Volume 14, No. 3, Art. 3 – September 2013
Rezension:
Manuel Peters
Thorsten Fuchs (2011). Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Bielefeld: transcript; 440 Seiten; ISBN 978-3-8376-1791-7; Euro 35,80
Zusammenfassung: Thorsten FUCHS setzt sich in seiner Dissertation mit dem bisherigen Versuch der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung am Beispiel der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung auseinander. Diese in einem zweistufigen Analyseverfahren in ihrer Argumentationsstruktur nachvollziehend und einer ausführlichen Kritik unterziehend, ergeben sich Leerstellen in Bezug auf Biografie- und Bildungsverständnis sowie das gewählte Verfahren der Fokussierung von Prozessstrukturen des Lebenslaufs in Anlehnung an Fritz SCHÜTZE. Aufgrund dieser Bestandsaufnahme entwickelt FUCHS sodann die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung in einer eigenen qualitativen Studie bildungs- und jugendtheoretisch weiter und führt mit Theodor SCHULZEs Toposanalyse ein alternatives, die identifizierten bildungstheoretischen Engführungen vermeidendes Verfahren der Biografieforschung ein.
Die Dissertation von Thorsten FUCHS ist eine sehr empfehlenswerte Arbeit, die dem selbst gesetzten Anspruch der Weiterentwicklung der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung auf hohem Niveau gerecht wird. Dass FUCHS es vermag, seine Arbeit in einem umfassenden, auch geschichtlich aufgearbeiteten disziplinären Diskurs der Erziehungswissenschaft um Bildungstheorie und Bildungsforschung zu verorten und weiterzuentwickeln, macht sie umso empfehlenswerter.
Keywords: Bildungstheorie; Bildungsforschung; bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung; Handlungsfähigkeit und Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Analyse und Kritik der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung
3. Entwicklung und Anwendung eines bildungstheoretisch weiterentwickelten Zugangs zur bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung
3. Resümee
Thorsten FUCHS greift in seiner Dissertation die (nicht nur) aktuell brisante erziehungswissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung auf. Er stellt dabei zunächst eine seit einiger Zeit verstärkte Tendenz fest, die Frage wie Bildung eigentlich möglich ist bzw. werden kann ins Zentrum zu rücken, anstatt "schlicht" danach zu fragen bzw. kategorial und inhaltlich zu bestimmen, was Bildung ist oder sein soll. Er vermutet, dass es zu dieser Entwicklung gekommen ist, da sich Erziehungswissenschaft verstärkt dem Vorwurf ausgesetzt sehe, eine bloße "Postulatepädagogik" (S.12) zu sein, da sie ihre(n) Begriff(e) von Bildung nicht empirisch "fassbar und messbar" (a.a.O.) und damit auch nicht praktisch umsetzbar gestalte.
"In diesem Verständnis gilt es daher auch als zentrale und zeitgemäße Aufgabe der Erziehungswissenschaft, den Bildungsbegriff empirisch zu unterlegen und die bildungstheoretische Reflexion mit der Erforschung von Bildungsprozessen so zu verbinden, dass eine 'Verknüpfung' von Theorie und Praxis möglich wird" (a.a.O.). [1]
Es ist nun durchaus interessant, dass eine solche Verknüpfung nicht sowieso vorherrschend ist. Die Hintergründe dieses Phänomens werden deshalb von Thorsten FUCHS auch geschichtlich ausführlich beleuchtet. Es sei, wie er unter Rekurs auf RUHLOFF (1983, S.419) anmerkt, mit dem Verhältnis von "Theorie und Erfahrung in der Pädagogik" etwas nicht in Ordnung. So hätten sich Bildungstheorie und Bildungsforschung in der disziplinären Entwicklung der Erziehungswissenschaft der Nachkriegszeit als zwei deutlich voneinander getrennte und um Abgrenzung bemühte Bereiche herausgebildet. Bis in die 1980er Jahre hinein gäbe es eine "Deszendenz von Bildungsbegriff und Bildungstheorie, die mit dem Aufkommen der Bildungsforschung und der Ausbreitung empirisch-pädagogischer Forschung einsetzte" (FUCHS, S.16). Seitdem gewinne Bildungstheorie wieder an Bedeutung und gerade der Begriff der "Bildung" scheine trotz aller Versuche seiner Umgehung durch die Bildungsforschung unverzichtbar zu sein. Im auch durch gesellschaftliche Transformationsprozesse ausgelösten Bestreben, sich von der vormaligen "Normativität" (S.17) des Bildungsdenkens zu lösen, werde nun auch bildungstheoretisch stärker an Bildungsforschung angeschlossen. So gebe es seit den 1980er Jahren mehrere Versuche der Relationierung. Thorsten FUCHS sieht in der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung nun einen Versuch der Relationierung, der "die Bearbeitung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung wohl mit entschiedenstem Engagement" (S.19) betreibe und der aus diesem Grund im Zentrum seiner Analyse stehe. So verbinde sie die Erforschung von Autobiografien mit der Erforschung von Bildungsprozessen. Sie scheine damit der eingangs genannten, von außen und von sich selbst an die Erziehungswissenschaft herangetragenen Anforderung, Konkreteres über die Möglichkeit(en) von Bildung aussagen zu können und gleichzeitig bildungstheoretische Reflexion nicht zu vernachlässigen, am Glaubwürdigsten nachzukommen. Zumindest werde ihr am häufigsten die Rolle einer Mittlerin zugesprochen, ein auch selbst gewählter Anspruch (S.181), dem Thorsten FUCHS in seiner vorliegenden Arbeit genauer auf den Grund gehen möchte. [2]
Genauer geht es diesem Typ Bildungsforschung dann um "den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung von Welt- und Selbstreferenzen von Menschen, wobei sie auf bildungstheoretische Überlegungen gestützt herausarbeitet, wie es zu biographischen Bildungsprozessen kommt" (S.20). In einem solchen Vorgehen und in einem solchen Verständnis von Biografie als Mittlungsinstanz findet sich, so FUCHS mit Bezug auf MAROTZKI (1996), die Möglichkeit, Bildungstheorie und Bildungsforschung zusammenzuführen. Winfried MAROTZKI sei es, der mit seinem "Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie" (1990) den Grundstein für diese Art der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung gelegt habe. Hans-Christoph KOLLER (1999) mit "Bildung und Widerstreit", Heide von FELDEN (2003) mit "Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne" sowie Arndt-Michael NOHL (2006) mit "Bildung und Spontaneität" hätten dessen Arbeit, sie kritisierend und weiterentwickelnd, mit dem gleichen Vermittlungsanspruch und der gleichen Suche nach einer "'echte'[n] Anbindung an Bildungstheorien" (FUCHS, S.87) aufgegriffen. Thorsten FUCHS befragt diese Arbeiten nun in einem ersten Schritt, den er "Skeptisch-Diskursives" betitelt, dahin gehend, ob sie 1. diesem Vermittlungsanspruch auch wirklich gerecht werden und, wenn ja wo 2. (Weiter-) Entwicklungspotenziale mit welchem Konkretisierungs- oder Modifizierungsbedarf bestehen (S.25). Ihm geht es sodann um die Entwicklung und Umsetzung eines eigenen, die identifizierten Möglichkeiten, Leerstellen und Kritiken systematisch aufgreifenden und dementsprechend weiterentwickelten "vermittelnden" Forschungsprogramms. [3]
2. Analyse und Kritik der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung
Zur Analyse dieser vier oben genannten Arbeiten bedient sich Thorsten FUCHS eines zweistufigen Verfahrens analog des "skeptisch[en] Einsatze[s] in der Pädagogik" (S.89f.). Dieser erfordert es, "sich auf das Feld des kritisierten Gegenstandes" zu begeben, um zunächst eine "interpretative Rekonstruktion des Argumentationszusammenhangs" (a.a.O.) mit den Regeln der Hermeneutik zu leisten und diesen sodann einer Analyse und Kritik zu unterziehen. Es geht dabei darum, die Hintergrundannahmen der untersuchten Arbeiten aufzuzeigen und damit ihre konkreten Wahrheitsansprüche relativieren und kritisieren zu können. Diesem Ansatz folgend, kommen zunächst zentrale Bezugstheorien, begriffliche Dreh- und Angelpunkte sowie konkrete Vermittlungsstrategien in den Blick, um dann die Einlösung ihres Vermittlungsanspruchs sowie dessen potenzielle Leerstellen zu untersuchen. So erfolgt also zunächst jeweils eine sprachlich-logische Prüfung der Ansätze, in der die "Stringenz und Plausibilität der Konzepte selbst" (S.91) nachvollzogen wird. Daran schließt sich jeweils eine genauere Analyse und Kritik an, bei denen FUCHS auf bereits bestehende Diskussionen (insbesondere WIGGER [2004] und STOJANOW [2006a, 2006b]) zurückgreift: [4]
Die von Thorsten FUCHS in aller Ausführlichkeit vorgestellten und einer kritischen Analyse unterzogenen Ansätze haben zwar unterschiedliche – existenziell-phänomenologische (MAROTZKI), diskurstheoretische (KOLLER, FELDEN) und pragmatistisch-wissenssoziologische (NOHL) – Referenztheorien (vgl. ROSENBERG 2011, S.18), gemeinsam sei ihnen aber jener bereits oben benannte Fokus auf biografische Bildungsprozesse, welche sehr allgemein als Transformationen oder Wandlungen von Selbst- und Weltverhältnissen begriffen werden könnten. Die für alle zentrale, vermittelnde Kategorie der Biografie mache sie in der Folge auch vergleichbar. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass mittels dieser Kategorie die "Verfasstheit von 'Bildung' in und aus der Sicht konkreter Individuen" (FUCHS, S.181) erfahrungswissenschaftlich angereichert bestimmbar ist. Nun seien es vor allem exogene Herausforderungen, die Transformationen oder Wandlungen von Selbst- und Weltreferenzen herausforderten, weil diese dem Neuen (bisher) nicht genügten und sich also transformieren oder wandeln müssten. Bildung erfahre dann in Anlehnung an SCHÜTZEs Prozessstrukturen des Lebenslaufs eine Engführung auf Transformations- oder Wandlungsprozesse. [5]
Thorsten FUCHS findet dann eine weitaus weniger weitreichende Vermittlung zwischen Bildungstheorie und -forschung vor, als sie von den Autor/innen selbst postuliert wird. Zum einen kritisiert er, die untersuchten Arbeiten würden vergessen, dass ihre eigenen Ansprüche der Vermittlung "selbst wiederum nur in den Sätzen einer Theorie gefasst sind" (S.183). Ihr Verallgemeinerungsanspruch sei dann also zu hoch gegriffen, da die Kategorie der Biografie sicher nicht "in der Mitte alles vereint und verknüpft [...] und auf diese Weise alles zusammengebracht wird" (a.a.O.). Das bedeute für ihn aber nicht, dass keine Vermittlungen stattfinden, sondern dass diese nicht so umfassend und weit theoriegeleiteter zu verstehen seien als von den Autor/innen angenommen. Aus bildungstheoretischer Perspektive sei nun zu kritisieren, dass in den Konzepten Weltverhältnisse zwar als Herausforderungen an die "Subjekte" herantreten, dass sodann aber der Fokus auf dem Wandel oder der Transformation von Selbstverhältnissen liege. Es fehle dann nicht nur die weitere Untersuchung von Weltverhältnissen, sondern auch die bildungstheoretisch bedeutsame Differenzierung in Fremd- und Weltverhältnisse, die in eins gesetzt würden, aber nicht das Gleiche seien. Weiterhin würden Wandlungs- und Transformationsprozesse von Selbstverhältnissen "an sich" als Bildungsprozesse in den Blick geraten, ohne dass diese inhaltlich sowie nach Bildungsbedeutsamkeit differenziert würden. Das sei aber wichtig, wenn eine Perspektive als bildungstheoretische gelten wolle, denn nicht alle Transformations- und Wandlungsprozesse könnten auch als Bildungsprozesse verstanden werden. Wo eine solche Differenzierung nicht stattfinde, werde ein bildungstheoretisches Verständnis von "Bildung" verabschiedet. Wo liege dann aber der selbst postulierte Anspruch der "Vermittlung"? [6]
Von einer erfolgreichen Vermittlung, so hält FUCHS fest, ließe sich "auf Grund der Verkürzung von biographischen Prozessen auf Selbstverhältnisse sowie der zuvörderst formalen Bestimmung von 'Bildung' alle vier untersuchten Arbeiten betreffend" (S.185) sicher nicht reden. Einen gewichtigen Grund für diese Verkürzung findet FUCHS in der bei allen erfolgten "Anlehnung an die von Fritz Schütze erarbeitete Figur des Wandlungsprozesses" (a.a.O.). Da dieser auf qualitative Sprünge in den Innenwelten von Akteur/innen fokussiere und diese sodann von den vier Autor/innen mit Bildungsprozessen gleichgesetzt würden, sei hier ein wesentliches Moment der Verkürzung der Perspektiven. Es sind also methodische, (bildungs-) begriffliche und (bildungs-) theoretische Verkürzungen, die in der Kritik von FUCHS zum Tragen kommen. Vor allem auch der durchgängig fehlende Einbezug ausgearbeiteter Bildungstheorien in die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung zeige sich hier als Problem. Vielleicht, so lässt sich weiter vermuten, ist es auch die disziplingeschichtlich bedingte Dominanz sozialwissenschaftlicher Perspektiven in der Biografieforschung, dass vor allem sozialwissenschaftliche Konzepte Ausarbeitung finden. So könnte der fehlende Einbezug von Bildungstheorien, so wie er sich für FUCHS zeigt, auch auf ein (verändertes) Subjektbild zurückgeführt werden, demzufolge Subjekte eben nicht mehr Verfügungsgewalt über eigene Bildungsprozesse besitzen. Dieser Zusammenhang wird von Thorsten FUCHS aber nicht noch einmal reflektiert, obwohl er sich zu Beginn seiner Arbeit mit der sozialwissenschaftlichen Dominanz in der Bildungsforschung beschäftigt. Dies zeigt sich in seiner eigenen Thematisierung von Bildungsprozessen, die zwar biografie-, aber nicht subjektkritisch ausgerichtet ist. [7]
FUCHS hält abschließend fest, dass es schwierig sei, einen "echten" Vermittlungsanspruch zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu verfolgen. Seine Analyse habe gezeigt, dass sich "empirische 'Übersetzungen'" (S.192), nicht unbedingt aber Vermittlungen finden ließen. So ließe sich sagen, dass die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung ihrem Namen gerecht wird, da sie sich zwar an Bildungstheorien orientiere, aber eben nicht wirklich bildungstheoretisch ausgerichtet sei, weil sie auf eine Vielzahl ihrer inhaltlichen und kategorialen Differenzierungen verzichte. Das wäre an sich unproblematisch, würden die skizzierten Leerstellen der untersuchten Ansätze nicht eben genau auf die Notwendigkeit stärkerer bildungstheoretischer Untersetzung hinweisen. Ein solches, die Kritiken aufgreifendes und dann eben bildungstheoretisch weiterentwickeltes Vorgehen setzt Thorsten FUCHS nun exemplarisch in einer eigenen Studie um. [8]
3. Entwicklung und Anwendung eines bildungstheoretisch weiterentwickelten Zugangs zur bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung
Nach FUCHS muss die bildungstheoretische Weiterentwicklung und Anwendung der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung vor dem Hintergrund der vorgebrachten Kritik einigen Herausforderungen nachkommen:
Sie müsse es erlauben, Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse in ihrer Bildungsbedeutsamkeit zu berücksichtigen.
Sie müsse Differenzierungen von Bildungsprozessen herausarbeiten können und zwar in Bezug auf "inhaltliche Dimensionen und gegenstandsspezifische Auslegungen" (S.193).
Die klassische Referenz der Biografieforschung, Fritz SCHÜTZE, erlaubte es den Forscher/innen vor allem, den Wandlungsprozess von Selbstverhältnissen ins Zentrum zu rücken. Dies sei nicht ausreichend, hier bestehe weiterer Theorie-/Reflexionsbedarf. [9]
Unter Rekurs auf Theodor SCHULZEs Arbeiten entwickelt Thorsten FUCHS ein differenzierteres Verständnis von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen und stellt in Auseinandersetzung mit dessen Konzept von Biografie eine besondere Relevanz der Lebensphase "Jugend" fest (S.213). Die bildungstheoretischen Spezifika dieser Lebensphase erarbeitet er mit den Bildungstheorien zur Jugend von Alfred PETZELT, Wolfgang FISCHER und Jörg RUHLOFF. Heraus kommt dabei eine Forschungsperspektive, die wertende und wertsuchende Subjekte unter der Perspektive der reflexiven Problematisierung und Bearbeitung ihrer Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse ins Zentrum der Forschung stellt. Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse finden sich dann insofern differenziert, als Erstere vor allem die "Bestimmung des eigenen 'Standorts'", Zweite die "Du-Bestimmtheit" und Dritte das "Befragen von gesellschaftlichen Normen und Ordnungsmustern" (FUCHS, S.264) betreffen. [10]
Es sind also zunächst inhaltliche Dimensionen von Bildung, die in Form von wertenden und wertsuchenden Subjekten die Perspektive erweitern sollen. Diese Suchbewegungen erfahren nach Thorsten FUCHS besonders in der Jugend als einer Phase der Konsolidierung von Wertorientierungen spezifische Ausprägung. Weiterhin eröffnet sich für FUCHS die Möglichkeit gegenstandsspezifischer Auslegungen von Bildungsprozessen durch die Einführung von Theodor SCHULZEs Konzept der biografischen Toposforschung als Alternative zu Fritz SCHÜTZEs Fokussierung von Prozessstrukturen des Lebenslaufs. Anstatt Biografie in ihrer Gesamtheit und als Erfahrungsaufschichtung zu verstehen, würden hier einzelne Topoi in den jeweiligen Biografien thematisierbar und so nun spezifische gegenstandsbezogene Hinblicke auf spezifische Bildungsprozesse möglich. Dabei verabschiedet sich Thorsten FUCHS nicht völlig von der Figur des Wandels, so wie sie für die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung als zentral erkannt wurde, differenziert sie aber insofern, als Bildungsprozess eben gerade auch bedeuten könne, sich gegen einen spezifischen Wandel zu entscheiden. Hier wird deutlich, dass FUCHS in der bildungstheoretischen Beurteilung von Bildungsprozessen Wert auf einen "problematisierenden Vernunftgebrauch" (S.252) im Sinne möglichst großer Handlungsfreiheit der Akteur/innen legt. Damit kommt noch eine bildungstheoretische Erweiterung der Perspektive hinzu. Durch die Betonung des Problematisierens und Wählens ergibt sich die Notwendigkeit gegenstandsbezogener Hinblicke, denn ohne konkreten Gegenstandsbezug wäre eine an Problematisierung und Wahlmöglichkeit orientierte Beurteilung von Bildungsprozessen gar nicht möglich. Der große Unterschied zu der zuvor untersuchten bildungstheoretisch orientierten Bildungsforschung liegt dann im Fokus auf problematisierenden und aktiven Auseinandersetzungen mit den von den Subjekten vorgefundenen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen. In einem nächsten Analyseschritt geht es Thorsten FUCHS sodann um eine Rekonstruktion solcher "Bildungsgestalten"(S.267). Da diese Rekonstruktion hauptsächlich theoretisch angeleitet werde, ließe sich aber auch hier nicht wirklich von Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung, wohl aber von Übersetzungen sprechen. [11]
Unter dieser Perspektive untersucht Thorsten FUCHS nun drei mithilfe der Methode des narrativen Interviews erhobene biografische Fallbeispiele. In ihrer Analyse wird eine problematisierende Auseinandersetzung mit Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen zwar rekonstruiert, aber nicht generell für selbstverständlich erklärt. Vielmehr handele es sich um pädagogisch wünschenswerte Beispiele. Es geht ihm an dieser Stelle um den Nachweis, dass sich Auseinandersetzungen mit allen drei Verhältnissen in unterschiedlicher Intensität empirisch auffinden lassen. Für die untersuchten Biografien gilt dabei der interessante Umstand, dass sich jeweils die problematisierende Auseinandersetzung mit einem Verhältnis als vorherrschend herauskristallisiere, Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse deshalb also in ihrer Bildungsbedeutsamkeit variierten. Es lasse sich vor dem Hintergrund der untersuchten Jugendbiografien nun auch konkretisieren, wo Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse artikuliert würden. So würden
Selbstverhältnisse "dort artikuliert, wo von Selbstbildern und -wahrnehmungen berichtet wird, wo ein persönliches, d.h. auf sich selbst bezogenes Wertstreben zum Ausdruck kommt und wo eigene Stärken verdeutlicht und Schwächen eingestanden werden" (S.376);
Fremdverhältnisse "dort, wo sie Beziehungsnetze, Familienkonstellationen und Generationenverhältnisse darstellen und auf diese Weise Positionierungen gegenüber ihren Eltern, Lehrern, Vorbildern oder Freunden deutlich machen" (a.a.O.);
Weltverhältnisse "dann, wenn sie Institutionen und Lebensformen erwähnen, Werte und Konventionen ansprechen oder von gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen berichten" (a.a.O.). [12]
In den einzelnen Biografien könne nun bildungstheoretisch präzisiert werden, welche dieser drei Verhältnisse bedeutsam seien. So führt Thorsten FUCHS am Beispiel eines Falles (Marc) aus, dass für diesen Jugendlichen vor allem eine Auseinandersetzung mit Selbstverhältnissen zentral sei, sich allerdings vor dem Hintergrund des theoretischen Rüstzeugs nur dann von Bildung sprechen lasse, wenn er seine Identitätsentwicklung problematisiere und reflexiv bearbeite. FUCHS macht hier noch einmal deutlich, dass nicht die Wandlung bzw. Entwicklung an sich bildungsbedeutsam ist, sondern der Umstand, "dass Marc Einsicht in die 'Problematizität' des Verhältnisses zu sich selbst gewinnt und eine reflexive Bearbeitung seines Selbstentwurfs verfolgt" (S.378f.). Gleiches gelte für die Auseinandersetzung mit Fremd- und Weltverhältnissen. In einem der anderen beiden untersuchten Fälle (Natalie) zeige sich weiterhin, dass Bildung nicht unbedingt Wandlung bedeuten müsse, "die Anstrengungen Natalies [gerieten sonst] nicht als veritable Bildungsbemühungen in den Blick" (S.387). [13]
Thorsten FUCHS schließt aus seiner eigenen qualitativ empirischen Untersuchung, dass Biografie ebenso wie Bildung als dreifaches Verhältnis thematisiert werden müsse, "nämlich als die Relation eines Ich zu sich selbst, als das Verhältnis eines Ich zu anderen Menschen und als das Verhältnis zwischen einem Ich und dem, was mit der Welt bezeichnet wird" (S.382). Dies lässt sich ihm zufolge als "wichtiges Ergebnis formulieren und für die Theorieentwicklung einer bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung festhalten" (a.a.O.). Explizit auffindbar müsse Bildung in oben genanntem Sinne nun allerdings nicht immer sein. So führt Thorsten FUCHS auch das Beispiel eines Falles an (Paulina), bei dem sich keine Bildungsgestalt auffinden lasse (S.383). Interessant wäre es m.E. gewesen, an diesen Fall dann die von FUCHS leider nicht thematisierte Frage heranzutragen, was hier mögliche Faktoren der nicht auffindbaren Bildungsgestalt in ihrer spezifischen Artikulation von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen waren. Thorsten FUCHS hält mit Blick auf seine Analyse fest, dass er dem formalen Bildungsverständnis der im ersten Teil der Arbeit untersuchten bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung ein inhaltsvolleres Bildungsverständnis entgegengestellt habe. Biografische Wandlungsprozesse fänden nämlich auch da statt, "wo es mit 'Bildung' nicht weit her ist" (S.390). Gewonnen seien damit eine Begriffsschärfung mit korrespondierender Erweiterung von möglichen Einsichten und eine Präzisierung des Beitrags dieses Typs der Biografieforschung für die Erziehungswissenschaft, indem Letztere einen "Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie 'Bildung' möglich ist – und zwar auf einem hohen Theorieanspruch und niedrigem Generalisierungsniveau" (S.391) leisten könne. [14]
Die Dissertation von Thorsten FUCHS ist eine sehr empfehlenswerte Arbeit, die m.E. dem selbst gesetzten Anspruch der bildungstheoretischen Weiterentwicklung der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung auf hohem Niveau gerecht wird. Es gelingt ihm, seine Arbeit gleichzeitig in einem umfassenden geschichtlich aufgearbeiteten disziplinären Diskurs der Erziehungswissenschaft um Bildungstheorie und Bildungsforschung zu verorten. [15]
Wie bereits zuvor formuliert wäre es m.E. bei der Verfolgung der Frage, wie Bildung möglich wird, auch sehr spannend gewesen, den Fokus auf jene Bedingungen zu legen, die eben zur Nichtauffindbarkeit von Bildungsgestalten führen. Das hätte z.B. in komparativer Einstellung auch in FUCHS Analyse der gelungenen Bildungsprozesse geschehen können, deren Ausprägungen von Fall zu Fall variierten, und hätte die Perspektive bildungstheoretisch sogar noch interessanter gemacht. Da es ihm aber um die Exemplifizierung der Möglichkeiten seines weiterentwickelten Ansatzes gegangen ist, hätte dies vielleicht den Rahmen gesprengt. [16]
Felden, Heide von (2003). Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne. Zur Verknüpfung von Bildungs-, Biographie- und Genderforschung. Opladen: Barbara Budrich.
Koller, Hans-Christoph (1999). Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München: Fink.
Marotzki, Winfried (1990). Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Marotzki, Winfried (1996). Neue Konturen Allgemeiner Pädagogik: Biographie als vermittelnde Kategorie. In Michelle Borelli & Jörg Ruhloff (Hrsg.), Deutsche Gegenwartspädagogik. Band 2 (S.67-84). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.
Nohl, Arndt-Michael (2006). Bildung und Spontaneität. Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern – Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen. Opladen: Barbara Budrich.
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Ruhloff, Jörg (1983). Erfahrung und pädagogischer Legitimitätsanspruch. Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 59, 419-435.
Stojanow, Krassimir (2006a). Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Manuel PETERS, seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Interkulturalität / UNESCO Chair in Heritage Studies an der BTU Cottbus. Studium der Interkulturellen Pädagogik in Berlin, Madrid und Oldenburg. Lehr- und Forschungsinteressen in Cultural Studies, interkultureller Bildungstheorie und -forschung, Kultur in internationalen Beziehungen, Heritage Studies und Migration. Laufende Promotion zu Selbstbildungsprozessen in der Migrationsgesellschaft.
Kontakt:
Manuel Peters, Diplom Interkultureller Pädagoge
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E-Mail: manuel.peters@tu-cottbus.de
Peters, Manuel (2013). Rezension: Thorsten Fuchs (2011). Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch
orientierten Biographieforschung [16 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(3), Art. 3,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs130331.