Volume 13, No. 2, Art. 11 – Mai 2012

Rezension:

Torsten Junge

Anne Waldschmidt, Anne Klein & Miguel Tamayo Korte (2009). Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 323 Seiten; ISBN 978-3-531-1566-4; 49,95 Euro

Zusammenfassung: Das Alltagswissen erfährt in der von den Wissenschaften geprägten Wissensgesellschaft zunehmend Beachtung. Nicht zuletzt aus Gründen der Akzeptanz der an Eingriffstiefe für das alltägliche Leben zunehmenden Bedeutung biomedizinischer Fragestellungen werden Formen der Partizipation bei Diskussionen um bioethische Problemstellungen eingesetzt. Ein Instrument, um lebensweltliche Diskurse jenseits wissenschaftlicher ExpertInnenrunden zum Tragen kommen zu lassen, bietet das Internet-Portal www.1000fragen.de zu bioethischen Problemen biomedizinischer Forschung und Anwendung. In ihrer umfangreichen Untersuchung analysieren die VerfasserInnen die alltagsweltlichen Kommunikationen im Internet. Diese Alltagsdiskurse werden als eine Wissensform herausgestellt, die spezifischen Strukturierungsmustern innerhalb eines Macht-Wissens-Feldes folgt. Überprüft wurde weiterhin, inwiefern das Alltagswissen sich von dem Spezialwissen wissenschaftlicher AkteurInnen differenzieren lässt und welches bislang vernachlässigte kreative Potenzial dem "Wissen der Leute" inhärent erscheint. Als besonders gelungen stellen sich die Analysen der diskursiven Strategien dar, die in der Onlinekommunikation zur Anwendung kommen.

Keywords: Bioethik; Diskursanalyse; Partizipation; Alltagswissen; Foucault; Internet-Kommunikation

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aufbau der Studie

2.1 Forschungsgegenstand und theoretische Rahmung

2.2 Wissen und Diskurs

2.3 Klon, individuelle Autonomie und Normalität/Behinderung – drei Fallstudien

3. Resümee

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Die hier besprochene Studie behandelt die aktuelle Thematik der zunehmenden Partizipation an ehemals geschlossenen gesellschaftlichen Teilbereichen, in diesem Falle zu Fragen der Technologiefolgenabschätzung und Bioethik. Das Interesse an der Mitwirkung weiter Kreise der Bevölkerung an der Diskussion bioethischer Fragen ist keineswegs selbstverständlich, lange Zeit blieb dieser Diskurs ausschließlich der wissenschaftlichen bzw. moraltheologischen Expertise vorbehalten, wie die VerfasserInnen in ihrem Problemaufriss darstellen (WALDSCHMIDT, KLEIN & KORTE, S.11-23). Hier hat sich etwas verändert, wie die Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" vor ein paar Jahren festhielt:

"Was alle angeht [...] müssen auch alle entscheiden. Dass die sozialen und ethischen Implikationen der modernen Medizin die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger angeht, sei nahezu unbestreitbar. Ethische Bewertungen seien gerade nicht an Experten zu delegieren, sondern vielmehr die Angelegenheit der Bürgerinnen und Bürger selbst" (EK-MED 2002, S.392f.). [1]

Diese eindeutige Begrüßung des partizipativen Engagements in Fragen der Technologiefolgeabschätzung von medizinischen Verfahren bildet einen Ausgangspunkt der vorliegenden Studie und vereint deren zentrale Perspektiven (WALDSCHMIDT et al., z.B. S.15). [2]

Demokratisches Mitbestimmen wird hiernach als Forderung artikuliert, und zwar für eine Sphäre, die der Öffentlichkeit lange Zeit entzogen war, nämlich für den Bereich der anwendungsbezogenen (Bio-) Wissenschaften. Gleichzeitig mit der Forderung nach Partizipation von LaiInnen gehe die Feststellung des Verlusts der Autorität, der "Herrschaft der Experten" (a.a.O.), einher. Dieser Tenor ist im Diskurs um die Wissensgesellschaft weitgehend unbestritten, sozialwissenschaftliche Analysen und politische Forderungen münden darin, dass die LaiInnen, die "nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit" oder – begrifflich korrespondierend – "der Bürger", stärker an den Verhandlungen und Entscheidungen über die gesellschaftlichen Konsequenzen wissenschaftlichen Wissens herangezogen werden sollten. Diese von den VerfasserInnen geteilte Einschätzung ist charakteristisch für eine sich aktuell formierende Beziehung des Individuums, nicht nur zur staatlichen Souveränität, sondern auch im Verhältnis zur Wissenschaft: Denn bislang dominierten die Wissenschaften innerhalb dieser Relationen und formulierten für sich selbst und gegenüber der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit den Anspruch auf Autonomie und Autorität bezüglich der Welt- und Wirklichkeitserklärung (vgl. u.a. BAYERTZ 1995). Die Selbstbeschreibung als ein in diesem Sinne autoritäres System und die damit verbundene systematische Exklusivität des wissenschaftlichen Wissens wird vielfach als Ursache für jenes "Entfremdungsgefühl" einer nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit oder der LaiInnen angegeben, Wissenschaft nicht mehr "zu verstehen" und auch nicht an einer Kompetenzerweiterung bei der Durchsetzung wissenschaftlicher Rationalität beteiligt zu sein. Ein zweiter Punkt, der in dem einführenden Zitat der Enquete-Kommission nicht zur Gänze entfaltet wird, aber in den Diskussionen um wissenschaftliches (Anwendungs-) Wissen immer wieder zum Tragen kommt, ist die Diagnose von Kontroversität und Unsicherheit: Wissenschaftliches Wissen, besonders die biomedizinische Experimentalwissenschaft, wird als kontrovers, unbeständig, relational und ständiger Aushandlung unterliegend beschrieben. Die Zunahme von kontroversem Wissen korreliert mit einem Anstieg von Problemen und Fragestellungen, die allein durch wissenschaftliche Diskussion nicht gelöst werden können. Jedoch ist der Umgang mit Kontroversität für LaiInnen ein anderer als für wissenschaftliche AkteurInnen, Erstere stehen weitaus mehr unter Handlungs- bzw. Entscheidungsdruck, z.B. bei der Entscheidung für eine Lebendorganspende oder bei der Entscheidung für eine künstliche Befruchtung. [3]

Allerdings wurde das Alltagswissen, das von dem wissenschaftlichen Wissen abzugrenzende LaiInnenwissen, in der Vergangenheit als das eigentliche Problem artikuliert, das einer wissenschaftlichen Aufklärung bedürfe (WALDSCHMIDT et al., S.19). So stand das LaiInnen- gegenüber dem ExpertInnenwissen in Konfrontation mit der eindeutigen Zusprache an Kompetenz an Letzteres. [4]

Innerhalb der sozialwissenschaftlichen, politiktheoretischen wie auch alltagsweltlichen Diskussionen steht das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Wissensarten, speziell das zwischen wissenschaftlichem Wissen und dem Wissen der sogenannten LaiInnen, auf dem Prüfstand mit der eindeutigen Tendenz, dass die Auflösung des hierarchischen Wissensverhältnisses gefordert wird. So wird die weitreichende Öffnung der Wissenschaften gegenüber einer Einflussnahme der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit begrüßt, gleichzeitig beobachten die VerfasserInnen eine "Rehabilitierung praxisrelevanten Wissens" (a.a.O.). [5]

Stand in der Vergangenheit zunächst die Förderung des gegenseitigen Verstehens von Wissenschaft und Bevölkerung im Mittelpunkt forschungspolitischer Anstrengungen, so ist aktuell ein weiterer Transformationsschub zu beobachten, der weitaus vehementer die Frage nach der öffentlichen Beteiligung und Mitwirkung im Sinne eines demokratischen Prozesses stellt. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit solle sich danach nicht auf die einseitige Belehrung zur Verständnis- und Akzeptanzförderung beschränken, sondern das Wissen, welches nicht als "wissenschaftlich" ausgewiesen wird, so das Wissen der LaiInnen, in den Prozess der Erkenntniserzeugung aufnehmen und verarbeiten: Es bestehe eine breit geteilte Position, die das "Alltagswissen" als "Quelle von Kreativität und Erneuerung" ansehe (S.20). Die Forderung nach und das gleichzeitige Versprechen von außerwissenschaftlicher Mitbestimmung, die Aufwertung des LaiInnenwissens und schlussendlich die Aufhebung der epistemischen Souveränität sind Anschlussmomente für WALDSCHMIDT und ihre MitautorInnen. In der Folge sucht die Studie nach den Kriterien, mit denen sich die Potenziale von Partizipation zur Stärkung von demokratischer Deliberation beurteilen lassen. Sie bestärkt die Erwartung, dass die Kritik an der "Entmündigung durch Experten", die Ivan ILLICH (1979a) als epochale Bezeichnung für die Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert hat, positiv wirksam zu werden beginnt. Nämlich in der Form dessen, dass die Hervorhebung der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit, des lokalen Alltagswissens der BürgerInnen, "den Weg zur freien Entfaltung nichthierarchischer, aus der Gemeinschaft hervorgegangener Kompetenz eröffne[t]" (1979b, S.8). Das soziale Verhältnis zwischen ExpertInnen und LaiInnen erscheint in dieser Kritik als eine einseitige Anerkennungsbekundung, nämlich gegenüber der "normativ-kulturellen Autorität der Wissenschaft und der wachsenden Relevanz und Nützlichkeit [...] einer Expertengesellschaft" (NOWOTNY, SCOTT & GIBBONS 2004, S.235). [6]

Verschiedene partizipative Arrangements im Bereich der Technologiefolgeabschätzung scheinen dieses hierarchische Verhältnis zu brechen, denn mit der weitreichenden Durchdringung der Gesellschaft durch Wissen würden technokratische ExpertInnenmodelle durch neue Politikarenen abgelöst werden, in denen "wohlinformierte Bürgerinnen und Bürger ihr Wissen, ihre Kompetenz in Interventionen in politische Entscheidungsprozesse umsetzen können" (FÜCKS & POLTERMANN 2002, S.9). Das Versprechen nach Anerkennung, das mit der Konstatierung der Wissensgesellschaft mitschwingt, behauptet keineswegs eine Schwächung des wissenschaftlichen Wissens hinsichtlich seiner diskursiven Macht, sondern die Aufwertung der bis dato als LaiInnen deklassierten Individuen und die Rehabilitation der "'unterdrückten' Wissensformen" (WALDSCHMIDT et al., S.66). [7]

Diese gesellschaftstheoretischen Betrachtungen vor dem Hintergrund sich neu herausbildender Kommunikationsarenen bilden die Arbeitsfolie für die von WALDSCHMIDT et al. vorgelegte Studie zum "Wissen der Leute". Den Ausgangspunkt bildet ein "soziale[s] Experiment, das konsequent auf die Eigenwilligkeit des Alltagswissens vertraut" (S.20), nämlich das von der Aktion Mensch geförderte Online-Portal www.1000fragen.de, das 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt (und bis 2009 vorgehalten) wurde mit dem Ziel, "die Beteiligung der Bevölkerung an der gesellschaftlichen Debatte über die moderne Medizin und die Gen- und Fortpflanzungstechnologien anzuregen" (S.21). Die NutzerInnen konnten Fragen zu bioethischen Problemen stellen sowie Beiträge anderer User lesen und kommentieren. Insgesamt wurden über 11.000 Fragen und über 100.000 Kommentare abgegeben, von denen ein Teil als " 'natürliche', nämlich ungefilterte [...] Dokumente" (a.a.O.) in der Studie von WALDSCHMIDT et al. als Erhebungsmaterial eingeflossen ist. Die Themen umfassten dabei die breite Palette biomedizinischer Eingriffsmöglichkeiten von der vorgeburtlichen Diagnostik bis zur Sterbehilfe. [8]

2. Aufbau der Studie

2.1 Forschungsgegenstand und theoretische Rahmung

Die Studie beschreibt dezidiert nicht nur den von der Aktion Mensch initiierten gesamten Kampagnenverlauf (Öffentlichkeitsarbeit, Werbung etc.), sondern zudem auch den Aufbau des Online-Portals, die Bedienmöglichkeiten und abschließend das Zustandekommen der wissenschaftlichen Begleitung durch die Universität Köln. Bei Letzterem ging es nicht um eine Evaluation des Erfolgs der Kampagne hinsichtlich des "Stimulieren[s] zivilgesellschaftlicher Debatten", sondern um die Wirkweise und funktionalen Aspekte gesellschaftlicher Diskussionen über Kontroversen der Bioethik (S.37). Die Leitfrage, wie sie im Forschungsprojektantrag artikuliert wurde, lautet dementsprechend: "Wer fragt was wen auf welche Weise mit welcher Wirkung?" (a.a.O.). [9]

Innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung mit der Kommunikationsform Internet wird das Forum des Online-Portals als ein diskursives Ereignis klassifiziert. Die Forschungsgruppe begreift es als ein "Puzzle-Teil" eines gesamtgesellschaftlichen Bioethik-Diskurses, der einer eigenen Logik folge und dessen Regelmäßigkeiten, Strukturierungen und Ordnungen sich systematisch analysieren ließen. [10]

In der Auseinandersetzung mit der HABERMASschen Diskursethik wird für WALDSCHMIDT et al. deutlich, dass die normativ ausgerichteten Geltungsansprüche idealer Sprechsituationen kaum einzuhalten sind. Denn würde man den Prämissen nach Wahrheit, Richtigkeit, Verständlichkeit, Reziprozität etc. folgen, erscheine die Kommunikation im Internet-Forum nur als " 'Rauschen' im virtuellen Raum, [...], ein Sprechen 'ohne Sinn und Verstand' " (S.43). Sie vertreten deshalb einen Diskursbegriff in Anlehnung an Michel FOUCAULT, der Diskurs als "System von Aussagen" (S.54) fasst, die Welten und Wirklichkeiten erzeugen. Auf wenigen Seiten wird versucht, das FOUCAULTsche Konzept von Wissensproduktionen, Machtverhältnissen und Subjektivierungstechniken "unter einen Hut" zu bringen und zu einer analysefähigen Fragestellung zu bündeln. Der Schwammigkeit des Diskursbegriffes ist es geschuldet, dass die Ausführungen über diesen Begriff wenig geordnet erscheinen bzw. die Zurichtung der FOUCAULTschen Machtanalytik unter methodologischen Gesichtspunkten nur in Ansätzen auftaucht. Leser und Leserinnen, die mit dem FOUCAULTschen Denkuniversum vertraut sind, dürfte das wenig stören, jedoch wünschte man sich hier eine genauere Zielführung. Auch die anschließenden Kapitel zur Rahmenanalyse und zum methodischen Vorgehen sind in ihrer umfangreichen Darstellung teils ablenkend von der eigentlichen Fragestellung, zeigen aber auf das Deutlichste die Präzision in der Durchführung der Studie. Nichts wird vernachlässigt, es erfolgt eine permanente Rückbindung an die FOUCAULTschen Prämissen. Allerdings bleibt fraglich, ob eine Analyse des Gesamtrahmens von Bioethik über Partizipation und Technologiefolgeabschätzung bis hin zu den Eigenarten der virtuellen Kommunikation nicht eine Überfrachtung der Studie darstellt, die dem eigentlichen Ziel, nämlich die Gesetzmäßigkeiten des Sagbaren herauszustellen und die Differenzen zwischen Wissensformen zu analysieren, im Wege steht. [11]

Als Lehrstück für die empirische Sozialforschung eignen sich diese ersten knapp 200 Seiten, die eiligen Lesenden werden sie allerdings nur überfliegen und zu den spannendsten Kapiteln der Auswertung übergehen, nämlich der wissenssoziologischen Analyse der "Macht des Wissens" und den drei Fallstudien interdiskursiven Wissens im Anschluss. In diesen zeigen sich nämlich deutlich nicht nur die Differenzen zwischen den Wissensformen, sondern auch spannungsreiche (De-) Legitimationsstrategien werden in ihrer Anwendung analysiert. [12]

2.2 Wissen und Diskurs

Vier Kernbereiche strukturieren die Analyse der Online-Kommunikation, nämlich die Manifestationsweisen von Alltags- und Spezialwissen, deren Legitimationsstrategien, die Grenzziehungen und letztlich der Zusammenhang zwischen "Wissensformen und Diskursgegenständen" (WALDSCHMIDT et al., S.194). Die VerfasserInnen arbeiten mehrere Dimensionen der Differenzierung zwischen Alltags- und Spezialwissen heraus, die für die Strukturierung des Online-Diskurses relevant erscheinen. Deutlich werden bei der Analyse die besonderen Argumentationsfiguren, die dem Alltagswissen im Gegensatz zu wissenschaftlichem Wissen innewohnen. So hat beispielsweise der "Stellenwert des Subjekts" (S.202) eine schwerwiegendere Bedeutung im Alltagswissen; das individuelle Erleben bzw. die persönliche Betroffenheit präjudiziert eine Manifestation individueller Positionen, die "größere Chancen hat, von anderen akzeptiert zu werden, als eine nach den Regeln des Spezialdiskurses Bioethik formulierte, abstrakte Aussage" (S.203). Dementsprechend weisen auch andere Differenzierungsdimensionen zwischen dem Alltags- und Spezialwissen eine entsprechende Fokussierung auf, so rekurriere das Alltagswissen auf biografische Besonderheiten, während das wissenschaftliche Wissen den klassisch zu nennenden Verfahren einer Sprachlogik folge, die sich Kriterien der Objektivität und Rationalität verpflichtet sehe (S.201). Das mag auf den ersten Blick nicht besonders verwundern, es zeigt sich aber im weiteren Verlauf, dass auch die Online-Kommunikationen zum bioethischen Diskurs autoritäts- und hierarchieerzeugenden Konzepten in der Wissensproduktion folgen. So erscheine das Alltagswissen, welches sich nicht auf "hauptamtliche[...] Legitimatoren" (in diesem Beispiel POPPER) bezieht, weniger legitim. Dementsprechend sind für die VerfasserInnen "Abgrenzungs- und Exklusionsstrategien" (S.211) im Material zu finden. Interessant dabei ist es, dass das Spezialwissen mit seiner spezifischen legitimatorischen Sprachpraxis nicht unbedingt immer auf der "Gewinnerseite" stehe. So zeigt die Studie äußerst plakativ, wie Diskursstrategien gewechselt werden, wenn sie nicht zum erwünschten Erfolg führen: Wenn beispielsweise der Bezug auf wissenschaftliche Autorität von den anderen Kommunikationsteilnehmenden nicht akzeptiert scheint, ermögliche der Schwenk auf die Dimension der subjektiven Erfahrung – "Ich weiß schon, wovon ich rede" (a.a.O.) – die Akzeptanz und Betonung der "Spielregeln des Alltagswissens" (a.a.O.). Diese diskursiven Strategien folgen keineswegs dem zugewiesenen Ausgangspunkt der jeweils Schreibenden, auch wissenschaftliche AkteurInnen bzw. Institutionen bedienen sich der Dimensionen des Alltagswissens, um ihre Positionen als legitim zu markieren (vgl. JUNGE 2001). Damit verbunden treten, so WALDSCHMIDT et al., Tabuisierungen von Artikulationen auf, die keine persönlichen Erfahrungen ausweisen können. Hier erscheint ein tragendes Moment für die Relevanz dieser Studie: Bestimmte Kommunikationsformen fördern hiernach Strategien der gegenseitigen Delegitimation, das hehre Ziel von Pro- und Kontra-Debatten mit der Möglichkeit des voneinander Lernens scheint verspielt nicht nur innerhalb alltagsweltlicher Kommunikation, sondern auch im Zusammentreffen von Spezial- und Alltagswissen (S.211-215). [13]

2.3 Klon, individuelle Autonomie und Normalität/Behinderung – drei Fallstudien

In den drei sich anschließenden Fallstudien werden ausgewählte Themen, die im Diskurs des 1000Fragen-Projekts zum Tragen kommen, spezifischer hinsichtlich der Funktionsweise interdiskursiven Wissens analysiert. Der Abschnitt von Anne KLEIN zum Bereich "Klon" untersucht die identifikatorischen Angebote, die die Metapher des Klons als Projektionsfläche mit sich führt. Dahinter steht für KLEIN die Frage, in welcher Art und Weise "sich der Mensch im Klon als Subjekt" (S.241) entwirft. In den Kommunikationen um den Klon zeige sich das gesamte Spektrum von Wissenstransformationen, so erscheine der Klon teils als Ressource, als "Ersatzteillager", und teils umgebe ihn eine emotionale Dimension, die ihm eine eigenständige Identität zuschreibe als "Wesen mit menschlichen Empfindungen" (S.246). KLEIN macht den Klon in ihrer Fallstudie als ein typisches Produkt interdiskursiven Wissens aus, in dem sich divergierende "Diskursverschränkungen" (S.255) nachweisen lassen. Die Zuweisungen, ob die Äußerungen zum Bereich des "Klonens" eher einem Spezialdiskurs oder einem alltagsweltlichen Verständnis zuzurechnen sind, erscheinen nicht immer plausibel; dazu ist vielleicht auch die Trennung in solche Diskursbereiche zu rigoros. Einen Gewinn stellt die Fallstudie in Hinsicht auf die diskursive Aufladung des Klonbegriffs dar und in der Offenlegung der sich daran anschließenden Diskursfelder, die die Spezifika der jeweiligen SprecherInnenpositionen aufzeigen. [14]

Die anschließende Fallstudie von Miguel Tamayo KORTE nimmt den für die Online-Kommunikation paradigmatischen Satz "Jeder soll selbst entscheiden" zum Ausgangspunkt für eine Analyse der "Formationsregeln" (S.256) dieser Aussage. KORTE verweist auf das Konzept der "individuellen Autonomie", das dieser Aussage zugrunde liege, und arbeitet die in den Kommunikationen hervortretenden Vorstellungen von der Eigenständigkeit menschlichen Denkens und Handels heraus. Auch wird deutlich, dass das Konstrukt "individuelle Autonomie" Abgrenzungs- und Ausschließungstechniken bedarf bzw. zur Disposition steht, wenn es um die Verantwortung für andere geht bzw. um den individuellen "Autonomieverlust" (S.272f.). Das "Ideal einer individuellen, eigenverantwortlichen Lebensführung" (S.274) bringe jedoch eigenwillige Paradoxien insbesondere bei dem Thema Sterbehilfe hervor. Denn bleibe die Dimension der Sozialität ausgespart, würden jene Begründungskriterien für das dann folgende fremdbestimmte Handeln fehlen. KORTE kann zeigen, dass sich hinter der Affirmation der "individuellen Autonomie" teils ein äußerst widersprüchlicher Mix aus Alltagswissen und Bruchstücken wissenschaftlichen Wissens verbirgt, der auch Anschlüsse an sozialdarwinistisches Gedankengut nicht ausspart. [15]

Anne WALDSCHMIDT geht dem "Spannungsverhältnis zwischen Normalität und Behinderung" (S.277) nach und begibt sich damit auf die Ebene der diskursiven Produktionen des Verständnisses von bzw. der Grenzziehung zwischen Abweichung und Regel. An unterschiedlichen Grenzziehungsdimensionen arbeitet WALDSCHMIDT SprecherInnenpositionen, Begrifflichkeiten und diskursive Strategien heraus, die das "Sprechen der Leute" (S.282) als Teil biopolitischer Differenzierung abbilden. So wird deutlich sichtbar, dass es vornehmlich eine "nicht behinderte Diskursgemeinschaft" ist, die sich im Online-Forum beteiligt und die Grenzen zwischen normal und behindert vermeintlich kritisch – "vielleicht aus Gründen der political correctness?" (S.284, Herv.i.Orig.) – thematisiert. Jedoch werde diese Grenze durch die Nutzung der "normalen" SprecherInnenposition immer wieder "reaffimiert" (S.284f.)]. Das, was als normal bzw. behindert gelte, erscheine dabei keineswegs als eindeutig. Zwar lassen sich nach WALDSCHMIDT gängige Stereotype ausweisen, allerdings fragmentiert sich die Idee von Behinderung in der "Kontingenz der Abweichung" (S.286). Weitaus stärker seien davon die Artikulationen über Norm und Normalität betroffen; für WALDSCHMIDT spiegeln die Diskussionen, dass die "Norm(alität) längst in Bewegung geraten" (S.289) ist. Konsequenter Höhepunkt sei dementsprechend auch die Feststellung, dass es sich bei beiden Begriffen um "Leerformeln" oder "Containerbegriffe" (a.a.O.) handele, deren Befüllung relativ variabel erscheine. [16]

3. Resümee

Die Studie legt einen repräsentativen Querschnitt der Meinungen und Haltungen zu den Herausforderungen der Bioethik vor, wie sie im Online-Forum des 1000Fragen-Projektes vorfindbar waren. Das reicht von radikal provokativen Ansichten bis hin zu die "Paradoxie der Grenzziehungen" problematisierenden Positionen:

"Behinderte? Würde? Ich lach mich tot. Diese sabbernden, humpelnden, jaulenden, Geld verschlingenden Spasten gehören in 'nen Ofen! Dann erfüllen sie wenigstens noch den Zweck, dass es normale Menschen schön warm haben. :)" (WALDSCHMIDT, S.294)

"wieso wird [...] eigentlich zwischen behindert und nichtbehindert unterschieden, wir sind doch alle normal unnormal" (S.297). [17]

Erarbeitet wurden die spezifischen Merkmale eines sich in einem speziellen Medium artikulierenden Wissens. Die VerfasserInnen können mit ihrer Studie zeigen, dass in der Artikulation des Alltagswissens besondere Legitimationsweisen hervortreten, die Machtdifferenzen manifest werden lassen. Wer wie wo was sagen darf und mit einer Aussage Anerkennung findet – dies ist durch bestimmte Regeln strukturiert, die nicht unbedingt unserem gängigen Verständnis folgen. So ist der Bezug auf wissenschaftliche Autorität in der Aussage kein Garant für eine gelingende, also akzeptierte Aussage. Der besondere Wert der Studie liegt sicher im Aufzeigen der Komplexität alltagssprachlicher Auseinandersetzung, die sich teils nicht unbedingt von wissenschaftlichen Diskussionsrunden unterscheidet, zumindest wenn es um die Deklassierung der anderen Position geht. So befinden sich nicht nur das Spezial- und das Alltagswissen im Widerstreit, sondern auch innerhalb der Wissensformen ist wenig Einigung bzw. Wissenstransfer zu beobachten. Stellt man nun die Frage, welchen Beitrag das Alltagswissen angesichts der "Legitimationskrise des Expertenwissens und der Forderung nach Partizipation von Laien an der Wissensgesellschaft" (WALDSCHMIDT et al., S.300) leisten kann, so verbleibt nach der Lektüre ein Unbehagen angesichts des im Online-Forum virulenten "sozialdarwinistischen Gedankenguts" (S.304) und der besonderen, sich anscheinend gegenseitig ausschließenden Kommunikationsmodi. Zu bestätigen ist die Ansicht der VerfasserInnen, dass das Alltagswissen "vielstimmig, komplex, eigenwillig und manches Mal auch widerspenstig" (a.a.O.) ist. Ob jedoch die Form des Online-Forums der geeignete Weg ist, das "Wissen der Leute" als "reichen Schatz an Erfahrung und Erkenntnis" zur Geltung kommen zu lassen, bleibt fraglich. [18]

Literatur

Bayertz, Kurt (Hrsg.) (1995). Verantwortung – Prinzip oder Problem. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft.

EK-Med (2002). Recht und Ethik in der modernen Medizin. Schlußbericht der Enquete-Kommission. Herausgegeben vom Deutschen Bundestag. Opladen: Leske + Budrich.

Fücks, Ralf & Poltermann, Andreas (2002). Vorwort und Einleitung. In Andreas Poltermann (Hrsg.), Gut zu Wissen. Links zur Wissensgesellschaft (S.7-13). Münster: Westf. Dampfboot.

Illich, Ivan (1979). Entmündigende Expertenherrschaft. In Ivan Illich et al. (Hrsg), Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe (S.7-35). Hamburg: Rowohlt.

Junge, Torsten (2001). Die Okkupation des Fleisches. Konstitutionen des Selbst im Zeitalter der Transplantationsmedizin. Eitorf: Gata Verlag.

Nowotny, Helga; Scott, Peter & Gibbons, Michael (2004). Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit. Weilersvist: Velbrück.

Zum Autor

Torsten JUNGE, Dr. phil, Soziologe M.A.; geb. 1970; Studium der Soziologie, Psychologie und Politik, 2. Staatsexamen Höheres Lehramt Deutsch/Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkt: Didaktik der Sozialwissenschaften, Governmentality Studies, Körpersoziologie, Soziologie des Marginalen. In FQS hat Torsten JUNGE Besprechungen verfasst zu Neue Perspektiven der Wissenssoziologie (herausgegeben von TÄNZLER, KNOBLAUCH & SOEFFNER 2006) und zu Identität und Stigma-Management von homosexuellen Führungsgruppen (MAAS 1999).

Kontakt:

Dr. Torsten Junge

Ludwigstr. 8
D-20357 Hamburg

E-Mail: tojunge@gmx.net

Zitation

Junge, Torsten (2012). Rezension: Anne Waldschmidt, Anne Klein & Miguel Tamayo Korte (2009). Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(2), Art. 11,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1202116.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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