Volume 7, No. 4, Art. 13 – September 2006
Rezension:
Till Westermayer
Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem & Wolfgang Krohn (2005). Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld: Transcript, 234 Seiten, ISBN 3-89942-304-6, EUR 24,80
Zusammenfassung: Das Buch "Realexperimente" stellt dar, wie als Reaktion auf die Zunahme von Nichtwissen und Risiken in Wissensgesellschaften der Typus des Realexperiments als Kombination aus Wissensanwendung und Wissensgenerierung entstanden ist. Dazu gehen die Autoren auf die Geschichte des wissenschaftlichen Experiments ein und stellen dar, was aus der Sozialwissenschaft, insbesondere der Chicago School, über die "Gesellschaft als Labor" zu lernen ist. Ausführlich werden mit Hilfe der Grounded Theory vier Fallbeispiele rekonstruiert (Viehzucht in Tansania, die ökologische Restaurierung einer Halbinsel bei Chicago, die Sanierung des Schweizer Sempachersees sowie das System der Abfallbehandlung in Deutschland). Diese stehen für unterschiedliche Ausprägungen des ökologischen Realexperiments und des damit verbundenen Gestaltungszyklus rekursiven Lernens. Das Buch schließt mit einigen Überlegungen zur Frage der Gestaltung robuster und erfolgreicher Realexperimente, lässt hier aber den Konkretheitsgrad der Fallbeispiele vermissen. Interessant dürfte es damit vor allem für WissenschaftlerInnen aus dem Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung sein, wohingegen die bloß skizzenhafte Darstellung "guter" Realexperimente als Leitfaden für PraktikerInnen nicht ausreicht. Kritisch anzumerken ist ferner die Beschränkung auf Realexperimente aus dem Bereich der Ökologie, obwohl der Typus Realexperiment als weitergreifend beschrieben wird.
Keywords: Wissensgesellschaft, Experiment, Realexperiment, Ökologie, Wissenschaftstheorie, Grounded Theory, Lernen, Praxis
Inhaltsverzeichnis
1. Begriffsklärung: Worum geht es?
2. Ziel, Aufbau und Methode des Buches
3. Die Geschichte(n)
3.1 Das Experiment als Paradigma der Moderne
3.2 Das sozialwissenschaftliche Labor
3.3 Vier Fallgeschichten
3.4 Ein Fazit aus den Fallgeschichten
4. Konsequenzen
1. Begriffsklärung: Worum geht es?
Das Buch Realexperimente verbindet zwei Bereiche, die bislang oft als getrennte Disziplinen behandelt werden: die Umweltsoziologie (oder breiter gesprochen: die Umweltforschung) und die Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Grundlegende Idee dieses Buches ist es, anhand von empirischen Beispielen das Konzept des Realexperiments darzustellen und zu diskutieren. Wie die Autoren selbst schreiben, ist die erste Reaktion auf diesen Begriff vielfach Verwunderung: "Handelt es sich damit bei dem Begriff 'Realexperiment' nicht um einen Widerspruch in sich?" (S.11). Das Konzept des Realexperiments nimmt Überlegungen auf, die Wolfgang KROHN bereits an anderer Stelle angestellt hat (vgl. etwa KROHN & VAN DEN DAELE 2001; KROHN 2003): Wissensgesellschaften basieren nicht nur auf einer enger gewordenen Kopplung von Gesellschaft und Wissenschaft, sondern vor allem auch auf einer Steigerung der Wissensgenerierung, die zugleich Nichtwissens-Generierung ist, und damit eine Steigerung der Produktion von Unsicherheit, Ungewissheit und Risiko. Die typische (natur-)wissenschaftliche Reaktion auf Ungewissheit ist das Experiment – üblicherweise als kontrolliertes und begrenztes Laborexperiment. Wissensgesellschaften zeichnen sich nun gerade dadurch aus, dass diese Begrenzung der Handlungsform Experiment auf das Labor nicht mehr durchgängig ist, sondern dass nun mehr oder weniger experimentelle Forschungspraktiken in zentralen gesellschaftlichen Handlungsfeldern auftauchen. Dies kann gewollt sein, kann aber auch die Konsequenz des zwangsläufig unvollständigen Wissens etwa über Großtechnologien sein. Diese Experimente bezeichnen die Autoren als Realexperimente. Zugleich sprechen sie von der Wissensgesellschaft
"als einer Gesellschaft, die ihre Existenz auf solche experimentellen Praktiken gründet und so gesehen eine Gesellschaft der Selbst-Experimentierung ist. Selbst-Experimentierung bedeutet, dass bei experimentellen Praktiken immer auch Überraschungen involviert sind, da die Experimentatoren selbst Teil ihres Experiments sind. Experimente führen zu einem unvorhersagbaren Ausgang, produzieren unbekannte Nebenfolgen und bedürfen daher ständiger Beobachtung, Auswertung und Justierung" (S.14). [1]
Typisch für Wissensgesellschaften ist Lernbereitschaft. Dies betrifft individuelle Akteure ebenso wie die Gesellschaft als ganze. Allerdings – so argumentieren GROSS et al. – reicht diese prinzipielle Orientierung an Neuerung und Lernen nicht aus, um Realexperimente zu legitimieren. Übliche Legitimationsmotive, insbesondere das Motiv des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, sind in der realexperimentellen Situation im Gegensatz zur Laborsituation nicht mehr ausreichend. Vielmehr kommt – zumindest in demokratischen Settings – die Notwendigkeit der Akzeptanzschaffung hinzu. Soziale Akzeptanz und als Spiegelbild davon die Offenlegung des experimentellen Ansatzes haben aber auch eine direkte Funktion für Realexperimente: Nur eine "öffentlich verantwortbare und rechtsstaatlich legale Konzeption von Realexperimenten", die "sowohl sachlich als auch prozedural" der sozialen Dimension Rechnung trägt, ermöglicht es, aus Realexperimenten zu lernen (S.15). [2]
Typisch für Realexperimente ist die Form der Anwendung wissenschaftlich erprobten Wissens, die zugleich – etwa aufgrund von situativen Effekten oder Fehlschlägen – neues Wissen generieren kann. Die klassische Trennung in Wissensgenerierung im Sinne der Grundlagenforschung, dann Anwendungsforschung und schließlich technische Implementation ist dem Charakter des für Wissensgesellschaften typischen Wissens und seiner Folgen nicht mehr angemessen: sie funktioniert nicht mehr. Paradigmatisch wird vielmehr die Kombination der Entdeckung von Wissenslücken und Unsicherheiten in der Anwendung, also der realexperimentelle Charakter. Dies gilt auch bezüglich des besten Weges partizipativer Einbindung. [3]
GROSS et al. (S.16ff.) unterscheiden das Realexperiment nicht nur vom klassischen Laborexperiment als Idealtypus kontrollierten Experimentierens, sondern auch von der Feldbeobachtung, die eben gerade nicht vorsieht, dass "im laufenden Betrieb" eingegriffen und experimentiert wird. Während Laborexperiment und Feldbeobachtung für Wissenserzeugung unter kontrollierten bzw. situationsspezifisch vorgegebenen Randbedingungen stehen, bilden auf dem Pol der Anwendung anerkannten Wissens die technische bzw. ökologische Implementierung ihr Gegenstück. Idealtypischerweise erfolgen technische Implementierungen unter der Annahme kontrollierter Randbedingungen und der Schließung des Ereignisraumes, während die Implementierung von ökologischen Gestaltungen als Eingriff unter vorgegebenen und offenen Randbedingungen verstanden wird. Zwischen diesen vier Idealtypen liegt eine ganze Reihe von Übergangsformen: beispielsweise die Pilotanlage, die zwischen Laborexperiment und technischer Implementierung angesiedelt ist. Realexperimente weisen nun Kennzeichen aller vier Typen auf: sie sind experimentell orientiert, stehen unter situativ vorgegebenen Randbedingungen und verknüpfen Wissensanwendung und Wissensgenerierung. Hier treffen nun auch Wissenschafts- und Umweltforschung aufeinander. [4]
Realexperimente sind mit einem Zyklus des Lernen und Gestaltens verknüpft, an dem nicht nur das eigentliche experimentelle System und die WissenschaftlerInnen beteiligt sind, sondern – insbesondere in dichter besiedelten Gegend – auch vielfältige andere Akteure. Die Praxis des Experimentierens unter der Bedingung eines Realexperiments umfasst damit nicht nur Wissensanwendung, Beobachtung und darauf aufbauend den geplanten Eingriff in das experimentelle System, sondern einen diskursiven Prozess der Interessenartikulation, Wissenserarbeitung und des "abgeklärten Eingreifens" (S.21). Zwei für diesen komplexeren Kreislauf von Lernen und Gestalten zentrale Begriffe sind Überraschung – insbesondere die Offenheit für Überraschungen als Voraussetzung für die Weiterführung von Gestaltung bei unerwarteten Ergebnissen (also eine Kompetenz für den Umgang mit Abweichungen vom Erwarteten) – und Akkommodation. Mit diesem Begriff beziehen die Autoren sich auf PARK und BURGESS (1972) und meinen damit die vor einem Eingriff in das experimentelle System notwendige Anpassungs- und Integrationsleistung, die sowohl die Wissensrevision als auch die mögliche Neuverhandlung von Akteursinteressen einschließt (S.22). Gestaltung im Sinne des Realexperimentierens meint damit einen Kreislauf aus Beobachtung des experimentellen Systems (und der darauf wirkenden externen Einflüsse), dem kompetenten Umgang mit Überraschungen im Sinne von Abweichungen vom geplanten Ergebnis, dem darauf folgenden Prozess der Wissenserarbeitung, Interessenaushandlung und Akkommodation und dem darauf aufbauenden planmäßigen Eingriff in das System, die Neujustierung, womit der realexperimentelle Zyklus von Lernen und Gestalten neu beginnt – und möglicherweise das neu erarbeitete Wissen wieder in Frage stellt. [5]
2. Ziel, Aufbau und Methode des Buches
GROSS et al. wollen mit ihrem Buch nicht nur das Konzept des Realexperiments und das Ergebnis ihres Forschungsprojekts darstellen, sondern verbinden damit auch ein gesellschaftsrelevantes Ziel: ihnen geht es darum, aus Fallbeispielen zu lernen – auch ein Element eines größeren Lernzirkels –, um zu diskutieren, "wie in einer sich abzeichnenden experimentellen Wissensgesellschaft 'robuster' mit Fehlentwicklungen und neuen Unsicherheiten umgegangen werden kann" (S.26). [6]
Im Aufbau des Buches gehen sie dazu nach einer begrifflichen Einleitung auf den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund des (naturwissenschaftlichen) Experiments in der Moderne ein. Komplementär dazu blättern sie auf, wie vor allem in der Frühphase der Soziologie versucht wurde, das experimentelle Paradigma auf soziale Zusammenhänge zu übertragen und dabei aus der Notwendigkeit heraus, mit Gesellschaft und damit mit gegebenen Sozialstrukturen experimentieren zu müssen, schon früh über strukturelle Analogien zum Realexperiment diskutiert wurde. Diesen beiden historischen Kapiteln schließen sich vier Kapitel an, in denen anhand von Fällen gewollten und ungewollten ökologischen Eingreifens Fallbeispiele rekonstruiert werden, die von GROSS et al. als Realexperimente betrachtet werden. Die vier Fälle sind dabei innerhalb des von den Idealtypen Laborexperiment, Feldbeobachtung, technische und ökologische Implementierung aufgespannten Raumes unterschiedlich positioniert. Der Behandlung aller vier Fälle gemeinsam ist die rekonstruktive Methode. Der Schluss des Buches bringt Wissenschaftsgeschichte und Fallbeispiele zusammen, um – wie bereits erwähnt – Schlüsse hinsichtlich einer für große Realexperimente robusteren Wissensgesellschaft zu ziehen. Gemeinsamer roter Faden sowohl für die Darstellung der Wissenschaftsgeschichte des naturwissenschaftlichen wie des soziologischen Experimentierens als auch der Fallbeispiele ist der eingangs dargestellte Gestaltungs- und Lernzyklus. [7]
Methodisch orientiert sich das Buch an der Grounded Theory. Allerdings finden sich zum Vorgehen der Untersuchung selbst nur wenige Hinweise. In Feld- und Forschungsaufenthalten wurden Datenmaterialien gesammelt (Interviews, Archivmaterial, graue Literatur) und diese im Grounded-Theory-Prozess des Kodierens und Kategorisierens auf die Fallrekonstruktionen und schließlich auf den Gestaltungszyklus als "interdisziplinären Idealtypus" (S.20) des (Real-) Experimentierens konzentriert. In einer Fußnote verweisen die Autoren auf die für die interdisziplinär ausgerichtete Umweltforschung typischen schwierigen Aushandlungsprozesse innerhalb einer Arbeitsgruppe, in der die ganz unterschiedlichen Denkstile von sozialwissenschaftlich bzw. naturwissenschaftlich sozialisierten ForscherInnen aufeinandertreffen. Die gemeinsame Orientierung am Ansatz der Grounded Theory scheint dabei letztlich erfolgreich, aber im Forschungsalltag doch "mühsam" gewesen zu sein (S.20, Fn.3; vgl. HOFFMANN-RIEM & GROSS 2006). [8]
3.1 Das Experiment als Paradigma der Moderne
Die Geschichte des Experiments aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung wird von GROSS et al. auf etwa dreißig Seiten behandelt. Ausgangspunkt ist GALILEIs Untersuchung zum Fallgesetz. Es werden die Wurzeln des Experimentierens in der europäischen Renaissance dargestellt und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Umbrüche in der frühen Neuzeit. Die Autoren verknüpfen mit der Entwicklung der Praxis des Experimentierens einen dreifachen Wandel im "Weltverhältnis" (S.33ff.). Erstens verknüpft sich mit dem Modus des Experiments die Vorstellung der Planbarkeit und Kontrolle im Umgang mit Natur: ein neues Naturverhältnis. Zweitens verbindet sich mit dem Experiment ein neues Geschichtsverhältnis: Zukunft wird jetzt als offen und gestaltbar erlebt, die Idee des "Fortschritts" – mit kalkuliertem und kalkulierbarem Risiko – beginnt, ihre Wirkungskraft zu entfalten. Und drittens verändert sich mit dem Durchbruch des Experimentierens auch das Identitätsverhältnis. Experimentieren als "Realität auf Probe" ist mit einer neuen "eigentümlichen Distanz zu sich selbst" (S.35) gekoppelt. Auch Identität, der eigene Lebensverlauf, kann dem Experiment unterworfen werden: bis hin zur Extremform des medizinischen Selbstexperiments. Die in der Renaissance entstandene, sich auffächernde experimentelle Methode wird zur Grundlage der entstehenden neuen Wissenschaften. Im 17. Jahrhundert resultiert daraus dann ein " 'Gesellschaftsvertrag' zwischen dem experimentellen Erkenntniserwerb und gesellschaftlicher Modernisierung" (S.36) – der "baconische Kontrakt" (S.39). Ein Blick auf GOETHE, LIEBIG und PASTEUR – drei Forscher, die für zeitlich gestaffelte, unterschiedlich professionalisierte und paradigmatisierte Formen der Naturforschung stehen – schließt das Kapitel zur Wissenschaftsgeschichte des Experiments ab. Damit wird deutlich, wie sich aus der Idee des Experimentierens über das Laborexperiment bereits im 19. Jahrhundert mit PASTEUR ein an Öffentlichkeitseffekten und rekursivem Lernen orientiertes, eher realexperimentelles Vorgehen entwickelt und Einzug in die Wissenschaftspraxis gehalten hat. Insbesondere weisen GROSS et al. darauf hin, wie das – durchaus auch mit dem Impetus der Aufklärung verknüpfte – Streben von WissenschaftlerInnen nach Öffentlichkeit und Wirkung den wenig risikoreichen, kontrollierten Modus des Experiment im BACONschen Sinne in Richtung des risikoreichen und an sozialen Wandel geknüpften Realexperiments transformiert (S.58). Während zur Darstellung des PASTEURschen Wirkens durchaus auf Bruno LATOURs (LATOUR 1988) zurückgegriffen wird, fehlt leider der Bezug zu seinen neueren Arbeiten (etwa LATOUR 1995), die ein spannungsreiches Gegengewicht zu der in diesem Kapitel rekonstruierten Fortschrittserzählung hätten bieten können. [9]
3.2 Das sozialwissenschaftliche Labor
Komplementär zu den etwa dreißig Seiten Naturwissenschaftsgeschichte stehen etwa zwanzig Seiten zum sozialwissenschaftlichen Experiment, zur "modernen Gesellschaft als Experimentierraum" (S.59). GROSS et al. geht es dabei darum zu zeigen, wie sich die Sozialwissenschaften vom Vorbild des für gesellschaftswissenschaftliche Zwecke eher unbrauchbaren Laborexperiments lösen und eine ganze Reihe von experimentellen Formen außerhalb des Labors finden. Allerdings wird die Entwicklungsgeschichte des sozialwissenschaftlichen Experiments nicht systematisch aufgearbeitet; das selbst gesteckte Ziel ist vielmehr begrenzt darauf, "einen Streifzug durch die Geschichte der modernen Gesellschaft als Experimentierraum zu liefern" (S.60). Dies erklärt möglicherweise auch, warum durchaus anschlussfähige Themen aus dem Bereich der Methodenentwicklung wie etwa die Aktionsforschung (vgl. MOSER 1995) ebenso außen vor bleiben wie der ganz andere Verlauf, den der Versuch, sich experimentelle Methoden anzueignen, in der Nachbardisziplin Psychologie genommen hat. Den Schwerpunkt der Darstellung bildet die sozialwissenschaftliche Chicago School des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wie GROSS bereits an anderer Stelle ausführlich dargelegt hat (GROSS 2001), ist die Geschichte der Chicago School eng mit der Orientierung an vor allem biologischen und ökologischen Ideen verbunden. So wird die erste amerikanische Einführung in die Soziologie an biologische "laboratory manuals" angelehnt und die "Stadt als Labor" verstanden (S.61). Dementsprechend werden sozialwissenschaftliche Forschung und gesellschaftlicher Wandel verknüpft:
"Die herausragende Rolle der wissenschaftlichen Beobachtung der Gesellschaft, also der Produktion von soziologischem Wissen, ging nach Auffassung der Chicago School auch mit der zentralen Bedeutung von Sozialreformen einher. Die gesellschaftliche Anwendung von neu gewonnenem Wissen und die Gestaltung von Strategien, um dieses Wissen wieder in die Gesellschaft einzuspeisen, wurden beispielsweise in Studien über abweichendes Verhalten, Forschung über die ökologischen Grundlagen der Gesellschaft, über Sozialversicherung, über Entfremdung durch Arbeitslosigkeit oder Studien über den Einfluss von Immigranten auf den sozialen Wandel verfolgt" (S.63). [10]
Zusammengefasst bedeutet dies, dass in der Tradition der Chicago School "soziale Prozesse als Experimente verstanden [wurden], die von der Gesellschaft selbst durchgeführt werden […]" (S.64). [11]
Diese frühen Ansätze nimmt die zweite Generation der Chicago School um Robert E. PARK und Ernest W. BURGESS wieder auf. Wiederum wird die Stadt – inklusive ihrer materiellen Struktur und ihres "Dingarsenals" – als gesellschaftliches Labor und zugleich als eine Art Ökosystem oder Habitat verstanden. Soziologische Beobachtung wird dabei als Eingriff in den "natürlichen", evolutionär gedachten Lauf der Dinge erachtet (S.69). Der Blick auf die Stadt als Mikrokosmos wird schließlich erweitert auf Gesellschaft insgesamt. GROSS et al. zeigen, dass sich bei PARK die "moderne Gesellschaft selbst in einen Ort verwandelt, der den Soziologen für seine Untersuchungen als Labor dient" (S.70). Soziologie selbst ist dabei vom gesellschaftlichen Wandel nicht unbeeinflusst, ist Teil der im Experiment untersuchten Realität; die ForscherIn hat keinen Standort außerhalb davon. [12]
In der von GROSS et al. erzählten Geschichte des sozialwissenschaftlichen Experiments finden diese realexperimentellen Ansätze Resonanzen in der Soziologie der Gegenwart. Dazwischen liegt eine Phase, in der versucht wurde, eher technokratische Sozialexperimente durchzuführen. GROSS et al. verbinden diese Phase insbesondere mit Donald T. CAMPBELL und seinen Schülern, die seit den späten 1950er Jahren einen methodischen Typus des sozialen Quasi-Experiments mit randomisierten Kontrollgruppen entwickelten und umsetzten. Darunter sind sozialreformerische Maßnahmen zu verstehen, die bei bestimmten Gruppen eingesetzt und bei anderen Gruppen nicht eingesetzt werden, so dass der Erfolg der Maßnahme schließlich evaluiert und gemessen werden kann. Damit ist zwar der Schritt aus dem Labor in die Gesellschaft getan; dem Quasi-Experiment haftet aber weiterhin der Ruf an, "minderwertige Abwandlung des Laborexperiments" (S.72) zu sein. Der nächste Schritt CAMPBELLs war die Idee der "Experimentiergesellschaft", also des kontrollierten Ausprobierens politischer Programme. GROSS et al. sehen hier gewisse Ähnlichkeiten zu ihrem Konzept des Realexperiments, lehnen aber die damit verbundene technokratische Vorstellung der Plan- und Kontrollierbarkeit ab:
"Im Gegensatz zu Campbells […] Vorstellung einer 'Experimentiergesellschaft' soll das Konzept der Realexperimente jedoch einen Weg vorzeichnen, auf dem die betroffene Öffentlichkeit nicht in der Rolle des auf die Experimentalanordnung reagierenden Objekts verweilt, sondern als 'vollwertiger Teilnehmer' auch die Initiative zum Aufbau von Experimenten ergreifen kann" (S.73). [13]
Diesen Schritt sehen die Autoren im gegenwärtigen Diskussionsrahmen der Risiko- und Wissensgesellschaft gegeben (S.73ff.). Mit Verweis auf STEHR (2000) und HEIDENREICH (2003) sehen sie Wissensgesellschaft als eine Gesellschaftsform an, die auf der Ersetzung von Normen und Konventionen durch situierte, wissensbasierte Entscheidungen gründet. Die Anwendung von Wissen ist mit dem Umgang mit Nichtwissen und Unsicherheit – und damit auch mit der Generierung von neuem Wissen – verknüpft. Gleichzeitig findet Wissensgenerierung zunehmend außerhalb der Wissenschaft statt; wissenschaftliche Praktiken und Denkweisen werden an andere gesellschaftliche Orte exportiert. In diesem Szenario würde die Wissensgesellschaft
"auf eine Gesellschaft hinauslaufen, die auf Experimenten außerhalb des Wissenschaftsbereichs aufbaut. Es ist genau dieses Verständnis von Experiment, das dem von Robert Park entspricht: Das Experiment findet in der Gesellschaft statt und wird – eventuell noch wichtiger – von der Gesellschaft selbst durchgeführt" (S.74). [14]
Gesellschaftliche Experimente sollen also Gesellschaft nicht als Objekt behandeln, sondern diese aktiv einbeziehen. Zugleich soll – ebenfalls mit Verweis auf die Chicago School – der Experimentbegriff Materielles, Natürliches und Soziales in Beziehung setzen. Dementsprechend sehen die Autoren es als Aufgabe der Soziologie an, sich nicht auf einen passiven Beobachtungsstandpunkt zurückzuziehen, sondern es gilt, "die Gesellschaft zu 'lehren', wie sie von Experimenten lernen kann" (S.75). Soziologische – soziale – Experimente sollen als strikt getrennt von naturwissenschaftlichen Experimenten verstanden werden. Im Unterschied zu diesen können die Randbedingungen kaum kontrolliert werden; sie sind von außen vorgegeben. Die strikte Trennung zwischen ExperimentatorIn und experimentellem Setting lässt sich nicht durchhalten; vielmehr ist es – nicht zuletzt aus ethischen Gesichtspunkten heraus – wichtig, partizipatorische Strategien einzusetzen. SoziologInnen sind BeobachterIn und AkteurIn zugleich. Zudem reicht es, wie eingangs bereits erwähnt, nicht aus, Realexperimente – und das sind soziale Experimente aus Sicht von GROSS et al. – mit wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse zu legitimieren. Es muss also daneben weitere öffentliche Interessen geben. Das soziologische Realexperiment kann damit nicht von einer tabula rasa ausgehen, sondern muss sich als Intervention in eine schon vorhandene Dynamik verstehen – und steht damit unter Bedingungen geringerer Kontrolle und Erwartbarkeit. Hier wird die Relevanz des anfangs skizzierten Gestaltungszyklus deutlich. [15]
Den Hauptteil des Buches macht die materialreiche Rekonstruktion von vier Fallbeispielen aus: Viehzucht in Tansania, die ökologische Restaurierung einer Halbinsel bei Chicago, die Sanierung des Schweizer Sempachersees sowie das System der Abfallbehandlung in Deutschland. Allen Fallbeispielen gemeinsam ist der Charakter des Realexperiments – und zwar als nicht nur soziales, sondern auch ökologisches Realexperiment. Unterschiede finden sich sowohl im Maß der Planung als auch in der Kontrollierbarkeit der Randbedingungen. Die Fallgeschichten lesen sich jeweils spannend. Bei allen vier Geschichten stellte sich mir allerdings sofort die Frage, was an Wissensgewinnung passiert wäre, wenn diese Fälle nicht mit dem Modell des kreisförmigen, aber letztlich doch an einer linearen Spirale orientierten Lern- und Gestaltungszyklus beschrieben und rekonstruiert worden wären, sondern als dynamische, großräumige Netzwerke aus menschlichen und nicht-menschlichen Aktanden (also wiederum der Verweis auf den von GROSS et al. [vgl. S.73] wenig geliebten LATOUR; vgl. zu einer methodischen Umsetzung auch SCHÖN, NÖLTING & MEISTER 2004). [16]
Das erste Fallbeispiel (S.79ff.) befasst sich mit dem Scheitern des Versuchs, in Tansania (Ranch Mkwaja) Viehzucht nach europäischem Vorbild zu betreiben. Dargestellt wird, wie in der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Geschichte der Ranch seit 1953 der Lernzyklus mehrfach durchlaufen wird. Die dabei gemachten Lernprozesse und Entscheidungen im Umgang mit auftretenden Problemen – Tsetsefliegen, Viehkrankheiten, Verbuschung – sind sorgfältig dokumentiert, ebenso das letztliche Scheitern des als wirtschaftliche Wissensanwendung geplanten Realexperiments im Jahr 2000. [17]
Im zweiten Fallbeispiel (S.111ff.) befassen sich GROSS et al. mit der Gestaltung eines Parks auf der künstlich geschaffenen Halbinsel Montrose Point in Chicago, die in den Michigansee hineinragt. Die NutzerInnen des Parks werden intensiv in den Gestaltungsprozess – sowohl konzeptionell als auch in der realräumlichen Implementierung – einbezogen. Kurz gesagt geht es bei Montrose Point um die Lösung von Nutzungskonflikten zwischen "Ecological Restoration" (Natur-Restaurierung) – also dem Versuch, Naturflächen jenseits von Wildnis möglichst standortgetreu ökologisch zu gestalten – und sportlichen und rekreativen Interessen (SpaziergängerInnen, Strand, Volleyball). Bis in die 1980er Jahre wurde Montrose Point militärisch genutzt; seit dem Jahr 1990 gibt es einen partizipativen Gestaltungsprozess. Ein besonderes Moment im Realexperiment war dabei eine große, nicht standortgerechte Hecke, die sich zum Nist- und Rastplatz einer großen Zahl an seltenen Vogelarten entwickelt hatte. Zu den Konflikten im Gestaltungsprozess kam damit die "innerökologische" Auseinandersetzung zwischen dem Interesse, die Vögel zu schützen und dem Interesse, die neophytische Hecke zu entfernen. Als Fazit aus diesem Fallbeispiel ziehen GROSS et al. den Schluss, dass der heutige integrative Gestaltungsprozess nur möglich war, weil immer wieder rekursive Lernstrategien – und die Beobachtungen von Laien wie von ExpertInnen – zum Zuge kamen. Dabei veränderte sich nicht nur das Gestaltungskonzept für Montrose Point, sondern auch das wissenschaftliche (in diesem Fall: das ornithologische und ökologische) Wissen. [18]
Während die ersten beiden Fallbeispiele eher auf der Seite der Wissensanwendung standen, ist der dritte Fall (S.135ff.) stärker am Modus der geplanten Wissensgewinnung orientiert. Es handelt sich hierbei um die experimentelle Sanierung des Schweizer Sempachersees. Eine Besonderheit des Falles ist die Kombination des großräumigen und lange andauernden Realexperiments "Sempachersee" mit Laborexperimenten und kontrollierten Feldexperimenten zur Wissensgewinnung und zur Untersuchung von aus dem Realexperiment gewonnenen Vermutungen. Kurz gesagt geht es bei diesem Fallbeispiel darum, wie das Problem der Eutrophierung des Sees aufgrund überhöhter Phosphoreinträge erkannt wird, wie mit verschiedenen, auf dem Stand der Wissenschaft beruhenden – und teilweise durchaus kontroversen – Eingriffen versucht wird, die Phosphorkonzentration im See zu senken, und wie dabei ausgehend vom Scheitern dieses Vorgehens entdeckt wird, wie sich Phosphor im Gefüge des Sees aus Wasserschichten und Sediment tatsächlich verhält. Diese Beobachtungen werden ebenso wie eine energische Landwirtschaftspolitik, die den Phosphoreintrag verringert, nur möglich, weil die zuständige Behörde Maßnahmen (eine Bewässerbelüftung) ergriffen hatte, die nach dem Stand des Wissens der 1970er Jahre sinnvoll erschienen, aber letztlich auf falschen Vorstellungen über das Verhalten von Phosphor im See zurückgingen. Diese Maßnahmen zogen wiederum umfangreiche Beobachtungen und Messungen nach sich, die es sonst nicht gegeben hätte, die dann – als Lernen aus dem Scheitern und begleitet von Feldversuchen und Laborexperimenten – zu einem funktionierenden Modell führten. GROSS et al. ziehen aus dem Fallbeispiel Sempachersee allgemeinere Schlüsse zur Gestaltung von Realexperimenten:
"Realexperimente sind dann am wirkungsvollsten, wenn sie auf dem Hintergrund des aktuell verfügbaren Wissens konzipiert werden und wenn dabei von Anfang an Beobachtungen geplant werden, die geeignet sind, Überraschungen zu offenbaren. […] Resultieren aus diesen Beobachtungen überraschende Erkenntnisse, so kann auf der Grundlage kontrollierter Experimente das Verständnis der Kausalzusammenhänge weiter entwickelt werden" (S.171). [19]
Die vierte Rekonstruktion schließlich ist die raumzeitlich weitgreifendste: dargestellt wird die Entwicklung der Abfallwirtschaft in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts (S.173ff.). Dabei werden die Müllentsorgungsparadigmen von der unkontrollierten, "wilden" Deponie der 1920er Jahre bis zu den ausgeklügelten Stoffstrommanagementsystemen der Gegenwart untersucht und zwei Lernmuster unterschieden: Wissensfortschritte innerhalb eines Paradigmas, die dazu führen, die damit verbundenen Techniken und Institutionen effizienter zu gestalten, und Erkenntnisse, die von einem Paradigma zum nächsten führen, indem sie das vorhergehende Paradigma in Frage stellen (ähnlich wie in Thomas KUHNs Wissenschaftskonzeption, nur hier eben auf das Wissen über Abfallentsorgung bezogen). Wie die Autoren schreiben, wird am Beispiel Müll deutlich, dass aus den ungeplanten Nebenfolgen technischer und sozialer Entwicklung ein ebenfalls nicht geplantes – inzwischen aber ausgeklügeltes und stark institutionell abgesichertes – Realexperiment werden kann. Die scheinbar kontrollierte Technikanwendung in den Müllentsorgungseinrichtungen auf dem jeweiligen Stand des Wissens wird bei näherem Hinsehen zur großräumig vernetzten, in ökologische Systeme eingebetteten Handlungsweise, die ganz und gar nicht kontrolliert ist. Wichtige Beobachtungen aus dem Fallbeispiel Abfall sind die Verschiebung von einem auch institutionell wenig gebundenen Vorgehen zu einer Institutionalisierung des Realexperiments, die transdisziplinäre Wissensgewinnung in der Anwendung sowie die sich aus Nichtwissen und Nebenfolgen heraus ergebende Logik immer währenden "Herumbastelns", die von außen betrachtet Fortschritt symbolisieren kann. [20]
3.4 Ein Fazit aus den Fallgeschichten
Die Autoren untersuchen im abschließenden Kapitel (S.209ff.) ihre vier – ja durchaus heterogenen – Fallgeschichten auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin, um so zu allgemeineren Aussagen über den Lernmodus des Realexperiments zu kommen. Dabei gehen sie auf fünf Beobachtungen ein:
Realexperimente werden häufig nicht von Anfang an als Experiment geplant, sondern als Wissensanwendung. Erst allmählich wird der experimentelle Charakter sichtbar – dadurch, dass Alltagsroutinen der Wissensanwendung in Frage gestellt werden oder sich als problematisch erweisen. Verallgemeinert heißt das: die Bereitschaft, Risiken des Nichtwissens einzugehen, ist bei vielen Realexperimenten nicht von Anfang an gegeben, sondern entsteht erst mit den Überraschungen in der Anwendung scheinbar sicheren Wissens – oder unter dem Eindruck von Konflikten und Kontroversen, die sich aus der Wissensanwendung ergeben.
Auch wenn in der Darstellung der Fälle großer Wert auf den im Gestaltungszyklus verkörperten Modus "rekursiven Lernens" gelegt wurde, so ist dies nicht der einzige relevante Lernmodus für Realexperimente; er funktioniert auch nicht immer. GROSS et al. weisen darauf hin, dass rekursives Lernen an institutionellen – z.B. ökonomischen – Einbindungen scheitern kann, so dass aus dem Scheitern erworbenes neues Wissen nicht angewandt werden kann. Rekursives Lernen kann zum "lock-in" in eingefahrene Verbesserungskreisläufe führen, die erst durch den Wechsel der Lernumwelt (etwa aufgrund politischer Veränderung) aufgebrochen werden können. Neben rekursivem Lernen ist der Einfluss von Wissen aus anderen, dem Realexperiment externen Quellen für den Verlauf nicht unbedeutend.
Der Gestaltungszyklus "rekursiven Lernens" hat seinen Antriebsmotor nicht vorrangig in der Wissensgewinnung, sondern vielmehr in Problemen ökonomischer oder ökologischer Art, "die auch bei Misserfolgen gelöst werden müssen" (S.211). Gerade aus diesem Erfolgsdruck heraus ergibt sich die Möglichkeit des Experimentierens unter Realbedingungen.
Der Erfolgsdruck ist bei erfolgreichen Realexperimenten mit "Robustheit" verbunden. Damit meinen die Autoren Spielräume, um trotz Überraschungen weitermachen zu können – bis hin zur Zielrevision. Robustheit ist dabei zum einen eine soziale Kategorie, zum anderen aber auch bezogen auf Kriterien wie technische Sicherheit, Handlungserfolg oder die Verlässlichkeit wissenschaftlichen Wissens, die sich zeigt, wenn dieses in die Mühlen alltäglicher Praxis gerät.
Aus diesen Beobachtungen heraus kommen die Autoren zu der zentralen Forderung, Realexperimente – bzw. den damit verbundenen Lernprozess – institutionell so zu verankern, dass das Risiko des Nichtwissens verarbeitet werden kann. Idealerweise sollte ein Realexperiment also nicht als Anwendung vermeintlich sicheren Wissens beginnen, sondern von Anfang an unter den Verdacht möglicher Überraschungen gestellt werden. Verbunden ist dies für GROSS et al. mit einem partizipativen Experimentaldesign, in dem nicht nur wissenschaftliches Wissen heruntergebrochen wird, sondern in dem auch die Risiken von Nichtwissen und die damit verbundenen möglichen Überraschungs- und Anpassungsmomente kommuniziert werden. In diesem Sinne werden Realexperimente als "Innovationsmodus der Wissensgesellschaft" (S.214) in komplexen Situationen verstanden. [21]
Abgesehen davon, dass das Schlusskapitel recht knapp ausfällt und wenig dazu sagt, wie die geforderte Robustheit und Partizipativität institutionell konkret hergestellt werden könnten – das Buch also nicht als Handbuch für erfolgreiche Realexperimente gelesen werden kann –, sind mir bei der Lektüre der Realexperimente einige Fragen gekommen, die nicht beantwortet werden. [22]
Erstens stellt sich die Frage, was denn – wenn es um die Anwendung von Wissen "im Feld" geht – kein Realexperiment darstellt. Die Autoren weisen auf Seite 211 darauf hin, dass Realexperimente eben gerade nicht identisch mit beliebigen Prozessen sozialen Lernens sein sollen. Die darauf folgende Eingrenzung ist aus meiner Sicht allerdings wenig geeignet, eine scharfe Trennlinie zwischen Realexperimenten und anderen gesellschaftlichen Lernprozessen zu ziehen. So schreiben GROSS et al.:
"Realexperimente zeichnen sich in unserem Verständnis dadurch aus, dass sie erstens immer Strategien der Anwendung anerkannten Wissens mit der Erzeugung neuen Wissens im Kontext von gesellschaftlichen Problemstellungen und zweitens kontrollierte Randbedingungen mit situationsspezifischen Gegebenheiten kombinieren" (S.211). [23]
Wie die Autoren an den gewählten Beispielen darstellen, ist selten von Anfang an klar, dass es um die Erzeugung neuen Wissens geht. Letztlich scheint mir diese Definition überall dort zuzutreffen, wo komplexe – und nicht routinisierte, vielleicht auch nicht routinisierbare – Wissensbestände angewandt werden, um (mehr oder weniger) gesellschaftliche Probleme zu lösen. Es scheint den Autoren selbst bewusst zu sein, dass diese Definition nicht unbedingt zur Trennschärfe beiträgt. Deswegen verweisen sie auf den das Buch als roten Faden durchziehenden Gestaltungszyklus als zweites definitorisches Kriterium für Realexperimente. Aber auch das ist aus meiner Sicht eine kaum spürbare Eingrenzung der Definition: sobald es darum geht, dass Probleme tatsächlich gelöst werden müssen (s.o., Punkt 3), kommt – sofern es keine funktionierende Standardlösung gibt – der Gestaltungszyklus zum Zuge. Nun scheinen mir aber so gut wie alle Probleme mit tatsächlicher gesellschaftlicher Relevanz Probleme zu sein, die mit einem hohen Lösungsdruck verbunden sind. Sobald diese nun auf die Konfrontation mit etwas Neuem stoßen, wäre damit die Form des Realexperiments gegeben. Oder, etwas zugespitzt: wenn es sich um große Probleme handelt, gibt es entweder triviale Lösungen, oder es muss ohnehin die Form des Realexperiments gewählt werden (die dann entweder erfolgreich im Sinne des Durchlaufens des Gestaltungszyklus ist oder scheitert). [24]
Diese fehlende Trennschärfe des Begriffs ist nun nicht unbedingt problematisch. Auch die eingangs von den Autoren gemachten Aussagen darüber, wie (reflexive) Wissensgesellschaft und Realexperiment zusammenhängen, sprechen eher dafür, dass sich in einer solchen Gesellschaft eben fast alle Probleme nur noch im Realexperiment behandeln lassen. Wenn dem so wäre, gewinnt die zweite Beobachtung, die ich beim Lesen gemacht habe, allerdings an Relevanz. Und zwar bleibt mir – gerade aus einem methodischen Hintergrund heraus, der sich an das Vorgehen der Grounded Theory anlehnt – unklar, wieso nicht eine stärkere Kontrastierung der Beispiele gewählt wurde. Oder anders formuliert: die These, dass der Modus des Realexperiments typisch für den wissensgesellschaftlichen Umgang mit komplexen Problemen ist, ließe sich an Beispielen überprüfen, die aus ganz anderen Feldern kommen. Dies könnten beispielsweise soziale Realexperimente sein: nicht nur der Umgang mit Müll, auch der Umgang mit beispielsweise Arbeitslosigkeit (oder die immer wiederkehrenden Reformdebatten um das Renten- und Krankenversicherungssystem) könnten als Realexperimente begriffen werden, bei denen es dann eben nicht um die Generierung und Anwendung naturwissenschaftlich-ökologischen Wissens geht, sondern darum, sozialwissenschaftliches Wissen anzuwenden und zu generieren. Die Begrenzung auf naturwissenschaftlich-ökologische Fallbeispiele verwundert umso mehr, als das dritte Kapitel des Buches ja explizit auf die soziologische Tradition eingeht, Gesellschaft als Labor zu begreifen. Dem sich letztlich trotz aller definitorischen Abgrenzungen ergebenden Anspruch, Realexperimente als typische Praxis von Wissensgesellschaften darzustellen, wäre dieser ausgebliebene Vergleichsschritt jedenfalls angemessen. So verbleibt der Standpunkt der Autoren der der externen Beobachtung weitgehend außersozialer Prozesse. [25]
Eine dritte Beobachtung bezieht sich – teilweise ist dies auch schon bei GROSS (2001) absehbar – auf das Natur- und Fortschrittsverständnis, das sich mit diesem Vorgehen verbindet. Letztlich kann das Buch Realexperimente auch als Plädoyer für eine weniger blinde, aber dennoch als solche gedachte Fortsetzung des technischen Projekts der Moderne gelesen werden. Statt vor möglichen Risiken zurückzuschrecken, sollen diese ins Verfahren eingebunden werden. Als normative Konsequenz ergibt sich daraus ein Verständnis der Natur als prinzipiell gestalt- und managebar: die Folgen von Eingriffen etwa in Ökosysteme mögen zwar unvorhersehbar sein, aber dies ist kein Grund dafür, sie zu unterlassen, solange nur Monitoring, Robustheit und die Möglichkeit zum steuernden Eingreifen gegeben sind. Hier fehlt mir eine begründete Positionierung der Autoren, wie abgeschätzt werden kann, unter welchen Voraussetzungen Realexperimente sinnvoll sind und wo auch der realexperimentelle Eingriff zu riskant wäre. Die aktuellen gesellschaftlichen Debatten um Bio- und Nanotechnologie oder auch um die "grüne Gentechnik" bieten hier spannendes Anschauungsmaterial: unter welchen Bedingungen sollen hier Realexperimente gewagt werden, wie sind diese zu gestalten, wo ist davon abzuraten? [26]
Eine vierte und letzte Beobachtung ist die fehlende Konkretisierung. Gerade auch in den abschließenden Bemerkungen findet sich viel Nachdenkenswertes. Während die Darstellung der Fallbeispiele auch dort überzeugend ist, wo es um das ganz Konkrete des jeweiligen Falls geht, bleiben die aus den Fallbeispielen gezogenen Konsequenzen skizzenhaft. Dies mag mit einer grundlegenden Unklarheit zusammenhängen: es bleibt das ganze Buch über relativ offen, ob es den Autoren eher darum geht, anhand von empirischen Beispielen zu zeigen, dass in Wissensgesellschaften eine neue Form des Experiments, nämlich das Realexperiment, weite Verbreitung gefunden hat, oder ob es den Autoren eigentlich eher darum geht, Hinweise dafür zu geben, wie "experimentelle Wissensgesellschaften" robuster gemacht werden können (vgl. S.26). Wenn letzteres der Fall ist, wäre es wünschenswert gewesen, jenseits vom Verweis auf die Transdisziplinaritätsdebatte stärker darauf einzugehen, welche Konsequenzen aus der Zunahme realexperimenteller Praktiken für die Wissenschaftspraxis einer Wissensgesellschaft zu ziehen sind. Wie sieht ein institutionelles Setting aus, das wissenschaftliches Wissen und aus der Praxis generiertes Fachwissen zusammenbringt? Passen die aktuellen Entwicklungen im Wissenschaftssystem (auch so ein Realexperiment) zu den sich wandelnden Anforderungen? [27]
Vielleicht sind diese Ansprüche aber auch zu umfassend. Realexperimente bleibt ein klar gegliedertes und stringent aufgebautes Buch, das seine Stärken in der Beschreibung der Entwicklung und der Rekonstruktion einzelner Fälle dieses Modus des Experimentierens hat. Dabei werden auch die jeweiligen naturwissenschaftlichen Grundlagen verständlich dargestellt, soweit sie für die präsentierten Fallstudien relevant sind. Sowohl in Bezug auf die Unterfütterung der These der zunehmenden Bedeutung des Realexperiments mit Beispielen jenseits der im Untertitel aufgeführten ökologischen Gestaltungsprozesse als auch in Bezug auf die aus der These zu ziehenden praktischen Konsequenzen hätte ich mir allerdings mehr gewünscht. In dieser Form ist das Buch interessant vor allem für alle, die sich mit Technik- und Wissenschaftsforschung befassen. Um dagegen in der Praxis ökologischer Gestaltungsprozesse wahrgenommen zu werden – und damit dem Anspruch gerecht zu werden, zu robusteren Gestaltungsprozessen beizutragen –, fehlt diesem Buch, so befürchte ich, ein praxisorientiertes Kapitel zur Methodenlehre, ein Leitfaden für die Umsetzung guter Realexperimente. [28]
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Heidenreich, Martin (2003). Die Debatte um die Wissensgesellschaft. In Stefan Böschen & Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft (S.25-51). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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Krohn, Wolfgang (2003). Das Risiko des (Nicht-)Wissens. Zum Funktionswandel der Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. In Stefan Böschen & Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft (S.97-118). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Krohn, Wolfgang & van den Daele, Wolfgang (2001). Science as an agent of change: Finalization and experimental implementation. In Gerd Bender (Hrsg.), Neue Formen der Wissenserzeugung (S.201-228). Frankfurt/M.: Campus.
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Till WESTERMAYER (Jg. 1975) hat in Freiburg Soziologie, Informatik und Psychologie studiert und sein Studium mit einer qualitativ orientierten Magisterarbeit zum "Virtuellen Parteitag" von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg abgeschlossen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forstbenutzung und Forstliche Arbeitswissenschaft der Universität Freiburg, derzeit in einem Projekt zur organisationssoziologischen Analyse von Geschlechterverhältnissen in der Forstverwaltung. Parallel dazu arbeitet er im Rahmen seines Promotionsvorhabens "Technik und Alltagskultur in Nachhaltigkeitsmilieus" an Fragestellungen im Schnittpunkt von Technik- und Umweltsoziologie. In zurückliegenden Ausgaben von FQS hat er Rezensionen zu Doing Culture (hrsg. von Karl H. HÖRNING & Julia REUTER, 2004), Experten des Alltags (Karl H. HÖRNING, 2001), Computer und Weltbild (Peter BERGER, 2001) sowie zu Wissenschaft in der Wissensgesellschaft (hrsg. von Stefan BÖSCHEN & Ingo SCHULZ-SCHAEFFER 2003) verfasst.
Kontakt:
Till Westermayer, M.A.
Universität Freiburg
Institut für Forstbenutzung und Forstliche Arbeitswissenschaft
Werderring 6
D-79085 Freiburg
E-Mail: till.westermayer@pluto.uni-freiburg.de
URL: http://www.westermayer.de/till/offiziell.html
Westermayer, Till (2006). Rezension zu: Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem & Wolfgang Krohn (2005). Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(4), Art. 13, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0604139.