Volume 15, No. 1, Art. 17 – Januar 2014
Trend zur Transdisziplinarität – Kritische Einordnung einer ambivalenten Praxis qualitativer Stadtforschung
Monika Streule
Zusammenfassung: Dieser Beitrag befasst sich mit der Rolle von transdisziplinären Herangehensweisen innerhalb der Stadtforschung mittels einer theoretisch-methodischen Besprechung dieses Forschungsfeldes. Ausgehend von einem kurzen Rückblick auf die Methodengeschichte und die wichtigsten epistemologischen Debatten der empirischen Stadtforschung diskutiere ich die Frage, welche neue Erkenntnis ein transdisziplinärer Zugang in der Betrachtung des Städtischen bringt, genauer: Wie kann Transdisziplinarität produktiv in eine kritische Forschungspraxis umgesetzt und als Strategie für Stadtforschung fruchtbar gemacht werden? Der Beitrag beschreibt die empirische Prägung der westeuropäischen Stadtforschungspraxis durch vorerst überwiegend intuitive transdisziplinäre Zugänge. Dabei zeige ich auf, dass insbesondere die aus der postmodernen und poststrukturalistischen Wende resultierende wissenschaftliche Reflexivität, die neu bewertete Ethnografie und der Fokus auf die soziale Produktion von Raum als zentrale sozialwissenschaftliche und erkenntnistheoretische Stränge die Stadtforschung auf inhaltlicher und struktureller Ebene bis heute durchziehen. In der kritischen Weiterentwicklung ebendieser methodischen und theoretischen Grundlagen der Stadtforschung sehe ich eine wesentliche Voraussetzung für Forschende, um Transdisziplinarität heute in eine explizite empirische Praxis zu übersetzen. Die große Bandbreite aktueller transdisziplinärer Ansätze bündle ich schließlich schematisch und lote ihre Möglichkeiten und Grenzen für die Stadtforschung aus.
Keywords: Stadtforschung; Transdisziplinarität; Henri Lefebvre; Stadtethnologie; Architektur; künstlerische Forschung; Ethnografie; Grounded-Theory-Methodologie; Reflexivität; Kartieren; Triangulation
Inhaltsverzeichnis
1. Zauberformel Transdisziplinarität
2. Kloake, Körper, Kunst
2.1 Annäherung von Stadtforschung und Kunst
3. Postmoderne und poststrukturalistische Durchdringung der Stadtforschung
3.1 Epistemische Reflexivität
3.2 Ethnografie als epistemologisches Dispositiv
3.3 Produktion von Stadt
4. Transdisziplinäre Strategien der Stadtforschung
4.1 Distinktion durch Redisziplinierung
4.2 Transdisziplinarität light
4.3 Transdisziplinarität "tun"
1. Zauberformel Transdisziplinarität
Schrumpfende, endlose, driftende, postapokalyptische Städte: An extremen Zuschreibungen herrscht in der Flut der Stadtforschungspublikationen der letzten zehn Jahre kein Mangel. Bei all diesen flimmernden neuen Namensschöpfungen und halsbrecherischen Konzeptionen ist eines klar: Die Stadt des 21. Jahrhunderts existiert nicht. Urbane Phänomene aber bestimmen den Alltag der Menschen und die Umwelt weltweit. Dabei verschränkt sich das Städtische in höchst dynamischen Beziehungen mit Migrationsprozessen, Warenströmen, mit Daten- und Infrastrukturnetzen – die Illusion von autonomem, objektivierbarem, absolutem Wissen ist angesichts dieser weltumspannenden urbanen Komplexität ad absurdum geführt. Um mit der Vielschichtigkeit und der hohen Veränderungsfrequenz des Phänomens mitzuhalten, versucht sich die Stadtforschung immer wieder neu zu erfinden. Die neuste Zauberformel scheint dabei die Transdisziplinarität1) zu sein (ECKARDT 2009; KNIERBEIN 2011). Dementsprechend halten sich in diesen zahlreich erschienenen Publikationen des letzten Jahrzehnts im angelsächsischen wie auch im deutschsprachigen Raum zwei Aspekte konstant: der hohe ästhetische Anspruch des Erscheinungsbildes, mit welchem die Autor/innen über Fotografien, Grafiken und Karten gleichauf mit Texten die Analyse bestimmen, sowie der Rekurs auf Multi- oder Transdisziplinarität der Inhalte (vgl. BRILLEMBOURG & KLUMPNER 2013; BURDETT & SUDJIC 2007; DIENER, HERZOG, MEILI, De MEURON & SCHMID 2006; KOOLHAAS, BOERI, KWINTER, TAZI & OBRIST 2000; OSWALT & RIENIETS 2006; SCHEPPE 2009). Sozialwissenschaftler/innen, Historiker/innen, Philosoph/innen, Ökonom/innen und Wahrscheinlichkeitstheoretiker/innen publizieren gemeinsam mit Architekt/innen, Grafiker/innen und Künstler/innen – und am Ende funktioniert die Buchpräsentation nicht ohne Ausstellungsdesign und Art Director. [1]
Die Idee der Transdisziplinarität ist jedoch nichts Neues, sondern in der qualitativen Stadtforschung tief verwurzelt: Will man sich der Komplexität des Städtischen angemessen nähern, müssen andere Perspektiven – etwa aus den Künsten oder der Architektur – miteinbezogen werden, denn sozialwissenschaftliche Methoden können nicht alle lebensweltlichen Phänomene aufzeigen. Diese Nähe der Stadtforschung zur Kunst liegt auf der Hand, wird aber beispielsweise im Kontext einer performativen Sozialwissenschaft erst seit Kurzem auch in der Forschungspraxis explizit angewendet (siehe dazu BINDER, NEULAND-KITZEROW & NOACK 2008; JONES et al. 2008; KRASNY & NIERHAUS 2008; STUTZ 2008; WHYBROW 2011). Im akademischen Betrieb sieht sich dieser transdisziplinäre Ansatz trotz der hier kurz umrissenen gegenläufigen Tendenz vielen Widerständen gegenüber. Das Misstrauen gegenüber einer experimentellen Herangehensweise2) und der gleichwohl anhaltende Hype in der Stadtforschung machte mich neugierig. Ausgehend von meinen eigenen empirischen Forschungserfahrungen und Interessen als Stadtethnologin fragte ich mich: Was verstehe ich unter Transdisziplinarität und welche neuen Erkenntnisse bringt der transdisziplinäre Zugang in der Betrachtung des Städtischen? Wie kann Transdisziplinarität produktiv in eine kritische Forschungspraxis umgesetzt und als Strategie für Stadtforschung fruchtbar gemacht werden? [2]
In diesem Artikel befasse ich mich mit transdisziplinären Herangehensweisen, die geeignet sind für eine kritische Forschungspraxis. Dazu führe ich entlang der vorgenannten Fragen eine theoretisch-methodische Besprechung der durchaus ambivalenten Rolle der Transdisziplinarität innerhalb der Stadtforschung durch. Im Folgenden zeige ich zunächst die historische Prägung der in sich heterogenen westeuropäischen Stadtforschung durch Empirie und durch transdisziplinäre Zugänge auf und benenne anhand eines kurzen Rückblicks auf die Methodengeschichte deren wichtigste epistemologische Grundzüge (Abschnitt 2). Insbesondere die aus der postmodernen und poststrukturalistischen Wende3) resultierende Konzeption einer wissenschaftlichen Reflexivität, eine neu bewertete Ethnografie und der Fokus auf die soziale Produktion von Raum durchziehen als drei zentrale sozialwissenschaftliche und erkenntnistheoretische Stränge die aktuelle transdisziplinäre Stadtforschung auf inhaltlicher und struktureller Ebene bis heute (Abschnitt 3). In der kritischen Weiterentwicklung dieser Grundlagen der Stadtforschung sehe ich eine wesentliche Voraussetzung für Forschende, um Transdisziplinarität in eine explizite empirische Praxis zu übersetzen. Exemplarisch für eine solche transdisziplinäre Praxis stelle ich die Methode des Kartierens vor. Die große Bandbreite aktueller transdisziplinärer Ansätze bündle ich im Anschluss dazu schematisch und lote schließlich ihre Möglichkeiten und Grenzen für die Stadtforschung aus (Abschnitt 4). [3]
Der Wunsch, gesellschaftliche Missstände zu dokumentieren, bestimmte die ersten Stadterkundungen des frühen 19. Jahrhunderts, jenes Moments des europäischen Kolonialismus, als die Metropolen Mittelenglands und Frankreichs unter dem gewaltigen Schock der Modernisierung eine massenhafte Pauperisierung erlebten, ausgelöst durch die Hebelkräfte von Industrialisierung und den deregulierten Kapitalfluss der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Ein ebenso großer Anreiz für solche urbane Erkundungen war allerdings auch die Lust, die weißen Flecken auf der Stadtkarte wie einen fremden Kontinent zu entdecken. Die ersten Stadtethnografien4) zeichnen sich nicht nur durch die minutiösen Beobachtungen der Alltagssituationen in den Straßen der Arbeiter/innenviertel aus, sondern auch durch die Prämisse des körperlichen Erlebens als Bedingung, um die Erfahrung des "Anderen" später in Worte fassen zu können. Die Lust am Exotischen reichte bis hin zur Kloakenerotik des Arztes, Hygienikers und Sozialreformers Alexandre-Jean-Baptiste PARENT-DUCHÂTELET, der in Vorbereitungen für seinen "Essai sur les cloaques ou égouts de la ville de Paris" (1824) alle Pariser Abwasserkanäle durchwatete (vgl. LINDNER 2004, S.25ff.). [4]
Das Interesse am "Anderen" und dessen qualitative Erforschung bleiben im frühen 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg Konstanten der neu entstehenden und sich etablierenden Sozialwissenschaften, entweder in der Untersuchung fremder Kulturen in anderen Erdteilen5) oder bei der Erkundung von Marginalisierten der eigenen Gesellschaft.6) Die sich damals konstituierenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen waren vielstimmig in ihren Ansätzen, wurden jedoch von einer sich institutionalisierenden positivistischen Strömung innerhalb der jungen Universitäten dominiert. In der Ausgestaltung des wissenschaftlichen Betriebs setzten sich diese nationalistischen, kolonialen und neokolonialen Strömungen gegenüber anderen, ihnen widersprechenden Ansätzen, durch. Im Rahmen dieser Institutionalisierung stellten sich viele Sozialwissenschaftler/innen in den Dienst des europäischen Kolonialprojektes und trugen mit ihrer Wissensproduktion maßgeblich zu dessen Stabilisierung bei, ob in den Kolonien oder in den Metropolen (vgl. DOMOSH 2004; DRIVER 2001).7) Städte wurden im wissenschaftlichen Diskurs durch die Brille des Empire gesehen und am Ideal einer europäischen Moderne gemessen. Diese zeit- und gesellschaftsspezifische historische Verengung des Blicks auf europäische oder US-amerikanische Stadtmodelle wirkt bis heute, ist durch Begrifflichkeiten und Konzepte präsent und tief in die Stadtforschung eingeschrieben. Das daraus resultierende limitierte Analysepotenzial der etablierten Stadtforschung für aktuelle urbane Phänomene des globalen Südens erweitern kritische Forschende fortlaufend durch die sorgfältig differenzierte Verwendung hergebrachter – in dieser Weise situierter und kontextgebundener – theoretischer Konzepte. Die Dezentralisierung der Wissensherstellung ist eine essenzielle Strategie dieser "Provinzialisierung" der Begrifflichkeiten (vgl. CHAKRABARTY 2000; DAVIS 2005; ROBINSON 2003, 2006; ROY 2009).
"The critique of the EuroAmerican hegemony of urban theory is thus not an argument about the inaplicability of the EuroAmerican ideas to the cities of the global South. It is not worthwhile to police the borders across which ideas, policies, and practices flow and mutate. The concern is with the limited sites at which theoretical production is currently theorized and with the failure of imagination and epistemology that is thus engendered" (ROY 2009, S.820). [5]
Nach dem Zweiten Weltkrieg, welcher für viele europäische liberale Wissenschaftler/innen das Ende ihrer akademischen Tätigkeiten oder ein Exil an außereuropäische Universitäten bedeutete, beginnt ein modernistisches Intermezzo in der durch diverse Strömungen durchzogenen westeuropäischen Stadtforschung. Diese Phase wurde durch quantitativ beschreibende, positivistische und standardisierende Ansätze dominiert (vgl. ZENNER 1994). Dem Forschungsgegenstand Stadt wurde man mit dem im institutionellen Gefüge der Hochschullandschaft überwiegenden, quantitativ-orientierten Mainstream jedoch nur in ungenügendem Masse gerecht.8) Um der immer lauteren Kritik an der Verstädterung zu begegnen und auf die drängenden gesellschaftlichen Fragen in den rasant wachsenden Städten Antworten zu finden, begannen Sozialwissenschaftler/innen, neue qualitative Methoden zu entwickeln. [6]
2.1 Annäherung von Stadtforschung und Kunst
Zu den wichtigsten Impulsen für eine erneute Ausdifferenzierung empirisch-qualitativer Methoden und die Verfeinerung wissenstheoretischer Zugänge zählte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre das in den USA von den Soziologen Barney G. GLASER und Anselm L. STRAUSS entwickelte Modell der "Grounded Theory" (2010 [1967]), eine mittlerweile in der qualitativen Stadtforschung in den USA und im deutschsprachigen Raum breit etablierte Methodologie. Den Umstand, dass Forschende, um die Welt beschreiben oder von ihr sprechen zu können, einerseits von ihr abstrahieren müssen und andererseits selbst durch den Forschungsprozess verändert werden, fängt die Grounded-Theory-Methodologie durch einen doppelten Arbeitsbegriff des Forschungsprozesses auf:
"Gegenstand und sich damit forschend befassende Akteure stehen in einer Wechselbeziehung, in der beide einander verändern. (...) Die Grounded Theory findet in dieser Überlegung ihre Begründung für die in der interpretativen Sozialforschung gängige Vorstellung, die Forschenden seien nie allein neutrale Beobachter, sondern zwangsläufig als Interpreten ihrer Daten und als Entscheider über den konkreten Gang der theoretischen Argumentation immer auch Subjekte des Forschungsprozesses" (STRÜBING 2008, S.15f.). [7]
Der Soziologe Jörg STRÜBING zieht daraus den Schluss, dass, wenn man wissenschaftliche Arbeit als dialektisches Wechselverhältnis zwischen Subjekt und Objekt definiert, die erarbeitete Theorie immer auch ein subjektiv geprägtes Produkt sein muss, das sich einer vollständigen Objektivierbarkeit entzieht (S.16). Oder, wie es der Philosoph und Pädagoge John DEWEY in Bezug auf die Kunst formulierte: "(...) the expression of the self in and through a medium, constituting the work of art, is itself (...) a process in which both of them acquire a form and order they did not at first possess" (1980 [1934], S.65). Das Interessante für die zeitgenössische Stadtforschung ist, dass über dieses dialektische Verständnis der Wissensproduktion der künstlerische Schaffens- und der wissenschaftliche Forschungsprozess nahe aneinanderrücken. DEWEY lieferte als Protagonist des klassischen US-amerikanischen Pragmatismus in seinem Buch "Art as Experience" (1980 [1934]) ein weiteres wesentliches Argument für die Annäherung ästhetischer Praxen und empirischer Stadtforschung, indem er aufzeigte, dass der künstlerische Schaffensprozess – wie die qualitative Forschungspraxis – auf Alltagserfahrungen beruht. [8]
Eine Annäherung an die Kunst – wenn auch aus ganz anderer Perspektive – taucht ebenfalls beim Raumkonzept des Philosophen und Soziologen Henri LEFEBVRE auf, das er in seinem Buch "The Production of Space" (1991 [1974]) entwickelte. Er verwendet eine doppelte Triade von jeweils drei dialektisch aufeinander bezogenen Dimensionen der Produktion des Raumes: die räumliche Praxis/das Wahrgenommene, die Repräsentation des Raums/das Konzipierte und Räume der Repräsentation/das Erlebte. Diese Begrifflichkeitspaare umfassen zusammen gedacht drei integrale Dimensionen der gesellschaftlichen Raumproduktion: die materiellen Gegebenheiten von Raum, die Produktion von raumbezogenem Wissen und die Produktion von räumlicher Bedeutung. "Die Stadt ist ein Produkt, das erst im komplexen Zusammenspiel von räumlicher Praxis, Repräsentation des Raumes und Räumen der Repräsentation bzw. von Wahrgenommenem, Konzipiertem und Erlebtem entsteht" (SCHMID 2005, S.20). Das Städtische lässt sich aus dieser theoretischen Perspektive als dynamischer Prozess begreifen, welcher nur aus der Verschränkung mit der jeweiligen Gesellschaft und Zeitlichkeit heraus, in der er verortet ist, erschlossen und verstanden werden kann. Der Geograf Christian SCHMID (S.222ff.) führt in seiner Interpretation von LEFEBVREs Raumtheorie weiter aus, dass in der Dimension des Erlebten das Alltagsleben in Symbolen und Bildern Gestalt annimmt, deren qualitative und dynamische Eigenschaften sich sowohl der Alltagssprache als auch wissenschaftlichen Diskursen entziehen und nur in Kunst und Poesie angemessen dargestellt werden können: "Die Räume der Repräsentation sind keine Repräsentationen des Raumes und sie verweisen nicht auf den Raum selbst, sondern auf ein Anderes, Drittes. Sie repräsentieren gesellschaftliche 'Werte', Traditionen, Träume – und nicht zuletzt auch kollektive Erfahrungen und Erlebnisse" (S.223). In den außergewöhnlichen Momenten, wenn die drei Dimensionen der Produktion des Raumes zusammenfallen, entstehe Neues, und der Raum werde mit einer eigenen neuen Symbolik durchdrungen.
"Wichtig erscheinen in diesem Kontext vor allem zwei Aspekte: Erstens der direkte Zusammenhang von Stadt, Raum und Alltag: den Raum spüren, die Stadt treffen, den Alltag transformieren, das liegt für Lefebvre gewissermassen auf der gleichen Stufe. Und dies passiert zweitens dann, wenn die drei Dimensionen der Produktion des Raumes zusammenfallen – und damit in ganz speziellen Momenten: dem Fest, der Revolte" (S.289). [9]
Um solche Momente9) auszudrücken, muss man sie wahrnehmen, ohne sich mit den üblichen deskriptiven Darstellungen des öffentlichen Raums zu begnügen, und eine andere Ausdrucksform dafür finden. Künstlerische Strategien können dabei Phänomene, die sich dem Textlichen und Diskursiven teilweise oder auch gänzlich entziehen, visibilisieren, und zwar im Sinne von "sichtbar machen", nicht im Sinne von "illustrieren". Gleichwohl verweist die Dimension des Erlebten hauptsächlich auf die Handlung der Subjekte selbst. Denn auch wenn, wie SCHMID ausführt, "Kunst und Poesie diese Räume der Repräsentation darstellen und bis zu einem gewissen Grade auch bestimmen können" (S.222), ist es doch das Alltagsleben, welches den Räumen der Repräsentation Gestalt verleiht. [10]
Alltagserfahrungen erweisen sich demnach für die empirisch-qualitative Forschungspraxis, für den künstlerischen Schaffensprozess und auch in der Raumtheorie LEFEBVREs als Dreh- und Angelpunkt. Über dieses gemeinsame Moment verfestigt sich die Annahme einer Annäherung von Stadtforschung und Kunst deutlich. Das LEVEBVREsche Raummodell liefert hierfür das theoretische Gerüst: In seinem Modell trialektischer Wechselbeziehungen, in dem sich alle drei Dimensionen gegenseitig bedingen, ist die künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung mit Raum, wie ich oben ausführte, konstitutiv. In diesem raumanalytischen Verständnis ist Kunst also nicht das Extra, sondern man kann in der Stadtforschung nicht darauf verzichten. Für die forschende Praxis transdisziplinärer Projekte bedeutet dies, dass wissenschaftliche Raumanalysen durch den Einbezug anderer Herangehensweisen und Perspektiven an Präzision gewinnen. Dabei bringen gerade künstlerische Blicke bislang verborgene oder ausgeschlossene Aspekte in die Betrachtung städtischer Phänomene mit ein. Das bedeutet aber nicht, dass Kunst in der transdisziplinären Forschungspraxis einfach für die Erfassung des Intuitiven, Sinnlichen, Spirituellen zuständig ist, sowenig wie die Wissenschaft allein für das Analytische, das Strukturierende, Rationalisierende verantwortlich sein soll. In einer kritischen transdisziplinären Forschungspraxis wird versucht, gegen dieses dichotome Wissenschaftsverständnis zu arbeiten. Die verschiedenen Forschungspraxen sind dabei nicht nur komplementär, sondern sie durchdringen sich gegenseitig. Dasselbe urbane Phänomen wird von verschiedenen Praxen aus gesehen und analysiert, indem man sich aus anderen Feldern neue methodische und theoretische Zugänge aneignet.10) [11]
3. Postmoderne und poststrukturalistische Durchdringung der Stadtforschung
Mit diesem kurzen Abriss der wichtigsten Grundzüge einer rekonstruierten Theorie- und Methodengeschichte der Stadtforschung wollte ich zeigen, dass eine empirische und körperliche Praxis seit Beginn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stadt prägte. Trotz zeitweise starker positivistischer und quantitativer Strömungen hielt sich das Interesse an empirisch-qualitativer Stadtforschung. Daraus entwickelte sich eine Forschungspraxis, in der eine transdisziplinäre Annäherung von Stadtforschung und Kunst erprobt und die vor allem durch Ansätze aus der Grounded-Theory-Methodologie gestärkt wurde. Die grundlegenden Paradigmenwechsel für die empirische Stadtforschung, welche die hier umrissene transdisziplinäre Annäherung weiter akzentuierten, fanden im Zuge der postmodernen und poststrukturalistischen Wende in den Sozialwissenschaften der 1980er Jahren statt. Denn obwohl Stadt, wie ich oben zeigte, bereits in den frühen Sozialwissenschaften ein privilegiertes Objekt war, blieb Raum sowohl in der empirischen Forschung wie auch in der Theoriebildung über lange Zeit eine blasse Kategorie. Die nun erfolgte Neubewertung von Raum als gesellschaftsrelevanter Größe zählt zusammen mit der Hinwendung zur Ethnografie und den Konzeptionen einer wissenschaftlichen Reflexivität zu den wesentlichsten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Annahmen der heutigen transdisziplinären Stadtforschung. [12]
Auseinandersetzungen um die Reflexivität von Forschenden basieren zwar auf der vorherig beschriebenen Annahme der wechselseitigen Bezogenheit von Wissenschaftler/innen und den Forschungssubjekten sowie auf der Einsicht, dass die Forschenden selbst in den Einzugsbereich ihrer Subjekte geraten und sich im Forschungsprozess mit ihnen verändern, sie bedeuten aber in ihrer ganzen Reichweite eine tiefer greifende Kritik, die das bisherige Selbstverständnis der Forschenden in ihrer Praxis grundsätzlich infrage stellt. In der als Krise der Repräsentation bekannten Debatte über die kulturelle Repräsentation des "Anderen" gingen kritische Forschende von der Grundannahme aus, dass die wechselseitige kulturelle Repräsentation des "Fremden" und des "Wir" entscheidend an der Produktion und Reproduktion politischer und ökonomischer Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen beteiligt ist (FUCHS & BERG 1993, S.11). Wissenschaftler/innen schreiben infolgedessen in die Konstruktion ihrer von komplexen und widersprüchlichen Realitäten "bereinigten Subjekte" Machtverhältnisse ein, die im Abstraktionsprozess ihrer Arbeit unsichtbar werden. Die kritische Auseinandersetzung mit diesem Akt der Einschreibung, der Andere distanziert und objektiviert11), ist erheblicher Bestandteil der vor allem in der Ethnologie zeitweise hitzig geführten Debatte über dieses den Sozialwissenschaften zugrunde liegende Dilemma. Die Reflexion über die eigene Position als Forschende in der Wissensproduktion ist bereits angesichts des oben beschriebenen spezifischen historischen Kontextes der sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr auszublenden.12) [13]
Der Begriff Reflexivität entwickelte sich in den 1980er Jahren zu einem methodologischen Kernkonzept der Sozialwissenschaften (vgl. LANGENOHL 2009). Aus einem postmodernen Selbstverständnis einiger Forschender entstanden in der Folge deskriptive Analysen, in denen sich die Autor/innen in den Beschreibungsansprüchen verloren und die in solchen Analysen mittransportierte Selbstreferenzialität stark überbewerteten. Dies geschah auf Kosten der Analyse von historischen Grundlagen und Machtverhältnissen, die sie – in durch diese unkritischen Abhandlungen des Status quo letztlich konformistischen Forschungen – außer Acht ließen. Dagegen forderte der Soziologe Pierre BOURDIEU (1993) eine epistemische Reflexivität, um dieser Tendenz einer, wie er schreibt, "narzisstischen Reflexivität" eine "wissenschaftliche Reflexivität" gegenüberzustellen. Reflexivität bedeutet in dieser poststrukturalistischen Perspektive einerseits eine kritische Selbstverortung der Forschenden in Bezug auf ihre persönliche und berufliche Disposition und andererseits das Offenlegen der jeweiligen theoretischen und methodischen Strategien. BOURDIEU nennt zusätzlich einen dritten Faktor, die scholastische Denkweise, um die Verzerrungen der konstruierten Untersuchungssubjekte in wissenschaftlichen Analysen zu erkennen, der wieder auf eine körperliche Erfahrung empirischer Forschung hinweist.
"Yet the most insidious source of bias in Bourdieu's view is the fact that, to study society, the sociologist necessarily assumes a contemplative or scholastic stance that causes her to (mis)construe the social world as an interpretive puzzle to be resolved, rather than a mesh of practical tasks to be accomplished in real time and space – which is what it is for social agents. (...) Assuming the point of view of the 'impartial spectator', standing above the world rather than being immersed in it (...) creates systematic distortions in our conceptions of knowledge, beauty and morality that reinforce each other and have every chance of going unnoticed inasmuch as those who produce and consume these conceptions share the same scholastic posture" (WACQUANT 2007, S.273). [14]
Erst durch das Sich-bewusst-Machen und Explizieren der in diesen Positionen eingeschriebenen und reproduzierten Machtasymmetrien wird die durch sie geformte subjektive Wissensproduktion transparent (vgl. HUFFSCHMID & WILDNER 2009). [15]
3.2 Ethnografie als epistemologisches Dispositiv
Das ethnografische Forschen, wie es in den Anfängen der europäischen und US-amerikanischen Stadtforschung praktiziert wurde, erfuhr in der Folge der Debatte zur Krise der Repräsentation eine Neubestimmung und entscheidende Aufwertung: Als Technik wissenschaftlicher Praxis zur qualitativen Analyse von urbanem Raum und angesichts ihrer Eigenschaft, dabei die sinnlichen und praxisbezogenen Dimensionen der gesellschaftlichen Existenz hervorzuheben, avancierte die Ethnografie zur primären Methode der Stadtethnologie und beeinflusste darüber hinaus verschiedenste stadtforschungsrelevante sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, ob Wissenschaftsgeschichte oder Literaturwissenschaft, Architektur oder Kunst (GREVERUS 2009; HIEBSCH, SCHLÜTER & WILLKOMM 2009; SCHWANHÄUSSER 2010). In dieser Neubestimmung wird die Ethnografie von der technischen Datenerhebung durch Feldnotizen zum epistemologischen Dispositiv, mit dem sich Forschende an Fragen der gesellschaftlichen Produktion des Raums annähern. In der ethnografischen Forschungspraxis ist die wissenschaftliche Reflexivität ein Imperativ (vgl. WOOLGAR 1988) und es zeigt sich hier erneut, was die Grounded-Theory-Methodologie bereits vor Jahrzehnten aufgeworfen hatte: Das "Datensammeln" ist immer subjektiv bzw. theoretisch und methodisch geprägt. Die Absurdität der Trennung zwischen technischer Datenerhebung und Datenauswertung wird dabei deutlich. Im Zuge dieser Aufwertung trifft man aber trotzdem häufig eine instrumentelle Konnotation der Ethnografie in anderen Disziplinen an. Die gegenwärtige Planungs- und Architekturpraxis beispielsweise ist nach wie vor sehr stark normativ ausgerichtet und wird den komplexen Anforderungen an sozial nachhaltige und entwicklungsfähige Strategien und Konzepte kaum gerecht. Das ethnografische Register wird dann gezogen, um Material zu generieren, zu dem man mit herkömmlichen Strategien keinen Zugang hat. Nicht immer suchen Forschende dabei eine für die Transdisziplinarität fruchtbare Auseinandersetzung, sondern begnügen sich mit der Ausschmückung körperloser, verflachter gesellschaftlicher Analysen mit ethnografischen Versatzstücken. [16]
Neben diesem poststrukturalistischen Wendepunkt der transdisziplinären Stadtforschung hin zu einer reflexiven Ethnografie ist die erkenntnistheoretische Hinwendung zu Raum wegweisend für die heutige Auseinandersetzung mit dem Städtischen (DÖRING & THIELMANN 2008; WARF & ARIAS 2009). Der Anstoß und die ersten Grundlagen dieses Paradigmenwechsels kamen von Protagonist/innen der kritischen Geografie wie beispielsweise David HARVEY und Manuel CASTELLS. Ausgehend von CASTELLS' zu Beginn der 1970er Jahre aufgeworfenen Frage nach dem Urbanen, welche Stadtforschende bis heute auf verschiedenste Weisen angehen, trat das Konzept "Raum" bald als Schlüsselkonzept in dieser theoretischen Debatte hervor. Doch zunächst lieferte weder CASTELLS Theorie der kollektiven Konsumtion (1972) noch HARVEYs politökonomische Raumtheorie (1985)13) die Möglichkeit, komplexe und differenzierte soziale Prozesse des Urbanen zu erfassen oder innovative empirische Analysen der sich rasch verändernden globalen Megastädte durchzuführen. Die marxistische Basis beider Theorien schnürte dafür ein zu schematisches Korsett, das wenig dabei half, unter "Raum" etwas grundsätzlich anderes als allgemeine Strukturen, ökonomische Produktionsbedingungen und globale Homogenisierungsprozesse zu fassen. Erst die empirischen stadtethnografischen Untersuchungen der 1980er Jahre lieferten das Material, um diese gängige ökonomische und funktionalistische Konnotation des Raumbegriffs in der Stadtplanung und Geografie der 1970er Jahre umwerten zu können und "Raum" im Laufe der postmodernen und poststrukturalistischen Wende als Bedeutungsträger von Komplexität, Kontingenz und Differenz zu interpretieren (vgl. dazu SCHMID 2005, S.70).14) Methodisch und inhaltlich führte der spatial turn in Wechselwirkung mit der Ethnologie zu einer wesentlichen forschungsthematischen Umgewichtung: Der Fokus auf die soziale Produktion des Städtischen führte die Stadtethnologie weg von früheren Untersuchungen sozialer Phänomene in der Stadt und einer "anthropology in the city" hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Städtischen an sich und einer "anthropology of the city" (HANNERZ 1980). Aus dieser Disposition wurden zahlreiche qualitative Beschreibungs- und Erkundungsverfahren des Urbanen entwickelt, wiederentdeckt, adaptiert und miteinander verknüpft: Das multimethodische Vorgehen mittels mannigfaltiger Kombinationen klassischer stadtethnografischer Verfahren wie beispielsweise der teilnehmenden Beobachtung und qualitativer Interviews wird ständig weiterentwickelt. Stadtforscher/innen können an eine Vielfalt von neueren modifizierten Techniken anknüpfen, wie beispielsweise assoziative Wahrnehmungsspaziergänge (vgl. DELGADO 2007) oder multi-sited ethnography (FALZON 2009; MARCUS 1995). Zusammen mit künstlerischen Praxen wie unter anderen dem Kartieren (siehe Abschnitt 4) oder der Fotografie (PINK 2008) gehören solche und ähnliche Verfahren zur methodischen Grundlage einer transdisziplinären qualitativen Stadtforschung. [17]
Das frühe postmoderne Raumkonzept zeichnete sich durch die vorausgehend beschriebene Bedeutungsverschiebung aus (JAMESON 2003 [1984]). Dem Konzept fehlte es allerdings an theoretischer Tiefenschärfe, welche der neu aufgespannte empirisch-analytische Rahmen zur Behandlung der städtischen Frage benötigt (vgl. LOW 1996; SCHMID 2005). Die eigentliche Theoriebildung und die Institutionalisierung der raumbezogenen Forschungsagenda erfolgte im anglofonen und deutschsprachigen Raum erst in den späten 1980er und hauptsächlich in den frühen 1990er Jahren (vgl. hierzu SOJA 1989 für die postmoderne Geografie; sowie für die Stadt- und Regionalforschung PRIGGE 1986; WERLEN 1997 [1987]), wobei die (Wieder-) Entdeckung der Schriften Henri LEFEBVREs dank der Übersetzung von "The Production of Space" (1991 [1974]) ins Englische eine erhebliche Rolle spielte. Henri LEFEBVREs trialektische Raumtheorie lieferte Ansatzpunkte für die Analyse raumzeitlicher gesellschaftlicher Prozesse: Sie ermöglichte es, den sozialen Raum als gesellschaftliches Produkt und nicht bloß als Gefäß für gesellschaftliches Handeln theoretisch zu begründen. Die soziale Produktion von Raum ist ein durch Herrschaftsverhältnisse geprägter Prozess, welcher über selbstbestimmte Aneignungspraxen aber auch immer beeinflusst werden kann (vgl. KIPFER 2007; MASSEY 1997; ZIBECHI 2011 [2008]). Dabei handelt es sich nicht um abstrakte Prozesse: Soziale Verhältnisse, Geschichte, Ideologien und Machtverhältnisse materialisieren sich auf der physischen Ebene des Städtischen und spiegeln sich beispielsweise, wie es die Kulturwissenschaftlerin Anne HUFFSCHMID und die Stadtethnologin Kathrin WILDNER (2009, §19) schreiben, in der städtischen Architektur und Infrastruktur wider. Gerade in der Stadtforschung zeigt sich, wie bedeutsam ein dynamischer und zugleich relationaler Raumbegriff sowie die Notwendigkeit seiner zeittheoretischen Begründung ist. Als unausweichliche Bedingung für die Stadtforschung folgt daraus sowohl auf konzeptueller wie auch auf methodischer Ebene die Auseinandersetzung mit den Prozessen des Urbanen. Die Betonung der Geschichtlichkeit für die Analyse des Städtischen ist ein äußerst relevanter Aspekt, der in der aktuellen Stadtforschung und ihrem Fokus auf Raum jedoch oft vernachlässigt wird,15) obwohl für die kritische Auseinandersetzung mit dem Produktionsprozess von Raum raumgegenwärtige und raumhistorische Fragen substanziell sind. Ein multimethodischer transdisziplinärer Zugang, welcher Rekurs nimmt auf wissenschaftliche und künstlerische Praxen, ist für die Diskussion solcher komplexer Problemstellungen besonders geeignet. Doch wie kann nun Transdisziplinarität produktiv in eine kritische Forschungspraxis umgesetzt und als Strategie für Stadtforschung fruchtbar gemacht werden? [18]
4. Transdisziplinäre Strategien der Stadtforschung
Die Umrisse von Transdisziplinarität als einer intuitiv herangezogenen Praxis für sozial interessierte Studien ist rückblickend gesehen schon in den Anfängen der empirischen Stadterkundungen durch Ökonom/innen oder Ärzt/innen auszumachen. Auch die theoretischen Grundsteine für eine transdisziplinäre Stadtforschung wurden bereits vor Jahrzehnten in stadttheoretischen Konzepten und Perspektiven unter anderen von Robert Ezra PARK, Henri LEFEBVRE oder Michel DE CERTEAU gelegt und gleichzeitig kritisch hinterfragt.
"Das Phänomen Verstädterung kann in seinem gesamten Umfang nicht von einer Spezialwissenschaft methodologisch bewältigt werden. Selbst wenn man als methodologisches Prinzip aufstellt, dass keine Wissenschaft sich selbst aufgeben, vielmehr jede Fachrichtung bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gehen wird, um ein Phänomen in seiner Gesamtheit erfassen zu können, wird nicht eine behaupten können, sie habe es erschöpfend behandelt. Auch nicht, dass sie es beherrschen und lenken könne. Wenn man das zugibt bzw. postuliert, setzen die Schwierigkeiten erst ein. (...) Gelegentlich bleibt die sogenannte interdisziplinäre Forschung offen, oder vielmehr hohl und leer, ohne Abschluss. Zuweilen schliesst sie sich über einer angeblichen Synthesis. So sehr das Phänomen Verstädterung als globale Wirklichkeit unbedingt und dringlich nach Vereinigung der Wissensfragmente ruft, so schwierig oder unmöglich ist es, diese zum Ganzen zu vereinigen" (LEFEBVRE 1972 [1970], S.61). [19]
Erst die kritische Weiterentwicklung postmoderner und poststrukturalistischer methodischer und theoretischer Stränge in der Stadtforschung akzentuierte diesen hier von LEFEBVRE umrissenen inter- bzw. transdisziplinären Zugang und ermöglicht den Stadtforschenden dessen Übersetzung in eine explizite empirische und methodische Praxis. [20]
Ein Beispiel für eine solche transdisziplinäre Praxis der Stadtforschung ist das Kartieren urbaner Prozesse. Das Kartieren ist eine bekannte qualitative Analysemethode und wird je nach Fragestellung durch gezielte Verwendung ethnografischer Analysen der Wahrnehmung und Aneignung des Raumes sowie durch statistische Daten geschärft. Karten, die zu einer Lesbarkeit komplexer Räume beitragen sollen, lassen sich nach dem Architekten und Soziologen Sergio TAMAYO und Kathrin WILDNER (2004) erst dann erstellen, "wenn narrative Elemente eingezogen werden, man sich ins Gelände gewagt und die Orte selber ergangen hat" (S.105). Erst dann beginnt die besprochene Neubestimmung der Ethnografie als epistemologisches Dispositiv in der kartografischen Methode zu wirken und hilft Forschenden, sich an Fragen der gesellschaftlichen Produktion des Raums anzunähern. Der kartografische Blick stößt auch in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Raum und Ästhetik auf großes Interesse (BUCI-GLUCKSMANN 1997 [1996]) und bietet sich förmlich für eine transdisziplinäre Praxis in der Stadtforschung an. Dieses Vorgehen der Überlagerung verschiedener Elemente, welche abgestützt auf verschiedene Forschungspraxen erarbeitet werden, fußt auf dem Triangulationsprinzip (vgl. DENZIN 1989; FLICK 2011). Die soziale Produktion des städtischen Raums wird von verschiedenen Praxen aus gesehen, körperlich erlebt und analysiert, indem man sich aus anderen Feldern neue methodische und theoretische Zugänge aneignet. Das diverse Datenmaterial wird durch das Kartieren visuell zugänglich gemacht, wodurch neue Zusammenhänge aufgezeigt werden können. Das Triangulationsverfahren zur Herstellung der Karten zeigt dabei also nicht bloß eine größere Breite auf, sondern generiert einen Erkenntnisgewinn (vgl. DENZIN & LINCOLN 2000; FLICK 2011). Die Karte wird dadurch nicht nur zur räumlichen Verortung von häufig ephemeren städtischen Alltagspraktiken brauchbar, sondern wird zusätzlich zu einem Instrument ihrer Interpretation. Neben der Visualisierung von räumlichen Informationen sind Karten folglich ein wesentliches heuristisches Instrument, mit deren Hilfe eine Synthese und Interpretation komplexer Datensätze erst ermöglicht wird. Karten sind Repräsentationen von Räumen und umfassen zeitlich-spezifische Aufzeichnungen räumlichen Wissens. Dabei gilt es, sowohl ihre Inhalte, ihre Ästhetik, wie auch ihre Symbolik und Strukturelemente kritisch zu hinterfragen (GLASZE 2009), um im Sinne der davor besprochenen wissenschaftlichen Reflexivität ihre Konzeption transparent zu machen. Karten produzieren Wissen nach Regeln der sozialen Ordnung, in welcher sie hergestellt werden, und gründen auf Mechanismen von Ein- und Ausschlüssen. Karten sind, wie dies der Geograf und Kartograf John Brian HARLEY (1989) schreibt, politisch, und sie sind somit immer auch eine Repräsentation von Macht (vgl. dazu MICHEL 2010; MONTOYA ARANGO 2007). Durch diesen selektiven und hierarchisierenden Prozess konstituiert die Stadtkarte als Repräsentation von Raum städtische soziale Wirklichkeiten.
"Critical cartographers (...) argue that mapping creates specific spatial knowledges and meanings by identifying, naming, categorizing, excluding,and ordering. (...) Furthermore, once these categories are put into play they can be used to exert power and control people and things. Mapping creates knowledge as much as (and for some, instead of) reflecting it. Critical cartographers do not argue that physical space is produced by the process of mapping, but rather that new ways of thinking about and treating space are produced. 'Space,' in this account, is not just a question of physical and material disposition (although it is that) but also the constitution of objects. For critical cartography, mapping is not just a reflection of reality, but the production of knowledge, and therefore, truth" (CRAMPTON 2010, S.45f.). [21]
Unumgänglich ist somit das Sich-bewusst-Machen und Explizieren der in der Herstellung der Karte eingeschriebenen subjektiven Wissensproduktion durch die Forschenden. In dieser Weise einer kritischen transdisziplinären Praxis ermöglicht es das Kartieren als Erkenntnis generierende körperliche wie auch künstlerische Praxis, Urbanisierungsprozesse als mehrschichtige Phänomene zu verstehen und neue Einblicke ins Städtische zu gewinnen. [22]
Die konkrete Umsetzung der Transdisziplinarität in der gegenwärtigen Stadtforschung nimmt neben dem Kartieren sehr unterschiedliche Formen an. Ich versuche in diesem abschließenden Abschnitt einige der ausgeprägtesten Tendenzen transdisziplinärer Stadtforschung schematisch zu gliedern und sie nach ihren Möglichkeiten und Grenzen zu befragen. [23]
4.1 Distinktion durch Redisziplinierung
Obwohl die transdisziplinäre Argumentation Standard in aktuellen Stadtforschungsprojekten ist, bleibt Transdisziplinarität ein sehr komplexes, ambivalentes und umstrittenes Konzept. So ist beispielsweise innerhalb der akademischen Forschung eine mentale und institutionelle Tendenz zur Redisziplinierung erkennbar. Etablierte Wissenschaftler/innen klassischer Disziplinen wie etwa Soziolog/innen oder Geschichtswissenschaftler/innen stellen sich gegen die Transdisziplinierung und beharren auf einer klaren Distinktion einerseits zwischen universitären und außerakademischen Bereichen und andererseits zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen – ihr Ziel ist, die Eigenständigkeit im Wettbewerb der Disziplinen und somit das akademische Kapital zu bewahren und sich gleichzeitig vertieft mit dem Spezifischen der eigenen Disziplin auseinanderzusetzen, um diese aus sich selbst heraus weiterzuentwickeln. Dieser in seiner Abgeschlossenheit konservative Standpunkt verweist auf die auch für die transdisziplinäre Praxis notwendige wissenschaftliche Selbstverortung. Denn auch wenn viele Wissenschaftler/innen sich heutzutage nicht mehr über klassische Disziplinen, sondern über Themen wie beispielsweise das Urbane definieren, brauchen auch kritische Stadtforscher/innen ein ausgebildetes Bewusstsein davon, mit welchen Referenzen sie hantieren. Eine solche theorieinformierte methodologische Auseinandersetzung macht den Austausch zwischen Forscher/innen verschiedener Provenienzen, Architekt/innen und Künstler/innen überhaupt erst möglich und ist somit die Voraussetzung für das Gelingen eines transdisziplinären Projektes. Darüber hinaus bedeutet diese Positionierung, sich grundlegend zu fragen, wie Wissen hergestellt wird und wie man mit verschiedenen Formen von Erkenntnisproduktion umgeht. Dies wird auch zur politischen Frage, wenn gleichzeitig regionale Asymmetrien mitreflektiert werden: Wo und von wem wird Wissen generiert und wer hat dabei keine Stimme? (KING 1996; SPIVAK 2008 [1988])16) – Fragen, die für eine weltweite Auseinandersetzung mit dem Städtischen differenzierter Antworten bedürfen. [24]
4.2 Transdisziplinarität light
Parallel zu dieser Redisziplinierungstendenz ist ein regelrechter Boom transdisziplinärer Stadtforschungsprojekte im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum auszumachen. Es handelt sich dabei aber oft um Projekte, die sich bei genauem Hinschauen nur auf eine reduzierte Form von Transdisziplinarität einlassen. In dieser Transdisziplinarität light wird von einer Auflösung der Disziplingrenzen gesprochen, was einen Zugang zu einem breit gefächerten Angebot an theoretischen sowie methodischen Ansätzen aus allen Bereichen verspreche und somit in der Praxis leicht anwendbar sei. Durch dieses In-eins-Setzen der Disziplinen ist nicht mehr klar, welcher Zugang welche Fragen beantworten kann. Eine unreflektierte Vermengung der theoretischen Konzepte oder der methodologischen Ansätze führt in eine Sackgasse: Ohne Trennschärfe kann man Dinge nicht produktiv zusammenbringen. In dieser derzeitigen Tendenz der transdisziplinären Stadtforschung, in der das Postulat der Nutzbarmachung von Ergebnissen für Planungs- und Administrationsfragen zuvorderst steht, nimmt die marktförmige Verwertbarkeit der Disziplinen Einzug. Wissenschaftliche Expertise über Theorie und Methodik wird dabei zur Werkzeugkiste reduziert, woraus sich jede und jeder nach Belieben bedienen kann; Wissen oder Erfahrung im Umgang mit Methodik oder mit erkenntnistheoretischen Grundlagen werden nicht vorausgesetzt. Forschung kann so ohne zeitaufwendige Systematik auskommen. Die Belanglosigkeit der Ergebnisse und somit auch die Enttäuschung über solche Forschungsprojekte sind vorprogrammiert. Der vermehrte Einbezug der Kunst in die Forschungslandschaft verstärkt des Weiteren gleichzeitig die voranschreitende Institutionalisierung und "Verwissenschaftlichung" der Künste, eine Entwicklung, die von verschiedenen Seiten kritisch hinterfragt wird (vgl. HOLERT 2011). In der Architektur hingegen wird genau diese "Verwissenschaftlichung" gesucht und gefördert, es handelt sich dabei aber immer noch um eine neuere Tendenz. [25]
4.3 Transdisziplinarität "tun"
Wie lassen sich nun aber die jeweiligen Forschungserfahrungen trotz aller Schwierigkeiten und Ambivalenzen des transdisziplinären Zugangs aufeinander beziehen? Wo beginnt das Transdisziplinäre? Der Ausgangspunkt dafür liegt in der Bereitschaft, in Auseinandersetzung mit aus einem anderen Feld kommenden Zugängen zu einem Phänomen eigene Prämissen und somit die eigene Praxis infrage zu stellen und zu transformieren. Transdisziplinarität erfordert demnach eine Radikalität, die einerseits eine Reflexion über den eigenen Zugang in der Auseinandersetzung mit anderen Feldern erzwingt und andererseits die Bereitschaft voraussetzt, das eigene Tun inkl. dessen erkenntnistheoretischer Prämissen kritisch zu befragen und befragen zu lassen (HUFFSCHMID & WILDNER 2009). [26]
Transdisziplinarität ist ein in der Stadtforschung breit geteiltes Plädoyer, diese aber in der eigenen Forschungspraxis konsequent durchzudeklinieren, darauf lassen sich nur wenige ein. Die Auffächerung dessen, was Transdisziplinarität sein kann, was sie jeweils konkret in der Forschungspraxis bedeutet und welcher Erkenntnisgewinn daraus erarbeitet werden kann, ist auch für kommende Wissenschaftsgenerationen von Bedeutung. Eine solche schematische Differenzierung erlaubt, Transdisziplinarität als skeptische Abgrenzung bzw. als institutionalisiertes Klischee oder als kritische Praxis zu dechiffrieren. In transdisziplinären Forschungsprojekten bringen die beteiligten Forscher und Forscherinnen unterschiedliche Zugänge der Wissensproduktion in der Praxis zusammen und werden dadurch gezwungen, sich mit der Wissensproduktion als solcher permanent auseinanderzusetzen. Dies ist ein Spannungsfeld, in welchem der transdisziplinäre Ansatz immer wieder diskutiert werden muss: Transdisziplinarität ist ein Produkt performativer Handlungen und wird durch die Beteiligten im Forschungsalltag fortlaufend hergestellt. Außerhalb institutioneller Regelwerke ist eine solche produktive und explorative oder experimentelle Auseinandersetzung oft weniger Widerständen und Restriktionen ausgesetzt. Das produktive Moment der Transdisziplinarität entsteht in erster Linie durch Offenheit, Reflexivität und durch die Reibung an den Schnittstellen unterschiedlicher wissenschaftlicher Felder. Denn erst durch die Differenz, die Spannung und durch Grenzüberschreitungen entsteht Neues. [27]
Im Vorfeld zu diesem Artikel führte ich verschiedene Gespräche mit Expert/innen, in welchen wir über ihre Forschungspraxis und ihre Zugänge zu transdisziplinärer empirischer Stadtforschung sprachen. Mein Dank gilt insbesondere Anne KOCKELKORN, Anne HUFFSCHMID, Gabriela MURI und Christian SCHMID für ihre Zeit und Offenheit.
1) Unter Transdisziplinarität verstehe ich die Verbindung künstlerischer und wissenschaftlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen (MERSCH & OTT 2007). Diese Auffassung führe ich im Verlauf des Beitrags aus und grenze mich damit von anderen Definitionen ab, welche Transdisziplinarität als Zusammenspiel von Forschung und gesellschaftspolitischer Anwendung im Sinne einer integrativen Forschung (THOMPSON KLEIN et al. 2001) oder als eine rein akademische Angelegenheit verstehen (vgl. MITTELSTRASS 2003). <zurück>
2) Mit einem experimentellen Verfahren behalten Wissenschaftler/innen immer die Forschungsfrage im Auge, sie sind jedoch im Sinne lernenden Forschens (vgl. JAKOB 1998) flexibler als in formalisierten oder standardisierten Forschungsabläufen. Eine experimentelle und flexible wie auch theoretisch fundierte Herangehensweise wird in der Stadtforschung (ROBINSON 2011) ebenso wie in der Ethnologie (GREVERUS, MacDONALD, RÖMHILD, WELZ & WULFF 2003) gefordert. <zurück>
3) Ich unterscheide zwischen Postmoderne und Poststrukturalismus als zwei in sich heterogenen epistemologischen Perspektiven mit je verschiedenen gesellschaftstheoretischen Denkfiguren. Beide Perspektiven teilen zwar konzeptuelle und begriffliche Überschneidungspunkte, sind jedoch nicht deckungsgleich (vgl. hierzu VILLA 2008). Wie ich in diesem Beitrag ausführe, haben beide Perspektiven für die Stadtforschung entscheidende Impulse geliefert und stehen für einen Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit dem Urbanen. <zurück>
4) Als eine der ersten Stadtethnografien mit diesem Verständnis ist Friedrich ENGELS' Erstlingswerk "Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigenen Anschauungen und authentischen Quellen" (1985 [1845]) zu nennen. Der Gesellschaftstheoretiker und Historiker ENGELS schrieb diese Studie auf der Grundlage seiner Erkundungen der Arbeiter/innenviertel in Manchester von 1842-1844. <zurück>
5) Die Begründung der klassischen Ethnologie wird auf Bronislaw MALINOWSKI und dessen Studie "Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea" (2001 [1922]) zurückgeführt. <zurück>
6) Solche sozialwissenschaftlichen Forschungen in Großstädten wurden auch außerhalb von Europa praktiziert und durch die Chicago School of Sociology geprägt. Diese wiederum bezog sich in der ersten Generation stark auf die europäische Soziologie: Der Mitbegründer Robert Ezra PARK war ein Schüler des Soziologen SIMMELs und von dessen Studien zum Großstadtleben in Berlin beeinflusst (siehe LINDNER 2004, S.33). Aus der für die heutige Stadtforschung nach wie vor wichtigen frühen Chicago School stammen diverse städtische Milieuuntersuchungen, welche durch eine von PARK propagierte journalistische Haltung geprägt waren, in denen insbesondere dunkle und exotische Ecken von Chicago erforscht wurden. <zurück>
7) Eine Kritik an diesen positivistischen Tendenzen der Ethnologie und der Stadtethnologie zur Objektivierung und Exotisierung ihres Untersuchungsgegenstandes führten die Ethnologen Richard G. FOX (1972) und Talal ASAD (1973) als Auftakt für spätere postkoloniale Debatten an. <zurück>
8) Bis heute sind vor allem qualitative Methoden dazu geeignet, im komplexen Feld des Städtischen empirische Forschung durchzuführen, da sie sich nicht allein auf quantitative Daten stützen, welche häufig durch eine prekäre Datenlage, Korruption, politisches Kalkül und dynamische gesellschaftliche Veränderungen stark verzerrt oder schlicht nicht zugänglich sind. <zurück>
9) Mit solchen Momenten städtischer Aufstände beziehe ich mich auf Ereignisse wie beispielsweise die Proteste im Juni 2013 auf dem Taksim-Platz in Istanbul oder im Frühling 2012 auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Hier fanden Aktivist/innen ihre Aktions- und Ausdrucksformen unter anderem durch Besetzung und Umdeutung zentraler urbaner Räume, wodurch sie selbst wiederum Teil einer kollektiven Erfahrung wurden (vgl. dazu auch SWYNGEDOUW 2011). <zurück>
10) Ein dahin gehend bemerkenswertes Projekt ist Global Prayers. Redemption and Liberation in the City. Das vom Berliner Stadtforschungsverein metroZones initiierte Forschungsprojekt vergleicht seit 2010 die Manifestationen des Religiösen in acht Megastädten und untersucht die neuen religiösen Bewegungen als ein städtisches Phänomen globalen Ausmaßes. In der empirischen Praxis zielt "Global Prayers" darauf ab, ein dichotomes Wissenschaftsverständnis aufzuheben und in der Kooperation von Künstler/innen und Sozial- und Geisteswissenschaftler/innen stereotype Rollenmuster aufzulösen. <zurück>
11) Die Abgrenzung des Selbst vom Bild des "Anderen", die in diesem Akt der Einschreibung entsteht, wurde im Englischen mit dem Neologismus othering belegt (FUCHS & BERG 1993, S.13). <zurück>
12) Zu dieser Thematik sind zwei FQS-Schwerpunktausgaben erschienen (MRUCK, ROTH & BREUER 2002; ROTH, BREUER & MRUCK 2003). <zurück>
13) Diese beiden in ihren Grundzügen als ökonomistisch und funktionalistisch kritisierten Ansätze zählten bis Mitte der 1980er Jahre zu den einflussreichsten Theorien der Stadtforschung. Mit seinem strukturalistischen Theorieentwurf der kollektiven Konsumtion lieferte der Soziologe Manuel CASTELLS eine neomarxistische Analyse des urbanen Phänomens, in welcher er Stadt als Ausdruck der kapitalistischen gesellschaftlichen Struktur definierte. Der Geograf David HARVEY entwickelte dagegen ein auf einer marxistischen Gesellschaftstheorie begründetes historisch-materialistisches Raumkonzept. Mit seiner Theorie der Produktion der gebauten Umwelt stellte er eine räumliche Fassung der Reproduktion des Kapitals auf. Dieser differenzierten politökonomischen Analyse HARVEYs gelingt es jedoch nur am Rande, alltägliche soziale Aspekte des Städtischen zu fassen. <zurück>
14) Der historische Kontext einer fortschreitenden Globalisierung und Urbanisierung fällt bei der Herausbildung des spatial turn ebenso ins Gewicht wie der hier beschriebene Paradigmenwechsel. Weiter wird die Befassung mit Raum schon seit Beginn stark durch die ökologischen und politökonomischen Fragen und die damit auftauchenden Probleme geprägt. Protagonist/innen der radical bzw. critical geography sowie der urban political economy waren und sind dafür wegweisend. <zurück>
15) Auch in der Geschichtswissenschaft ist trotz des Appells des Geografen Edward SOJA "to spatialize the historical narrative" (1989, S.1) die Befassung mit Raum erst neueren Datums wieder in das Blickfeld von Historiker/innen geraten (vgl. SCHLÖGEL 2003). <zurück>
16) Eine auf postkoloniale oder dekoloniale Kritik orientierte Debatte steht in der deutschsprachigen Stadtforschung erst in den Anfängen. Geführt wurde eine solche Auseinandersetzung beispielsweise während des Kongresses Decolonize the City. Dekoloniale Perspektiven auf die neoliberale Stadt im Jahr 2012 in Berlin. <zurück>
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Monika STREULE ist Stadtethnologin und promoviert am Departement Architektur der ETH Zürich zum Thema Urbanisierungsprozesse in Mexiko-Stadt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der empirischen qualitativen Raumanalyse, in der Entwicklung transdisziplinärer Techniken und multilokaler Methoden sowie in raumzeitlichen Fragstellungen. Momentan arbeitet sie als Gastforscherin am Instituto de Investigaciones Antropológicas de la Universidad Nacional Autónoma de México IIA-UNAM, finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds SNF.
Kontakt:
Lic. Phil. Monika Streule
Dozentur Soziologie
Departement Architektur ETH Zürich
Wolfgang-Pauli-Strasse 15
CH-8093 Zürich
Tel.: +41-44-633-90-81
E-Mail: streule@arch.ethz.ch
URL: http://www.soziologie.arch.ethz.ch
Streule, Monika (2013). Trend zur Transdisziplinarität – Kritische Einordnung einer ambivalenten Praxis qualitativer Stadtforschung
[27 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 15(1), Art. 17,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1401175.