt bietet "Jenseits des autonomen Subjekts" eine gelungene Synthese der theoretischen Überlegungen zur Autonomie bzw. Heteronomie menschlichen Handelns von BUTLER, FOUCAULT und MARX und ermöglicht den Lesenden ein tief greifendes Verständnis der historischen, sozialen und rechtlichen Bedingtheit des dominierenden autonomen Subjektverständnisses. Damit stellt es eine theoretische Grundlage für alle diejenigen dar, die sich wissenschaftlich mit der Frage von Subjektivierung beschäftigen. Darüber hinaus werden Hinweise und Ideen für eine sozial- und gesellschaftskritische Reflexion der Selbst- und Sozialverhältnisse der Gegenwart mitgeliefert:
"Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich mit den Perspektiven von Butler, Foucault und Marx verschiedene Momente einer historisch besonderen Kritikfähigkeit rekonstruieren lassen. Das moderne abendländische Subjekt kann sein Recht auf Autonomie, auf Selbstbestimmung und seine Vorstellungen eines guten Lebens gegenüber den äußerlichen, beschränkenden und gesellschaftlichen Begrenzungen einklagen. Damit schienen wir aber zunächst doch wieder an dem Punkt angekommen zu sein, von dem ich mich eigentlich kritisch absetzen wollte: der Voraussetzung eines autonomen Subjekts. Da diese Form der Subjektivität aber mit Butler, Foucault und Marx als historische besondere ausgewiesen wird, lässt sich begründen, dass sie keine universale Bestimmung von Subjektivität darstellt. Zum anderen kann die besondere historische Problematik dieser Subjektivität herausgearbeitet werden, die in der naiven Annahme besteht, die inneren Bedürfnisse dieser Subjekte seien als authentischer Ausdruck ihres Wesens zu verstehen und könnten daher als normativer Maßstab genommen werden. Es lässt sich erkennen, dass diese Subjektivität selbst in ihrer kritischen Distanz noch konstitutiv in die gesellschaftlichen Verhältnisse verwoben ist, gegen die sie sich richtet." (S.274) [8]
Damit schließt die Autorin an feministische Kritiken von vorgeblich universellen Kriterien zur Subjektkonstitution an. Sie etabliert ein kritisches Verständnis von Autonomie bzw. Handlungsfähigkeit und fragt zugleich nach dem damit verbundenen Potenzial an widerständige Praktiken innerhalb bestehender Gesellschaftsverhältnisse. Wir werden erst in der Unterwerfung handlungsfähig und können uns dann zu den Verhältnissen verhalten? Das autonome Subjekt ist damit potenziell immer auch das oppositionelle Subjekt. Handlungsfähigkeit ist in diesem Sinne als gesellschaftliches Privileg zu begreifen. [9]
Hanna MEIßNER legt mit ihrem Buch eine neue Lesart von drei soziologischen Klassiker_innen vor, bei der versteckte bzw. bislang noch nicht wahrgenommene gemeinsame Diskurse und Motive herausgearbeitet werden. Ihr Anliegen, die Grenzen individueller Handlungsfähigkeit auszuloten, führt MEIßNER dazu, die verbindenden Elemente der drei Theorien zu benennen. So bestehen bspw. Gemeinsamkeiten in dem grundlegenden Anliegen einer mehr oder weniger expliziten Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Heteronormativität. Auch verweisen alle drei Theorien zur Erklärung von Subjektivität auf eine konstitutive Angewiesenheit voneinander. Mit dieser Strategie gelingt es Hanna MEIßNER, die Diskussion um bereits kanonisierte sozialwissenschaftliche Klassiker_innen aufzubrechen. [10]
Insbesondere den Aspekt der konstitutiven Angewiesenheit, bei dem die theoretischen Argumentationslinien der vertragsrechtlichen Abhängigkeiten von MARX, der Eingliederung und Reproduktion von Macht- und Kräfteverhältnissen bei FOUCAULT und der körperlichen Verletzlichkeit von BUTLER zusammengeführt werden, nutzt MEIßNER, um die Bedeutung von individueller Selbstbestimmung und kollektiver Fürsorge zu diskutieren. [11]
Mit diesen Überlegungen zu einer grundlegend eingeschränkten Autonomie bzw. Co-Autonomie bietet sie Anschlussstellen nicht nur für laufende sozialwissenschaftliche Debatten um Vielfalt. Auch zivilgesellschaftliche Suchbewegungen, wie z.B. diejenige nach einem Sorge basierten Arbeitsbegriff, der die feministische Forderung nach der Anerkennung von immaterieller Arbeit einschließt, lassen sich mit MEIßNERs theoretischen Zusammenführungen konzeptionell festigen. Es ist weiterzuverfolgen, inwiefern die Sozialwissenschaften sich dem Konzept begrenzter Handlungsfähigkeit und beschränkter Subjektivität annehmen und in der empirischen Forschung zur Anwendung bringen. Besonders für die sich jüngst auch im deutschsprachigen Raum etablierenden Disability Studies sowie Diversity Studies stellt ein solchermaßen synthetisiertes Subjektverständnis eine gute theoretische Grundlage dar, um die Kritik an der gegenwärtigen Kultur des Ableism fortzuführen. [12]
Lisa PFAHL hat an der FU Berlin Soziologie studiert und über "Techniken der Behinderung" promoviert. Sie vertritt zur Zeit die Professur Inklusive Pädagogik mit Schwerpunkt Geistige Entwicklung an der Universität Bremen und leitet dort die Forschungsstelle Inklusion. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildung, Wissen, Ungleichheit und Subjekt- bzw. Subjektivierungstheorien; ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich Disability und Diversity Studies.
Kontakt:
Dr. Lisa Pfahl
Universität Bremen
Bildungs- und Erziehungswissenschaften
Vertretungsprofessur Inklusive Pädagogik & Forschungsstelle Inklusion
Bibliotheksstraße GW2 / B1510
D-28359 Bremen
E-Mail: pfahl@uni-bremen.de
URL: http://simone.seitz.uni-bremen.de/index.php
Johanna HESS hat an der FU Berlin Soziologie studiert und arbeitet derzeit als Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Sozialen Ungleichheitsforschung, der Geschlechter- und Diversity-Forschung.
Kontakt:
Dipl.-Soz. Johanna Hess
Alice-Salomon-Hochschule
Alice-Salomon-Platz 5
D-12627 Berlin
E-Mail: hess@ash-berlin.eu
Pfahl, Lisa & Hess, Johanna (2012). Rezension: Hanna Meißner (2010). Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution
von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx [12 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(2), Art. 18,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1202181.