Volume 13, No. 3, Art. 12 – September 2012
Die rituelle Konstruktion der Person. Aspekte des Erlebens eines Menschen im sogenannten Wachkoma
Ronald Hitzler
Zusammenfassung: Schwere Krankheiten ebenso wie Sterben und Tod sind Katastrophen im menschlichen Leben und Zusammenleben, die den Gang der Dinge im Sinne eines stetigen "immer so weiter" radikal infrage stellen. Aber so entsetzlich sie nicht nur für die davon direkt, sondern auch für die davon indirekt Betroffenen sind, so wenig irritieren sie die Gewissheit, dass es dabei um mitmenschliche Katastrophen geht. Das sogenannte Wachkoma, insbesondere als verstetigter bzw. chronifizierter Zustand, hingegen konfundiert und destruiert sowohl die bisherige Existenz des oder der primär Betroffenen als auch die Lebensgewohnheiten, Gegenwartsinteressen und Zukunftserwartungen von wie auch immer persönlich mit ihm bzw. ihr verbundenen und infolgedessen mehr oder weniger nachdrücklich und nachhaltig mitbetroffenen Personen. Kurz: Ein Mensch im sogenannten Wachkoma stürzt Menschen, die ihm zugewandt sind, in Krisen der Mitmenschlichkeit, denn es ist ausgesprochen ungewiss, ob das, womit man da umgeht, (noch) ein Anderer "wie ich" ist. Wer andauernd mit Menschen im sogenannten Wachkoma zu tun hat – sei es aufgrund persönlicher Beziehungen, sei es in ehrenamtlichen Funktionen oder sei es in medizinisch-therapeutisch-pflegerischen Berufsrollen –,muss die durch die notorische Ungewissheit des oder der Anderen evozierten Zweifel und die durch diese Zweifel ausgelösten Krisen der Mitmenschlichkeit in "lebbare" Deutungszusammenhänge und in gegenüber Alltagswahrnehmungen (im Zweifelsfall) resistente symbolische Sinnsysteme und rituelle Handlungsweisen transformieren. – Vor dem Hintergrund einiger mit einem (laufenden) Projekt zum "Deutungsmuster Wachkoma" einhergehender methodologischer und methodischer Probleme werden in diesem Beitrag Aspekte des Miterlebens eines Menschen mit schwersten Gehirnschädigungen, der Konstitution eines als solchem zweifelhaften Anderen und der rituellen Konstruktion einer die alltäglichen Interaktions- und Kommunikationserwartungen "unterlaufenden" Person diskutiert. Rekonstruiert wird, im Rekurs auf die mundanphänomenologische Appräsentationsanalyse und die wissenssoziologisch-hermeneutische Symboltheorie, der dabei erkennbare, mehrstufige Decodierungsvorgang.
Keywords: Ethnografie; Phänomenologie; Konstitution und Konstruktion; Ritualforschung: Wachkomaforschung
Inhaltsverzeichnis
1. Erschütterungen der Sozialität
2. Probleme der Appräsentation
3. Zwischenschritt: Routinen und Rituale
4. Rituale der Bewältigung
5. Exemplarische Präzisierung: Eigennamen
6. "Glaubensartikel"
7. Als Konklusion: Eine Gradierungszeremonie
para mi compañera
1. Erschütterungen der Sozialität1)
In alles schleichen sich, über alles legen sich Zweifel: Zweifel am Statthaben von Kommunikation und Interaktion, Zweifel am Gelingen von Intersubjektivität, Zweifel daran, es mit einem Subjekt zu tun zu haben, das nicht nur Leib ist, sondern seinen Körper auch hat, und schließlich Zweifel daran, dass einem hier überhaupt mehr Begegnung widerfährt als die mit sich selbst. Kurz: Es ist ausgesprochen ungewiss, ob das, womit man es im Umgang mit dem Menschen im sogenannten Wachkoma zu tun hat, (noch) ein Anderer "wie ich" ist – oder nur ein "Berg Menschenfleisch" (wie das eine verzweifelte Angehörige einmal formuliert hat – vgl. KLIE & STUDENT 2007, S.159). [1]
Allein schon die Frage, ob dieser Mensch (noch) "Bewusstsein" hat, lässt sich zunächst nur mit der Gegenfrage beantworten, welche Art von Bewusstsein damit gemeint sein soll: ein Zustand, der sich von dem des Schlafens oder der Bewusstlosigkeit unterscheidet? Empfindungen als Erleben von Reizen? Gedanken haben? Wissen, dass man selbst Gedanken hat? Sich als sich selbst bedenken? [2]
Medizinisch gesehen resultiert der Zustand "Wachkoma" aus einer schweren Schädigung der Großhirnrinde und/oder ihrer Verbindungen zu den tiefer gelegenen Kerngebieten des Thalamus und/oder der Basalganglien infolge von äußeren Gewalteinwirkungen auf den Schädel und/oder durch eine anderweitig verursachte massive Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff.2) Ernst KRETSCHMER hat in den 1930er-40er Jahren den infrage stehenden Zustand als (relativ seltene) Folgewirkung ausgedehnter entzündlicher Prozesse beider Großhirnhemisphären oder traumatischer Schädigungen des Großhirns oder schwerer degenerativer Veränderungen der Großhirnhemisphären infolge z.B. vaskulärer Prozesse (d.h. von Erkrankungen der Arterien/Venen) diagnostiziert und als "apallisches Syndrom" bezeichnet (KRETSCHMER 1940). In der internationalen Diskussion werden gegenwärtig in aller Regel die Begriffe vegetative state (VS) – mit und ohne die Qualifizierung als persistent oder permanent – sowie neuerdings das Etikett unresponsive wakefulness syndrome (UWS) (vgl. NACIMIENTO 2007; LAUREYS et al. 2010) bzw. "Syndrom teilnahmsloser Wachheit" (vgl. DEMERTZI et al. 2011; kritisch dazu MÜLLER 2012) verwendet.3) [3]
Wachkoma heißt jedenfalls nicht zufällig Wachkoma (vgl. zum Folgenden grundsätzlich die Beiträge in JOX, KUEHLMEYER, MARCKMANN & RACINE 2012). Denn als unstrittig gesichert gelten können bei einem Menschen im Wachkoma lediglich basale psychovegetative Reaktionen, und hinlängliche Zustimmung findet auch die Diagnose, dass er REM-Phasen hat (also eine Art Traumerleben; vgl. z.B. HECHT & CHRISTL 2010). Aber schon, ob alle im Wachkoma befindlichen Menschen somnolent sind (ob sie also im Dahindämmern irgendwelche Erinnerungen haben; vgl. z.B. HESS 2007), ob sie Zustände haben, die in der einschlägigen Literatur als "Relaxation" (also als entspanntes Vor-sich-hin-Dösen) oder als "Scanning"4) bezeichnet werden, gilt als überaus ungewiss. Fast durchgehend negativ wird von medizinischen Expert/innen die "Vigilanz" (also die an einem Gegenstand bleibende Aufmerksamkeit) von Wachkoma-Patient/innen beurteilt. Und das wiederum stellt infrage, ob einem Menschen in diesem Zustand Bewusstsein im Sinne von (typischerweise einem normalen, hellwachen Erwachsenen eignendem) Selbstbewusstsein attestiert werden kann – jedenfalls auf der Basis heutiger bio- und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse (vgl. LAUREYS 2006). [4]
Wie ich damit lediglich andeute, haben wir über Menschen im sogenannten Wachkoma also durchaus therapie- bzw. versorgungsleitende diagnostische, prognostische und klinische Daten aus der Medizin. Ob diese uns helfen zu verstehen, ob und ggf. wie wir Menschen mit schwersten Gehirnschädigungen (allmählich besser als bisher) verstehen können, das ist die Frage, die unser gegenwärtig laufendes, einschlägiges Forschungsprojekt vorantreibt (vgl. HITZLER & GREWE 2011; GREWE 2012; HITZLER 2012a). [5]
Im Mittelpunkt dieses Projektes steht die ethnografische Erkundung der Langzeitbetreuung von sogenannten Phase-F-Patient/innen.5) Die teilnehmenden Beobachtungen und beobachtenden Teilnahmen, auf die ich hier rekurriere, fanden bislang in einer einschlägigen Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen statt (vgl. HITZLER, LEUSCHNER & MÜCHER 2012)6). Ausgehend von der sozusagen an erster Stelle der Datenerhebung stehenden praktischen Teilnahme am Pflege- und Therapiealltag haben wir Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Einrichtung geführt – großteils in Form eines mehr oder minder beiläufigen, quasi-kollegialen Miteinanderredens. Und selbstverständlich haben wir auch alle verfügbaren und für uns zugänglichen Dokumente analysiert – mit einem besonderen Augenmerk hierbei auf der von uns so genannten "Philosophie des Hauses"7) und deren Verhältnis zu der von der Belegschaft der Einrichtung gepflegten spezifischen Semantik.8) Auffällig ist an dieser Semantik unter anderem z.B., dass die schulmedizinisch üblichen Kategorisierungen von sogenannten Phase-F-Patient/innen (so gut wie) keine Rolle spielen. Gesprochen wird im Bedarfsfalle vielmehr davon, dass manche Bewohner/innen "schwerst betroffen" seien. Ich übersetze also, und das ist wichtig für die hier zu diskutierenden methodischen Fragen, die Belegschaftssemantik bereits in eine commonsensuelle Etikettierung, wenn ich diese "schwerst betroffenen" Bewohner/innen als Menschen im – mehr oder weniger chronifizierten – sogenannten Wachkoma bezeichne. [6]
Beobachten lässt sich (naheliegenderweise keineswegs nur in dieser Einrichtung), was Menschen, die im Wachkoma leben, tun; d.h., wie sie sich (im weitesten Sinne) verhalten. Aber ob das, was sie tun, (gelegentlich) intendiert, ob es also (gelegentlich) als "Handeln" qualifizierbar ist, ist zumindest in dem Sinne nicht (ohne weiteres) klärbar, in dem es sich in der Regel bei "normalen, hellwachen Erwachsenen" klären lässt. Beobachten lässt sich aber, wie das, was sie "tun", auf Menschen wirkt, die mit ihnen umgehen. Das eröffnet nun zwei grundlegende Möglichkeiten der Explikation: Die eine und übliche ist die Deutung der Deutungen und Praktiken anderer Personen, die mit Wachkoma-Patient/innen umgehen, die andere – im Kanon der in der interpretativen Sozialforschung akzeptierten Ansätze anhaltend strittige (vgl. HITZLER 2005) – ist die Deutung des eigenen Erlebens der Forschenden, die mit Menschen im Wachkoma umgehen. Beide Möglichkeiten betrachte ich jedoch als Wege zur Beantwortung der Frage nach der Orientierungsrelevanz von intersubjektiv nicht (verlässlich) beobachtbaren Eigenschaften von Menschen im sogenannten Wachkoma für andere. Beide Möglichkeiten führen z.B. auf die Spuren von apriorischen Setzungen, von Zuschreibungsprozessen und von symbolischen bzw. rituellen Konstruktionen. [7]
2. Probleme der Appräsentation
Kategorial ist ein Mensch im Wachkoma unzweifelhaft ein Individuum (d.h., ein von anderem und anderen abgrenzbares Lebewesen) und nachgerade ebenso unzweifelhaft zeigt er als Individuum Besonderheit(en), hat also eine Individualität. Gewiss ist er für andere qua charakteristischer Eigenschaften identifizierbar. Ob er sich aber selbst als eine Identität, d.h. ob er sich zumindest in Kontinuität erlebt, ob er sich als "Selbst" begreift, oder ob er von einem "Ich"-Pol aus denkt, ist auch epistemologisch kaum zu klären, ebenso wenig, ob er (im Sinne von SCHÜTZ 2004 bzw. von SCHÜTZ & LUCKMANN 2003) Handlungsprobleme, d.h. Probleme des Einholens vorentworfener Erfahrungen hat, ob er also sinnvoll als ein sinnhaft handelndes Individuum, als Akteur bzw. als Subjekt zu bezeichnen ist. [8]
Was dem Menschen im Zustand "Wachkoma" dem intersubjektiv erkennbaren Anschein nach weitestgehend fehlt, das sind Eigenschaften, die es nahelegen, ihn ohne apriorisch "positive" Glaubensentscheidung aktuell als "Person" zu anzusehen, d.h. als mit einem Eigenwillen begabte Mitspielerin im sozialen Geschehen (vgl. TEICHERT 1999; EISERMANN 1991).9) Denn all die für die Anerkennung des Person-Status relevanten, sozial plausibilisierbaren Kriterien scheinen damit zusammenzuhängen, dass wir etwas wahrnehmen, was wir nicht nur als Folge eines Einwirkens (wie: der Wurm wurde durch den Spatenstich zweigeteilt) oder als durch Einwirken evoziertes Verhalten (wie: beide Teile des Wurmes winden sich) interpretieren, sondern als mit einer zielgerichteten und/oder intendierten Kundgabe geschehend (Vogelgezwitscher und Hundegebell sehen wir gemeinhin als zielgerichtete Kundgaben an, Krawattenknoten und Gebete lassen kaum daran zweifeln, dass es intendierte Kundgaben sind; Schmerzenslaute, Jubelschreie und Selbsttötungen geben zumindest Anlass dazu, weitere Indikatoren und/oder Theorien zurate zu ziehen, wenn es von Interesse ist zu klären, ob und ggf. wie sie gemeint sind bzw. gemeint waren). [9]
Diese – im Horizont der von Thomas LUCKMANN (1980) so genannten "universellen Projektion" (vgl. auch LINDEMANN 2002 und 2003; HITZLER 2012b) stehende – Wahrnehmungsqualität impliziert analytisch einen mehrstufigen Decodierungsvorgang: Der Wahrnehmung gegeben ist zunächst etwas Präsentes. Im einfachsten Falle verweist das Präsente auf die Appräsentation von etwas aktuell Vorhandenem und/oder Statthabendem. Begreife ich das Appräsentierte als mit einer intendierten Kundgabe geschehend, deute ich es als kommunikativen Akt. Die Wahrnehmung eines kommunikativen Aktes legt a priori nahe, das sich Appräsentierende sei ein alter ego. Dieses naheliegende Attest wiederum wird in aller Regel anhand alltagspragmatischer Kriterien daraufhin überprüft, ob das sich Appräsentierende mir überhaupt "irgendwie" und wenn ja, in welcher Weise und in welchem Maße es mir "ähnlich" ist. [10]
Diesen "Prüfkriterien" entsprechend weisen nun Appräsentationen von Menschen gegenüber denen von Nicht-Menschen üblicherweise in signifikant hohem Maße Ähnlichkeiten mit dem auf, was ich intendierter Maßen appräsentiere (damit meine ich Ähnlichkeiten der Gestalt, der Mimik und Gestik, des Sprechens – auch in mir unbekannten Sprachen, in der Verwendung sonstiger Ausdrucksmittel usw.). Dergestalt scheine ich eine bestimmte Art von sich Appräsentierendem als eben mehr oder weniger "vollgültiges" alter ego bzw. als Mitmenschen wahrzunehmen, "ohne dass", so Hans-Georg SOEFFNER (2010, S.27) "letztlich das so appräsentierte andere Ich 'zur wirklichen Präsenz' gelangte". Weil Menschen einander eben nicht unmittelbar erfahren können, müssen sie ("irgendwie") miteinander kommunizieren. Demnach lässt nur Kommunikation (auch) nicht Präsentes als präsent erscheinen. [11]
Das Statthaben von – im weitesten Sinne verstandener – Kommunikation jedoch ist gerade das, was (mehr als) zweifelhaft wird im Umgang mit Menschen im sogenannten Wachkoma. Und insbesondere deshalb unterminiert das spezifische Sein des im "Wachkoma" befindlichen Individuums nicht nur Interaktionsnormalitäten und damit auch Intersubjektivitätserfahrungen, wie das etwa körperlich und vor allem geistig schwerstbehinderte, hochgradig demente und manche psychiatrisierten Menschen (auch) tun. Das Individuum im Wachkoma unterminiert – wie sonst nur anhaltend bewusstlose und (hirn-) tote Menschen – darüber hinaus nachgerade alle sozial plausibilisierbaren Kriterien, denen entsprechend einem Individuum der Status zugesprochen wird, eine Person (im oben genannten Sinne) zu sein. [12]
Die Suche nach Hinweisen auf bzw. nach Indizien für noch so rudimentäre Kommunikation beim Umgang mit im sogenannten Wachkoma lebenden Menschen führt folglich sozusagen zirkulär wieder zurück zur bislang beiläufig übergangenen Frage, aufgrund welcher Merkmale ich Präsentes als Appräsentierendes und die Appräsentation als mit einer intendierten Kundgabe geschehend und mithin als kommunikativen Akt wahrnehme. Auf diese Frage habe ich aber – außer theoretischen, pragmatischen oder gewohnheitsmäßigen – nach wie vor keine auch nur mich selbst überzeugenden Antworten. Vielmehr halte ich es inzwischen für möglich, dass ich auch keine anderen Antworten finden werde – außer vielleicht der Analogie zur Antwort darauf, wie ein Mensch seinen (jeweiligen) Gott erfährt. Denn wenn dieses Individuum, das ich als einen Menschen in jenem als "Wachkoma" etikettierten Zustand begreife, in keiner intersubjektiv gültigen bzw. auch gegenüber Skeptiker/innen plausibilisierbaren Weise kommunikativ oder interaktiv Personqualitäten zeigt bzw. anzeigt, dann ähnelt die Frage, ob es dieses Individuum als Subjekt – und sei es als unbegreifliches, als, mit SCHETSCHE, GRÜNDER, MAYER und SCHMID-KNITTEL (2009; vgl. auch die Beiträge in SCHETSCHE 2004) gesprochen maximal oder als schlechthin fremdes Subjekt – trotzdem gibt, eben tatsächlich der Frage nach einem "persönlichen" Gott: [13]
Wie führen Glaubende das, was ihnen widerfährt bzw. was geschieht, auf das Wirken eines Gottes zurück? Und analog dazu formuliert: Wie führen die, die glauben, der schwerst hirngeschädigte Mensch, um den ihnen zu tun ist, sei (noch) mehr als ein "Berg Menschenfleisch", das, was sie an und mit diesem Menschen als zwischenmenschliche Begegnung erleben, auf dessen Agieren und Re-Agieren zurück? – Nun, in beiden Fällen konnotiert die Antwort so etwas wie Epiphanien – im Sinn von nicht "erklärbarer" Einsicht, also von "Erleuchtung" (vgl. KÖRTNER 2000; in einer säkularen Lesart: HITZLER & PFADENHAUER 2011). [14]
In eben diesem Sinne attestiert Hans-Georg SOEFFNER in seiner Moses-"Etüde" dem Künder der Zehn Gebote ein "präsentisches, nicht zeichenhaft vermitteltes Erleben" (2010, S.194) von etwas symbolisch als "unzugänglich" Gekennzeichnetem: Symbole verweisen nicht nur auf, sondern stehen, jedenfalls für die, die sie zu deuten vermögen, – pars pro toto oder sogar totum pro toto – eben als Präsentes für das im Rahmen einer bestimmten Bewusstseinsspannung schlechthin Nicht-Präsente: "Symbole sind Kommunikationsmaterialien für Außeralltägliches und Außergewöhnliches" (S.38). [15]
3. Zwischenschritt: Routinen und Rituale
Damit das Außeralltägliche und Außergewöhnliche nicht ständig emotionale An- oder gar Überspannung evoziert, sondern als eine Art sekundäre Normalität erlebt und gelebt werden kann, werden Wirklichkeitskrisen, die nicht extraordinäre, punktuelle Ereignisse bleiben, sondern andauern, in mental, emotional und handlungspraktisch entlastenden Bewältigungsritualen "aufgehoben". Eine solche "liturgische" Verarbeitung und Ruhigstellung gilt augenscheinlich nicht nur für Gottesoffenbarungen, sondern – wie ich im Weiteren zu zeigen versuchen werde – eben auch für das Erleben eines Menschen im Wachkoma begleitende Zweifel daran, es überhaupt mit einem oder einer Anderen zu tun zu haben. [16]
Manche Rituale zur Bewältigung solcher – existenzielle Krisen evozierender – Zweifel sind auf den ersten Blick gar nicht als solche offenkundig, sondern erscheinen eher als bzw. wie Routinen. Angefangen bei sakralen Ritualen, wie z.B. Emile DURKHEIM (1981 [1912]) sie beschreibt, bis hin zum Konzept der ganz alltäglichen Interaktionsrituale, wie sie insbesondere Erving GOFFMAN (1971) analysiert, lassen sich Rituale aber nach relativ einfachen Kriterien von Routinen unterscheiden: Routinen dienen der gewohnheitsmäßigen Realisierung von Handlungsintentionen, d.h., sie lösen gelingenderweise bestimmte alltagspraktische Probleme und werden dann üblicherweise "bis auf Weiteres" beendet bzw. von anderen Routinen abgelöst. Rituale, verstanden als Aktionsformen von Symbolen (vgl. LUCKMANN 2007; SOEFFNER 2010, S.40-51), hingegen transzendieren die alltägliche Pragmatik und dienen der Bekundung einer das Nützliche übersteigenden Wertsetzung und/oder der Realisierung einer "höheren" Ordnung. Routinen sind sozusagen der Inbegriff trivialen Tuns, Rituale sind im Gegensatz dazu gleichsam der Inbegriff bedeutsamer, ja bedeutungsschwangerer Vollzüge. [17]
Rituale bestehen aus sinnhaften "Systemen" von festgelegten Worten bzw. Texten, die ausgesprochen, von vorgeschriebenen Körperbewegungen und Gesten, die ausgeführt und von werthaltig "aufgeladenen" Objekten, die in "angemessener" Weise behandelt werden müssen – und disziplinieren dergestalt das Verhalten derer, die die Rituale ausführen. Diese Bestimmung gilt für formalisierte Handlungsformen im "Verkehr" mit alltäglich unfassbaren Anderen (also z.B. mit einem heiligen Gegenüber). Sie gilt, wenn auch zumeist nicht so offenkundig, aber ebenso für formalisierte Handlungsweisen im alltäglichen Miteinander, die "Achtung vor dem eigenen Selbst, vor Mitmenschen, Dingen, Überzeugungen oder 'der Welt' " anzeigen (SOEFFNER 2010, S.40). Im Weiteren thematisiere ich dementsprechend also keine Routinen, sondern zumindest analytisch als solche erkennbare Rituale der Bewältigung von durch Wachkoma bedingten Mitmenschlichkeitskrisen, deren übergreifender Sinn darin besteht, "dem nicht wirklich Präsenten die eigentliche Präsenz in der Erfahrung zukommen" zu lassen (S.27). [18]
Als "Entität mit unklarem ontologischem Status" gehört ein Mensch im sogenannten Wachkoma kategorial in den von Erving GOFFMAN (1974) so genannten "Komplex des Erstaunlichen". Elemente des Komplexes des Erstaunlichen irritieren bekanntlich unsere primären Rahmungsselbstverständlichkeiten. Ihre Bewältigung erfordert deshalb einen (mehr oder weniger deutlich) erhöhten Deutungsaufwand. Im hier diskutierten Fall resultiert der erhöhte Deutungsaufwand aus der Ungewissheit darüber, ob man es mit Blick auf den Körper eines Menschen im Wachkoma "nur" mit einem individuellen Organismus, oder ob man es doch (auch) mit einer anderen Person zu tun hat. [19]
Konfrontiert mit diesem Deutungsproblem sind all diejenigen Akteure, die mit diesem Körper, um ihn am Leben und so "intakt" wie möglich zu halten, auf vielfältige Weisen umgehen und sich an ihm und zum Teil auch in ihm zu schaffen machen (müssen) – zumindest also Pflegekräfte, Therapeut/innen, Ärzt/innen und Angehörige. Für den Umgang mit dem Körper des Menschen im Wachkoma gilt nun – der Gesetzeslage ebenso wie der diese radikal ausbuchstabierenden "Hausphilosophie" der von uns ethnografierten Pflegeeinrichtung nach – das "Gebot", so zu tun, als ob dieser Mensch nicht nur ein prinzipiell handlungsfähiges Subjekt, sondern tatsächlich aktuell eine andere Person (im obengenannten Sinne) sei. Das impliziert vor allem, darauf zu achten, diese deklarierte "Person" stets so rücksichtsvoll, so höflich, so "würdig" wie möglich bzw. mit der jeweils notwendigen Verrichtung vereinbar zu "behandeln". [20]
Dieses "Behandeln" geschieht in einem durchaus rituellen Sinne, denn Menschen im Wachkoma scheinen angesichts ihrer augenscheinlich massiven mentalen Retardierungen und ihrer symptomatischen physischen Einschränkungen – mit Blick nun auf methodische Herausforderungen an den "Grenzen der Sozialwelt" – keineswegs nahezulegen, sie als Interaktionspartner/innen wahrzunehmen: Auch wenn sie mit offenen Augen liegen oder sitzen, fixieren sie nicht (d.h. sie blicken typischerweise ins Leere). Sie reagieren zumeist auch nicht "sinnvoll" (d.h. so ohne Weiteres verständlich) auf Ansprache oder Berührung. Und schon gar nicht nehmen sie (jedenfalls für ungeübte "Beobachter/innen" erkennbar) selbst Kontakt auf zu jemandem oder zu etwas. [21]
Diesem Anschein wird nun eben rituell entgegengesetzt, dass dem, was praktisch zu tun ist bzw. getan wird, mittels vielgestaltiger einleitender, begleitender und abschließender ebenso wie mittels erinnernder, verstetigender und projektierender Zusatzhandlungen die "Würde des Normativen" (BERGER & LUCKMANN 1969, S.100) verliehen wird. Das heißt zum Beispiel, dass in der von uns erkundeten Einrichtung der Umgang mit Menschen im Wachkoma eingebettet ist in Rituale der Begrüßung, der Verabschiedung, des Ansprechens, des Berührens, des Sich-ins-Gesichtsfeld-Bringens; im Weiteren in Rituale des Spazierengehens, des Erzählens, des Vorlesens, des Einschaltens von Fernsehsendungen und des Abspielens von Musik- und Wort-CDs; aber auch in Rituale des Kaschierens von Ver- und Entsorgungstechnik, des "Aufhübschens" (z.B. mittels "ordentlicher" Bekleidung, mittels Haar- und Gesichtspflege, mittels Einsatz von Kosmetika und Duftessenzen usw.), der Umgestaltung des Krankenzimmers zu einem "wohnlichen" Raum (z.B. mittels Bildern, Blumen, Zimmerschmuck, Bücher, Nippes und anderen "Devotionalien"); und schließlich in Rituale der Teilnahme an sozialen Veranstaltungen – z.B. zu Weihnachten, zu Ostern, zum Karneval, zum sommerlichen Grillen und zu Geburtstagen (zu den Geburtstagen eines Menschen im Wachkoma bekommt dieser Glückwunschkarten und Geschenke, und es werden auch kleine "Partys" organisiert).10) [22]
Ein solches ganz alltägliches Ritual ist z.B. auch die – zumindest in der von uns untersuchten Einrichtung als "korrekt" geltende – Form des Betretens eines Raumes, in dem sich ein Mensch im Wachkoma befindet und dessen Türen geschlossen sind. GOFFMAN (1969) thematisiert diesen Vorgang im Kontext seiner Befassung mit "Hinterbühnen": Dringen Personen (insbesondere unerbeten) in eine Hinterbühne einer anderen Person ein, erfordern die "Regeln der Etikette in Bezug auf taktvolle Diskretion anderen gegenüber und die dadurch geschaffene wirksame Privatsphäre" (S.209) üblicherweise, dass sie vor Betreten dieses als Privatsphäre begriffenen Raumes bestimmte Warnzeichen von sich geben – dass sie also an einer geschlossenen Tür anklopfen, ehe sie sie öffnen, damit die auf der anderen Seite befindliche Person die Möglichkeit hat, z.B. peinliche Betätigungen zu beenden bzw. zu kaschieren, einen der Situation angemessenen Gesichtsausdruck anzunehmen usw., kurz: in die von ihr gewünschte Rolle zu schlüpfen. Eben diese interaktive Funktionalität des Anklopfens aber ist beim Umgang mit Menschen im Wachkoma naheliegender Weise zumindest zweifelhaft. [23]
5. Exemplarische Präzisierung: Eigennamen
Aus dieser – hier ohnehin nur angedeuteten – Vielzahl und Vielfalt von teils "geschlossenen", teils theatralisierten (vgl. die Beiträge in WILLEMS 2009), also (auch) auf Zuschauer/innen hin ausgerichteten Ritualen greife ich nun eines heraus, dessen symbolischer Gehalt mir selbst erst klar geworden ist im Nachdenken über ein kleines Unterkapitel mit dem Zwischentitel "Wer bist Du?" in dem Buch "Erfahrung und Erzählung" von Michael KAUPPERT (2010, S.136-140). In diesem Unterkapitel erläutert der Autor die Relevanz von Eigennamen für die wechselseitige Konstitution von Ego und Alter als Personen: Durch die kommunikativ ausgehandelte bzw. bestätigte Identifizierung mit dem jeweiligen Eigennamen machen wir uns füreinander und damit auch jeweils für uns selbst von etwas zu jemandem. [24]
Diese Konstruktion ändert selbstverständlich nichts daran, dass uns der oder die Andere eben nicht unmittelbar gegeben ist, dass sie folglich als konkrete Andere auch epistemologisch niemals gewiss sind und dass wir, wie mir Trutz von TROTHA in einer persönlichen E-Mail (am 12.1.2011) geschrieben hat, "uns nur hin und wieder darüber keine Gedanken machen". Wenn der oder die Andere nun aber über die erkenntnistheoretische Nicht-Beweisbarkeit hinaus, wenn er oder sie also auch in der (epistemologisch "gedankenlosen") alltäglichen Begegnung ungewiss wird, dann funktioniert die kommunikative Lösung des Problems, alter ego zu konstituieren, die darin besteht, nie "präsente" Andere als präsent erscheinen zu lassen, naheliegenderweise nicht mehr. Dann lautet die Frage nicht mehr "Wer bist Du?", sondern zunächst "Bist Du wer?" und im Weiteren dann eben "Ist da wer?" Der von KAUPPERT (2010) konstatierte Rekurs auf die Konvention, in Situationen sozialer Unbestimmtheit den Anderen den eigenen Namen zu nennen, erscheint im Umgang mit einem Menschen im Zustand "Wachkoma" als widersinnig, denn der Mensch im Wachkoma nennt nicht nur seinen Namen nicht, sondern gibt zumeist auch keine hinlänglich verlässlichen Hinweise darauf, dass es ihm "etwas sagt", wenn der Andere sich ihm mit seinem Namen "vorstellt". [25]
Gleichwohl wird, soweit wir das beobachten können, auch ein Mensch im Wachkoma von den mit ihm Umgehenden in aller Regel mit seinem Namen angesprochen: Je nachdem, als wie formell oder vertraulich die mit ihm umgehende Person ihre Beziehung zu ihm versteht bzw. definiert, wird der Mensch im Wachkoma mit Herr oder Frau und seinem Nachnamen, gelegentlich auch unter Nennung akademischer Titel, oder eben mit seinem Vornamen, gelegentlich auch mit einem Kosenamen angesprochen. Außerdem nennen die mit dem Menschen im Wachkoma umgehenden Personen diesem ihre eigenen Namen: wiederum, je nach vom Umgehenden veranschlagter sozialer "Nähe", vom – insbesondere bei Ärzt/innen akademisch betitelten – Nachnamen über Kombinationen von Funktionsbezeichnungen mit dem Vornamen (also "Schwester ..." und ein weiblicher bzw. "Pfleger ..." und ein männlicher Vorname) bis hin zur relationalen Selbstbezeichnung (also: "Ich bin's, Dein/e ..." und die begriffliche Anzeige einer verwandtschaftlichen Beziehung) und zum vom Menschen im Wachkoma früher für den mit ihm Umgehenden benutzten (intimen) Kosenamen. [26]
Auf all solche Namensnennungen hin zeigt der Mensch im Wachkoma symptomatischerweise allenfalls diffuse, keineswegs signifikante und experimentell so gut wie nicht reproduzierbare oder eben gar keine Reaktionen. Die Frage ist somit, ob das Nennen von Eigennamen durch mit Menschen im Wachkoma umgehende Personen die Konvention, sich in Situationen sozialer Unbestimmtheit mit dem Eigennamen vorzustellen und in immer wieder "neu" ansetzenden sozialen Situationen das Gegenüber mit dessen oder deren Eigennamen anzusprechen, lediglich qua Routinisierung bzw. Habitualisierung auch unter Umständen weiterlaufen lässt, in denen diese Konvention anscheinend keine Funktion mehr hat, oder ob wir es unter diesen Umständen (des Umgangs mit einem Menschen im Wachkoma) eben mit einer Ritualisierung zu tun haben. [27]
Ich denke, dass Letzteres der Fall ist: Verrichtungen an und mit einem Körper, auf dem sich "innere Zustände" (wie Erregung und Entspannung, Wohl- und Missempfinden über Mimik, Motorik und Atmung) allenfalls vage appräsentieren, an dem sich typischerweise aber kaum oder keine Hinweise auf eine Willensbegabung erkennen lassen, werden – nicht nur, aber doch wesentlich auch – durch Namensnennungen in Handlungsweisen transformiert, wie sie als angemessen gelten für den Umgang mit einem personalen Gegenüber – also in Quasi-Interaktionen. [28]
Ein deutlicher Hinweis, der für diese Deutung spricht, ist die Schulung der Pflegekräfte und Therapeut/innen darin, auch Menschen im Wachkoma in einer "neu" ansetzenden sozialen Situation mit deren Eigennamen anzusprechen und sich selbst verbal zu identifizieren. Darüber hinaus lernen Pflegekräfte und Therapeut/innen, dass sie die Patient/innen "eigentlich" mit "Herr/Frau" und dem Nachnamen ansprechen sollen. Empirisch beobachten wir einerseits individuelle und individuell-situative Modifikationen dieser Verhaltensanweisungen (insbesondere wird die Nachnamen-Konstruktion durch ein Vornamen-Du ersetzt), andererseits beobachten wir, dass die Pflegekräfte und Therapeut/innen die Menschen im Wachkoma eher öfter mit dem Eigennamen ansprechen als Patient/innen, die nicht im Wachkoma sind. [29]
Individuelle Modifikationen der Sollvorschrift zur Namensnennung verweisen darauf, dass manche Pflegekräfte und Therapeut/innen (manchmal) eine persönliche Pseudo-Beziehung zwischen sich und dem Menschen im Wachkoma konstruieren. Um eine Pseudo-Beziehung handelt es sich, weil sie nicht auf die Beziehung bestätigendem Austausch (vgl. GOFFMAN 1982, S.97-137) zwischen zwei Personen basiert, sondern auf einer einseitigen Setzung durch eine Person.11) Phänomenologisch gesehen mache ich dabei etwas zu jemandem, den ich für mich als ein Du konstituiere. Das ist keine Routine, sondern eine Ritualhandlung. [30]
Die relativ erhöhte Frequenz der Ansprache von Wachkomapatient/innen mit ihren Eigennamen verweist darauf, dass – keineswegs nur, aber eben auch – Pflegekräfte und Therapeut/innen dem be- und versorgenden Hantieren in der Nähe von oder sogar mit einem menschlichen Körper, an dem (so gut wie) keine willentlichen Reaktionen auf das eigene Tun erkennbar oder gar Kommentare zum eigenen Tun hörbar sind, den Sinn verleihen, es werde (gleichwohl) von einem "Gegenüber" registriert. Auch dabei geht es um mehr als um eine Art Begleitgemurmel zu Routinehandlungen. Es geht um die rituelle Bewältigung einer unterbestimmten Situation. Phänomenologisch gesehen mache ich – analog etwa zum Beten – Aktionen für mich erlebbar als Interaktionen – analog etwa zum Sprechen mit meinem Gott. [31]
Damit stellt sich die Frage, inwiefern Rituale der "mitmenschlichen Begegnung", die ich im Umgang mit Menschen im Zustand "Wachkoma" registriere, strukturell schlechthin solchen rituellen Handlungen entsprechen, die gläubige Menschen (nicht nur) an ihnen heiligen Stätten in Bezug auf ihren Gott verrichten: Beten bzw. Beschwören zum Beispiel, um nur eine einfache, relativ basale und zugleich fast religionsubiquitär vorfindliche Ritualhandlung zu nennen. [32]
Als ein – sozusagen Nachbeten gleichsam heraufbeschwörender – "Glaubensartikel" in der von uns bislang vor allem untersuchten Pflegeeinrichtung erscheint mir insbesondere ein Deutungskonzept, demzufolge "Wachkoma" eine besondere, eigen-sinnige Lebensform (am Rande zum Tode) ist.12) Dieses Deutungskonzept ist abgeleitet aus der oben erwähnten "Philosophie des Hauses", insbesondere aus dem hier augenscheinlich hinlänglich konsensuellen Menschenbild, dem zufolge jeder menschliche Körper per se den sich ihm vorurteilslos Zuwendenden ein "bewusstes" Gegenüber, eine Person appräsentiert. Als "Glaubensartikel" bezeichne ich dieses Deutungskonzept also auch, weil anhaltend infrage steht, wie ich wissen kann, ob einem "Menschen, der ganz anders lebt, ganz anders empfindet, ... dieses Leben trotzdem oder gerade deswegen wichtig und wertvoll ist" (KLIE & STUDENT 2007, S.169) bzw. wie intersubjektiv nachvollziehbar gemacht werden kann, wie sich in diesem angeblichen psychisch-physischen Eigensinn (vgl. BARKHAUS 2001; JÄGER 2004) eine (wie auch immer geartete) Welt- und Selbsterfahrung konstituieren können soll. [33]
Die in diesem "Glaubensartikel" begründeten symbolischen Überhöhungen und vor allem die darin begründeten Rituale im Umgang mit Wachkoma-Patient/innen, von denen ich oben einige der augenfälligeren aufgelistet habe, werden in dem hier thematisierten Beobachtungssetting übrigens keineswegs nur von Therapeut/innen und Pflegekräften repetiert und reproduziert, sondern mehr oder weniger beiläufig oder engagiert auch von anderen in der untersuchten Einrichtung immer wieder "verkehrenden" Personen, d.h. insbesondere von Ärzt/innen und (im weiten Sinne verstandenen) Angehörigen der Menschen im Wachkoma. [34]
Das in Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Versorgungs- und Pflegeeinrichtungen generell übliche Eigennamen-Ritual vollziehen – allerdings in deutlichen graduellen Abstufungen (vereinfacht gesagt: von den Akutkliniker/innen bis zum mit den Patient/innen langjährig vertrauten Hausärzt/innen) – also auch die mit Menschen im Wachkoma befassten Mediziner/innen. Vor allem aber tun dies eben (im weitesten Sinne als solche verstandene) Angehörige von Menschen im Wachkoma. Bei Letzteren allerdings ist empirisch sehr viel schwieriger aufzuweisen, dass die Nennung von Namen nicht als weiterlaufende Routine des sich Ansprechens beim Zusammenleben vor Eintritt des Wachkomas statthat, sondern tatsächlich ein Ritual der Bewältigung der hier thematischen Krise der Mitmenschlichkeit darstellt. Dass auch Angehörige nicht einfach Routinen "von früher" prolongieren, wird am augenfälligsten wohl dadurch, dass sie sich signifikant häufiger als dies im normalen Miteinander geschieht, an den Menschen im Wachkoma adressiert selbst bezeichnen bzw. sich in ihrer Relation bzw. in ihren Relationen zu diesem identifizieren. Ansonsten scheint mir hier (wieder einmal) die phänomenologische Analyse die überzeugendsten Daten zu generieren: [35]
Ego erfasst den Körper des Menschen im Zustand "Wachkoma" als kontinuierlich identisch mit dem (immer schon alternden) Körper des Menschen bevor dieser in diesen Zustand gekommen ist.13) Zweifelhaft ist also nicht die an-dauernde Identität dieses individuellen Organismus (wie das z.B. bei extremen körperlichen Veränderungen der Fall sein kann). Zweifelhaft ist jedoch, ob dieser individuelle Organismus, mit dem man zu tun hat, (noch) die Identität jenes alter ego appräsentiert, das zu sein ego diesem Menschen attestiert hat, bevor der in den Zustand gekommen ist, der sich als "Wachkoma" etikettieren lässt. Ohne zumindest Rudimente eines identischen individuellen Organismus ist menschliches Bewusstsein zwar (jedenfalls noch) nicht denkbar, aber selbstredend ist ein individueller Organismus ohne Selbstbewusstsein nicht nur denkbar, sondern steht empirisch außer Frage: Auch der menschliche Körper kann leben, ohne mental repräsentiert zu sein. Die Identität eines individuellen Organismus reicht analytisch jedenfalls nicht hin, um die Identität eines Subjekts, einer Person, eines alter ego zu erfassen. [36]
Aus phänomenologischer Sicht ist der Mensch im Zustand "Wachkoma" folglich so etwas Ähnliches wie Schrödingers Katze (vgl. GRIBBIN 1996): anwesend und abwesend zugleich. Aber Katzenliebhaber/innen sind in der Regel keine oder jedenfalls nicht nur Quantenphysiker/innen. Und Menschen, die es mit Menschen im Wachkoma zu tun haben bzw. denen um Menschen im Wachkoma zu tun ist, sind nur selten und wenn doch, dann nicht "vor allem" Phänomenolog/innen. Als Phänomenologe beobachte ich aber auch mich, den Nicht-Phänomenologen, der ich "vor allem" bin. Ich beobachte mich bei der Konstitution des Menschen im Wachkoma, um den mir zu tun ist, als Anwesendem: Den dabei infrage stehenden, kontinuierlich identischen Körper adressiere ich individuell eben durch das Ritual der Namensnennung: "Das da" bezeichne ich mit dem Eigennamen des Menschen, dem ein alter ego zu sein ich attestiert habe, bevor er in den Zustand "Wachkoma" gekommen ist. Und eben damit mache ich aus "dem da" Dich, ohne qua kommunikativem Austausch pragmatisch sichern zu können, dass es Dich aktuell gibt. Dergestalt wird ein solches alter ego als rituelles Konstrukt erkennbar. [37]
Selbstverständlich lässt sich die repetitive Nennung des Eigennamens aber nicht nur als eines der vielen teilnehmend beobachtbaren Rituale zur Bewältigung der im Umgang mit Menschen im Wachkoma – epistemologisch gesehen – permanenten Krise der Mitmenschlichkeit auch funktional "erklären": Wenn es im Körper Erinnerungen irgendwelcher Art oder auch nur Reste und Spuren von Erinnerungen gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich in Assoziation zum Eigennamen aktivieren lassen, sehr hoch, denn der Eigenname evoziert (augenscheinlich nicht nur) beim menschlichen Individuum schon seit frühen Entwicklungsstufen, "auf eine bestimmte Lautgebärde signifikanter Anderer zu reagieren", und verfestigt sich dann allmählich zum signifikanten Symbol (s)eines erzählbaren, und das heißt vor allem wieder: seines erinnerbaren Selbst (vgl. KAUPPERT 2010, S.138). Das, wie gesagt, ist eine (zusätzliche) funktionale "Erklärung" des Sinns der Ansprache mit einem zur Adressierung des individuellen Organismus kontinuierlich weiter verwendeten Eigennamen.14) In solchen funktionalen "Erklärungen" gehen derlei Aktivitäten aber eben nicht auf. Sie haben vielmehr stets auch den Sinn, entgegen dem Fehlen alltagspraktischer Plausibilitäten einen Menschen als ein Subjekt zu konstituieren und dieses Subjekt als eine Person zu konstruieren, zu etablieren und zu stabilisieren. [38]
7. Als Konklusion: Eine Gradierungszeremonie
Gemeinsam ist all den von mir als rituell begriffenen Handlungsweisen von Menschen, die mit Menschen im Zustand "Wachkoma" umgehen, dass sie sich analytisch als Elemente unterschiedlicher Wichtigkeit einer in vielen einzelnen Aktionen statthabenden, langdauernden und insgesamt überaus komplexen Art von Gradierungszeremonie erweisen. Eine solche Gradierungszeremonie ist sozusagen eine umgekehrte Degradierungszeremonie im Sinne Harold GARFINKELs (1976): Sie dient nicht der rituellen Zerstörung, sondern der rituellen Erschaffung einer Person. [39]
Nicht etwa im Verlauf, sondern (unabdingbar) am Anfang dieser Gradierungszeremonie wird dem Menschen im Wachkoma sein "Menschsein" und v.a. sein fragloses "Mitmensch-Sein" attestiert. Auf der Basis dieses Attests werden Analogien gebildet zwischen dem, was Menschen "können", die nicht im Zustand "Wachkoma" sind, und dem, was ein Mensch im Wachkoma "kann". Beide Atteste, das des Mitmensch-Seins und das der Kompetenz(en), werden als Einsichten in wirkliche Wahrheiten deklariert, nicht etwa nur als Ansichten mancher Menschen. Diese Deklaration wird von den in den Umgang mit dem Menschen im Wachkoma wie auch immer involvierten Personen akzeptiert und handlungspraktisch umgesetzt, während jede Form der Nichtakzeptanz von den involvierten Personen ausdrücklich oder beiläufig diskreditiert bzw. diskriminiert wird. Die in den Umgang mit dem Menschen im Wachkoma involvierten Personen behandeln diesen de facto, als ob er eine an einem fortwährenden Interaktionsgeschehen beteiligte Person (im obengenannten Sinne) wäre. Dadurch wird der Mensch im Wachkoma symbolisch als Mitglied einer imaginierten "Gemeinschaft der Involvierten" etabliert. [40]
Die dergestalte rituelle Konstitution einer – insgesamt rituell konstruierten – Person als Mitglied einer Gemeinschaft erscheint mir als nachgerade unverzichtbar, wenn es darum gehen soll, dass Menschen sich möglichst rückhaltlos in einer möglichst optimalen Fürsorge für Menschen mit schwersten Gehirnschädigungen engagieren. Denn zumindest im Rahmen der in Gesellschaften wie der unseren gegebenen medizinisch-therapeutisch-pflegerischen Möglichkeiten sind Menschen im sogenannten Wachkoma weder Quasi-"Hirntote" noch "Sterbende" (vgl. VERHEIJDE, RADY & McGREGOR 2009; LAUREYS 2006): Deutlich mehr als die Hälfte von ihnen hat schon in den 1980er Jahren länger als drei, ein gutes Drittel länger als fünf und mehr als jeder Fünfte länger als sechs Jahre gelebt (vgl. ZIEGER 2005). Anfang der 1990er Jahre gab es dokumentierte Berichte von Menschen, die 10, 15 und 18 Jahre im Wachkoma gelebt haben (vgl. JENNETT 1993, S.105). Bestätigt sein soll sogar ein Einzelfall von 36 und einer von 48 Jahren Überlebenszeit (vgl. INTERNATIONAL WORKING PARTY ON THE MANAGEMENT OF THE VEGETATIVE STATE 1996). Und wie bei allen Menschen in modernen Gesellschaften nimmt auch die Lebenserwartung von Wachkoma-Patient/innen weiter zu, auch wenn sie zweifelsfrei zu den Schwerstkranken zählen. [41]
Wer infolge dessen an-dauernd mit Menschen im Zustand "Wachkoma" zu tun hat – sei es aufgrund persönlicher Beziehungen, sei es in ehrenamtlichen Funktionen oder sei es in medizinisch-therapeutisch-pflegerischen Berufsrollen –, der muss typischerweise die durch die notorische Ungewissheit des oder der Anderen ausgelösten Krisen der Mitmenschlichkeit in individuell zufriedenstellende Deutungszusammenhänge "übersetzen" und in gegenüber Alltagswahrnehmungen im Zweifelsfall resistenten symbolischen Sinnsystemen und rituellen Handlungsweisen "aufheben", welche sich letztendlich "diskursiver Begründung" verweigern (SOEFFNER 2010, S.46).15) [42]
Phänomenologisch gesehen macht dabei also ego etwas zu jemandem, den ego für sich als ein Du konstituiert. Praktisch gesehen fungiert eine Person, der es um einen Menschen im sogenannten Wachkoma zu tun ist, mithin weniger als dessen Stellvertreterin, denn als dessen Statt- bzw. Platzhalterin. Und methodisch gesehen geht es darum, die möglichst intensive beobachtende Langzeitteilnahme am Leben eines schwerst gehirngeschädigten Menschen ins Verhältnis zu setzen zu teilnehmenden Beobachtungen anderer sogenannter Phase-F-Patient/innen und beides nachgerade ständig kommunikativ abzugleichen mit den Pflegekräften und Therapeut/innen sowie mit anderen Besucher/innen dieses im Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit stehenden Menschen – darüber hinaus aber auch mit den Angehörigen anderer Bewohner/innen der Pflegeeinrichtung. Im Weiteren geht es dann um vergleichende Beobachtungen in Akut- und Rehabilitationskliniken und vor allem in anderen Einrichtungen, in denen Menschen im sogenannten Wachkoma untergebracht sind, sowie darum, die Daten der eigenen Erhebungen im Rekurs auf die einschlägige Fach- und Betroffenheitsliteratur in theoriebildender Absicht zu interpretieren. [43]
Kurz: Auch wenn ich meine, aus einer langwierigen phänomenologischen Selbstaufklärung heraus inzwischen, jedenfalls mir, (epistemologisch) hinlänglich als gesichert erscheinende Erkenntnisse über – einige (Arten von) – Appräsentationen und Reaktionen sowie über (einige) Möglichkeiten (kommunikativer) Aktionen und Interaktionen auch eines Menschen im chronifizierten sogenannten Wachkoma zu haben, die durchaus dem entsprechen, was aktuell von einigen hochgradig sensibilisierten und sensibilisierenden medizinischen Hirnforscher/innen experimentell sichergestellt werden zu können scheint16), bin ich grosso modo noch immer auf der Suche nach auch Skeptiker/innen gegenüber datenbasiert plausibilisierbaren Antworten auf die Frage "Ist da jemand?" (vgl. HITZLER 2010) – d.h.: Habe ich es bei dem Menschen im Wachkoma, um den mir zu tun ist, mit einer Person, einem Subjekt, einem Akteur zu tun, oder mit einem "Hirnstammwesen", mit "menschlichem Gemüse"? Die damit unabweisbaren Herausforderungen an den Grenzen der Sozialwelt versuche ich in jenem "strittigen" Erbe des methodologisch-methodischen Zusammenspiels von existenziellem Involvement, ethnografischen Explorationen und phänomenologischen Deskriptionen zu bewältigen, das Anne HONER uns hinterlassen hat (vgl. z.B. HONER 1993 und 2011; vgl. dazu auch SCHRÖER, HINNENKAMP, KREHER & POFERL 2012). [44]
1) Diese Veröffentlichung geht zurück auf die Closing Lecture, die ich im Rahmen des 8. Berliner Methodentreffens Qualitative Forschung im Juli 2012 in Berlin gehalten habe. Der Videomitschnitt des Vortrags wird in Kürze über http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/archiv/ verfügbar sein. <zurück>
2) Verlässliche Daten über die Zahl der Menschen, die sich im Zustand "Wachkoma" befinden, gibt es nicht. Schätzungen, die immer wieder – in allen möglichen Veröffentlichungen – zu lesen sind, liegen zwischen 3.000 und 14.000 Menschen, die sich in Deutschland derzeit im Zustand "Wachkoma" befinden sollen (vgl. z.B. JOX 2011, S.10). – Dass das von Ernst KRETSCHMER (1940) erstmals beschriebene "apallische Syndrom" überhaupt so häufig vorkommt, ist "als Folge medizinischer Intensivmaßnahmen entstanden, wie sie am Anfang des vorigen Jahrhunderts entwickelt wurden. Menschen konnten seither durch entsprechende medizinische Interventionen vermehrt am Leben erhalten werden, obgleich ihr Gehirn schwer beschädigt war" (KLIE & STUDENT 2007, S.158). <zurück>
3) Von minimal consciousness state (MCS)" ist dann die Rede, wenn Mediziner/innen Bewusstseinsleistungen diagnostizieren, die nicht (mehr) mit dem Symptomkomplex "Wachkoma" vereinbar sind bzw. als vereinbar erscheinen (vgl. LAUREYS & BOLY 2007). <zurück>
4) Mit "Scanning" sind in diesem Zusammenhang schweifende Gedanken gemeint, die sich, jüngeren Forschungen zufolge, möglicherweise mittels Hirnscans "einfangen" lassen können (vgl. OWEN & COLEMAN 2008). <zurück>
5) Bei Phase-F-Patient/innen handelt es sich, dem sogenannten neurologischen Rehaphasenmodell zufolge, um Menschen mit schweren und schwersten Gehirnschädigungen, die nach in der Regel intensivmedizinischer Akutbehandlung (Phase A) und kurativmedizinischen Rehabilitationsmaßnahmen (Phase B) langzeitige oder dauerhafte pflegerische und therapeutische Intensivbetreuung benötigen (Phase F) (vgl. VERBAND DEUTSCHER RENTENVERSICHERUNGSTRÄGER 1995), <zurück>
6) Diese Modelleinrichtung gilt, den von Pflege- und Gesundheitswissenschaftler/innen der Hochschule Fulda für uns unternommenen Vorerkundungen nach, sowohl hinsichtlich der ideellen und organisatorischen Konzeption als auch hinsichtlich der (wesentlich darauf basierenden) Intensität und "Verzahnung" von Pflege- und Therapieleistungen, als eines der deutschlandweit besten Phase-F-Zentren. Der "Urfall" eines Menschen im sogenannten Wachkoma, von dem unser ganzes Forschungsinteresse seinen Ausgang genommen hat, wurde in dieses Heim aufgenommen. Und darüber wiederum haben sich ausgezeichnete Möglichkeiten für ethnografisch-phänomenologische Untersuchungen entwickelt. Die Frage, wie und ggf. in welchen Hinsichten verallgemeinerungsfähig die in dieser Einrichtung erhobenen Daten sind, werden wir über Vergleiche mit anderen Formen der Betreuung von Phase-F-Patient/innen im weiteren Projektverlauf zu beantworten versuchen. <zurück>
7) Diese "Philosophie" besagt – vereinfacht formuliert –, dass alles, was geschieht, auf die (wie auch immer konstatierten) Belange des individuellen, im sogenannten Wachkoma befindlichen Menschen abgestellt sein soll, dass er den je mit ihm befassten Therapeut/innen und Pflegekräften Geschwindigkeit und Rhythmus für (Inter-) Aktivitäten vorgeben, dass er hier nicht Patient/in, sondern eben vor allem Bewohner/in sein soll, dessen/deren Lebenszentrum die Einrichtung ist, und dass Besucher/innen (und auch Angehörige gelten als Besucher/innen) zwar jederzeit (und tatsächlich zu jeder Zeit, denn es gibt keinerlei Einschränkungen der Besuchszeiten) willkommen sein, dass sie aber nicht als essenziell für den Alltag der Bewohner/innen, sondern eher als bereichernde Abwechslung begriffen werden sollen. Die gesamte Konzeption des Hauses scheint ideell, organisatorisch und personell am Prinzip der "Begleitung" (d.h.: nicht Fordern, sondern Fördern) des Bewohners bzw. der Bewohnerin ausgerichtet zu sein (vgl. KONZEPTGRUPPE 2005). <zurück>
8) Gerade weil das die Körperlichkeit betonende Gesamtkonzept unter den Mitarbeiter/innen in der Einrichtung (hinlänglich) konsensuell zu sein scheint, ist es unabdingbar, das oft subtile Wechselverhältnis zwischen Therapeut/innen und Pflegekräften hier und Menschen im sogenannten "Wachkoma" da und daraus "erwachsende" Deutungen der Befindlichkeiten der Bewohner/innen genau zu beobachten. <zurück>
9) In der Bioethik-Debatte vertreten bekanntlich Peter SINGER (1984), Norbert HÖRSTER (1998) und andere die Auffassung, dass der Personstatus am Selbstbewusstsein bzw. an der Fähigkeit zur Selbstbezüglichkeit festzumachen und – im unausweichlichen Entscheidungsfalle – das Lebensrecht einer (auch nichtmenschlichen) Person höher zu veranschlagen sei als das eines Menschen ohne Personstatus (vgl. dazu auch die Beiträge in STRASSER & STARZ 1997). Ich definiere "Person" hingegen etymologisch als "sozialen Rollenspieler" bzw. "sozialen Maskenträger" und impliziere mit meiner analytischen Bestimmung des Menschen im sogenannten Wachkoma keine derartigen Implikationen. <zurück>
10) An dieser Stelle weise ich nochmals darauf hin, dass solche Aktivitäten in Interaktionszusammenhängen zwischen Personen zum Teil Routinehandlungen, dass sie jedenfalls zumeist unauffällige Alltagshandlungen wären. Im Umgang mit Menschen im Wachkoma aber werden solche Aktivitäten gerade und nur dadurch bedeutsam, dass sie attestieren bzw. das Attest stabilisieren und verstärken, das, worauf sie sich richten, sei ein alter ego, sei eine "Person (wie ich)". <zurück>
11) Das entspricht wieder dem, was LUCKMANN (1980) als "universelle Projektion" bezeichnet: Subjektiv kann ego allem und jedem die Qualität(en) attestieren, eine Person bzw. ein alter ego zu sein. Intersubjektiv als zwei Personen bzw. zwei egos erfahrbar werden Individuen durch intersubjektiv wahrnehmbaren Austausch. <zurück>
12) Diese Idee sehe ich vor allem deshalb als "Glaubensartikel" an, weil – trotz einiger Versuche zu phänomenologischen Analysen (vgl. z.B. PATERSON 2001; TURNER 2001) – das subjektive Erleben von Behinderung als verkörperter Differenz bzw. der Status von leibhaftiger Subjektivität ungeklärt und dergestalt auch hier der Widerspruch zwischen impairment und disability unaufgelöst bleibt (vgl. HUGHES & PATERSON 1997; CROW 1996). <zurück>
13) Das ist die "schwerfällige Anatomie", von der Helmuth PLESSNER in "Lachen und Weinen" (1982, S.201-388, S.210) spricht. <zurück>
14) Ähnlich ist es mit den Besuchsnotizen, die ich verfertigt habe und die der Wahrnehmung entgegenwirken, es geschehe bei den Besuchen immer das Gleiche – nämlich so gut wie nichts. Ebenso ist es mit den Videoaufnahmen, die ich gemacht habe und die mir bei der Reflexion situativer Erlebnisse helfen. Es ist so mit den "Berichten an Freunde", die ich geschrieben habe, um den Menschen im Wachkoma zu erinnern, um den uns gemeinsam zu tun war, zu Lebzeiten vor dem Vergessen zu bewahren. Und ähnlich ist es mit Shopping-Touren, die wir mit diesem Menschen unternommen und die den gemeinsamen Einkaufsbummel imitiert haben. <zurück>
15) Dem entspricht ganz, was KRAEFTNER und KROELL (2009, S.162f.) als wesentliche Sichtweise der von ihnen untersuchten Pflegekräfte von Menschen im Wachkoma berichten: "They state ... that (their) embodied, situated and personal knowledge is not describable or expressible, and that they repeatedly have a 'good feeling' for the patient's condition. If they tried to name it, they would immediately lose something and miss the significant point." <zurück>
16) Dabei rede ich von Untersuchungen wie denen der "Coma Science Group" um Steven LAUREYS in Lüttich, des Teams von Adrian OWEN in Cambridge oder auch des von Andreas BENDER geführten Therapiezentrums Burgau. <zurück>
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Ronald Hitzler (geb. 1950), Dr. rer. pol. habil., ist Universitätsprofessor für Allgemeine Soziologie an den Fakultäten “Erziehungswissenschaft und Soziologie“ und “Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ der Technischen Universität Dortmund. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: methodologisch-methodische Grundlagenprobleme der interpretativen Sozialforschung, kulturelles Leben in der Gegenwartsgesellschaft und existenzielle Grenzsituationen. Weitere Informationen unter http://www.hitzler-soziologie.de/.
Kontakt:
Prof. Dr. Ronald Hitzler
Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie
Fakultäten 12 und 11
Technische Universität Dortmund
D-44221 Dortmund
Tel. / Fax: 0049/231/755-2817
E-Mail: ronald@hitzler-soziologie.de
URL: http://www.hitzler-soziologie.de/
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