Volume 13, No. 2, Art. 24 – Mai 2012
Das "Politische" in den Science & Technology Studies
Michalis Kontopodis
Review Essay:
Eine Replik auf: Niklas Alexander Chimirri (2012). Review: Michalis Kontopodis & Jörg Niewöhner (Eds.) (2010). Das Selbst als Netzwerk. Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag [The Self as Network: On Everyday Uses of Bodies and Things]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(2), Art.7, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs120270.
Zusammenfassung: Zum Abschluss seiner fundierten Auseinandersetzung mit den theoretischen, epistemologischen und methodologischen Aspekten unseres Buches "Das Selbst als Netzwerk" (KONTOPODIS & NIEWÖHNER 2010) wirft Niklas Alexander CHIMIRRI (2012) eine Frage auf, deren Beantwortung wir innerhalb unserer kleinen deutschsprachigen Einführung ins relational-materielle Denken nicht im Detail leisten konnten: "Does the relational-materialist perspective […] strive for emancipatory transformation, or plainly said, for improving the everyday life of people?" Um auf diese Frage zu antworten und die von Niklas Alexander CHIMIRRI angeregte Diskussion weiterzuführen, werden hier 1. die verschiedenen Konnotationen des Begriffes des Politischen in den Science & Technology Studies unterschieden und eingeordnet, 2. die zentralen Tendenzen der Expertisedebatte und der Biokapitalismuskritik wie auch die zentralen Merkmale von ontological politics identifiziert und 3. die Zusammenhänge zwischen Ethik und Politik im Rahmen von Science & Technology Studies diskutiert. Mit dem Ziel, weitere Arbeiten in diese Richtung anzustoßen, wird somit den deutschen Leser/innen ein Überblick über internationale Debatten zu dieser Thematik dargeboten.
Keywords: Biokapital; Care; Fürsorge; Expertise; moralische Ökonomie; Ontologie; Partizipation; politische Ökonomie; soziale Bewegungen
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung: Wie können netzwerkartige Beziehungen "besser" gestaltet werden bzw. was würde "besser" bedeuten?
2. Expertise und demokratische Partizipation
3. Aktivismus, (Post-) Feminismus und (Bio-) Kapitalismuskritik
4. Ontologische Politik
5. Weitere Aspekte des Politischen in den Science & Technology Studies
6. Ausblick
1. Einführung: Wie können netzwerkartige Beziehungen "besser" gestaltet werden bzw. was würde "besser" bedeuten?
In seiner Besprechung hat sich Niklas Alexander CHIMIRRI (2012) ohne Frage intensiv mit den theoretischen, epistemologischen und methodologischen Aspekten des von Jörg NIEWÖHNER und mir herausgegebenen Buches "Das Selbst als Netzwerk: Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag" (KONTOPODIS & NIEWÖHNER 2010) auseinandergesetzt. In unserem Buch haben wir argumentiert, dass
"from a relational-materialist perspective, not only 'actors' or conscious beings, but also material things are part of the concrete practice arrangements and thus of the performative process of doing the (patient's) body. Things are understood as 'actants' or non-human agents. They act on and with the other agents in a specific situation, and they carry specific materialities and meanings (consequently the approach is often termed material-semiotic, while these two dimensions are inseparably intertwined). Relations between the multiple agents in a situation create a network that may then become another agent in another network and so on." (CHIMIRRI 2012, Abs.2). [1]
Daran anschließend versuchten wir, durch praxiografische Verfahren den vielen Unstimmigkeiten, Variationen und Widersprüchen moderner Wissensarbeit auf die Spur zu kommen, wie auch der Materialität der Praxen in der sozialwissenschaftlichen Analyse gerecht zu werden. Als angemessene Beispiele für diesen Zugang führen wir, wie CHIMIRRI auch beschreibt, mannigfaltige Fallstudien unterschiedlicher Autor/innen in unserem Band an. Diese beschäftigen sich unter anderem mit der Ganganalyse von Schlaganfall-Patient/innen in der Reharobotik, dem Leben mit Mukoviszidose im Krankenhaus, hormoneller Verhütung durch das "Stäbchenimplantat", Online-Dating auf einer Social-Web-Plattform, der Analyse der medizinischen Praxis in einem Zentrum für Brustkrebserkrankungen usw. [2]
Ein Hauptkritikpunkt CHIMIRRIs an diesen Analysen ist, dass die Forschenden ihre je eigenen Beiträge zur beforschten Praxis nicht explizit reflektieren. Im gleichen Zusammenhang wirft CHIMIRRI die folgende Frage auf: "Does the relational-materialist perspective […] strive for emancipatory transformation, or plainly said, for bettering the everyday life of people?" (Abs.11) [3]
Diese Frage öffnet die Büchse der Pandora, weil die verschiedenen Ansätze, die unser relational-materielles Denken inspiriert haben, sehr verschiedene Konnotationen des Begriffes des Politischen (bzw. des "Verbesserns") implizieren: politics of science (JASANOFF 1996), politics of technology (BERG 1998), politics of knowledge (EPSTEIN 1996), politics of nature (LATOUR 2004), cyborg politics (HARAWAY 1995a, 1995b), politics of difference in medical research (EPSTEIN 2007), biopolitics (SHIVA & MOSER 1995), politics of life itself (ROSE 2006), politics of survival (BIEHL 2007), global politics (PETRYNA 2009), ontological politics (MOL 1999), politics of reparation, proof and testimony (FASSIN & RECHTMAN 2009) und radical left posthumanism (PAPADOPOULOS 2010): Die Liste der Arbeiten in diesem Bereich, die explizit politics thematisieren, kann endlos weitergeführt werden – und es gibt auch eine Vielfalt an Artikeln und Büchern, die weniger explizit oder implizit von politics sprechen, z.B. die Studie von Emily MARTIN zu flexible bodies (1994) oder die Arbeiten von Rayna RAPP zur Behinderung (1999). [4]
Die Frage stellt sich also hier, welche unterschiedlichen Konnotationen der Begriff des Politischen in diesen Ansätzen mit sich führt und wie die verschiedensten Verständnisse des Politischen eingeordnet werden können. Wie kann man zu diesen Verständnissen Stellung beziehen? Mit dem Ziel, weitere deutschsprachige Arbeiten zu diesem Themenkomplex anzuregen, werde ich hier 1. die verschiedenen Konnotationen des Begriffes des Politischen in den Science & Technology Studies unterscheiden und einordnen, 2. die zentralen Tendenzen der Expertisedebatte und der Biokapitalismuskritik wie auch die zentralen Merkmale der ontologischen Politik (ontological politics) identifizieren und 3. die Zusammenhänge zwischen Ethik und Politik im Rahmen von Science & Technology Studies diskutieren. So hoffe ich auch, die Lesenden des oben genannten Buches dabei zu unterstützen, in die von CHIMIRRI vorgeschlagene Richtung weiterzudenken und zu -arbeiten. Im Folgenden werde ich die Abkürzung "STS" für Science & Technology Studies nutzen, wobei zum Teil auch von Science Studies bzw. Feminist Studies of Technoscience die Rede sein wird. [5]
2. Expertise und demokratische Partizipation
In ihrem Diskussionspapier "Science & Technology Studies on Trial: Dilemmas and Expertise", veröffentlicht im Journal Social Studies of Science im Jahre 2005, diskutieren Michael LYNCH und Simon COLE (2005) Simon COLEs Teilnahme an einem Gerichtsverfahren als STS-Experte. Dort hatte er aufgrund seiner Expertise und bisheriger Forschung gegen die Zulässigkeit des Fingerabdrucks als forensischen Beweis argumentiert. Die Autoren erläutern dabei die Schwierigkeiten und Dilemmata, mit denen STS-Expert/innen bei ihren Versuchen, sich in der public sphere zu engagieren, konfrontiert sehen. Dabei setzen sie sich mit der Frage auseinander, wofür STS-Forscher/innen eigentlich Expert/innen sind, wie diese Expertise definiert werden kann und im öffentlichen Raum bzw. im Rahmen konkreter institutioneller Entscheidungsprozesse wahrgenommen wird. Die Zeugenaussage von COLE hat zwar in den USA stattgefunden, jedoch kann die Diskussion, die die Autoren führen, als exemplarisch für eine Politikdenkrichtung innerhalb von STS herangezogen werden. Im Kern geht es hier um die entscheidende Frage, wie STS-Expert/innen an institutionellen Verfahren in jenen Gesellschaften, in denen es solche Expert/innen und Verfahren überhaupt gibt, aktiv teilnehmen und sich dabei positionieren. [6]
Auch angesichts der sogenannten Institutionalisierung von STS wurde die Frage gestellt, wie Sociology of Scientific Knowledge (SKK) oder Social Construction of Technology (SCOT) in der politischen Analyse von Wissenschaft und Technologie zur Politik beitragen kann. Sheila JASANOFF schreibt in ihrem Aufsatz von 1996: "[The project of politics] is to understand how entire edifices of natural knowledge and social order build upon each other as human societies endure, evolve, change and sometimes crumble over time" (S.397). [7]
Im Rahmen dieses politischen Projektes diskutiert JASANOFF methodologische Aspekte und reflektiert die Rolle des "Akademikers in der Wissenschaftspolitik (Science Politics)" (S.409). Gemäß JASANOFF ist die wesentliche Frage, ob Wissenschaftler/innen Position nehmen sollen zu "politischen" Themen wie z.B. Klimawandel oder Gesundheitsrisiken vom Rauchen, ob sie "objektive Fakten" für oder gegen eine These zusammenstellen oder ob sie auch versuchen sollen, von einer Metaperspektive ausgehend die Relativität der wissenschaftlichen Methoden und Erklärungen darzustellen. Daraus ergeben sich, argumentiert JASANOFF, mehr oder weniger relativistische Argumentationsarten wie auch unterschiedliche Empfehlungen als Endprodukte. Ähnlich wie JASANOFF von einer solchen politics of science spricht, schreibt auch Marc BERG über politics of technology (1998). Technologie schafft unterschiedliche Welten und ist auch politisch, z.B. wenn die Technologie dazu beiträgt, schnellere Produktion in einer Fabrik zu ermöglichen oder demokratischere und arbeiter/innenorientiertere Arbeitsplätze zu gestalten. [8]
In diesen Ansätzen wird Politik als technical decision-making verstanden:
"By 'technical decision-making' we mean decision-making at those points where science and technology intersect with the political domain because the issues are of visible relevance to the public: should you eat British beef, prefer nuclear power to coal-fired power stations, want a quarry in your village, accept the safety of anti-misting kerosene as an airplane fuel, vote for politicians who believe in human cloning, support the Kyoto agreement, and so forth. These are areas where both the public and the scientific and technical community have contributions to make to what might once have been thought to be purely technical issues. Like many others, what we want to do is consider how to make good decisions in the right way" (COLLINS & EVANS 2002, S.236). [9]
Wenn Politik als decision-making, wie COLLINS und EVANS sie beschreiben, verstanden wird, stellt sich die Frage, wer am decision-making teilnehmen darf. Dabei werden insbesondere die Autorität von (STS-) Expert/innen im Gegensatz zu Lai/innen debattiert und im Zuge dessen Definitionen von Demokratie ausgehandelt. Die Autoren unterscheiden zudem zwischen verschiedenen Arten von Expertise, z.B. experience-based und scientific. Anhand dieser analytischen Differenzierung versuchen sie, verschiedene Arten von Wissenschaft und Technologie zu definieren, um die Lücke zwischen Lai/innen und Expert/innen zu minimieren. COLLINS und EVANS haben also in ihrem viel diskutierten Aufsatz für eine Wende der STS plädiert, die wiederum zu Studien über Expertise und Erfahrung geführt hat bzw. führen sollte. [10]
"Warum dürfen nur Menschen und nicht auch Dinge an Entscheidungsprozessen teilnehmen?" war die Frage, die LATOUR und andere in diesem Zusammenhang diskutierten (DE VRIES 2007; KNEER & LATOUR 2008; LATOUR 2007a). In seiner berühmten Monografie "Das Parlament der Dinge" sowie in anderen Büchern und Aufsätzen (LATOUR 2001, 2007b) hat LATOUR versucht, sowohl die Rolle von Objekten im making of societies zu konzeptualisieren, wie auch für die Rechte der Dinge bzw. der Natur einzutreten. LATOUR argumentiert, dass es weder die Zeit noch den Raum noch die Gesellschaft gäbe, so wie wir diese kennen, ohne die Vermittlung durch Dinge, wie z.B. Geld, Fotografien, Dokumente, die Prozesse stabilisieren, verschiedene Räume und Ereignisse miteinander verknüpfen und die Gesellschaft als solche herstellen. LATOUR folgend sollten diese Dinge in Gesellschaftspolitik mitgedacht bzw. "gehört" werden. So ist die Rede von "Dingpolitik" (LATOUR nutzt das deutsche Wort) oder politics of nature. [11]
Man könnte sagen, dass das Wort "Parlament", welches LATOUR in seinem Buch genutzt hat und das als Titel der deutschen Übersetzung für sein Buch "Politics of Nature" (2004) gewählt wurde, nicht zufällig ist: Es geht hierbei um institutionelle Politik, um "Demokratie" – so wie "Demokratie" in nordwestlichen Gesellschaften verstanden wird. Fragen nach der Berechtigung von und Modi der Partizipation an Politik erscheinen nur in diesem limitierten Kontext sinnvoll und verlieren an Bedeutung, sobald sie stattdessen im Kontext der sogenannten majority world oder auch innerhalb der nordwestlichen Gesellschaften im Rahmen von sozialen Bewegungen, die Politik als decision-making im Rahmen staatlicher Institutionen grundsätzlich infrage stellen, gedacht werden. [12]
3. Aktivismus, (Post-) Feminismus und (Bio-) Kapitalismuskritik
Mit der Frage nach politischer Partizipation nicht-menschlicher Anderer beschäftigte sich auch Donna HARAWAY ausführlich. In zwei post-feministischen Manifesten plädierte sie für die Gleichberechtigung von Cyborgs (HARAWAY 1991) und von companion species (HARAWAY 2003). Hier wurde aber nicht für die Partizipation von Cyborgs und companion species im demokratischen Parlament plädiert, sondern vielmehr eine grundsätzliche Kritik an der kapitalistischen politischen Ökonomie sowie der Rolle von Wissenschaft und Technologie im Rahmen dieser Ökonomie geübt (s. auch HARAWAY 1992). [13]
Politik bezieht sich in diesen Studien nicht auf decision-making, sondern auf die dynamischen und wechselseitigen Beziehungen zwischen Subjektivitäten bzw. Sozialitäten, technowissenschaftlichen Arrangements und Formen der politisch-ökonomischen Organisation. Sowohl die Subjektivitäten wie auch die technowissenschaftlichen Arrangements und die politisch-ökonomische Organisation lassen sich nur im Rahmen dieser wechselseitigen Beziehungen konstituieren bzw. konzeptualisieren, und in diesem Rahmen verändern sie sich auch in Zusammenhang zueinander. [14]
Auf Grundlage sehr verschieden durchgeführter Analysen sprechen Donna HARAWAY, Sarah FRANKLIN, Charis THOMPSON und Nikolas ROSE vom "Bio-Kapital", welches durch die Kommerzialisierung der Lebenswissenschaften und ihrer Produkte (Zellkulturen, Organe, Samen, Blut) wie auch durch die Arbeit von Labormäusen und anderer Tiere entsteht (FRANKLIN & LOCK 2003; HARAWAY 2008; ROSE 2006; THOMPSON 2005). HARAWAY (2008, S.65) behauptet sogar, dass Karl MARX, würde er heutzutage leben, seine Analyse der politischen Ökonomie "Das Biokapital" genannt hätte. [15]
Es geht aber nicht nur um abstrakte Bio-Kapitalismuskritik in den o.g. Studien, sondern auch um Transformationen der Verwandtschaftsbeziehungen, Machtkonstellationen, wie auch um Affekte und (kollektive) Subjektivität(-en). Wenn von Subjektivitäten in der Mehrzahl die Rede ist, dann wird auch von "Standpunkt-Epistemologie" gesprochen, also je nach Interessengruppe von unterschiedlichen Perspektiven auf Wissenschaft und Technologie. Hier wird eine sich als neutral verstehende Epistemologie kritisiert (der sogenannte "Standpunkt von oben" bzw. "Standpunkt Gottes" oder letztendlich des weißen Mannes); stattdessen wird für eine "relationale" bzw. "situierte" Technowissenschaft plädiert. Mehrere Studien haben sich auf Grundlage eines solchen Wissenschaftsverständnisses mit sozialen Bewegungen unterschiedlichster Art (von Frauen, people of color, von Müttern behinderter Kinder, von HIV-Patient/innen, von Bürger/innen mit der einen oder anderen genetischen Krankheit) befasst (BIEHL 2007; EPSTEIN 1996, 2007; RABEHARISOA & CALLON 2008; RABINOW 1992; RAPP 1999; STEPHENSON & PAPADOPOULOS 2006). Die Wechselwirkung von sozialen Bewegungen und der Produktion von Wissen sowie von Medikamenten wurde untersucht und die Inklusion dieser (bio-) sozialen Gruppen bzw. der Zugang zu Untersuchungen, Pflege, Therapien, Medikamenten, Diensten und einem sozialen Leben als politische Priorität bzw. als Errungenschaft dieser Bewegungen verstanden. Gleichzeitig wurde die Kommerzialisierung dieser Produkte und Dienste sowie die Rolle staatlicher, nicht-staatlicher und global operierender Organisationen wie auch sozialer Bewegungen und der Medikamentenindustrie untersucht. Zum Beispiel hat João BIEHL (2007) die erfolgreiche HIV-Politik von Brasilien als Ergebnis der dortigen sozialen Bewegungen bezeichnet, die zu einer qualitativen Veränderung der Synergien zwischen Staat und Pharmaindustrie geführt haben. [16]
Verschiedene Studien betonen unterschiedliche Aspekte der mannigfaltigen Verflechtungen (entanglements) von sozialen Bewegungen, Technowissenschaft, Politik und Wirtschaft. Von den Erzählungen einer Donna HARAWAY über die makro-soziologischen Analysen von Nikolas ROSE zu "Politics of Life Itself" (2006) bis zu Steven EPSTEINs Studien über HIV-Aktivismus in den USA (1996) oder João BIEHLs Ethnografie des Lebens einer Frau mit Machado-Joseph disease1) in einer zone of social abandonment in Brasilien (2005) – um nur einige Beispiele zu nennen: Man kann tatsächlich sehr unterschiedliche Methodologien und Analysen finden, die dennoch ein verwandtes Verständnis des Politischen implizieren. [17]
Der politische Hauptbegriff dieser STS-Denkrichtung ist nicht Expertise, sondern Interesse. Das Begehren, die Affekte, die Motivationen und die Interessen bzw. das aktive Handeln und jene sozialen Bewegungen, die dabei entstehen, können zu grundsätzlichen Veränderungen technowissenschaftlicher Arrangements und neuen Formen bio-politisch-ökonomischer Organisation auf lokaler und globaler, Mikro- wie auch Makroebene führen. STS-Forschung umfasst in diesem Kontext kritische theoretische Analysen, langfristige teilnehmende Feldforschungen sowie die aktive Partizipation an und den Dialog mit sozialen Bewegungen, die neue bio-politisch-ökonomische Konfigurationen erarbeiten. [18]
Viele der Studien, die sich mit Formen und Veränderungen bio-politisch-ökonomischer Organisation befassen, sind anthropologisch orientiert und achten besonders auf Unterschiede zwischen dem Zentrum und der Peripherie bzw. zwischen den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen. Adriana PETRYNAs Studien in Russland, Polen und Brasilien (2009) oder auch João BIEHLs ethnografische Untersuchungen in Brasilien (2005, 2007) können als exemplarisch dafür gesehen werden. João BIEHL experimentiert in seinen Ethnografien auch mit Prosa, Poesie und Fotografie, um andere Wissensformen zum Ausdruck zu bringen – ähnlich wie HARAWAY (2008) mit Erzählungen experimentiert, um relationales und situatives Wissen zu vermitteln. Und trotzdem implizieren alle diese Studien eine westliche bzw. moderne Ontologie. Mit Ontologie ist hier eine Ordnung gemeint, die technowissenschaftlich konstruiert und gleichzeitig real ist. [19]
Man könnte hier Geografie als Beispiel heranziehen: Ohne Technowissenschaft gäbe es Brasilien als Ort, der "immer" out-there "ist", überhaupt nicht. Brasilien ist technowissenschaftlich konstruiert und zugleich real. Gäbe es andere technowissenschaftliche Verfahren und Methoden der Wissensproduktion und andere Wissensformen, hätte es Brasilien, so wie es heute für uns ist, nicht gegeben – sondern andere Realitäten. [20]
Es gibt heutzutage sogar Wissenssysteme und geografische Ordnungen, die eine solche abstrakte Raumeinheit wie Brasilien, welche kontinuierlich in der Zeit existiert, nicht vorsehen. John LAW spricht in seinem Buch "After Method" beispielsweise von den Topografien und Kosmologien von Aborigines in Australien, die sich stark von der westlichen Kosmologie unterscheiden (2004, S.122-139). Es wird argumentiert, dass Wissenschaft nicht Welten oder Objekte, die "da draußen" existieren, untersucht, sondern Beziehungen zwischen dem "da draußen" und dem "hier drinnen" verwirklicht. Und nur innerhalb dieser Beziehungen existiert etwa der menschliche Körper, die Umwelt usw. – immer in einer konkreten, durch die Medizin, die Umweltwissenschaften usw. hergestellten Form. Je nach Methode und technowissenschaftlicher Anordnung wird eine jeweilige Realität (also Körper, Umwelt, Raumeinheiten usw.) performiert bzw. enacted (LAW 2004; MOL & LAW 2004). Nach Annemarie MOL ist die Frage, welche und wie viele Realitäten enacted werden, eine politische Frage – im Sinne einer ontologischen Politik (ontological politics, s. MOL 1999, 2002). [21]
Unser im Review von CHIMIRRI besprochenes Buch "Das Selbst als Netzwerk" (KONTOPODIS & NIEWÖHNER 2010) kann als Beispiel dieser Denkrichtung gesehen werden. Um ein anderes Beispiel heranzuziehen: Die Frage, ob Alzheimer eine genetische Störung ist und medikamentöse Behandlung benötigt wird oder aber mit dem Alltag in konstruierten Umwelten zu tun hat, die so gebaut bzw. gestaltet werden könnten, dass Alzheimer-Patient/innen sich an wichtige Aufgaben und Informationen immer wieder erinnern können, ist nicht nur eine wissenschaftliche Frage, sondern auch eine politische; je nach Untersuchungsmethode, wissenschaftlicher Annäherung, Epistemologie und Fachrichtung kann Alzheimer anders enacted werden und zu unterschiedlichen Prioritäten, Entscheidungen von Institutionen, Finanzträgern und Patient/innenorganisationen und zu unterschiedlichen Interventionen im alltäglichen Leben von Alzheimer-Patient/innen führen (MOSER 2008). [22]
Diese Denkrichtung behauptet, dass eine Pluralität an Methoden, Epistemologien und Kosmologien sowie flüssige (fluid, also nicht strenge) Wissenskategorien und -technologien wünschenswert sind, und es wird besonders auf die Transformation von Wissenskategorien und -technologien geachtet, wenn diese vom Norden in den Süden überführt werden (DE LAET & MOL 2000; LAW 2004). Solche Ansätze kritisieren bzw. relativieren auch stabile, dogmatische und exklusive technowissenschaftliche Richtungen. Ontologische Politik unterstreicht somit die Verantwortung von STS-Forscher/innen, mannigfaltige technowissenschaftliche Arrangements zu produzieren bzw. zu sichern oder zu erweitern. Das Experimentieren mit (Kombinationen von) Forschungsmethoden und mit verschiedenen Arten wissenschaftlichen Schreibens bzw. der Wissensvermittlung wird so zur wesentlichen Aufgabe von STS-Forscher/innen. [23]
5. Weitere Aspekte des Politischen in den Science & Technology Studies
Rayna RAPP (1999) hat in ihren Ethnografien über Frauen, die sich in den 1980er entschieden haben, ihre Föten auf Behinderungen und genetische Krankheiten untersuchen zu lassen, den Begriff moral pioneers genutzt, um diese Frauen zu beschreiben. ROSE spricht in seiner Analyse von politics of life itself von Bioethik als Ethik des Bio-Kapitalismus (ROSE 2006). Didier FASSIN und Richard RECHTMAN untersuchen in ihrem Buch "The Empire of Trauma" (2009) die Entstehung von Trauma als psychische Störung vor allem in den letzten 25 Jahren und sprechen explizit von politics of reparation, politics of testimony und politics of proof. Akteur/innen dieser "Politiken" sind sowohl Betroffene bzw. Patient/innen als auch Nichtregierungsorganisationen, staatliche Institutionen und Wissenschaftler/innen. Die heutige "moralische Ökonomie von Trauma" wird in diesem Zusammenhang "problematisiert". [24]
Ein anderer Begriff, der indirekt mit Politik zu tun hat und viele Diskussionen in den STS geprägt hat, ist care (also "Sorge" oder "Fürsorge"). Man könnte sagen, dass MOL in ihrem Buch "Logic of Care" (2008) einen expliziten Versuch unternommen hat, sowohl methodologisch als auch theoretisch die ethischen Prinzipien technowissenschaftlichen Handelns zu untersuchen und Alternativen zu existierenden "Logiken" anzubieten. Ihre theoretische Kritik an dem dominanten Verständnis von Patient/innen als Konsument/innen oder Bürger/innen basiert auf ethnografisch bzw. praxiografisch erhobenem Material und kann fraglos als politische Kritik gelesen werden. Der Auswahl des Begriffes care ist hierbei nicht zufällig und verweist auf eine lange feministische Tradition. [25]
Wie auch immer die Begriffe care, somatic ethics, moral economy und die damit verbundenen politischen Verständnisse sich voneinander unterscheiden: Die Autor/innen dieser Arbeiten versuchen, ethische Prinzipien technowissenschaftlichen Handelns zu formulieren bzw. die existierenden Prinzipien kritisch zu betrachten oder sich in Bezug auf ethische Prinzipien explizit zu positionieren. Dieses Anliegen ist auch politisch, und diese Arbeiten verweisen genau auf die impliziten und komplexen Zusammenhänge zwischen Technowissenschaften, Ethik und Politik – Ethik und Politik im weitesten Sinne verstanden – auf. [26]
Ich habe in diesem kurzen Beitrag einige voneinander sehr unterschiedliche Verständnisse des Politischen wie auch ihrer Variationen zusammengefasst: Politik als Partizipation von Expert/innen, Lai/innen und Dingen in demokratischen Institutionen, Politik als Gefüge von dynamischen bio-politisch-ökonomischen Beziehungen, in denen soziale Bewegungen eine wichtige Rolle spielen, und Politik als methodisches Vorhaben für das "Enactment multipler Realitäten". Ich habe auch die Zusammenhänge zwischen Ethik und Politik angesprochen. Einerseits sieht es so aus, dass die hier dargestellten verschiedenen Verständnisse des Politischen sich ergänzen. Andererseits können einige dieser Verständnisse als radikaler als andere gesehen werden – ich überlasse diese Aufgabe aber den Lesenden. Auch wenn die Art, wie ich die verschiedenen Verständnisse des Politischen gruppiert habe, etwas unscharf erscheinen mag, hoffe ich, dass sie der Fortführung der Diskussion, die CHIMIRRI in seinem Review angeregt hat, dienen kann. Selbstverständlich sind diese Gruppierungen auch politisch an sich: Die Frage bleibt meines Erachtens offen, ob und wie Science & Technology Studies zur Entstehung "besserer" (wie CHIMIRRI geschrieben hat) bio-politisch-ökonomischer Arrangements auf der Mikro- und Makroebene sowie auf lokaler und transnationaler Ebene beitragen kann, und eine Antwort liegt in weiter Ferne. Unser Buch "Das Selbst als Netzwerk" stellt ebenso wie die anderen Bücher der transcript-Reihe "VerKörperungen/MatteRealities: Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung" hoffentlich einen kleinen Schritt dar, der Beantwortung näher zu kommen. [27]
Ganz herzlicher Dank an Stefan BECK, Jörg NIEWÖHNER, Estrid SØRENSEN, Michi KNECHT und Annemarie MOL, an die Autor/innen unseres Buches und an Niklas Alexander CHIMIRRI für seine Anregungen. Diese Replik wurde im Rahmen der ERC-Förderung "Eating Bodies. The Eating Body in Western Theory and Practice" geschrieben (AdG09 Nr. 249397).
1) Die Machado-Joseph-Erkrankung (MJD) ist eine autosomal dominant vererbte Ataxie-Erkrankung. Das Gen für die MJD ist auf Chromosom 14q lokalisiert und die verantwortliche Mutation in Form eines verlängerten und instabilen Trinukleotidrepeats (CAG) identifiziert worden. <zurück>
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Dr. Michalis KONTOPODIS arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Amsterdam Institute of Social Science Research, Universität von Amsterdam. Seine Forschung bringt Kinder- und Jugendforschung und Science & Technology Studies zusammen. Sein Buch "Neoliberalism, Pedagogy and Human Development: Exploring Time, Mediation and Collectivity in Contemporary Schools" wurde gerade bei Routledge veröffentlicht (2012). Unter anderen ist er Mitherausgeber der Bücher "Children, Development and Education: Cultural, Historical, Anthropological Perspectives" (mit C. WULF & B. FICHTNER, Springer, 2011) und "Das Selbst als Netzwerk: Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag" (mit J. NIEWÖNER, transcript, 2010). Alle seine Publikationen stehen hier zu Verfügung: http://mkontopodis.wordpress.com/.
Kontakt:
Dr. Michalis Kontopodis
Amsterdam Institute for Social Science Research
University of Amsterdam
Kloveniersburgwal 48, 1012 CX Amsterdam
Niederlande
Tel.: +31 (0) 20 525 2456
E-Mail: michaliskonto@googlemail.com
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Kontopodis, Michalis (2012). Review Essay: Das "Politische" in den Science & Technology Studies [27 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(2), Art. 24,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1202242.