Volume 13, No. 3, Art. 14 – September 2012
Verstehen in professionalen Interaktionen
Rainer Schützeichel
Review Essay:
Arnulf Deppermann, Ulrich Reitemeier, Reinhold Schmitt & Thomas Spranz-Fogasy (2010). Verstehen in professionellen Handlungsfeldern (Studien zur deutschen Sprache, Band 52). Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag; 392 Seiten; ISBN 978-3-8233-6519-8; EUR 88,00
Zusammenfassung: Professionelle Beziehungen sind Arbeitskooperationen, in denen Vertreterinnen und Vertreter von Professionen die Handlungs- und Lebensprobleme von "Laien" bearbeiten. In solchen Beziehungen spielt eine adäquate Verständigung zwischen den ProfessionsvertreterInnen und den Laien eine bedeutende Rolle für die Bearbeitung dieser Probleme. Entsprechend kommt auch dem "Verstehen" und der interaktionalen Dokumentation des Verstehens eine herausgehobene Position zu. Mit solchen Verstehensdokumentationen befassen sich die Autoren des hier zu besprechenden Bandes über "Verstehen in professionellen Handlungsfeldern". Sie untersuchen im Bereich der ÄrztInnen-PatientInnen-Kommunikation, der Beratungskommunikation und in organisationsförmigen Kooperationen in einem Filmset, mit welchen funktionalen Anforderungen Verstehensdokumentationen konfrontiert sind und welche Formen eingesetzt werden. Die konversationsanalytisch orientierten und ethnografisch komplementierten Studien machen auf die Notwendigkeit aufmerksam, die interaktionale Ebene in ihren sozialstrukturellen Kontexten zu untersuchen und deshalb gesprächslinguistische und soziologische Forschung miteinander zu verbinden. Die Ergebnisse sind deshalb nicht nur in linguistischer, sondern auch in soziologischer Hinsicht bedeutsam.
Keywords: Konversationsanalyse; Professionen; professionelle Handlungsfelder; Verstehensdokumentationen; Interaktion und Sozialstruktur
Inhaltsverzeichnis
1. Professionelle Handlungsfelder
2. Konversationsanalyse und Ethnografie
3. Verstehensdokumentationen
4. Interaktionsprinzipien
5. Interaktion und Sozialstruktur
6. Soziologische Anmerkungen
1. Professionelle Handlungsfelder
In der konversationsanalytischen bzw. gesprächslinguistischen Forschung haben "Talk-at-work"-Studies eine gewisse Tradition (vgl. DREW & HERITAGE 1992; ARMINEN 2005). Mit einem besonderen Bereich des Arbeitslebens befassen sich die Autoren des hier vorzustellenden Bandes, nämlich mit professionellen Handlungsfeldern. Professionelle Handlungsfelder zeichnen sich in ihrer Interaktionsarbeit durch eine hohe Kooperationsnotwendigkeit aus. Ob nun die Kooperation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, zwischen TherapeutInnen und KlientInnen, zwischen AnwältInnen und MandantInnen, zwischen Lehrkräften und SchülerInnen, zwischen SeelsorgerInnen und Gläubigem, zwischen BeraterInnen und Ratsuchenden – es handelt sich stets um dichte, intensive, arbeitsteilig strukturierte, durch komplementäre und meist asymmetrische Rollenprofile gekennzeichnete Kooperationsformen, die sich dadurch auszeichnen, dass der Erfolg der Kooperation von einer gelungenen Verständigung zwischen den KooperationspartnerInnen abhängt. In ihnen wie in allen interaktionszentrierten Kooperationen spielt wechselseitiges "Verstehen" eine große Rolle, wenn man mit diesem komplexen Terminus funktional die Notwendigkeit bezeichnen will, die kommunikativen Akte des oder der Anderen jedenfalls so weit nachvollziehen zu können, dass man sich in der Bestimmung der eigenen Akte an diesen orientieren und durch eigene Akte in einer passenden Weise an diese anschließen kann. Aber nicht nur solches in interaktionaler Hinsicht notwendiges "Verstehen" ist für professionale Handlungsfelder erforderlich. In der Professionssoziologie werden in der Regel als Professionen Berufe bezeichnet, die sich mit der stellvertretenden Bearbeitung und Bewältigung von Lebens- und Handlungsproblemen von Laien befassen. Von daher ist das "Verstehen" dieser Lebens- und Handlungsprobleme und damit der umfassenden Handlungssituation von Laien nicht nur eine funktionale Voraussetzung, sondern auch der thematische Fokus dieser Tätigkeiten. Dies gilt selbst für Professionen, die man – wie die in einem Forschungsbeitrag dieses Bandes untersuchten MigrationsberaterInnen – in der Soziologie eher als "professionalisierungsbedürftig" bezeichnet, da sie, wie beispielsweise auch SozialarbeiterInnen, BewährungshelferInnen etc., in vorgegebene administrative Kontrollzwänge eingebettet sind, die eine eigenprofessionelle Bearbeitung der Handlungsprobleme ihrer KlientInnen nicht zulassen. Solche professionellen Handlungskontexte zeichnen sich darüber hinaus gegenüber eher symmetrischen Alltagsgesprächen durch gewisse arbeitsteilig bedingte epistemische wie statusförmige Asymmetrien aus, durch fokussierte, feldspezifische Kooperationsaufgaben, durch institutionalisierte Deutungsschemata und Wissensunterstellungen, durch rollenförmig verankerte Interaktionsmuster und Handlungssequenzen sowie durch rollenförmig verankerte Rechte und Pflichten. [1]
Dem Problem des Verstehens in diesen professionellen Handlungsfeldern gehen die in dem zu besprechenden Band versammelten, gesprächslinguistischen Untersuchungen von Arnulf DEPPERMANN, Ulrich REITEMEIER, Reinhold SCHMITT und Thomas SPRANZ-FOGASY nach. REITEMEIER untersucht den professionellen Kontext der Migrationsberatung, SCHMITT das Handlungsfeld des Filmsettings und SPRANZ-FOGASY die ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehung. Eingeleitet und abgeschlossen wird der Sammelband durch Beiträge von Arnulf DEPPERMANN. Es handelt sich bei den Beiträgen allesamt um gesprächslinguistische Studien. Da ich selbst Soziologe bin und im professions- wie kommunikationssoziologischen Feld arbeite, werde ich diese Forschungen vornehmlich aus einer soziologischen Perspektive und in Hinsicht auf ihre soziologische "Anschlussfähigkeit" diskutieren. [2]
In dem besprochenen Band finden sich empirische Studien, die in einem 2007 begonnenen Projekt über "Sprachlich-kommunikative Praktiken der Dokumentation von Verstehen in der verbalen Interaktion" am Mannheimer Institut für Deutsche Sprache, Abteilung Pragmatik, erstellt wurden (vgl. auch SCHMITT 2007; DEPPERMANN & SCHMITT 2008 sowie allgemein zu dieser Thematik BUBLITZ 2001). Gegenstand der Forschungen sind die interaktiv hergestellten, kommunikativen Dokumente des Verstehens. Das heißt, es werden solche Phänomene untersucht, die in den jeweiligen professionellen Handlungsfeldern von den InteraktionsteilnehmerInnen als Verstehensdokumentationen produziert und rezipiert werden. [3]
2. Konversationsanalyse und Ethnografie
Den methodischen wie theoretischen Hintergrund der in dem Band versammelten Arbeiten bildet die Konversationsanalyse, die aber ergänzt wird: Um eine höhere Kontextsensitivität in Bezug auf die spezifischen professionellen Handlungs- und Interaktionsfelder herzustellen, wird zusätzlich auf ethnografische Verfahren zurückgegriffen. Ohne diese ethnografischen Analysen, so DEPPERMANN in seiner Einführung (S.15), könne die pragmatische Relevanz nicht hinreichend eingeschätzt und somit könnten auch die angezeigten Verstehensdokumentationen nicht hinreichend erkannt werden. Die Ethnografie sichere also, wie MAYNARD (2003, S.64-87) dies formuliert, der Konversationsanalyse den sozialen Kontext. Die Ethnografie öffne, so DEPPERMANN, den Zugang zu den je spezifischen Handlungsfeldern, die ansonsten in ihren Routinen, Wissensbeständen und Interaktionsformen nicht erschlossen werden könnten. Damit nehmen diese Studien eine interessante, wenn auch im Kontext der Gesprächs- und Interaktionsanalyse nicht allgemein übliche Methodentriangulation vor. Konversationsanalysen dienen der Analyse lokaler, gesprächs- und interaktionsimmanenter Prozesse und Strukturen. Ethnografische Begleitanalysen sind nach DEPPERMANN dann unerlässlich, wenn es um gesprächs- und interaktionstranszendente, soziale, insbesondere rollenförmig ausdifferenzierte Handlungskontexte geht. Die Syntaktik der konversationsanalytischen Sequenzanalyse müsse um die durch eine Ethnografie zu liefernde pragmatische Kontextualität ergänzt werden. Mit der Ethnografie holt man also gleichsam methodisch die soziologische Analyse differenter Handlungswelten ins Boot. [4]
Die Untersuchungen nutzen Audioaufnahmen für die Datengewinnung. Eine Studie, nämlich die von Reinhold SCHMITT über das Handlungsfeld des Filmsettings, stützt sich darüber hinaus auf die Videoanalyse, um nicht nur lautsprachlichen, sondern auch mimischen, gestischen und anderen "kinetischen", sich im Raum orientierenden Verhaltensweisen und somit der Multimodalität der Kommunikation gerecht zu werden. In diesem Handlungsfeld, so SCHMITT, spiele nicht nur die Sequenzialität der Interaktion, sondern auch die nichtverbale, simultane Koordination der Bewegungen eine große Rolle, die ebenfalls "verstanden" und in ihrem Verstehen dokumentiert werden müsse. [5]
Die Verschränkung von Konversationsanalyse und Ethnografie spiegelt auf der methodischen Ebene die Elemente wider, die von der Forschergruppe als analytischer Bezugsrahmen von Verstehensprozessen in professionellen Handlungsfeldern als notwendig erachtet wird. Sie gehen davon aus, dass drei Ebenen miteinander kombiniert werden müssen: multimodale Ressourcen von Verstehensdokumentationen, die Ebene der Interaktion und die Sozialstruktur. Der Bezug auf die multimodalen Ressourcen sei notwendig, um eben die Praktiken, die Medien und Formen der Verstehensdokumentation in Interaktionen in den Blick zu bekommen. Die Dimensionen der Interaktionsebene stelle die eigenlogische, eigenstrukturelle Ebene dar, auf welcher Intersubjektivität hergestellt wird und Kooperationsbeziehungen aufgebaut werden. Diese Ebene sei qua Interaktion zum einen sequenzanalytisch geordnet, sie repräsentiere aber zum anderen immer einen spezifischen Interaktionstypus, beispielsweise eine Familieninteraktion, ein Beratungsgespräch, eine ÄrztIn-PatientIn-Interaktion oder anderes. Solche Interaktionen repräsentieren also, so lässt sich aus dem Blickwinkel der Soziologie sagen, eine spezifische kommunikative Gattung (vgl. allgemein LUCKMANN 1986 oder speziell zur kommunikativen Gattung der Beratung SCHÜTZEICHEL 2004a). Interaktionen stellen dem analytischen Ansatz der Forschergruppe zufolge das Scharnier zwischen den analytischen Ebenen der multimodalen Ressourcen der Verstehensdokumentationen einerseits und den sozialstrukturellen Dimensionen andererseits dar. Die Sozialstruktur wird sowohl epistemisch im Hinblick auf spezifische Wissensvorräte, auf ein Sonderwissen, wie auch in der Sozialdimension in Hinsicht auf spezifische Verhaltenserwartungen, also rollenförmig, konzeptualisiert. Mit Ausnahme der Studie von SCHMITT über die Arbeit am Filmset handelt es sich jeweils um asymmetrische, komplementäre Rollenbündel. [6]
Der zentrale Ankerpunkt wird in den Studien von der Annahme gebildet, dass "Verstehen" immer in der Interaktion dokumentiert werden müsse. Es reiche nicht aus, dass, wie SPRANZ-FOGASY (S.27) dies formuliert, sich etwas "in den Köpfen" vollziehe, sondern Verstehen bedürfe des Anzeigens und Dokumentierens. "Verstehen" werde als ein kommunikatives oder interaktionsimmanentes, nicht als ein mentales oder interpretatives Moment erfasst. Zudem sei "Verstehen" eine Komponente, die interaktiv hergestellt werden müsse. Von daher würden zur Analyse von Verstehensprozessen weder rein kognitionswissenschaftliche Untersuchungsweisen ausreichen, die das Verstehen als einen mentalen Akt erfassen, noch rein hermeneutische Analysen, die sich auf die Methoden des Interpretierens beziehen. In der Interaktion zeige sich an den Verstehensdokumentationen mithilfe von sprachlicher und von visuell wahrnehmbarer, kinetischer Information, wie und ob man verstanden hat. Es handele sich um multimodale Prozesse. "Verstehen" könne in einer großen Bandbreite unterschiedlicher Formen dokumentiert werden. Es könne das Verstehen oder Nichtverstehen explizit thematisiert werden, man könne das, was verstanden wurde, ostentativ herausstellen, es ließen sich auch für die Anzeige von Verstehen reservierte sprachliche Ausdrücke benutzen oder es könne schließlich auf jegliche explizite Verstehensdokumentation verzichtet und Verstehen könne durch ein entsprechendes Anschlusshandeln oder durch gewisse Ereignissetzungen dokumentiert werden. Auf welchen Modus generischer Verstehensdokumentation in der Interaktion auch immer zurückgegriffen werde – eingebettet und getragen würden diese interaktiven Verstehensdokumentationen, so SPRANZ-FOGASY, durch zwei Interaktionsprinzipien, die der Konversationsanalyse als grundlegend gelten: Gemäß der Sequenzanalyse werde retrospektiv wie prospektiv an jeder Interaktionssequenz, in jedem turn Verstehen wie auch Nicht-Verstehen angezeigt. Und gemäß der Konversationsmaxime des order at all points gelte, dass alle Elemente und Momente einer Sequenzkette eine Verstehen oder Nicht-Verstehen dokumentierende Qualität haben können, dass also jegliche kommunikative Äußerung als indexikalisches Ereignis einer Interaktionssequenz ordnungsstiftend wirke. [7]
SPRANZ-FOGASY stellt ebenfalls heraus, dass für alle Interaktionen – wie wohl für gemeinsames Handeln generell – zwei strukturierende Prinzipien fundamental sind. Zum einen weisen sie in der temporalen Dimension das Merkmal der Progressivität auf. Es gehe um die Realisierung eines gemeinsamen Handelns. Um eben ein solches realisieren zu können, sei zum anderen in der Sozialdimension das Prinzip der Verständnissicherung oder der Herstellung gemeinsamer Situationsdefinitionen und damit ein wechselseitiges Verstehen nötig. Beide Prinzipien stünden gleichsam quer und mitunter in Widerspruch zueinander (vgl. HERITAGE 2007), denn die Progressivität des gemeinsamen Handelns sei nicht immer mit dem retrospektiv auf vorausgegangene Akte gerichteten Verstehen und damit mit der Herstellung gemeinsamer Grundlagen vereinbar. Daraus wird von den Autoren die These abgeleitet, dass in Abhängigkeit von dem situativen Rahmen und dem pragmatischen Handlungskontext entweder das eine oder das andere Prinzip die Oberhand gewinne. Entweder werde also in den professionellen Handlungsfeldern der Intersubjektivität der Verständigung oder eben der Progression des gemeinsamen Handelns Priorität eingeräumt. In bestimmten Kontexten – man darf vermuten: in pädagogischen oder therapeutischen – sei es wichtig, "alle Mann im Boot" zu haben und der Verständnissicherung Priorität einzuräumen, weil diese gleichsam in der Fluchtlinie des gemeinsamen Handlungsziels liege; für eine Vielzahl anderer Kontexte sei aber die Handlungsprogression dominant. [8]
Die Studien weisen aber auch darauf hin, dass es neben dieser dezidierten, unterschiedliche Prioritätensetzungen vornehmenden Orientierung an Zielen des kooperativen Handelns eine weitere wichtige Differenz gibt: inkorporiertes und thematisches Verstehen. Thematisches Verstehen liege vor, wenn ein angemessenes Verständnis thematisiert oder erprobt werden muss. Hierzu dienen explizite Verstehensthematisierungen oder Verstehensdokumentationen. Inkorporiertes Verstehen liege vor, wenn gleichsam aus dem Fortgang der Interaktion oder der Kooperation erschlossen werden kann, ob und wie etwas verstanden wurde. Da man das inkorporierte Verstehen wiederum in zwei Formen unterscheiden kann, kommen DEPPERMANN (S.365ff.) zufolge für die Klassifizierung von Verstehensdokumentationen eigentlich nur drei substanzielle Modi in Betracht: 1. Aktivitäten, die speziell auf Verstehensdokumentationen hin spezialisiert und dabei retrospektiv orientiert sind; 2. Aktivitäten, die nicht in explizite Verstehensdokumentationen eingebaut sind, sondern die auf der Basis einer supponierten Verständigung die Interaktion weitertreiben; und 3. solche Aktivitäten, die durch ihre Platzierung im sequenziellen Ablauf der Interaktion als Verstehensdokumentationen gedeutet werden. [9]
Explizite, fokale, auf Verstehensdokumentationen hin spezialisierte Äußerungen werden beispielsweise durch explizite Rückmeldungen manifestiert. Diese zeigten meist in einer kurzen Weise an, dass eine normale Interaktionsprogression nicht möglich sei, sondern man sich zunächst retrospektiv über bestimmte Prämissen vergegenwärtigen müsse. Wichtig ist mit DEPPERMANN zu betonen, dass solche Verstehensdokumentationen nur selten auf explizite Horizonte und Prämissen des Verstehens eingehen, eigentlich nur dann, wenn es darum geht, interaktionstranszendente Themen oder Probleme festzuhalten. Ansonsten würden Verstehensgrundlagen in sehr pragmatischer Hinsicht thematisiert, nämlich insoweit, als es für das Fortschreiten des gemeinsamen Handelns vonnöten sei. [10]
Diese Form der genuinen "Dokumentation" von Verstehen ist der Forschergruppe zufolge nur unter bestimmten Bedingungen angebracht, beispielsweise dann, wenn Verstehen und Verständigung das Handlungsziel seien, wenn aus dem sequenziellen Ablauf nicht eindeutig hervorgehe, was der Bezugspunkt eines turns ist oder wenn hochspezifische Interpretationen in den Interaktionsablauf eingeflochten würden, die nicht ohne Weiteres durch Hintergrundannahmen gedeckt sein könnten. Ansonsten werde das Verstehen eher implizit dokumentiert. Dies sei beispielsweise der Fall bei der Adjazenz von Frage und Antwort, die in der Interaktion zwischen ÄrztIn und PatientIn eine überragende Rolle spiele. Die Kommunikation zwischen ÄrztIn und PatientIn stelle die elementare Einheit des medizinischen Funktionssystems dar, und Fragen und ihre Antworten bildeten das wichtigste Scharnier in der ärztlichen Kommunikation. In der Art und Weise, wie Fragen formuliert, wie sie sequenziell positioniert, syntaktisch konstruiert oder modalisiert werden, lasse sich in der Anamnese der Stand des bisher Verstandenen dokumentieren. Fragen hätten nicht nur eine projektive Funktion, indem sie eine thematische Fokussierung herbeiführen, sondern ihnen komme auch in retrospektiver Hinsicht eine wichtige Funktion zu, weil sie einen bestimmten Verständnisstand dokumentieren. SPRANZ-FOGASY arbeitet in seiner Untersuchung über die medizinische Kommunikation heraus, wie die drei großen Klassen von Frageformen eingesetzt werden und welches Verständnis durch sie präsupponiert wird. "W-Fragen", also Fragen nach dem Wie, Wo, Wieso etc., sind auf bestimmte kategoriale Aspekte der Thematik orientiert. Dass man sie einsetzen kann, supponiert ein (gemeinsames) Verständnis von dem Redegegenstand. Wenn z.B. eine Therapeutin fragt, wovor der Patient sich fürchtet, so werde die Furcht des Patienten als common ground der Kommunikation vorausgesetzt und bestimmte kategoriale Eigenschaften dieser Furcht weiter ermittelt. "V1-Fragen", in denen ein Verbum an der ersten Wortstelle der Frage zu finden ist (z.B. "Haben Sie einen Unfall gehabt?"), seien ebenfalls als Fragen syntaktisch gekennzeichnet. Mit ihnen werde dokumentiert, dass man den Redegegenstand wie bestimmte kategoriale Aspekte dieses Gegenstandes verstanden habe, aber nicht sicher sei, ob der Gegenstand existiere und ob die diesbezüglichen Aussagen des Patienten wahr oder gültig seien. Deklarative Satzfragen präsupponieren hingegen alle drei Aspekte, sowohl den Redegegenstand und seine kategorialen Aspekte wie auch bestimmte Existenz- oder Wahrheitsannahmen. Mit ihnen aber gehe es um eine intersubjektive Konsolidierung von referenziellen und definitorischen Bemühungen ("Das schmerzt Sie schon sehr!"). SPRANZ-FOGASY stellt fest, dass die deklarativen Satzfragen, die nicht als solche, sondern erst durch entsprechende Intonationen und durch ihre sequenzielle Stellung zu identifizieren sind, in der ärztlichen Fragetechnik bei Weitem überwiegen und bei bestimmten Stichproben einen Anteil von über 50 Prozent erreichen. [11]
Die angeführten Formen impliziten Verstehens leiten sich der Forschergruppe zufolge aus dem "interaktiven Ökonomieprinzip" (DEPPERMANN, S.367) ab, demzufolge Progressivität und Intersubjektivität bzw. Verständigung simultan hergestellt werden, und zwar dadurch, dass sich aufgrund der Sequenzialität der turns auf ihre retrospektive und prospektive Sensitivität schließen lasse. Jeder Akt, jede Handlung oder jeder turn siedele sich in dem Kontext an, der durch den oder die vorangegangenen Akte, Handlungen oder turns gebildet werde. Daraus ergebe sich, dass auch jeder Akt gleichsam dokumentiere, wie er den oder die vorausgegangenen Akte "verstehe". Oder anders formuliert: Diese Form der sequenziellen, retrospektiv und prospektiv orientierten Bezugnahme auf vorangehende bzw. folgende Akte ermögliche es den je einzelnen Akten, sich selbst in einer Form prozessualer Selbstreferenz zu bestimmen – und dies könne dann als "Verstehen" fruchtbar gemacht werden. [12]
DEPPERMANN zeigt, dass dabei eine retrospektive oder eine prospektive Orientierung dominieren kann. Das heißt, Akte oder turns können im Hinblick darauf bewertet werden, ob sie den Erwartungen von vorangehenden Akten gerecht werden – so wie etwa eine Antwort auf eine Frage, ein Dank auf eine Gratulation oder die Ausführung eines Befehls auf einen Befehl folge. Die vorangehenden Akte könnten damit als Projektionen für mögliche Anschlusshandlungen begriffen werden, und an den Anschlusshandlungen lasse sich ablesen, ob sie ein Verstehen hinreichend dokumentieren. Es könne aber auch die Dominanz einer prospektiven Orientierung geben. Solche Handlungen werden als "antizipatorische Handlungen" (DEPPERMANN, S.371ff.) bezeichnet. Sie unterscheiden sich von projizierten Anschlusshandlungen eben dadurch, dass sie nicht als Erfüllung bestimmter Erwartungen bestimmt, sondern als nicht erwartbarer Progressionsakt begriffen werden können, der die Realisierung des gemeinsamen Ziels, eines joint projects vorantreibe. Die funktionale Bedeutung solcher antizipatorischer Handlungen wird in der Studie von Reinhold SCHMITT über die Verstehensdokumentationen in einem Filmsetting deutlich. Und sie können, so meine Annahme, in hoch arbeitsteiligen organisatorischen Prozessen eine größere Rolle spielen als in dyadischen, stärker asymmetrisierten Beziehungen wie genuinen professionalen Konstellationen. Die Beteiligten treiben die kollektive Handlung, so SCHMITT, durch verbale Initiativen oder nonverbale Tätigkeitsdemonstrationen an, dabei antizipierend, dass ihre Handlungen auch ohne eine konditionell etablierte Einbettung in eine entsprechende Interaktionssequenz mit konsolidierten Erwartungsstrukturen hinreichend situiert sind. Auch solche antizipatorischen Handlungen könnten als Verstehensdokumentationen gewertet werden. Voraussetzung sei aber, dass ein hinreichend geteiltes Verständnis über die gemeinsame Handlung vorliege, dass es ein gemeinsames Wissen über kollektive Intentionen in Bezug auf das joint project gebe. Liege ein solches vor, dann dokumentierten diese Handlungen ein Verständnis des momentanen Zustandes einer kooperativen Handlung. Sie seien einerseits riskant, weil sie nicht in den Kontext einer vorangegangenen Interaktionssequenz eingebettet sind, sie seien aber andererseits in einer solchen Kooperation erwartbar, da sie im Handlungsportfolio bestimmter Funktionsrollen vorgesehen sind. [13]
Zu dem Handlungsrepertoire von solchen Funktionsrollen gehört nach SCHMITT auch die Verstehensdokumentation mithilfe des Modus der "probeweisen Konzeptrealisierung" (S.285ff.), die am Filmset eine kaum zu überschätzende Rolle spiele. Hierbei handele es sich um eine komplexe Interaktionssequenz, bei welcher nicht-sprachlich probeweise eine bestimmte Vorstellung in einem praktischen Tun umgesetzt werde. SCHMITT macht dies an einem Beispiel deutlich: Eine Regisseurin hat eine Idee, wie eine bestimmte Szene ins Licht gerückt werden sollte, und die Kamerafrau realisiert diese Idee probeweise durch eine bestimmte Kamerafahrt. Indem sie dies realisiert, demonstriere sie, wie sie dieses Konzept, diese Idee verstanden hat. [14]
Was ist Objekt und Gegenstand des Verstehens? Neben den verschiedenen expliziten und impliziten Verstehensdokumentationen können sich, wie DEPPERMANN in der Einleitung und in der Zusammenfassung des Bandes herausstellt, Verstehens- und Orientierungsleistungen auf eine große Bandbreite von Objekten beziehen, auf psychische Zustände, soziale Rollen, Erwartungen, Konzepte, Intentionen oder referenzielle Bedeutungen. Überraschend sei der Befund, so DEPPERMANN (S.364), hinsichtlich der Breite der zu realisierenden Verstehensleistungen. Nicht nur semantische und pragmatische Aspekte im engeren Sinne wie Intensionen, Referenzen, Illokutionen und Implikaturen seien Objekt von Verstehensleistungen und Verstehensdokumentationen, sondern sie beträfen die Gesamtheit des kooperativen Handelns. Zu diesen gehörten der interaktive Kontakt, also beispielsweise die jeweilige Aufmerksamkeit und Präsenz des oder der Anderen, sie beträfen die Ausrichtung an der gemeinsamen Zielverfolgung und sie würden eine emotionale, "atmosphärische" Dimension insofern aufweisen, als die jeweilige emotionale oder stimmungsförmige Disponiertheit der TeilnehmerInnen überprüft und kontrolliert werden müsse. "Verstehen", so hält DEPPERMANN als Quintessenz fest, "dokumentiert sich wesentlich als Vermögen des kompetenten Mitspielens in der jeweils aktuellen Situation, d.h. dem Beitrag zu einer kooperativen Handlungsprogression in Bezug auf gemeinsame Zwecke" (S.364). [15]
Es gibt aber aus dem Blickwinkel der Professionssoziologie neben diesen interaktions- und beziehungsförmigen Aspekten noch einen weiteren interessanten Punkt. Professionen arbeiten nicht mit Menschen, sondern mit "Fällen". Fälle stellen die zentrale Bezugseinheit in der professionalen Arbeit dar. Die KlientInnen, MandantInnen, PatientInnen etc. werden als Fälle konstituiert, und eine wesentliche Konfliktlinie innerhalb der professionalen Arbeit befasst sich damit, was denn nun der Fall ist. In den Analysen des vorliegenden Buches zeigt sich deutlich, wie die Verstehensleistungen und die Verstehensdokumentationen angelegt sind, dass sie in die Konstitution eines Falles oder, wie REITEMEIER formuliert, in das "professionelle Relevanzsystem" (S.156) eingehen können. Dies zeigt sich REITEMEIER zufolge in der Migrationsberatung beispielsweise daran, wie der beratende Fallbearbeiter seine Verstehensdokumentationen sowohl in den Interaktionssequenzen wie auch thematisch so selektiert, dass sie sich für ihn in einen administrativ zu bearbeitenden und zu entscheidenden Fall einbetten. Eine Verstehensdokumentation, die diese Funktion in besonderer Weise erfülle, sei die der Relevanzrückstufung. Relevanzrückstufende Verstehensdokumentationen (vgl. REITEMEIER, S.168ff.) würden von ProfessionsvertreterInnen gezielt eingesetzt, um Relevanzen zu markieren und zu ordnen. Diese Form der Verstehensdokumentation hat REITEMEIER (S.172ff.) zufolge die Funktion, die meist zwischen BeraterIn und Beratungssuchenden divergierenden Interpretationsrahmen und Relevanzsetzungen zu homogenisieren, dabei aber auch die professionalen Relevanzordnungen zu ordnen und die KlientInnensicht in die Fallordnung zu "übersetzen". Während in der professionalen Interaktion die ProfessionsvertreterInnen häufig auf diese Form der relevanzrückstufenden Verstehensdokumentation zurückgreifen würden, stehe der Gegenseite vornehmlich das Verfahren der "negativen Verstehensthematisierung mit angeschlossener Verstehenshypothese" zur Verfügung. Dabei handelt es sich nach REITEMEIER um eine Klasse von turns, mithilfe derer ein Verstehen durch ein "Nicht-Verstehen" dokumentiert werde (z.B. in der Form: "Ich verstehe das nicht – Sie müssen uns doch helfen"), weil man die Relevanzen der anderen Seite nicht anzuerkennen bereit sei und eigene Problemsetzungen zum common ground, zur gemeinsamen Ausgangsbasis, machen wolle. [16]
Dies zeigt sich REITEMEIER zufolge weiterhin darin, wie in der professionalen Interaktion ein recipient design (nach SACKS 1992) erstellt werde, also die Merkmale und die Identität des Gegenübers ausgewählt würden, die in die jeweilige Fallkonstitution einfließen. In einem dargestellten Gespräch im Rahmen einer Migrationsberatung drücke sich dies in einer imperativen Anredeform aus, in der Konstitution eines gemeinsamen Subjekts durch die Verwendung von "Wir-Formen", durch den Wechsel der Adressierung hin zum "Sie", wenn ganz bestimmte Anweisungen erfolgen und auf Handlungsregeln hingewiesen würde (vgl. REITEMEIER, S.161). [17]
Die Dimensionen, in denen Verstehensleistungen erbracht werden müssen, betreffen also den Analysen der Forschergruppe zufolge weit über den genuinen linguistischen Bereich der Texte und Sätze hinaus alle Ebenen, in denen Interaktionen zum Zwecke eines kooperativen Handelns sowohl retrospektiv wie prospektiv prozedieren. Welcher Aspekt nun problematisch und "verstehensbedürftig" ist, hängt von der pragmatischen Orientierung des jeweiligen kollektiven oder kooperativen Handelns ab. Es orientiert sich an den Objekten, die eine Relevanz in Bezug auf die Aufgabe und das Ziel der interaktiven Koordination haben. So werden beispielsweise, wie die Analysen aufzeigen, die psychischen Zustände der InteraktionsteilnehmerInnen nur selten Gegenstand der Verstehensbemühungen, und das auch nur dann, wenn diese in der Interaktion dezidiert zum Problem und Thema werden. In professionsbezogenen Handlungskontexten seien zudem – ein weiteres Ergebnis der Analysen – die Dokumentationspflichten und -rechte häufig, wenn auch nicht immer, unterschiedlich verteilt. Das heißt, dass die eine Seite stärker gehalten sei, in der Interaktion zu dokumentieren, ob sie die Gegenseite "richtig" verstanden habe oder nicht. Aus professionssoziologischer Sicht ist aber der Zusatz erlaubt, dass Pflichten und Rechte – verbunden mit den jeweiligen Professionsentwicklungen – durchaus wechseln können. So lässt sich in Bezug auf die Seelsorge aufzeigen, dass ältere Seelsorgekonzeptionen diese Pflicht alleine auf der Seite der Gläubigen ansiedelten, während in neueren, psychotherapeutisch orientieren Seelsorgekonzeptionen die SeelsorgerInnen diese Dokumentationsaufgabe übernommen haben (vgl. SCHÜTZEICHEL 2004b). [18]
5. Interaktion und Sozialstruktur
Abrundend noch einige Sätze zu der im Buch vorgenommenen Unterscheidung von Sozialstruktur und Interaktion, die besonderes soziologisches Interesse finden muss. Denn aus soziologischer Sicht ist konzeptionell bedeutsam, wie in den Studien zwischen Interaktion und Sozialstruktur differenziert und wie das Verhältnis zwischen den so differenzierten Ebenen betrachtet wird. Es wird von der Forschergruppe als ein Mikro-Makro-Verhältnis dargestellt. Interaktionen und ihre Struktur würden von der Konversationsanalyse als die Mikroebene, die Sozialstruktur als die Makroebene konzipiert (vgl. DEPPERMANN, S.376ff.). In der Soziologie ist diese Trennung allgegenwärtig, aber auch enorm umstritten, weil es in sachlicher Hinsicht keine klaren, überzeugenden Kriterien der Abgrenzung und in methodologischer Hinsicht keine klaren, überzeugenden Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung gibt. Muss man diese Differenzierung heuristisch, analytisch oder realistisch interpretieren? Es kommt hinzu, dass die Differenzierung von "Mikro" und "Makro" (und mitunter "Meso") mit einer weiteren allgegenwärtigen Unterscheidung in einem oft intransparenten Verhältnis steht, nämlich derjenigen von Handlungs- oder Ereignisebene einerseits und Strukturebene andererseits. All dies führt in der Soziologie zu meist unfruchtbaren Kontroversen. [19]
In der vorliegenden konversationsanalytischen Forschung scheinen, so die soziologische Beobachtung, alle diese Aspekte zwar eine gewisse Rolle zu spielen. Aber so, wie in den vorliegenden Studien mit der Unterscheidung von Interaktion und Sozialstruktur gearbeitet wird, dürfte es sich am ehesten um eine analytische Differenzierung zwischen Prozessstrukturen und Erwartungsstrukturen handeln. Es wird in den Studien unterschieden zwischen Strukturen, die maßgeblich für das Prozedieren von turns in Interaktionen sind, und Strukturen, die die wechselseitigen Erwartungshaltungen der interagierenden Agenten und die darauf beruhenden sozialen Rollen und Positionen und diesen korrespondierenden sozialen Konstellationen betreffen. Dabei gilt das analytische Interesse dem konstitutiven Einfluss der Erwartungsstrukturen auf die Prozessstrukturen – das umgekehrte Bedingungsverhältnis der Prozessstrukturen auf die Erwartungsstrukturen wird weniger berücksichtigt. [20]
Um den Einfluss der Erwartungsstrukturen auf die Prozessstrukturen zu charakterisieren, spricht DEPPERMANN (S.376f.) trefflich von einem Indikationsverhältnis. Die Art und Weise, wie Verstehensdokumentationen in Interaktionen eingesetzt werden, indiziere die sozialen Strukturen. Dabei würden bei dem thematischen Zusammenhang der professionellen Handlungsfelder insbesondere funktional-komplementäre Beziehungen zwischen ProfessionsvertreterInnen und Laien sowie hierarchische Beziehungen in Arbeitsgruppen in den Blick genommen. Verstehensdokumentationen hätten eine "Indikatorqualität" in Hinsicht auf die obwaltenden sozialen Relationen. Und das Ausmaß des funktionalen Einflusses der sozialstrukturellen Dimensionen auf die Interaktionsprozesse und damit auf die Logik, in welcher diese prozedieren, scheint auch, wie DEPPERMANN (S.379) vermerkt, die Forschergruppe überrascht zu haben. Methodisch wie theoretisch habe dies zur Konsequenz, dass Interaktionsstudien stets den sozialen Kontext, das Relations-, Einfluss- und Machtgefüge der InteraktantInnen berücksichtigen müssen. Aus der sozialstrukturellen Dimension wirke die Verfügbarkeit über die Möglichkeit, Verstehen zu dokumentieren, Verstehensdokumentationen zu unterlassen oder einzufordern, als ein knappes Gut, über welches sich hierarchische Verhältnisse bestimmen und asymmetrische Beziehungen perpetuieren lassen. Mit ihrer Hilfe könne erklärt und aufgezeigt werden, dass es sich bei Verstehensdokumentationen nicht allein um rein interaktionale oder um rein kognitive Phänomene handele, sondern um solche, in denen sich die soziale Konstellation dokumentiere. [21]
Wie macht sich diese Indikatorqualität bemerkbar? Aus soziologischer Sicht wird man wohl idealtypisch zwei Klassen unterscheiden können. In formalisierten asymmetrischen Beziehungen wie beispielsweise denjenigen zwischen ExpertInnen oder ProfessionsvertreterInnen und Laien wird man – obwohl die Informalität und Inszenierungsabhängigkeit dieser Beziehungen (vgl. PFADENHAUER 2003) nicht außer Acht gelassen werden darf – davon ausgehen können, dass die Bemühungen um Verstehensdokumentationen eindeutiger verteilt sind. Dies wird in den Untersuchungen der ÄrztIn-PatientIn-Beziehung von Thomas SPRANZ-FOGASY deutlich. Mit dem Wandel dieser Beziehung (vgl. hierzu WITTE 2010) sind hier den ÄrztInnen deutlich mehr an Dokumentationsleistungen zugeschoben worden. Gleichwohl zeigt sich auch in diesen professionalen Beziehungen, wie auch aus der von Ulrich REITEMEIER untersuchten Migrationsberatung hervorgeht, eine erhebliche Varianz in der Rolleninterpretation, in den situativ gegebenen Abhängigkeits- und Machtverhältnissen zwischen den jeweiligen RollenträgerInnen. Eine lakonische Behandlung von Interaktionsbeiträgen, gepaart mit dem Verzicht auf Verstehensdokumentationen, steht, wie SPRANZ-FOGASY aufzeigt, fast nur der professionalen Seite zu. Davon gilt es eine zweite Klasse von Beziehungen zu unterscheiden, in denen gerade durch die Interaktion die Hierarchie- und Machtverhältnisse inszeniert und dokumentiert werden. Dies wird in der Untersuchung über die Kooperationen in einem Filmsetting von Reinhold SCHMITT deutlich. Hier liegen zwar dem Autor zufolge ebenfalls formale Hierarchieregeln mit entsprechenden Modi der Verstehensdokumentation vor, und zwar in der Form, dass Hierarchiehöhere darauf vertrauen können, dass Hierarchieniedere ein stetiges Monitoring der turns der Höheren betreiben müssten, um anzuzeigen, dass und wie sie etwas verstanden haben. Aber hier werde auch umgekehrt deutlich, dass Verstehensdemonstrationen oder gerade der Verzicht auf Verstehensdemonstrationen zum Aufbau von Macht- und informellen Hierarchien benutzt werden können. [22]
Man wird also, so die Analysen der Forschergruppe, zwischen den beiden Polen "kategoriengebundener Handlungen" einerseits und eher situativ-beziehungsgebundenen Handlungen andererseits unterscheiden müssen. Durch kategoriengebundene Handlungen würden in der Interaktion Rollen "enaktiert" (DEPPERMANN, S.378). Davon zu unterscheiden seien beziehungsgebundene Aspekte, die eher situative und informelle Dimensionen indizieren. Und schließlich gebe es noch eine dritte Klasse: Diese Form der Verstehensdokumentation werde vornehmlich von "unten", von den Unterlegenen eingesetzt, um den Spielraum ihrer Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten zu erweitern und die Interaktion dirigieren zu können. [23]
Noch einige Anmerkungen und Kommentare aus soziologischer Sicht: Es wird gerade bei den nicht-fokalen Dokumentationen deutlich, dass das Verstehen von Teilhandlungen oder die Interpretation von Teilhandlungen als Dokumentationen des Verstehens die Unterstellung von sozialer oder kollektiver Intentionalität voraussetzt. Mit sozialer oder kollektiver Intentionalität sind solche intentionalen Voraussetzungen gemeint, die für alle Formen koordinierten und kooperativen Handelns – welche man wiederum in die beiden Formen konjunkten und adjunkten Handelns unterscheiden kann (vgl. SCHÜTZEICHEL 2010) – maßgeblich sind. Wie solche kollektiven Intentionalitäten zu modellieren sind, ist umstritten (vgl. SCHWEIKARD & SCHMID 2009). Aber welches Modell auch immer – die Unterstellung von kollektiver Intentionalität ist Voraussetzung dafür, dass gemeinsames Handeln realisiert werden kann. Die gesprächslinguistischen bzw. konversationsanalytischen Untersuchungen des vorliegenden Bandes bestätigen dies und versorgen die Forschungen zur kollektiven Intentionalität mit reichhaltigem empirischem Material. Sie zeigen auch, dass das, was in der Interaktion verstehensrelevant ist und mit fokalen oder nicht-fokalen Verstehensdokumentationen belegt werden kann, sich an der präsupponierten kollektiven Intentionalität einer gemeinsamen Handlung orientiert. [24]
Die vorgestellten Forschungsstudien zeigen in einer beeindruckenden Weise die Bedeutung von Verstehensdokumentationen für die Progression von Interaktionen wie für die Produktion und Reproduktion von kollektiven oder gemeinsamen Handlungen und Kooperationen. Sie weisen auch darauf hin, wie komplex diese Prozesse angelegt und wie vielfältig die Objekte und Probleme sind, die in Interaktionen und Kooperationen verstanden werden müssen. Was aber unterbleibt, ist eine ausführliche Reflexion auf die Verstehensproblematik selbst. Sicherlich, DEPPERMANN weist in der Einleitung darauf hin, dass es kein "richtiges" und "falsches" Verstehen gebe und dass sich eine ungeheure Fülle von verschiedenen Aufgaben stelle, die durch Verstehen und Verstehensdokumentationen gelöst werden müssten. Aber gibt es nicht dennoch allgemeine Prinzipien von Verstehen? Unter welchen Bedingungen verstehen wir einen turn, eine Aussage, einen Beitrag, und wie verstehen wir die Handlungsprobleme anderer InteraktantInnen, wenn wir dokumentieren wollen, dass wir verstanden haben oder verstehen wollen? Man hat den Eindruck, dass sich die Studien in guter konversationsanalytischer Tradition in ihrer Auffassung von Verstehen an Konventionen und Regeln orientieren. Handlungen lassen sich verstehen, wenn sie Regeln oder Konventionen folgen. Diese Einschätzung ist problematisch, weil sie sich all die Probleme ins Boot holt, die mit der Konzeption einer regelbasierten Sozialität und Intersubjektivität verbunden sind, beispielsweise dem Problem der Regelfundierung von Regelanwendungen und den damit gegebenen infiniten Begründungsregressen. Eine Alternative wäre es, Verstehen rationalitätstheoretisch zu fundieren: Wir verstehen dann eine Handlung, wenn wir ihr eine gewisse Rationalität unterstellen können. Und wir können Verstehen dokumentieren, wenn wir anderen unterstellen, dass sie unsere Dokumentationen als rational auffassen. Ein solches Verständnis könnte sich an der von Donald DAVIDSON (2001) vorgelegten Sprach-, Bedeutungs- und Handlungstheorie orientieren, die gerade die Aspekte einer wohlwollenden Interpretation (principle of charity) mit ihrer Direktive in den Vordergrund rückt, die Worte und die Aussagen Anderer so zu interpretieren, dass wir ihnen zustimmen können. [25]
Aus soziologischer Sicht lässt sich abschließend noch vermerken, dass diese gesprächslinguistischen, pragmatischen Studien im Grunde genommen eine Einladung an die Soziologie zu einer stärkeren Kooperation darstellen. Die Analysen der Interaktions- und Kooperationsprobleme in einer Vielzahl von sozialen Bereichen bedürfen einer engen Zusammenarbeit von linguistischer Pragmatik und Soziologie. Leider aber fällt die Soziologie (zur Zeit?) als Partnerin aus (siehe jedoch neuerdings HITZLER 2011). Sie hat auf diesem Gebiet in den letzten Jahren einen erheblichen Kompetenzverlust erlitten. DEPPERMANN (S.19) diagnostiziert einen seit den 1990er Jahren anhaltenden Niedergang der Sprachsoziologie. Dem kann man nur zustimmen. Zumindest in der deutschsprachigen Soziologie gibt es im Grunde genommen keine Sprachsoziologie und selbst keine allgemeine Kommunikationssoziologie mehr, sieht man einmal von der Soziologie der Massenmedien ab. Dabei machen die hier besprochenen Studien deutlich, wie sehr die Soziologie in vielen Teilbereichen von solchen Forschungen profitieren kann. Die linguistische Forschung weist gegenüber der genuin soziologischen Interaktionsforschung, sei es in der Tradition von GOFFMAN oder in der LUHMANNs, konzeptionell einen erheblichen Vorsprung auf. [26]
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Rainer SCHÜTZEICHEL vertritt zu Zeit eine Professur für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. In FQS finden sich von Rainer SCHÜTZEICHEL Besprechungen zu: Oliver SCHMIDTKE: Architektur als professionalisierte Praxis (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs090159) sowie zu Karl LENZ und Frank NESTMANN (Hrsg.): Handbuch Persönliche Beziehungen (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1003187).
Kontakt:
PD Dr. Rainer Schützeichel
Institut für Soziologie
FernUniversität in Hagen
Universitätsstr. 1
D-58084 Hagen
E-Mail: Rainer.Schuetzeichel@fernuni-hagen.de
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http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1203142.