Volume 13, No. 3, Art. 16 – September 2012
Rezension
Susanne Bressan
Dirk Michel (2009). Politisierung und Biographie. Politische Einstellungen deutscher Zionisten und Holocaustüberlebender. ZBBS-Buchreihe, Studien zur qualitativen Bildungs- Beratungs- und Sozialforschung; Verlag Opladen & Farmington Hills, MI.: Barbara Budrich; 419 Seiten; ISBN 978-3-836649-165-6; EUR 39,90
Zusammenfassung: Dass außerordentliche Erlebnisse, insbesondere in den Jahren der Jugend und Adoleszenz, sich auf politische Einstellungen auswirken, ist sozial-, politik- und geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen über politische Bewegungen meist implizit. Wie genau der Zusammenhang nachzuvollziehen ist, bleibt jedoch oft hypothetisch. Im wachsenden Feld der Biografieforschung entstehen jedoch vielfältige Arbeiten, in denen die Verschränkung von Politik und Biografie verstärkt empirisch und hermeneutisch untersucht wird. Für seine Dissertation führte der Erziehungswissenschaftler Dirk MICHEL zunächst autobiografisch-narrative Interviews mit zwanzig jüdischen Israelis und kategorisierte sie anhand außerordentlicher biografischer Ereignisse in zwei Gruppen, die "Gruppe deutscher Zionisten" und die "Gruppe deutscher Holocaustüberlebender". Erst in einem zweiten Schritt, anhand von Leitfadeninterviews, untersucht er, inwiefern sich diese Gruppen hinsichtlich ihrer politischen Einstellungen unterscheiden. Sowohl die dualistische Kategorisierung der Interviewten als auch die konzeptionelle Umsetzung der Forschungsfrage und die weiteren analytischen Schritte konfligieren indes mit den theoretischen und methodischen Prämissen, auf die der Autor referiert.
Keywords: politische Sozialisation; autobiografisch-narrative Interviews; Biografie; biografische Politisierung; politische Einstellungen; Politik; Biografieforschung; Holocaust; Holocaust-Überlebende, Zionismus; Israel; israelisch-palästinensischer Konflikt
Inhaltsverzeichnis
1. Konzeption und Aufbau der Studie
2. Festgeschriebene Identitäten, vermeintliche Idealtypen
3. Uneingelöste Prämissen der Biografieforschung
1. Konzeption und Aufbau der Studie
Eingangs sei nicht verschwiegen, dass ich über den hinter dem Titel sich entfaltenden Forschungsgegenstand irritiert war. Um zionistische Holocaust-Überlebende geht es in diesem Buch erst auf den zweiten Blick, und außerhalb Israels lebende Jüdinnen und Juden sind in die Untersuchung nicht eingeschlossen. Stattdessen konstruiert der Erziehungswissenschaftler Dirk MICHEL die Gruppe der "deutschen Holocaustüberlebenden" auf der einen Seite und die Gruppe der "deutschen Zionisten" auf der anderen Seite. Gemeinsam sind den Mitgliedern beider Gruppen lediglich vier Aspekte: die deutsche Muttersprache, ein Geburtsort, der zumindest zwischen 1939 und 1945 unter der Verwaltung des Deutschen Reiches stand, die Emigration ins britische Mandatsgebiet Palästina respektive den im Mai 1948 gegründeten Staat Israel und den dauerhaften Wohnsitz in Israel. [1]
Aus den so konzipierten Gruppen hat MICHEL mit jeweils zehn Personen autobiografisch-narrative (sensu SCHÜTZE 1983) sowie themenorientierte Leitfadeninterviews (wie bei MAYRING 2002 dargestellt) geführt, um den "Nexus von politischen Sozialisations- bzw. Politisierungsprozessen und extraordinären Erfahrungen" (S.11) zu untersuchen. Das erste Sample bilden "deutsche Juden", die zwischen 1933 und 1940 nach Palästina flüchteten. Die Geburtsjahrgänge reichen von 1906 bis 1925. Das zweite Sample bilden "deutsche Juden", die zwischen 1924 und 1929 geboren wurden, den Holocaust in den Konzentrations- und Vernichtungslagern überlebten und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Palästina respektive nach Israel emigrierten. [2]
Die Interviews wurden in zwei Erhebungsphasen durchgeführt. An die autobiografisch-narrativen Interviews schlossen sich Leitfadeninterviews zu den politischen Einstellungen an. Erhoben wurden die politischen Einstellungen anhand von Fragen zum israelisch-palästinensischen Konflikt, zur israelischen Innenpolitik, zur Trennung von Religion und Politik sowie über Einstellungen zu Deutschland. Die Interviews wurden in deutscher Sprache geführt. In je drei Tabellen gibt MICHEL einen Überblick über den "Familienhintergrund", über "Hachschara [Vorbereitung auf die Immigration nach Palästina, SB], Alter bei Emigration und Emigration mit oder ohne Familie" sowie über "Schulbildung und Beruf" der Interviewten des jeweiligen Samples (S.46f.). Zwei weitere Tabellen veranschaulichen das Vorgehen bei der Transkription und der Auswertung der Interviews. [3]
Den knappgehaltenen Erläuterungen zur Methodik stellt MICHEL eine kritische Rezeption von Arbeiten zur politischen Sozialisation voran. Orientierend für sein Forschungskonzept seien Theorien der politischen Sozialisation, welche diese als komplexen Prozess des lebenslangen Lernens innerhalb von Herrschaftsverhältnissen verstehen. [4]
Ausführlich zitiert MICHEL den Soziologen Irving Louis HOROWITZ und die Soziologin Orit ICHILOV, um seine Vorgehensweise zu untermauern, kollektive extraordinäre biografische Erfahrungen, wie das Erleben von staatlichem Terror, als Faktor der politischen Sozialisation zu analysieren. Ein wichtiger weiterer theoretischer Bezug ist das von dem Historiker Reinhart KOSELLECK (2003) formulierte Konzept des durch biografische "Bedingungsstrukturen" und biografische "Ereignisstrukturen" geprägten "sozialen Bewusstseins". [5]
Nach den theoretischen und methodisch einleitenden Kapiteln folgt die Vorstellung der Interviewten mit den Zusammenfassungen aus den autobiografisch-narrativen Interviews, wobei der Gruppe der "deutschen Zionisten" und der Gruppe der "deutschen Holocaustüberlebenden" jeweils ein eigenständiges Kapitel zugeordnet ist. Den Zusammenfassungen und Analysen der Leitfadeninterviews zu politischen Einstellungen, wieder in zwei einzelne Kapitel aufgeteilt, ist für die mit der Landesgeschichte nicht vertrauten Lesenden eine "Einführung in die israelischen politischen Themenschwerpunkte" vorangestellt. [6]
Ein Resümee aus der Analyse der Leitfadeninterviews sei hier aus dem abschließenden achten Kapitel zitiert. Für die "Gruppe der Zionisten" folgert MICHEL:
"Wenn auf der einen Seite die politischen Einstellungen der zionistischen Gruppe zum israelisch-palästinensischen Konflikt sich nicht durch Angst und den Sicherheitsaspekt – d.h. die Angst vor der Zerstörung Israels durch die arabischen Nationen und die Palästinenser – leiten lassen, so sind auf der anderen Seite, bezogen auf die innenpolitischen Einstellungen, die politischen Orientierungen häufig durch eine meritokratische Sichtweise gekennzeichnet, die u.a. auf den Erfahrungen und Erlebnissen, aus der Pionierzeit mit der schweren körperlichen Arbeit, der Besiedlung und 'Begrünung' des Landes gründet. Auch die verschiedenen neuen Immigranten-Gruppen in Israel, die (kulturelle) Einschätzung der Araber und Palästinenser sowie die sozialstaatlichen Institutionen Israels werden von der Gruppe der deutschen Zionisten vor dem Hintergrund ihrer zionistisch-sozialistischen Ereignisstrukturen, – die sich durch die Besiedlung, Bebauung und Begrünung der Wüste konstituierten, – durch die von ihnen erbrachten Leistungen, betrachtet" (S.386). [7]
Komplementär zur "Gruppe der Zionisten", der MICHEL eine "meritokratische" (anti-egalitäre, leistungsbetonte) Sichtweise auf die Innenpolitik und eine Zustimmung zu einer kompromissbereiten Politik im israelisch-palästinensischen Konflikt attestiert, versteht er die politischen Einstellungen der "Gruppe der Holocaustüberlebenden": Die in dieser Gruppe Kategorisierten seien in Fragen der Außenpolitik vom Sicherheitsaspekt bestimmt, während sie in der Sozialpolitik eine größere Unterstützung der "Armen" wünschten. [8]
Diese und weitere Kernaussagen der Studie werden im abschließenden Kapitel auf 25 Seiten dargelegt. Grundlegend ist die These, dass "die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen sich öffnend ('bewusstseinsfördernd') oder verschließend ('bewusstseinsverhindernd') auf die politischen Einstellungen auswirken" können (S.407). [9]
MICHEL spricht daher von einer "offenen biographischen Politisierung" versus einer "verschlossenen biographischen Politisierung" (S.408). "Offen" verlaufe die politische Sozialisation dann, wenn "die in der Vergangenheit erfahrenen Erlebnisse durch Erinnern oder Vergegenwärtigen in die aktuellen politischen Bewusstseinsprozesse überwiegend derart 'einfließen', dass das Erkennen des Möglichen in der Gegenwart und für die Zukunft befördert oder zumindest nicht gehindert wird" (a.a.O.). "Verschlossen" hingegen bezeichnet er den Politisierungsprozess dann, wenn "die in der Vergangenheit erfahrenen Erlebnisse durch Erinnern oder Vergegenwärtigen in die aktuellen politischen Bewusstseinsprozesse überwiegend derart 'einfließen', dass kein Erkennen des Möglichen in der Gegenwart und für die Zukunft befördert wird, es gehindert bzw. unmöglich ist". [10]
Das für MICHEL wichtigste Charakteristikum der politischen Einstellungen der Interviewten aus der "Gruppe der Holocaustüberlebenden", die Betonung des Sicherheitsaspekts in Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts, wird als Ergebnis einer "verschlossenen" Politisierung gedeutet. In der "Gruppe der Zionisten" versteht MICHEL hingegen die "meritokratische Sichtweise" als Ergebnis einer "verschlossenen" politischen Sozialisation. [11]
2. Festgeschriebene Identitäten, vermeintliche Idealtypen
Die Kategorisierung der Interviewten in die beiden Gruppen "deutsche Holocaustüberlebende" und "deutsche Zionisten" scheint nicht nur als sprachliche Unsicherheit des Autors bei der Beschreibung komplexer Identitäten im Spannungsfeld multipler relationaler, situativer und flexibler kollektiver Fremd- und Selbstzuschreibungen auf. Sie zieht auch eine folgenreiche konzeptionelle Schwäche nach sich: Wie MICHEL bei der Kategorisierung vorgegangen ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Insbesondere wird nicht hergeleitet, welche Bedeutung den Kategorien "Holocaustüberlebende/r" oder "Zionist/in" und dem gemeinsamen Attribut "deutsch" im Selbstverständnis der Interviewpartner/innen zukommt. [12]
Wie schwer diese Unterlassung wiegt, verdeutlichen die Antworten auf die Frage zu den "Einstellungen zu Deutschland" in den themenorientierten Leitfadeninterviews. Edith K., von MICHEL in die "Gruppe der deutschen Zionisten" eingeordnet, charakterisiert ihr Verhältnis zu Deutschland, indem sie darauf verweist, ihren deutschen Pass weggeworfen zu haben:
"Ich will nicht zurückfahren, ich bin fertig mit Deutschland. Nein, also ich bin fertig mit Deutschland. Deutschland ist für mich ein Land wie alle anderen Länder, wo ich hinfahren kann, aber die Gefühle lasse ich zu Hause. Ich habe keine Nostalgie. Ich weiß, ich habe Erinnerungen. Erinnerungen, das ist Geschichte, es ist vorbei. Den Pass habe ich weg geschmissen. Ich bin dort geboren, was weiter war, wissen Sie ja und für mich ist es ein Land, das hat seine Erfahrungen und ich habe meine Erfahrungen" (S.321). [13]
Noch deutlicher ist die ablehnende Konnotation des Attributs "deutsch" bei Rosel, die MICHEL ebenfalls als "deutsche Zionistin" kategorisiert. Rosel grenzt sich auf die Frage nach ihren Einstellungen zu Deutschland klar von "den Deutschen" ab:
"Das ist sehr mittelmäßig. Ich habe sie nicht für so blöd gehalten, die Deutschen, das sie so auf den [Hitler, Ergänzung von MICHEL) reinfallen, das war furchtbar. Ich bin ja '33 weg, da stand da vorne schon an, 'kauft nicht bei Juden und so weiter' " (S.294). [14]
Eine Analyse dieser wie weiterer Antworten auf die Frage nach der Einstellung zu Deutschland nimmt MICHEL nicht vor. Die Relevanz für die Forschungsarbeit bleibt unklar. Ähnlich unklar ist die Bedeutung der deutschen Sprache für die Interviewten. Im methodischen Kapitel erwähnt MICHEL beiläufig, er habe hebräische Wörter in lateinische Schrift transkribiert und in eckigen Klammern den deutschen Begriff ergänzt. Ob das damit dokumentierte Codeswitching nicht nur auf sprachliche Besonderheiten verweist, sondern auch hermeneutisch bedeutend ist, wird indes nicht erörtert. Stattdessen erklärt MICHEL: "Dadurch, dass die deutsche Sprache für alle Interviewten zu einer Sprache geworden ist, die von den meisten Interviewten kaum bis nie im Alltag gesprochen wird, wurde auf eine gezielte Analyse der Sprache verzichtet" (S.52). Dies ist nicht nur eine unklare Formulierung ("für alle Interviewten" und "von den meisten Interviewten"). Damit wird zudem ein Zusammenhang von Sprache mit Biografie und Identität völlig ausgeblendet. Zumindest wäre es eine wertvolle Information gewesen, wer von den Interviewten tatsächlich die deutsche Sprache noch aktiv im Alltag anwendet und in welchen konkreten Situationen. Auch methodisch hätte kommentiert werden können, dass mit der deutschen Sprache ein spezielles, nicht alltägliches Setting für die Interviewten gegeben ist. [15]
Darüber hinaus ist es als hermeneutischer Fauxpas zu werten, dass in den biografischen Erzählungen auf eigentheoretische Kommentare der Interviewten nicht eingegangen wird1). Erst die Analyse der autobiografischen Narrative und im Besonderen der eigentheoretischen Kommentare kann zeigen, wie der Biografieträger/die Biografieträgerin das Erzählte bewertet. Dass diese Bedeutung der Biografieträgerin/dem Biografieträger nicht immer bewusst sein muss, wird in den Standardwerken zur Methode der autobiografisch-narrativen Interviews und der biografischen Fallrekonstruktion, die MICHEL als Referenzen angibt, ebenfalls thematisiert (z.B. SCHÜTZE 1983; ROSENTHAL 1995). Es sind die latenten Sinnstrukturen, die hermeneutisch erschlossen werden wollen. Dieser Aspekt fehlt in MICHELs Rezeption der Methodenklassiker/innen. [16]
Eine weitere Auslassung stellt die Erfahrung von Fremdzuschreibungen innerhalb der israelischen Gesellschaft dar. MICHEL thematisiert nicht, wie das Etikett Jeckes für deutsch sprechende Immigrantinnen und Immigranten konnotiert war und wie sich diese Konnotation seit der Gründung des Staates Israel bis heute veränderte. Auch dass das Etikett Holocaustüberlebende teilweise negativ konnotiert war, hätte bei der Auswertung berücksichtigt werden müssen (zur Bedeutung und Dynamik dieser Etikettierungen und ihrer Konnotationen in der israelischen Gesellschaft vgl. z.B. GREIF 2012). Indem MICHEL darauf verzichtet, die Kategorisierung der Gruppen anhand einer nachvollziehbaren Analyse der autobiografisch-narrativen Interviews herzuleiten, kann die Kategorisierung "Holocaustüberlebende/Zionisten" zudem dualistisch verstanden werden, als ob denjenigen Jüdinnen und Juden, denen die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und den von diesem besetzten Gebieten aus unterschiedlichen Gründen nicht gelang, weder in der Vergangenheit zionistisch orientiert gewesen sein noch in der Gegenwart zionistische Einstellungen vertreten könnten. Darüber hinaus wird der Begriff "Zionismus" und damit die Zuschreibung "Zionisten" weder diachron noch synchron aufgefächert. Welches Verständnis von "Zionismus" hatten unterschiedliche jüdische Gruppen im Verlauf der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts? Welche Bedeutung hatte welches Verständnis von "Zionismus" für die Befragten im Verlauf ihres Lebens und zum Zeitpunkt des Interviews? [17]
Den von MICHEL erhobenen Daten zufolge vertreten die in der Gruppe der "Zionisten" kategorisierten Israelis insgesamt wesentlich weniger nationalistische Positionen hinsichtlich des arabisch-israelischen Konflikts als die in der Kategorie "Holocaustüberlebende" zusammengefassten Israelis. Freilich können solche quantitativen Aussagen nur zulässig sein, um neue Fragen über das Wie von Zusammenhängen zu stellen. Als repräsentative Aussagen widersprächen quantitative Aussagen dem Verständnis qualitativer Sozialforschung. [18]
Auch wenn MICHEL explizit für seine Studie keine Repräsentativität behauptet, finden sich in seinen Resümees Formulierungen, die Repräsentativität suggerieren. Zu den Einstellungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt fasst MICHEL für die "Gruppe der Zionisten" zusammen (in den Klammern ergänzt er jeweils die Pseudonyme der Interviewten sowie seine Markierung des jeweiligen Interviews):
"In der Regel sind die Befragten dieser Gruppe für die Räumung, d.h. die Umsetzung des Disengagement Plans, damit sich die Situation der Palästinenser verbessert. Kritisiert wird zum Teil die einseitige Umsetzung des Plans, d.h., dass dieser Abzug nicht gemeinsam mit den Palästinensern umgesetzt wird; einige befürchten innerisraelische Probleme bei der Umsetzung [Ilse P:1; Uri P:1]. Nach Edith K. haben jüdische Siedlungen nichts im Gazastreifen verloren [vgl. Edith K. P:1f.]. In der Frage zu Aufgabe der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und der Rückgabe der Gebiete an die Palästinenser, teilt sich die Meinung leicht. Mehrheitlich wird sich für eine Rückgabe der Gebiete ausgesprochen [vgl. Uri P:1; Miriam K. P:1; Chaim P:1f.; Miriam R. P:2], einige nehmen die großen Siedlungsblöcke, Ariel und Maale Adumim, davon aber aus [vgl. Miriam S. P:2; Hanan P:1; Edith K. P: 2f.], weil auch hier Probleme bei der Umsetzung der Räumung der Siedlungen gesehen werden [...]" (S.392). [19]
Und für die "Gruppe der Holocaustüberlebenden" resümiert er:
"Bei allen zehn Überlebenden zieht sich der Sicherheitsaspekt wie ein roter Faden durch die Antworten, die mit dem Konflikt zu tun haben, d.h. die Grundüberlegung in allen Antworten ist mit dem Sicherheitsstatus Israels verbunden. Konzessionen oder Verhandlungen mit der palästinensischen oder arabischen Seite sind nur dann möglich, wenn die Vorbedingungen für Frieden oder eine Sicherheit stiftende Maßnahme erfüllt sind" (S.388). [20]
Dass MICHEL schließlich einen idealtypischen Ansatz postuliert, indem er jeweils eine Interviewpartnerin aus der Gruppe der "Zionisten" und einen Interviewpartner aus der Gruppe der "Holocaustüberlebenden" zum "idealen Beispiel" erklärt (S.389f.), "um die herum [...] sich die Einstellungen und Orientierungen der anderen Mitglieder der jeweiligen Gruppen" bewegen (S.391), verdeutlicht nur die konzeptionelle Konfusion. Kann eine reale Person als Idealtyp gelten? Oder können idealtypisch nur analytische Kategorien genannt werden, denen bestimmte Aussagen (nicht Personen) zu einem bestimmten Grad entsprechen? Diese Frage stellt sich MICHEL nicht, indes fasst er für die von ihm herausgestellten Idealtypen die Kurzbiografien im Hinblick auf die "politischen Einstellungen" zusammen, ohne dass aus den Interviews Kategorien anhand einzelner Textpassagen gebildet worden wären. Statt der proklamierten "Prägnanz" sind allgemein gehaltene Formulierungen zu lesen. So resümiert MICHEL zu seiner Interviewpartnerin Rosel, die für ihn den "Idealtyp" aus der Gruppe der "Zionisten" darstellt:
"Ihr gesamtes autobiographisch-narratives Interview ist bestimmt durch die Aussage: Wir kultivierten Palästina, wir haben Israel durch unsere harte Arbeit gegründet. Die Erlebnisse und Ereignisstrukturen, die in dieser Aussage ihren Ausdruck finden, resultieren im Wesentlichen aus einem ideologischen Verständnis von Arbeit, das sich in einem meritokratischen Gesellschaftsverständnis zeigt und sich auch in ihrer Einstellung zum israelisch-palästinensischen Konflikt und zur israelischen Innenpolitik spiegelt" (S.389). [21]
Kategorien, welche die politischen Einstellungen kennzeichnen würden, werden nicht genannt. In der Auswertung der Interviews wurden solche Kategorien auch nicht explizit formuliert. Die im methodischen Kapitel vorgestellten Auswertungsschritte beinhalten weder für die Leitfadeninterviews noch für die autobiografisch-narrativen Interviews eine Bildung von übergeordneten und untergeordneten Kategorien. "Sicherheitsorientierung" etwa oder "meritokratische Sichtweise" sind nicht als Kategorien formuliert, die dann mit konkreten Inhalten gefüllt worden wären, etwa der Befürwortung von Eigenverantwortung oder der Ablehnung von staatlicher Unterstützung für Bedürftige. Oft werden Einstellungen erst in der Gegenüberstellung mit "Repräsentanten" der anderen Gruppe expliziert, so im Resümee zu David, der für MICHEL den idealtypischen "Holocaustüberlebenden" repräsentiert. Aus dem Gegensatz zu David wird die Einstellung von Rosel gegenüber ethnischen Stereotypen zunächst in einer Negation formuliert, um dieser Negation die von Rosel mit anderem Inhalt gefüllte Stereotypisierung entgegenzusetzen: "Rosel hingegen sieht in den Arabern und Palästinensern keine Gefahr. Ihrer Meinung nach haben die Palästinenser nur zu viel Zeit" (S.390). Dass solche und ähnliche Aussagen ethnische Stereotypisierungen enthalten, wird allerdings nicht thematisiert, die Kategorie "ethnisches Stereotyp" oder "ethnische Etikettierung" oder ähnliche begriffliche Abstraktionen werden vom Autor überhaupt nicht verwendet. [22]
Die komplementäre Beschreibung der Idealtypen dient MICHEL schließlich zur Charakterisierung der jeweiligen gesamten Gruppe: "Die Einstellungen der Gruppe der deutschen Zionisten zum israelisch-palästinensischen Konflikt orientieren sich eher am Kompromiss" (S.391). Was die Einstellungen der "deutschen Zionisten" zu "Arabern" verbindet, wird anhand einer Negation bestimmt: "In ihren Einstellungen zu Arabern bzw. arabischen Minderheiten in Israel findet sich der Sicherheitsaspekt nicht als grundlegende Orientierung" (a.a.O.). [23]
In der oben erwähnten "subsumtionslogischen Verlängerung" seiner Studie hat der Autor eine Differenzierung innerhalb der Gruppe der "Holocaustüberlebenden" nachgereicht (MICHEL-SCHERTGES 2011). Dort weicht er das dualistisch-komplementäre Konzept ansatzweise auf, indem er feststellt, eine Interviewpartnerin aus der "Gruppe der Holocaustüberlebenden" könne die aktuelle israelische Politik hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts nur vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Politik sehen, während ein anderer Interviewpartner, der derselben Gruppe zugeteilt ist, davon quasi frei sei. Ob oder wie dieser Unterschied aus den biografischen Narrativen und Kommentaren zu verstehen sei, wird an dieser Stelle jedoch auch nicht dargelegt. MICHEL-SCHERTGES hält an dem Resümee fest, dass für beide Interviewten "die Sicherheit Israels an erster Stelle ihrer Überlegungen" stehe (S.80). Eine eingehende Kritik dieses Beitrags erfolgt an dieser Stelle nicht. Es sei lediglich erwähnt, dass MICHEL-SCHERTGES nicht so weit geht, Aussagen aus seiner Dissertation zu korrigieren. [24]
3. Uneingelöste Prämissen der Biografieforschung
Qualitative Studien zu politischen Einstellungen oder politisch extremem Verhalten generieren häufig zunächst ein Sample von Personen, die bestimmte Kriterien auf einer Extremismus-Skala erfüllen, und suchen in einem zweiten Schritt nach biografischen Auffälligkeiten in diesem Sample. Überzeugend an der von MICHEL vorgelegten Forschungsarbeit ist zunächst die Umkehr der Analyserichtung. MICHEL verfolgt nicht politische Orientierungen zurück auf mögliche biografische Bedingungen, sondern fragt zuerst nach spezifischen biografischen Bedingungen und erst im zweiten Schritt nach politischen Orientierungen. [25]
Die in der Einleitung formulierte Prämisse, politische Sozialisation als lebenslang andauernden Prozess zu verstehen, der sich in hierarchischen Beziehungen vollziehe, wird jedoch in der Forschungsarbeit selbst nicht angewandt. Eine hermeneutische Analyse der autobiografisch-narrativen Interviews unterbleibt. Aus diesen Interviews werden lediglich Textpassagen in den "biographischen Kurzporträts" präsentiert, ohne eine Kategorisierung oder Gliederung vorzunehmen. Fokussiert werden in den Kurzporträts diejenigen biografischen Ereignisse, die vom Autor zuvor als relevant für die Gruppeneinteilung bestimmt wurden, ohne dass nachvollziehbar wird, welche Relevanz dem Erleben dieser Ereignisse in der jeweiligen gesamten biografischen Erzählung zukommt. Bei der "Gruppe der Zionisten" fokussiert MICHEL die Lebensbedingungen in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Deutschland, die Flucht nach Palästina und die Aufbauleistungen in der neuen Heimat. Bei der Gruppe der "Holocaustüberlebenden" fokussiert MICHEL die entmenschlichenden und entindividualisierenden Erlebnisse in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Biografische Ereignisse in den Jahren nach den von MICHEL als markant fokussierten Erlebnissen werden eher protokollarisch genannt, die narrative Darstellung wird nicht nachvollzogen. Da eine Analyse unterbleibt, ist unklar, ob diese Fokussierung der Erzählstruktur der autobiografisch-narrativen Interviews entspricht. Die Leitfadeninterviews zu politischen Einstellungen wiederum zielen auf einzelne politische Ereignisse und militärische Konflikte in der Geschichte Israels, hinsichtlich der Einstellungen zur israelischen Innenpolitik jedoch vorwiegend auf die Gegenwart. Wenn die Interviewten selbst in den Leitfadeninterviews bei Fragen zu politischen Ereignissen oder Einstellungen auf ihre Biografie referieren, werden diese Referenzen nicht auf die autobiografisch-narrativen Interviews bezogen. Umgekehrt werden Aussagen aus den autobiografischen Interviews mit explizitem Bezug zu den Leitfadeninterviews nicht in Beziehung gesetzt. So schreibt MICHEL zu Miriam R. aus der Gruppe der "Zionisten", im "biographischen Kurzporträt" (S.80): "Miriam R. erzählt, dass sie vor 1948 noch religiös war, doch während des Unabhängigkeitskriegs 'hat sie es sich abgewöhnt'." In der Antwort von Miriam R. aus dem Leitfadeninterview zur Frage zum Verhältnis von Religion und Staat nimmt sie auf den Unabhängigkeitskrieg jedoch nicht Bezug – oder MICHEL weist auf eine mögliche entsprechende Äußerung nicht hin. In jedem Fall unterlässt er es, einen Bezug zwischen den beiden Interviews hinsichtlich des Themas "Religion" herzustellen. [26]
Erkenntnisreich wäre gewesen, zu politischen Ereignissen Aussagen aus den Leitfadeninterviews mit eigenbiografischen Erzählungen und eigentheoretischen Kommentaren aus den narrativen Interviews zu diesen politischen Ereignissen zu ergänzen und zu vergleichen. In der Anlage ist dies zwar von MICHEL vorgesehen, so sind in den Transkriptionstabellen Verweise auf inhaltlich einander berührende Passagen aus den verschiedenen Interviewgattungen markiert. Warum es unterlassen wurde, diese Textpassagen systematisch in Beziehung zu setzen, wird nicht dargelegt, ebenso wie es für Lesende anhand der präsentierten "Kurzporträts" nicht nachzuvollziehen ist, inwiefern den Interviewpartner/innen der Raum für eigene Akzentuierungen innerhalb ihrer gesamten biografischen Narrationen gegeben wurde. Denn anders als es mit KOSSELECK (2003, S.272f.), auf den sich MICHEL bezieht, einzulösen wäre, sind die Lebensgeschichten nach den als außerordentlich kategorisierten Erlebnissen nicht expliziter Gegenstand der Studie. [27]
Prozesse der Politisierung anhand gesellschaftlicher Verhältnisse in Israel von der Zeit der mit der Staatsgründung verbundenen Aufbauleistung bis in die Gegenwart wurden nicht nachvollzogen. Dynamiken, Brüche und Kontinuitäten in der Auseinandersetzung mit der israelischen Politik wurden nicht analysiert. Die Frage, wie Menschen, die ähnliche, einschneidende Ereignisse erlebt haben, mit ihren Erlebnissen unterschiedlich umgehen, auf welche biografische Ressourcen sie dabei zurückgreifen und wie sich ihre biografischen Ressourcen dadurch verändern, wurde nicht gestellt. In der oben erwähnten "subsumtionslogischen Verlängerung" der Studie reicht MICHEL-SCHERTGES (2011) zwar die Erkenntnis nach, dass sich ähnliche biografische Ereignisse unterschiedlich auf das "Bewusstsein" eines Individuums auswirken können. Er verfolgt diese Feststellung allerdings nicht vor dem Hintergrund von individuellen Gestaltungsmöglichkeiten im Umgang mit denjenigen biografischen Ereignissen, die er als "bewusstseinsbehindernd" kategorisiert und damit für "verschlossene Politisierungen" verantwortlich macht. [28]
Mit der Feststellung, "der Mensch und Biographieträger ist nicht einseitig und ausschließlich offen oder verschlossen biographisch politisiert" (S.408), fächert MICHEL zwar zuvor gemachte pauschal zu verstehenden Aussagen theoretisch wieder auf. Doch bleibt diese Feststellung ohne Inhalt, ohne Konkretion. MICHEL verweist nicht auf Ressourcen des Subjekts im Umgang mit den verschließenden oder öffnenden Faktoren. Für ihn liegt es gerade nicht am Subjekt, sondern an den erlebten Ereignissen, wie offen oder verschlossen sich Politisierung vollzieht: "In diesem Prozess sind aber Art und Intensität der Erlebnisse entscheidend" (a.a.O.). Auch diese Aussage wird jedoch nicht konkret auf das empirisch erhobene Material bezogen. [29]
Bevor eine Gewichtung in der Beziehung "Erlebnis" und "Subjekt" indes überhaupt möglich ist, wäre zunächst klar zu trennen zwischen "Ereignis" und "Erlebnis". Mehr als einmal hingegen verwendet MICHEL "Ereignis" und "Erlebnis" synonym und spricht von "Erlebnisstrukturen", wo mit KOSELLECK (2003, S.266f.) "Ereignisstrukturen" gemeint wären:
"In den jeweiligen Gruppen sind aufgrund unterschiedlicher biographischer Vorbedingungen – Bedingungsstrukturen sozialer Bewusstseinsbildung (vgl. Koselleck 2003) – und besonders durch unterschiedliche extraordinäre Erlebnisse – Erlebnisstrukturen (vgl. Koselleck 2003) – Abweichungen in den politischen Orientierungen und Eigenschaften festzustellen" (S.391). [30]
Nicht nur an dieser Stelle hat MICHEL das Konzept der "Erinnerungsschleusen" von KOSELLECK ungenau rezipiert, sondern auch in einem weiteren folgenreichen Punkt: Während KOSELLECK (2003, S.269) in seinem Konzept die Kategorien Klasse/soziale Schichtung und Geschlecht als wesentliche analytische Faktoren einbezieht, werden diese Kategorien von MICHEL völlig außer Acht gelassen. [31]
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass ein ungenau ausgearbeitetes Forschungskonzept dem erhobenen empirischen Material nur in Ansätzen gerecht wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Interviews einer Sekundäranalyse zugänglich sind. Fraglos liegt das Verdienst der Studie darin, Erinnerungen und Daten von Zeitzeug/innen erhoben zu haben, die in dieser Konstellation nicht nur einzigartig sind, sondern auch viele sozialwissenschaftlich wertvolle Erkenntnisse bergen. [32]
1) Zum Konzept der eigentheoretischen Kommentare als Ausdruck der "Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst" (SCHÜTZE 1983, S.285) vgl. GLINKA (1998, S.14-18). <zurück>
Glinka, Hans-Jürgen (1998). Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Weinheim: Juventa.
Greif, Gideon (2012). Der Holocaust im Bewusstsein Israels und Deutschlands. Interview mit Gideon Greif. Psychoanalyse, 28(1), 9-22.
Koselleck, Reinhart (2003). Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Mayring, Philipp (2002). Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz.
Michel-Schertges, Dirk (2011). Offene und verschlossene biographische Politisierung. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(2), Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1102225 [Zugriff: 20.7.2012].
Rosenthal, Gabriele (1995). Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M.: Campus.
Schütze, Fritz (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13(3), 283-293.
Susanne BRESSAN, Magistra Artium in Ethnologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft, Universität Heidelberg. Derzeit Promovendin im Fach "Neuere Geschichte" an der Technischen Universität Berlin. Thema des Promotionsvorhabens: Biografien der Gründerinnen und Gründer der "Rote Armee Fraktion" im Kontext des privaten und öffentlichen Umgangs mit dem nationalsozialistischen Erbe.
Kontakt:
Susanne Bressan
Dudenstr. 26
D-10965 Berlin
E-Mail: susanne.bressan@alumni.tu-berlin.de
Bressan, Susanne (2012). Rezension: Dirk Michel (2009). Politisierung und Biographie. Politische Einstellungen deutscher Zionisten
und Holocaustüberlebender [32 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(3), Art. 16,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1203165.