Volume 15, No. 1, Art. 18 – Januar 2014
Varianten qualitativer Inhaltsanalyse: Ein Wegweiser im Dickicht der Begrifflichkeiten
Margrit Schreier
Zusammenfassung: In der Literatur zur qualitativen Inhaltsanalyse werden verschiedene Varianten des Verfahrens unterschieden, darunter beispielsweise die inhaltlich-strukturierende, die evaluative, die skalierende, die zusammenfassende oder die typenbildende Inhaltsanalyse. Dabei bleibt jedoch unklar, wie diese verschiedenen Varianten sich zueinander verhalten. In dem vorliegenden Beitrag werden die verschiedenen Versionen qualitativer Inhaltsanalyse beschrieben und in Beziehung gesetzt. Dabei ergeben sich zwei Basisformen qualitativer Inhaltsanalyse: die strukturierende qualitative Inhaltsanalyse und die qualitative Inhaltsanalyse durch Extraktion. Die anderen Varianten werden nicht als eigenständige Versionen rekonstruiert, sondern als Variationen im Ablauf der strukturierenden Inhaltsanalyse. Darüber hinaus sind weitere Variationen möglich und sinnvoll, die abschließend im Sinne eines "Werkzeugkastens" qualitativer Inhaltsanalyse dargestellt werden.
Keywords: qualitative Inhaltsanalyse; strukturierende Inhaltsanalyse; zusammenfassende Inhaltsanalyse; evaluative Inhaltsanalyse; typenbildende Inhaltsanalyse; explikative Inhaltsanalyse; Kodieren
Inhaltsverzeichnis
1. Was ist qualitative Inhaltsanalyse?
2. Varianten qualitativer Inhaltsanalyse
2.1 Inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
2.2 Evaluative qualitative Inhaltsanalyse
2.3 Formale qualitative Inhaltsanalyse
2.4 Die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse
2.5 Die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse
2.6 Die explikative qualitative Inhaltsanalyse
2.7 Die summative qualitative Inhaltsanalyse
2.8 Die qualitative Inhaltsanalyse mittels Extraktion
3. Zusammenfassung und Ausblick
3.1 Zusammenfassung
3.2 Ausblick: Das Werkzeugkasten-Modell der qualitativen Inhaltsanalyse
1. Was ist qualitative Inhaltsanalyse?1)
Insbesondere im deutschsprachigen Raum stellt die qualitative Inhaltsanalyse, im Zuge der Weiterentwicklung des Verfahrens durch Philipp MAYRING (u.a. 2000, 2010), ein häufig genutztes Auswertungsverfahren dar (vgl. auch FLICK 2007, Kap. 15; KOHLBACHER 2005, §6; SCHREIER 2012, S.15). Trotz dieser Popularität ergeben sich bei der Anwendung des Verfahrens in der Praxis jedoch immer wieder Probleme, die letztlich auf Unklarheiten und Unsicherheiten bei der Begriffsverwendung zurückgehen. [1]
Ein erstes Problem besteht darin, dass sich in der Literatur zum Teil inkonsistente Ausführungen dazu finden, was eigentlich das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse ausmacht. Klaus KRIPPENDORFF beispielsweise zählt auch die Diskurs- oder die Konversationsanalyse zu den qualitativ-inhaltsanalytischen Techniken (2013, S.22f.). Er beschreibt die qualitative Inhaltsanalyse im Kern als explikativ, nicht als reduktiv. Philipp MAYRING (2010) und Udo KUCKARTZ (2012) betonen die Fundierung qualitativ-inhaltsanalytischer Verfahren in der Hermeneutik, heben darüber hinaus aber die Systematik der Vorgehensweise sowie die Orientierung an methodologischen Gütekriterien als zentrale Definitionsmerkmale hervor (ebenso RUSTEMEYER 1992; SCHREIER 2012). Während Philipp MAYRING (2010) die qualitative Inhaltsanalyse jedoch wesentlich als theoriegeleitetes Verfahren versteht (ebenso RUSTEMEYER 1992), betonen Udo KUCKARTZ (2012) sowie Margrit SCHREIER (2012) die Bedeutung der Entwicklung von Kategorien (auch) am Material. Jochen GLÄSER und Grit LAUDEL (2019, 2013) argumentieren wiederum grundsätzlich für eine gemischt deduktiv-induktive Vorgehensweise bei der inhaltsanalytischen Auswertung. [2]
Gerade in der englischsprachigen Literatur finden sich gelegentlich Darstellungen einer Variante qualitativer Inhaltsanalyse, die eher der quantitativ-inhaltsanalytischen Tradition zuzuordnen ist (z.B. BERGER 2000; BERNARD & RYAN 2010). Ebenfalls vor allem in der englischsprachigen Literatur wurden schließlich Verfahren ausgearbeitet, die wesentliche Elemente qualitativ-inhaltsanalytischen Vorgehens beinhalten, aber anders bezeichnet werden. Dazu zählen beispielsweise das thematische Kodieren nach Richard BOYATZIS (1998) oder die qualitative Medienanalyse nach David ALTHEIDE (1996). [3]
Kurz: "Die" qualitative Inhaltsanalyse gibt es nicht, und es besteht kein Konsens darüber, was qualitative Inhaltsanalyse ausmacht. Da der Schwerpunkt dieses Beitrags nicht auf der Entwicklung von Definitionsmerkmalen liegt, soll auf die verschiedenen Merkmale und Definitionsvarianten hier nicht genauer eingegangen, sondern es sollen lediglich einige Merkmale festgehalten werden, die im Folgenden als Orientierung dienen. Ausschlaggebend ist dabei erstens, dass eine qualitative Inhaltsanalyse sich zumindest idealtypisch einerseits gegenüber der quantitativen Variante des Verfahrens, andererseits gegenüber anderen qualitativen Auswertungsverfahren abgrenzen sollte (vgl. SCHREIER, 2012, Kap. 1 und 2). Darüber hinaus sollte eine Definition in zentralen Punkten die Forschungspraxis qualitativer Inhaltsanalyse widerspiegeln, wie sie sich inzwischen etabliert hat. Vor diesem Hintergrund wird qualitative Inhaltsanalyse im Folgenden als ein Verfahren zur Beschreibung ausgewählter Textbedeutungen verstanden. Diese Beschreibung erfolgt, indem relevante Bedeutungen als Kategorien eines inhaltsanalytischen Kategoriensystems expliziert und anschließend Textstellen den Kategorien dieses Kategoriensystems zugeordnet werden. In dieser Definition spiegelt sich als zentrales Definitionsmerkmal die Kategorienorientierung des Verfahrens. Die Kategorien fungieren analog zu Variablen, deren Ausprägung für jede relevante Textstelle erfasst wird. Dabei kann das Kategoriensystem auch als "Herzstück" der qualitativen Inhaltsanalyse gelten (Differenzierungskriterium gegenüber anderen qualitativen Verfahren). Sowohl die Erstellung als auch die Anwendung des Kategoriensystems erfolgen interpretativ und erlauben die Einbeziehung des latenten Äußerungsgehalts (Differenzierung gegenüber der quantitativen Inhaltsanalyse). Das Vorgehen ist systematisch, regelgeleitet, an den Gütekriterien der Validität und der Reliabilität orientiert. Die Bedeutung des Reliabilitätskriteriums zeigt sich darin, dass meist ein intersubjektiv-konsensuales Textverständnis angestrebt wird (das jedoch nicht notwendig mit der Berechnung eines Interrater-Koeffizienten einhergeht: vgl. KUCKARTZ 2012, S.82f.; SCHREIER 2012, S.170ff.). Die Bedeutung der Validität spiegelt sich in der Anforderung, das Kategoriensystem so zu erstellen, dass es in der Lage ist, wesentliche Bedeutungsaspekte des Materials zu erfassen. Dies erfordert in der Regel, dass zumindest einige Kategorien induktiv am Material entwickelt werden. Diese Merkmale qualitativer Inhaltsanalyse sind in Tabelle 1 zusammenfassend dargestellt.
Kategorienorientierung |
Interpretatives Vorgehen |
Einbeziehung latenter Bedeutungen |
Entwicklung eines Teils der Kategorien am Material |
Systematisches, regelgeleitetes Vorgehen |
Orientierung an Reliabilität und Validität gleichermaßen |
Tabelle 1: Merkmale qualitativer Inhaltsanalyse [4]
Ein zweites Problem bzw. eine zweite Unklarheit bei der Anwendung qualitativer Inhaltsanalyse besteht darin, dass sich in der Literatur Hinweise und Ausführungen zu verschiedenen Varianten des Verfahrens finden, wie beispielsweise der inhaltlich-strukturierenden, der skalierenden, der evaluativen, der konventionellen, der explikativen oder der typenbildenden Inhaltsanalyse, um nur einige zu nennen (HSIEH & SHANNON 2005; KUCKARTZ 2012; MAYRING 2010). Dabei bleibt jedoch vielfach unklar, wie diese Varianten des Verfahrens sich zueinander verhalten, worin eventuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen. An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an: Ziel ist es, die verschiedenen Varianten qualitativer Inhaltsanalyse zu identifizieren, in ihren zentralen Merkmalen kurz zu beschreiben, miteinander in Beziehung zu setzen und (potenziellen) Anwendern und Anwenderinnen so eine Orientierung zu ermöglichen. [5]
2. Varianten qualitativer Inhaltsanalyse
Ausgehend von der Identifikation dreier sog. Grundtechniken qualitativen Interpretierens unterscheidet Philipp MAYRING (2010) drei Hauptformen bzw. Techniken qualitativer Inhaltsanalyse: die zusammenfassende, die strukturierende und die explikative Inhaltsanalyse. Dabei hebt er die strukturierende als die zentrale Technik hervor und unterteilt sie zugleich in weitere Varianten, nämlich die formale, die inhaltliche, die typisierende und die skalierende Strukturierung. Auch Udo KUCKARTZ (2012) geht auf drei Varianten qualitativer Inhaltsanalyse genauer ein: auf die inhaltlich-strukturierende, die evaluative und die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse. Eine Dreiteilung nehmen auch Hsiu-Fang HSIEH und Sarah SHANNON (2005) vor, hier in die sog. konventionelle (conventional), die gerichtete (directed) sowie die zusammenfassende (summative) qualitative Inhaltsanalyse. Schließlich finden sich verschiedenste Darstellungen qualitativer Inhaltsanalyse, bei denen jeweils eine konkrete Vorgehensweise im Mittelpunkt steht. Sandra STEIGLEDER (2008) stellt beispielsweise eine modifizierte Variante der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse vor; Jochen GLÄSER und Grit LAUDEL (2009) entwickeln eine eigene Variante des Verfahrens. Tabelle 2 gibt einen Überblick über diese verschiedenen Begrifflichkeiten. Im Folgenden werden diese Varianten qualitativer Inhaltsanalyse genauer beschrieben und anschließend in Beziehung gesetzt.
Inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse |
Formal-strukturierende Inhaltsanalyse |
Evaluative Inhaltsanalyse |
Skalierende Inhaltsanalyse |
Typenbildende Inhaltsanalyse |
Zusammenfassende Inhaltsanalyse |
Explikative Inhaltsanalyse |
Summative Inhaltsanalyse |
Konventionelle Inhaltsanalyse |
Gerichtete Inhaltsanalyse |
Inhaltsanalyse durch Extraktion |
Tabelle 2: Varianten qualitativer Inhaltsanalyse [6]
2.1 Inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
Am Beginn steht hier die strukturierende qualitative Inhaltsanalyse, da dieses Verfahren als Kern einer qualitativen Inhaltsanalyse gelten kann (KUCKARTZ 2012; MAYRING 2010; SCHREIER 2012). Philipp MAYRING weist darauf hin, dass bereits frühe VertreterInnen qualitativer Inhaltsanalyse wie beispielsweise Holger RUST (1980) im Wesentlichen ein strukturierendes Vorgehen gewählt haben, und auch generelle Darstellungen qualitativer Inhaltsanalyse orientieren sich hinsichtlich des Ablaufs an der strukturierenden Vorgehensweise (GROEBEN & RUSTEMEYER 1994; RUSTEMEYER 1992; SCHREIER 2012), und zwar in erster Linie an der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse, wie sie beispielsweise von Philipp MAYRING (2010) sowie von Udo KUCKARTZ (2012) explizit als solche dargestellt wird. [7]
Kern der inhaltlich-strukturierenden Vorgehensweise ist es, am Material ausgewählte inhaltliche Aspekte zu identifizieren, zu konzeptualisieren und das Material im Hinblick auf solche Aspekte systematisch zu beschreiben – beispielsweise im Hinblick darauf, was zu bestimmten Themen im Rahmen einer Interviewstudie ausgesagt wird. Diese Aspekte bilden zugleich die Struktur des Kategoriensystems; die verschiedenen Themen werden als Kategorien des Kategoriensystems expliziert. Eine solche inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse haben beispielsweise Matthew McDONALD, Stephen WEARING und Jess PONTING in ihrer Studie zu außergewöhnlichen Erfahrungen und außergewöhnlichem Erleben (sog. peak experiences) in der Natur durchgeführt (2009). Die AutorInnen kontaktierten Personen, die sich in einem Naturschutzreservat aufgehalten hatten, und baten sie, sich an ihren Aufenthalt zu erinnern und zu überlegen, ob sie während dieser Zeit ein besonderes "Hochgefühl" erlebt hatten und, wenn ja, dieses in ihren eigenen Worten zu beschreiben. Die (39) Beschreibungen wurden anschließend im Hinblick auf Themen bzw. Merkmale solcher peak experiences analysiert. Es resultierten die folgenden Merkmale: ästhetische Qualität, Distanz zum Alltag, Bedeutungshaltigkeit, Anzahl solcher Erfahrungen, Gefühl von Einheit/Verbundenheit, Beschränkungen überwinden, Bewusstseinserweiterung. Charakteristisch für die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse ist bei diesem Vorgehen, dass die offenen Beschreibungen lediglich im Hinblick auf Merkmale von peak experiences hin analysiert wurden, wobei die Merkmale die Kategorien des Kategoriensystems darstellen. Andere Aspekte der Beschreibungen wurden bei der Auswertung nicht berücksichtigt. [8]
Der Ablauf der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse umfasst im Kern die folgenden Schritte, die z.T. auch mehrfach zu durchlaufen sind:
Sich-Vertraut-Machen mit dem Material
Ableitung von Oberkategorien aus der Fragestellung / dem Interviewleitfaden
Bestimmen von Fundstellen / Kodiereinheiten
Entwicklung von Unterkategorien und Kategoriendefinitionen
Erprobung des Kategoriensystems
Modifikation des Kategoriensystems
Kodieren des gesamten Materials mit dem überarbeiteten Kategoriensystem
Ergebnisdarstellung, Interpretation, Beantwortung der Forschungsfrage [9]
Darüber hinaus gibt es Unterschiede zwischen VertreterInnen der qualitativen Inhaltsanalyse, was die Einzelheiten des Vorgehens betrifft, und zwar insbesondere hinsichtlich der Fundierung des Kategoriensystems. So betont beispielsweise Philipp MAYRING die Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung der Strukturierungsdimensionen (2010, S.92f.). Sandra STEIGLEDER kritisiert MAYRINGs Konzeption einer inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse u.a. dahin gehend, dass die Anhaltspunkte für eine Überarbeitung deduktiv erstellter Kategorien nicht hinreichend spezifiziert seien (2008, Kap. II.4). Sie entwickelt eine modifizierte Variante des Verfahrens, die explizit eine kombiniert deduktiv-induktive Fundierung von Ober- und Unterkategorien vorsieht. Weiterhin unterscheidet sich ihre Variante des Verfahrens von Philipp MAYRINGs Konzeption darin, dass eine kontinuierliche Anpassung der Kategorien am Material erfolgt (STEIGLEDER 2008, S.188f.). Die Notwendigkeit einer Probekodierung und anschließenden Überarbeitung des Kategoriensystems entfällt damit. [10]
Hsiu-Fang HSIEH und Sarah SHANNON (2005) beschreiben Verfahren qualitativer Inhaltsanalyse, die hinsichtlich Zielsetzung und Ablauf der qualitativ-strukturierenden Inhaltsanalyse entsprechen, unterscheiden aber noch einmal zwischen verschiedenen Varianten der Methode, je nachdem, auf welcher Grundlage die Kategorien entwickelt werden: Bei einer induktiven Kategorienentwicklung sprechen sie von der konventionellen (conventional qualitative content analysis), bei einer deduktiven Kategorienentwicklung dagegen von der gerichteten qualitativen Inhaltsanalyse (directed qualitative content analysis). [11]
Udo KUCKARTZ (2012), Margrit SCHREIER (2012) und Ruth RUSTEMEYER (1992) lassen dagegen offen, in welchem Ausmaß Kategorien theoriegeleitet oder induktiv am Material entwickelt werden, solange zumindest ein Teil der Kategorien aus dem Material stammt und somit die Passung des Kategoriensystems an das Material sichergestellt ist (s. auch BOYATZIS 1998). Dabei sind unterschiedliche Kombinationen eines gemischt deduktiv-induktiven Vorgehens möglich: Häufig werden die Oberkategorien theoriegeleitet, die Unterkategorien dagegen am Material entwickelt. Denkbar ist aber auch, dass sich bereits vor der Durchsicht des Materials aufgrund von Vorwissen bestimmte Unterkategorien anbieten (vgl. auch das Konzept der start list von Codes bei MILES & HUBERMAN 1994, S.58). Diese sollten entsprechend, auch im Sinne eines Explizit-Machens von Vorannahmen seitens der Forschenden, in das Kategoriensystem eingehen. Denkbar ist aber ebenso, Oberkategorien induktiv zu ergänzen. Das kann beispielsweise erforderlich sein, wenn sich bei der Durchsicht des Materials zeigt, dass dort Aspekte des Themas angesprochen werden, die die Forschenden im Vorfeld gar nicht bedacht hatten. Auch die Entwicklung eines gesamten Kategoriensystems aus dem Material heraus ist möglich, wenn auch nicht üblich (SCHREIER 2012, S.85). [12]
Wenn es speziell um die Entwicklung von Kategorien aus dem Material heraus geht, beschreiben verschiedene AutorInnen ebenfalls z.T. unterschiedliche Strategien. Philipp MAYRING schlägt hier eine Strategie der Zusammenfassung vor (2010, Kap. 5.5.2; s. unten zur zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse). An anderer Stelle erwähnt er die Strategie der Subsumtion: Dies beinhaltet, dass das Material kleinschrittig im Hinblick auf neue Aspekte (im Hinblick auf das jeweils interessierende Thema (im Beispiel etwa Merkmale von peak experiences) durchgesehen wird. Für jeden neuen Gesichtspunkt ist eine neue (Unter-) Kategorie anzulegen, während Aspekte, die im Kategoriensystem bereits durch eine (Unter-) Kategorie abgedeckt sind, mental unter diese bereits bestehenden Kategorien subsumiert werden (für eine ausführliche Beschreibung s. SCHREIER 2012, S.115ff.). Eine solche Subsumtionsstrategie der induktiven Kategorienentwicklung stellt quasi das Standardverfahren inhaltlich-strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse dar, soweit keine andere Strategie explizit benannt wird (z.B. HSIEH & SHANNON 2005; KUCKARTZ 2012). Auch die ersten Schritte des offenen Kodierens in der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) lassen sich für eine induktive Kategorienbildung im Rahmen der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nutzbar machen (KUCKARTZ 2012; MAYRING 2010; ausführlich SCHREIER 2012, S.111ff.). Eine weitere Strategie, bei der das Kategoriensystem vor allem der Kontrastierung zweier Vergleichsgruppen dient, beschreibt BOYATZIS (1998) im Rahmen seiner thematischen Analyse, deren Ablauf ebenfalls im Wesentlichen der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse entspricht. [13]
Udo KUCKARTZ (2012, S.43f.) weist darauf hin, dass das Grundmodell der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse sich für die Entwicklung unterschiedlicher Arten von Kategorien eignet. Diese können inhaltlich-thematischer Art sein, wobei auch hier wieder unterschiedliche Varianten denkbar sind. Das Spektrum reicht von Kategorien, die sich – ähnlich dem Generieren von In-Vivo-Codes im Rahmen der GTM (STRAUSS & CORBIN 1998) – eng an das Datenmaterial und die Begrifflichkeiten im Material anlehnen (sog. "natürliche Kategorien" bei KUCKARTZ) bis hin zu stark konzeptualisierend-abstrahierenden Kategorien ("analytische Kategorien" nach KUCKARTZ). Aber die Methode lässt sich auch für die Generierung anderer als thematischer Kategorien nutzbar machen, wie beispielsweise evaluativer oder formaler Kategorien. Darauf wird im Folgenden im Zusammenhang mit der sog. evaluativen und der formalen Inhaltsanalyse noch einmal zurückzukommen sein. [14]
Weitere Unterschiede im Ablauf der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse betreffen Details der Implementierung oder zusätzliche Schritte. KUCKARTZ (2012) sieht beispielsweise je unterschiedliche Phasen für die Entwicklung und Anwendung der Haupt- und der Unterkategorien vor. Auch schlägt er die Anfertigung von Fallzusammenfassungen vor, die es ermöglichen, die variablenorientierte inhaltsanalytische Kodierung mit dem Gesamt des jeweiligen Falles in Beziehung zu setzen. SCHREIER (2012) weist darauf hin, dass es erforderlich sein kann, die Ergebnisse der Kodierung zunächst aufzubereiten und ggf. zu transformieren, bevor eine weitere Auswertung und Interpretation anschließen kann. Eine solche Transformation ist beispielsweise erforderlich, wenn in einem Interview jedes Vorkommen einer Kategorie kodiert wurde, für die weitere Analyse aber nicht die Besetzungshäufigkeit der Kategorie von Interesse ist, sondern nur, ob die Kategorie bei dieser Person überhaupt kodiert wurde. Bei diesen Vorschlägen handelt es sich jedoch um Details, die den Kern des Ablaufs der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse nicht berühren. [15]
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse als die zentrale Variante qualitativer Inhaltsanalyse gelten kann. Ihr entsprechen sowohl die explizit als solche bezeichneten Varianten bei Philipp MAYRING, Udo KUCKARTZ und Sandra STEIGLEDER als auch die konventionelle und die gerichtete qualitative Inhaltsanalyse (HSIEH & SHANNON, 2005) sowie die thematische Analyse (BOYATZIS 1998) oder die komplexe Inhaltsanalyse (RUSTEMEYER 1992) und schließlich auch die qualitative Inhaltsanalyse bei Margrit SCHREIER (2012). Beschreibungen des Verfahrens weisen einen gemeinsamen Kern auf, wie er oben zusammenfassend dargestellt ist. Darüber hinaus finden sich Unterschiede im Hinblick auf die Fundierung der Kategorien (deduktiv oder induktiv), die einmalige Überarbeitung des Kategoriensystems im Rahmen einer Probekodierung im Vergleich zu einer kontinuierlichen Überarbeitung und Anpassung, die Vorgehensweise bei der Entwicklung von Kategorien aus dem Material heraus (Zusammenfassung, Subsumtion, Adaptation des offenen Kodierens, Kontrastierung), die Art der Kategorien (thematisch, evaluativ, formal usw.) sowie eventuelle zusätzliche Schritte wie beispielsweise die Arbeit mit Fallzusammenfassungen, die Art der Überarbeitung des Kategoriensystems oder eine Aufbereitung der Kodierungen. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um Unterschiede hinsichtlich der Umsetzungsstrategien, nicht um grundsätzliche Differenzen. Diese verschiedenen Strategien und Vorgehensweisen werden daher hier nicht – wie dies beispielsweise HSIEH und SHANNON (2005) bei ihrer Unterscheidung zwischen einer konventionellen und einer gerichteten qualitativen Inhaltsanalyse tun – als je eigenständige Varianten qualitativer Inhaltsanalyse aufgefasst. Dies scheint auch sinnvoll, um einer Begriffsinflation entgegenzuwirken: Unterschiede in der Implementierung beinhalten nicht notwendig die Entwicklung eines je eigenständigen Verfahrens. [16]
2.2 Evaluative qualitative Inhaltsanalyse
Auch die evaluative Inhaltsanalyse ist eine verbreitete Variante qualitativ-inhaltsanalytischen Arbeitens (z.B. KUCKARTZ 2012, Kap. 4.4); bei Philipp MAYRING findet sich das Verfahren unter der Bezeichnung "skalierende Inhaltsanalyse" (2010, Kap. 5.5.4.4). Während es bei der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse um die thematische Strukturierung und Beschreibung des Materials geht, werden bei der evaluativen Inhaltsanalyse Kategorien generiert, die eine Einschätzung oder Bewertung des Materials auf ausgewählten Dimensionen seitens der Forschenden erlauben. Philipp MAYRING beschreibt diese Einschätzungsdimensionen als Variablen, deren Ausprägungen eine mindestens ordinale Skalierung aufweisen. Für die Dimension "Zustimmung" könnten solche ordinal skalierten Ausprägungen beispielsweise lauten: "hohe Zustimmung", "mittlere Zustimmung", "geringe Zustimmung", "keine Zustimmung". Udo KUCKARTZ (2012, S.98) argumentiert allerdings, dass die Ausprägungen nicht notwendig Ordinalskalenniveau aufweisen müssen. Auch Kategorien mit Intervall- oder Nominalskalenniveau sind denkbar. Während das Intervallskalenniveau inhaltsanalytisch generierter Kategorien nur schwer nachweisbar sein dürfte, sind Kategorien auf Nominalskalenniveau durchaus geläufig, wie beispielsweise Ausprägungen der Dimension "Einstellung": "positiv", "negativ", "ambivalent" und "neutral". In jedem Fall stehen am Ende des Prozesses der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse Einschätzungen des Materials, die eine Skalierung aufweisen. [17]
Mit der Generierung skalierter Einschätzungen ist die evaluative Inhaltsanalyse der quantitativen Inhaltsanalyse ähnlich (s. auch KUCKARTZ 2012, S.99). In der Tat ist fraglich, ob es noch gerechtfertigt wäre, von einer genuin qualitativen Inhaltsanalyse zu sprechen, wenn ein Kategoriensystem ausschließlich aus evaluativen Kategorien bestünde: Dies würde eine erhebliche Reduktion mit sich bringen, die es nicht erlaubt, die Reichhaltigkeit qualitativen Materials angemessen zu beschreiben. Es handelt sich bei der evaluativen Inhaltsanalyse jedoch weniger um ein eigenständiges Verfahren als vielmehr um die Erstellung und Anwendung einer bestimmten Art von Kategorien, die – mit einigen wenigen Ausnahmen (s. unten) – der Logik der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse folgt (vgl. das Konzept der "evaluativen Kategorien" bei KUCKARTZ 2012, S.44). Entsprechend führt Philipp MAYRING die skalierende (evaluative) qualitative Inhaltsanalyse als eine Variante strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse ein, als deren Prototyp die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse gelten kann. Ein vollständiges inhaltsanalytisches Kategoriensystem wird in der Regel nicht nur evaluative, sondern auch inhaltlich-strukturierte Kategorien enthalten. [18]
In der Tat kann die evaluative Inhaltsanalyse insofern auf der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse aufbauen, als Letztere die Identifikation von Themen bzw. Dimensionen erlaubt, die sich ggf. für eine anschließende evaluative Auswertung eignen. Udo KUCKARTZ nennt als Beispiel aus seiner eigenen Forschungsarbeit eine Interviewstudie zum Thema Umweltbewusstsein. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten erwies sich zunächst eigenes Verantwortungsbewusstsein als relevante Kategorie, die dann im nächsten Schritt als Dimension für eine evaluative Analyse mit den Ausprägungen "hohes", "mittleres", "niedriges", "kein Verantwortungsbewusstsein" und "Verantwortungsbewusstsein nicht erschließbar" genutzt wurde (2012, Kap. 4.4.3). [19]
Sowohl Philipp MAYRING als auch Udo KUCKARTZ weisen darauf hin, dass die Vorgehensweise bei der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse weitgehend dem Ablauf der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse entspricht. Oberkategorien bzw. Einschätzungsdimensionen ergeben sich entweder aus der Fragestellung oder induktiv aus der Bearbeitung des Materials. Ausprägungen resultieren dagegen in der Regel sachlogisch aus der Dimension selbst: Eine Einstellung beispielsweise kann positiv oder negativ und ggf. ambivalent oder neutral sein; in jede der beiden Richtungen kann die Ausprägung hoch, mittel oder niedrig sein. Philipp MAYRING erwähnt weiterhin die Möglichkeit, hier auf (quantitativ-methodische) Literatur zur Skalierung zurückzugreifen. Die Entwicklung von Unterkategorien bzw. Ausprägungen anhand des Materials spielt bei der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse dagegen praktisch keine Rolle. Lediglich für die Anzahl der Skalenabstufungen bzw. Ausprägungen kann ein Rückgriff auf das Material sinnvoll sein: Je feiner die Abstufungen und Differenzierungen hinsichtlich der interessierenden Dimension im Material, desto höher sollte auch die Anzahl der Unterkategorien ausfallen, um diese Abstufungen angemessen abzubilden. Zugleich ist die Anzahl der Unterkategorien bzw. Ausprägungen in aller Regel auf eine relativ geringe Anzahl zwischen drei und sieben beschränkt. [20]
Auch bei der Definition der Ausprägungen der Einschätzungsdimensionen ergeben sich Besonderheiten. So sind die Grenzen zwischen den Ausprägungen in aller Regel fließend, sie sind eben "Einschätzungssache". Zwischen der "hohen Zustimmung" und der "mittleren Zustimmung" liegt ein Grenzbereich, der sich so oder so klassifizieren lässt. Um hier zu einer auch intersubjektiv gültigen Einschätzung zu gelangen, ist es nach eigener Erfahrung besonders wichtig, bei der Formulierung der Kategoriendefinitionen auf genaue Indikatoren und auf die Formulierung von Ausschlussregeln zu achten. Udo KUCKARTZ und Philipp MAYRING betonen außerdem, dass bei der evaluativen im Vergleich zur inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse die Formulierung von Restkategorien an Bedeutung gewinnt: Bei der inhaltlich-strukturierenden Variante lässt sich im Zweifelsfall für jedes neue Thema eine eigene Unterkategorie definieren. Bei der Einschätzung der Ausprägung ausgewählter Dimensionen wird es dagegen immer wieder vorkommen, dass die Ausprägung im Einzelfall nicht klar bestimmbar ist, sei es, weil sich kaum Aussagen direkt zum Thema finden, sei es, weil die Aussagen untereinander inkonsistent sind. Zur Klassifikation dieser Fälle bieten sich entsprechend Restkategorien der Art "nicht eindeutig bestimmbar", "unklar", "ambivalent" o.ä. an. [21]
Ein Unterschied zur inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse besteht häufig auch im Hinblick auf die Kodiereinheit. Die Größe der Kodiereinheit ergibt sich stets relativ zu einer Oberkategorie als derjenige Teil des Materials, der sich den Unterkategorien dieser Oberkategorie zuordnen lässt, der also im Hinblick auf die Unterkategorien bedeutungstragend ist. Bei der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse sind dies meist kürzere Materialteile, in denen ein bestimmtes Thema zur Sprache kommt, beispielweise beim Interview die Antwort auf eine Frage. Die Kodiereinheiten sind bei der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse also sozusagen in den Fall geschachtelt, und pro Fall wird meist eine Vielzahl von Inhalten bzw. Themen kodiert. Bei der evaluativen Inhaltsanalyse geht es dagegen in der Regel darum, die Ausprägung des gesamten Falls auf der jeweiligen Dimension zu bestimmen: Wie hoch ist beispielsweise in der Untersuchung von Udo KUCKARTZ zum Umweltbewusstsein das Verantwortungsbewusstsein der einzelnen Personen? Die Kodiereinheit ist hier also häufiger mit dem gesamten Fall identisch, und für die Kodierung sind sämtliche Äußerungen einzubeziehen, die für die interessierende Dimension von Bedeutung sind (2012, Kap. 4.4). Dabei kann es durchaus auch vorkommen, dass einzelne Äußerungen in verschiedenen Teilbereichen des Materials nicht vollständig miteinander konsistent sind. In einer Interviewstudie haben wir den Teilnehmenden beispielsweise ein Szenario vorgegeben, in dem der Fall einer Komapatientin beschrieben war (WINKELHAGE et al. 2008): Nachdem sie 15 Jahre im Wachkoma gelegen hatte, beantragte ihr Mann – erfolgreich – das Abschalten der lebenserhaltenden Maßnahmen. Die Teilnehmenden wurden gebeten, zu dem Szenario Stellung zu nehmen, und im Rahmen der inhaltsanalytischen Auswertung wurde mittels einer evaluativen Kategorie u.a. auch ihre Zustimmung oder Ablehnung zum Abschalten der Maschinen erfasst. Die wenigsten TeilnehmerInnen äußerten sich zu dieser Thematik durchgängig zustimmend oder ablehnend. Typischer war eine Form des lauten Denkens, bei dem verschiedene Argumente gegeneinander abgewogen wurden und eine Position sich erst allmählich herausschälte. Hier zeigt sich erneut die Bedeutung von Indikatoren und Abgrenzungen bei der Definition der Unterkategorien: Ist die Unterkategorie "Zustimmung" beispielsweise nur dann zu kodieren, wenn alle relevanten Äußerungen einer Person zustimmenden Charakter haben – oder auch dann, wenn die Mehrzahl der Äußerungen zustimmend ist, sich aber auch einige ablehnende Äußerungen finden? Dies ist in den Definitionen der Unterkategorien genau festzulegen (WINKELHAGE et al. 2008). [22]
Zusammenfassend lässt sich die evaluative qualitative Inhaltsanalyse somit als Variante einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse beschreiben, bei der für ausgewählte Dimensionen eine Einschätzung im Hinblick auf eine überschaubare Anzahl von Ausprägungen vorgenommen wird. Dabei entspricht die evaluative qualitative Inhaltsanalyse nach KUCKARTZ im Wesentlichen der skalierenden strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING. Durch die erzielte Skalierung und Materialreduktion ähnelt das Verfahren einerseits der quantitativen Inhaltsanalyse. Andererseits stellt gerade der Vorgang der Einschätzung eine in hohem Maße interpretative Handlung dar, woraus sich die besondere Bedeutung klarer Kategoriendefinitionen einschließlich einer wechselseitigen Abgrenzung der Unterkategorien ergibt. Die evaluative unterscheidet sich von der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse vor allem hinsichtlich der Kategorienentwicklung und der Größe der Kodiereinheit. Bei der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse werden Oberkategorien häufiger auf der Grundlage von Vorwissen, Unterkategorien induktiv aus dem Material generiert (wobei auch andere Kombinationen oder eine ausschließliche Entwicklung aller Kategorien am Material möglich sind). Bei der evaluativen Inhaltsanalyse ergeben sich dagegen die Oberkategorien aus dem Material (oder auch auf der Grundlage von Vorwissen), während für die Generierung der Unterkategorien auf Vorwissen zurückgegriffen wird. Was die Kodiereinheiten betrifft, so sind diese bei der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse eher klein und in den Fall geschachtelt, bei der evaluativen Inhaltsanalyse dagegen meist mit dem Fall identisch. Die beiden Verfahren sind gut miteinander vereinbar, und qualitativ-inhaltsanalytische Kategoriensysteme bestehen in der Regel nicht ausschließlich aus evaluativen, sondern aus einer Kombination von evaluativen und inhaltlich-strukturierten (d.h. thematischen) Kategorien. [23]
2.3 Formale qualitative Inhaltsanalyse
Auch bei der formalen qualitativen Inhaltsanalyse handelt es sich um eine Variante des strukturierenden Vorgehens, die sich in ihrem Ablauf am Prototyp der inhaltlich-strukturierenden Analyse orientiert (MAYRING 2010, Kap. 5.5.4.1). Während bei der inhaltlich-strukturierenden Analyse Inhalte erfasst und bei der evaluativen Analyse Einschätzungen vorgenommen werden, bezieht sich die formale qualitative Inhaltsanalyse – wie der Name schon sagt – auf die Erfassung und Beschreibung des Materials unter formalen und strukturellen Gesichtspunkten (vgl. das Konzept der "formalen Kategorien" bei KUCKARTZ 2012, S.44). Ziel ist es, das Material im Hinblick auf seine Struktur differenziert zu beschreiben. Hier wird deutlich, dass sich die qualitative Inhaltsanalyse trotz ihres Namens, der eine Beschränkung auf die Beschreibung von Inhalten nahelegt, durchaus auch für die Beschreibung von Formmerkmalen eignet (s. auch SCHREIER 2012, Kap. 1). [24]
Die Ursprünge der formalen Inhaltsanalyse sind bereits in der frühen quantitativen Inhaltsanalyse angelegt. Im Rahmen der Zeitungsanalyse, die der Entwicklung der Inhaltsanalyse im eigentlichen Sinne vorausging, wurden beispielsweise Merkmale wie die Größe von Überschriften und die Unterteilung der Seiten erfasst (KRIPPENDORFF 2013, Kap. 1). Innerhalb der eigentlichen quantitativen Inhaltsanalyse stellen stilstatistische Analysen (etwa zur Bestimmung der AutorInnenschaft von Texten; s. z.B. YULE 1944) oder die Entwicklung von Lesbarkeitsformeln (z.B. FLESCH 1948) Beispiele für die Analyse von Material im Hinblick auf seine Form und Struktur dar. Für die Anwendung einer formalen qualitativen Inhaltsanalyse schlägt Philipp MAYRING u.a. die Beschreibung von Material im Hinblick auf seine syntaktische, semantische, thematische oder dialogische Struktur vor (2010, Kap. 5.5.4.1). [25]
Ein umfassendes Kategoriensystem, das in wesentlichen Teilen aus formalen Kategorien besteht, hat Margrit SCHREIER (1997, Kap. 7.2.2) zur Beschreibung von sprachlichen Intentionalitätsindikatoren beim unintegren Argumentieren vorgelegt. Darunter sind Anhaltspunkte dafür zu verstehen, dass jemand nicht nur unfair argumentiert, sondern sich auch darüber im Klaren ist, dass die eigene Argumentation nicht in Ordnung und daher auch unter moralischen Gesichtspunkten angreifbar ist. Zu den formalen Kategorien innerhalb dieses Kategoriensystems zählen beispielsweise sprachlich-linguistische Indikatoren etwa von Unsicherheit mit Unterkategorien wie "Auftreten von Hesitationsphänomenen", "Pausen", "Selbstkorrekturen", "mehrfaches Ansetzen zum relevanten Turn" oder Implikatursignale2) mit Unterkategorien wie "konventionelle Implikatur", "Verletzung der Qualitätsmaxime", "Verletzung der Quantitätsmaxime" usw. Auch argumentative Indikatoren ließen sich identifizieren, etwa Indikatoren dafür, dass relevante Argumente fehlen, mit Unterkategorien wie "Vorbringen nur einiger weniger Argumente", "Wechsel auf die Metaebene" oder "wiederholtes Ausweichen". [26]
Diese formalen Kategorien wurden mehrheitlich induktiv am Material erstellt, allerdings unter Rückgriff auf gängige Kategorien pragmalinguistischer Gesprächsanalysen wie beispielsweise die schon genannten Konversationsmaximen von GRICE (1975). Eine solche induktive Entwicklung einer größeren Anzahl von Kategorien ist bei der formalen qualitativen Inhaltsanalyse jedoch eher unüblich. Typischer ist die Beschränkung auf eine kleinere Anzahl an Kategorien, wobei sowohl Ober- als auch Unterkategorien auf Vorwissen basieren. Ein Beispiel wäre etwa die Nutzung des Argumentationsschemas von Stephen TOULMIN als formal-inhaltsanalytisches Kategoriensystem (1958, S.94ff.). TOULMIN unterscheidet die folgenden Arten argumentativer Äußerungen: Daten, Qualifikatoren, Konklusionen, Rechtfertigungen, Stützungen und Ausnahmebedingungen (in der deutschen Übersetzung von BAYER 2007, S.140). Bei einer Nutzbarmachung des Schemas als inhaltsanalytisches Kategoriensystem wären diese verschiedenen Äußerungstypen als Unterkategorien einer Oberkategorie "Arten argumentativer Äußerungen" zu explizieren. [27]
Ein geringfügiger Unterschied ergibt sich beim Vergleich der bisher dargestellten Varianten qualitativer Inhaltsanalyse im Hinblick auf die Kodiereinheit. Bei der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse werden meist kleinere thematische Einheiten kodiert, von Philipp MAYRING auch als "Fundstellen" bezeichnet (2010, S.93). Bei der evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse ist die Kodiereinheit meist mit dem Fall identisch. Die formale qualitative Inhaltsanalyse erfordert wiederum kleinere Kodiereinheiten. Je nach Art des Formaspekts, der im Mittelpunkt der Analyse steht, lässt sich hier gut mit formalen Einheiten arbeiten (beispielsweise Überschriften, Paragrafen, Sätze, Worte, Turns). Die Analyse anderer Aspekte von Form und Struktur, wie beispielsweise die Argumentanalyse, erfordert dagegen wie auch die inhaltlich-strukturierende Analyse thematisch bestimmte Einheiten (zur Unterscheidung zwischen thematischen und formal bestimmten Einheiten vgl. SCHREIER 2012, S.134ff.). [28]
Die formale qualitative Inhaltsanalyse stellt sich somit als eine weitere Variante strukturierender qualitativer Inhaltsanalysen dar, die für die Beschreibung formaler und struktureller Merkmale des Materials geeignet ist. Der Ablauf orientiert sich wiederum an der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse, wobei Kategorien und Unterkategorien häufig auf Vorwissen basieren und Kodiereinheiten je nach Art des interessierenden Merkmals unter formalen oder thematischen Gesichtspunkten festgelegt werden können. [29]
2.4 Die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse
Die Zusammenfassung wird von Philipp MAYRING (2010, Kap. 5.5.2) neben Strukturierung und Explikation als eine von drei Grundformen qualitativen Interpretierens eingeführt und als zusammenfassende Inhaltsanalyse expliziert. Das Verfahren vollzieht sich in vier Schritten, in denen das Material zunächst paraphrasiert und dann sukzessive und regelgeleitet auf das Wesentliche reduziert und über mehrere Aussagen hinweg zusammengefasst wird. Trotz der Ähnlichkeit der Benennungen ist die Zusammenfassung übrigens nicht identisch mit der summative content analysis nach Hsiu-Fang HSIEH und Sarah SHANNON (2005), s. Abschnitt 2.7. [30]
Allerdings herrscht in der Literatur Unklarheit darüber, inwieweit es sich bei der Zusammenfassung um ein eigenständiges inhaltsanalytisches Verfahren handelt oder um eine Strategie der Kategorienbildung am Material, die sich im Rahmen der inhaltlich-strukturierenden Analyse nutzbar machen lässt. Philipp MAYRING führt die zusammenfassende Inhaltsanalyse wie gesagt zunächst als eigenständiges Verfahren ein, beschreibt sie aber im Folgenden auch als einen Schritt im Rahmen der inhaltlich-strukturierenden Analyse (2010, S.92f.). Udo KUCKARTZ (2012, S.59) und Margrit SCHREIER (2012, Kap. 6) verstehen die Zusammenfassung dagegen ausschließlich als Verfahren der Kategorienbildung am Material im Rahmen einer inhaltlich-strukturierenden Analyse. Ein Beispiel für die Anwendung des Verfahrens bei der Kategorienbildung findet sich bei Marie-Louise HERMANN (2010) in ihrer Studie über konstruktives Altern und die Entwicklung von Projekten zur Verbesserung der seelischen Gesundheit im Alter. Die Analyse ihrer Gruppendiskussionen mittels Zusammenfassung ergab insgesamt 4.000 Paraphrasen, die sie in rekursiven Anwendungen der Regeln der Zusammenfassung immer weiter zu einem Kategoriensystem verdichtete. [31]
Da die Zusammenfassung sich bei genauerer Betrachtung in ein allgemeines Ablaufschema qualitativer Inhaltsanalyse integrieren lässt und nur im Hinblick auf die Kategorienentwicklung eigenständige Züge aufweist, wird sie hier nicht als Variante qualitativer Inhaltsanalyse konzipiert, sondern als eine unter mehreren Strategien der Erstellung von Kategorien am Material (wie etwa die Subsumtion oder die Nutzung des offenen Kodierens aus der GTM: siehe SCHREIER 2012, Kap. 6). Da eine Paraphrasierung und sukzessive Verdichtung von Material in erster Linie im Hinblick auf Inhalte sinnvoll ist, eignet sich die Strategie der Zusammenfassung vor allem für die Generierung inhaltlich-thematischer Kategorien im Rahmen eines qualitativ-strukturierten inhaltsanalytischen Vorgehens. [32]
2.5 Die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse
Die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse wird von Philipp MAYRING (2010, S.90f.; unter der Bezeichnung der "typisierenden Strukturierung") sowie von Udo KUCKARTZ (2012, Kap. 4.5) dargestellt. Ziel ist es, die untersuchten Fälle auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinsichtlich ausgewählter Merkmale in prägnante Gruppen zu unterteilen und diese Gruppen im Hinblick auf ihre Ausprägungen auf den relevanten Merkmalen genauer zu beschreiben. [33]
Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei der typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse nicht um ein Verfahren, sondern um eine Kombination zweier Methoden: der qualitativen Inhaltsanalyse und der Typenbildung. Die Typenbildung operiert immer auf der Grundlage eines Merkmalsraums. Das heißt, die untersuchten Fälle werden hinsichtlich ihrer Ausprägungen auf mindestens zwei (meist jedoch deutlich mehr) Merkmalen beschrieben. Besonders prägnante Kombinationen von Merkmalsausprägungen, die untereinander ähnlich, von anderen Kombinationen von Merkmalsausprägungen jedoch deutlich abgrenzbar und unterscheidbar sind, werden zu Typen zusammengefasst. Diesen Typen lassen sich anschließend die Einzelfälle zuordnen und im Hinblick auf die Typen genauer charakterisieren. Alle Typen zusammen bilden eine Typologie (für eine differenziertere Beschreibung des Verfahrens s. z.B. KELLE & KLUGE 2010; KLUGE 1999). Die Schnittstelle zwischen qualitativer Inhaltsanalyse und der Typenbildung ergibt sich über das Konzept des Merkmalsraums: Die qualitative Inhaltsanalyse kann hier die systematische Beschreibung von Merkmalen und Merkmalsausprägungen leisten. Im Rahmen des inhaltsanalytischen Vorgehens sind die Merkmale als Ober-, die Ausprägungen als Unterkategorien gefasst. Für die Beschreibung von Merkmalen, die anschließend die Grundlage für eine Typenbildung darstellen, eignen sich alle bisher beschriebenen Formen qualitativer Inhaltsanalyse gleichermaßen. Dabei ist es irrelevant, welche Strategie für die Entwicklung der Kategorien genutzt wurde (Subsumtion, Zusammenfassung, deduktive oder induktive Fundierung usw.). [34]
Je nach Anlage und Gegenstand der Untersuchung kann der Schwerpunkt bei der Kombination der beiden Verfahren eher auf der Typenbildung oder eher auf der Inhaltsanalyse liegen. Wenn der Schwerpunkt auf der Typenbildung liegt, werden zunächst die Dimensionen bzw. Merkmale bestimmt, die bei der Typenbildung zugrunde gelegt werden sollen; und es wird festgelegt, auf welche Arten von Typen die Untersuchung abzielt. Die Merkmale, die im ersten Schritt als grundlegend identifiziert wurden, werden nun zu einem inhaltsanalytischen Kategoriensystem ausdifferenziert, und das Material wird kodiert. Die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Kodierung bilden anschließend die Grundlage für die Typenbildung (vgl. ausführlich KUCKARTZ 2012, Kap. 4.5). Wenn der Schwerpunkt dagegen auf der Inhaltsanalyse liegt, wird zunächst eine qualitative Inhaltsanalyse nach einem der hier beschriebenen Verfahren durchgeführt. Wenn sich bei der weiteren Analyse der Ergebnisse, vor allem bei der Suche nach Zusammenhängen zwischen den Kodierungen, Hinweise auf Muster ergeben, stellt die Typenbildung eine Möglichkeit dar, die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung weiter aufzubereiten und zu verdichten. Die Typenbildung ist dabei allerdings nur eine unter mehreren Möglichkeiten. Andere Möglichkeiten der Darstellung und Aufbereitung der Ergebnisse qualitativer Inhaltsanalysen beinhalten z.B. die differenzierte Darstellung und Verdeutlichung des Kategoriensystems, die fallweise Aufbereitung, die Suche nach Mustern und Zusammenhängen ohne anschließende Typenbildung, die Anfertigung von Texttabellen bzw. Matrizen oder auch die Bestimmung von Kodierhäufigkeiten mit eventueller anschließender statistischer Auswertung (ausführlich KUCKARTZ 2012, Kap. 4.5.7; SCHREIER 2012, Kap. 11). [35]
Die typenbildende Inhaltsanalyse stellt somit kein spezielles inhaltsanalytisches Verfahren dar, sondern bezieht sich auf die Anwendung qualitativer Inhaltsanalyse im Rahmen einer Typenbildung oder auf die Aufbereitung der Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse mittels Typenbildung. Das Verfahren der Inhaltsanalyse wird durch die anschließende Typenbildung in seinem Ablauf nicht verändert, und die qualitative Inhaltsanalyse lässt sich ebenso mit anderen Verfahren der Aufbereitung und Auswertung kombinieren. Dass die Kombination von Inhaltsanalyse und Typenbildung sich dennoch in der Literatur als eigenständige Bezeichnung durchgesetzt hat, hat mehrere Gründe. Dies ist einmal die Bedeutung der Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung: Durch die Kombination mit der Typenbildung wird die qualitative Inhaltsanalyse stärker in der qualitativen Sozialforschung verankert. Darüber hinaus ergänzen das variablenorientierte Vorgehen der qualitativen Inhaltsanalyse und die Fallorientierung der Typenbildung einander optimal: Die qualitative Inhaltsanalyse basiert zwar auf einem Interpretationsvorgang, realisiert im Kern jedoch eine merkmals- und damit variablenorientierte Vorgehensweise, die zudem eine gewisse Dekontextualisierung des Materials beinhaltet. Durch die Kombination mit der Typenbildung wird eine Rekontextualisierung der Ergebnisse möglich: Die Kombination prägnanter Merkmalsausprägungen zu Typen zeigt, wie die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung untereinander zusammenhängen. Die Beschreibung der Fälle im Hinblick auf diese Typen schafft zudem einen ganzheitlichen Kontext, in den sich die Ergebnisse einordnen lassen. [36]
2.6 Die explikative qualitative Inhaltsanalyse
Neben der Zusammenfassung und der Strukturierung identifiziert Philipp MAYRING die Explikation als dritte Grundform des Interpretierens und arbeitet sie zu einer weiteren Form qualitativer Inhaltsanalyse aus, der explikativen Inhaltsanalyse bzw. Kontextanalyse (2010, Kap. 5.5.3). Ziel der explikativen Analyse ist die Klärung der Bedeutung interpretationsbedürftiger Teile des Materials, indem gezielt Kontextinformationen genutzt werden. Je nach Reichweite des Kontextes unterscheidet Philipp MAYRING weiter zwischen einer engen und einer weiten Variante der Kontextanalyse. Während bei der engen Kontextanalyse Informationen aus demselben Material herangezogen werden, aus dem auch die interpretationsbedürftige Textstelle stammt, kommt bei der weiten Kontextanalyse Material aus zusätzlichen Quellen zum Tragen. [37]
Die beiden Varianten der Kontextanalyse folgen demselben Ablauf: Zunächst wird die fragliche Textstelle identifiziert und definiert (a.a.O.). Im nächsten Schritt wird spezifiziert, welches Material zur Klärung der Bedeutung der Textstelle herangezogen werden soll, und das Material wird erhoben. Auf dieser Grundlage wird anhand des zusätzlichen Materials eine Paraphrase der fraglichen Textstelle erstellt und es wird geprüft, ob diese Paraphrase für eine Klärung der Bedeutung hinreicht. Wenn dies nicht der Fall ist, muss ggf. weiteres Material spezifiziert und müssen die entsprechenden Analyseschritte nochmals durchlaufen werden. Während die Varianten der qualitativen Inhaltsanalyse, die in den vorausgehenden Abschnitten beschrieben sind, das Ausgangsmaterial reduzieren, wird das Ausgangsmaterial mit der explikativen qualitativen Inhaltsanalyse also erweitert. [38]
Mit seiner Explikation der Kontextanalyse spezifiziert und systematisiert Philipp MAYRING einen Schritt aus dem Gesamtablauf der strukturierenden Inhaltsanalyse, der im Übrigen auch bereits in der quantitativen Inhaltsanalyse angelegt ist: die Bestimmung der Kontexteinheit (SCHREIER 2012, S.133f.). Ziel der Inhaltsanalyse ist die Beschreibung von Bedeutung, und Bedeutung ist wesentlich kontextabhängig. Vor diesem Hintergrund werden in der Inhaltsanalyse drei Arten von Einheiten unterschieden: Analyse-, Kodier- und Kontexteinheit (Kap. 7): Die Analyseeinheit entspricht dem Fall; in einer Interviewstudie sind beispielsweise meist die InterviewpartnerInnen die Fälle und somit die Analyseeinheiten. Kodiereinheiten sind diejenigen Teile des Materials, die sich jeweils den Unterkategorien einer Oberkategorie zuordnen lassen, die also in Bezug auf eine Oberkategorie "bedeutungstragend" sind. Unter Kontexteinheiten wird schließlich solches Material verstanden, das zum Verständnis der Kodiereinheiten herangezogen wird, wenn deren Bedeutung nicht aus sich selbst heraus ersichtlich ist. Wenn das Material solche Kodiereinheiten enthält, ist vor der Kodierung die Kontexteinheit festzulegen, d.h., es ist zu spezifizieren, welche zusätzlichen Informationen – aus dem zu analysierenden oder aus anderem Material – für das Verständnis der Kodiereinheiten herangezogen werden sollen. Wie diese Festlegung genau erfolgt, bleibt in der Regel jedoch unklar; hier bietet Philipp MAYRINGs Beschreibung der explikativen Inhaltsanalyse weitere Anhaltspunkte. [39]
Wie die zusammenfassende Inhaltsanalyse, die eine mögliche Strategie der Kategorienbildung am Material genauer darstellt, lässt sich auch die explikative Inhaltsanalyse so rekonstruieren, dass sie sich wesentlich auf einen Teilschritt innerhalb des Gesamtablaufs der strukturierenden Inhaltsanalyse bezieht, nämlich den Teilschritt der Festlegung der Kontexteinheit. Auch unterscheidet sich die explikative Inhaltsanalyse insofern von den anderen bisher dargestellten Formen qualitativer Inhaltsanalyse, als sie das Material nicht reduziert, sondern erweitert. Vor diesem Hintergrund erscheint es angemessener, die explikative Inhaltsanalyse nicht als eine eigenständige Variante qualitativer Inhaltsanalyse zu begreifen, sondern als einen möglichen Teilschritt innerhalb des Gesamtablaufs einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. [40]
2.7 Die summative qualitative Inhaltsanalyse
Die summative Inhaltsanalyse wurde von Hsiu-Fang HSIEH und Sarah SHANNON (2005) neben der konventionellen und der gerichteten Analyse als eine von drei Varianten qualitativer Inhaltsanalyse postuliert und beschrieben. Das Verfahren knüpft an die Auszählungen von Worthäufigkeiten im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse an: Sowohl die quantitative als auch die summative Inhaltsanalyse beginnen mit der Definition von Schlüsselwörtern und einer Auszählung ihrer Auftretenshäufigkeit in einem zuvor festgelegten Textkorpus. Während die quantitative Analyse bei der Auszählung stehen bleibt, zielt die summative qualitative Inhaltsanalyse darauf ab, unter Einbeziehung des Kontextes latente Bedeutungen und Verwendungsweisen dieser Begriffe zu identifizieren und zu beschreiben. Zu diesem Zweck werden beispielsweise Synonyme identifiziert; es wird zwischen verschiedenen SprecherInnen, verschiedenen Kontexten oder den Ausprägungen anderer Variablen unterschieden, die mit der Vorkommenshäufigkeit der interessierenden Schlüsselwörter in Zusammenhang stehen könnten, und es werden unter Einbeziehung dieser Variablen weitere Auszählungen und Vergleiche vorgenommen. [41]
Wie die explikative beinhaltet die summative qualitative Inhaltsanalyse also ebenfalls eine Erweiterung des Materials, und es findet eine Einbeziehung von Kontextinformationen statt. Allerdings erfolgt diese Einbeziehung des Kontextes bei der summativen Inhaltsanalyse ausschließlich unter Anwendung quantitativer Verfahren. Zwar ist der Prozess induktiv: Es werden am Material Vermutungen entwickelt und auch gleich überprüft und modifiziert. Aber es ist fraglich, inwieweit eine induktive Orientierung ausreicht, um die sukzessive Anwendung quantitativer Auswertungsschritte in ein genuin qualitatives Verfahren zu transformieren. Die summative Inhaltsanalyse stellt somit zwar eine interessante induktiv-explorative Variante der Anwendung quantitativ-inhaltsanalytischer Techniken dar, kann aber nicht als Form qualitativer Inhaltsanalyse gelten. [42]
2.8 Die qualitative Inhaltsanalyse mittels Extraktion
Eine weitere Form des Verfahrens wurde von Jochen GLÄSER und Grit LAUDEL entwickelt (2009, 2013), die sich zugleich explizit von anderen Versionen strukturell-qualitativer Inhaltsanalyse abheben und distanzieren. Aufgrund der zentralen Stellung der Technik der Extraktion innerhalb dieser Vorgehensweise wird das Verfahren hier als "qualitative Inhaltsanalyse mittels Extraktion" bezeichnet. [43]
Zu ihren Kritikpunkten an bisherigen Formulierungen qualitativer Inhaltsanalyse zählt beispielsweise die Differenzierung zwischen für die Fragestellung relevanten und irrelevanten Informationen, wobei sie dafür plädieren, sämtliche Information im Material in die Analyse einzubeziehen. Weiterhin verstehen sie qualitative Inhaltsanalyse, insbesondere in der Ausarbeitung durch Philipp MAYRING, als wesentlich theoriegeleitet und nicht hinreichend offen für eine Beibehaltung deduktiv erstellter Kategorien in Kombination mit Kategorien, die am Material erstellt wurden. Drittens sprechen sie sich aus Gründen mangelnder Effizienz gegen die Erarbeitung eines vollständigen Kategoriensystems aus, das zunächst an einem mehr oder weniger umfangreichen Teil des Materials erstellt, an einem weiteren Teil erprobt und erst nach einer zusätzlichen Modifikation auf das Gesamt des Materials angewandt wird. [44]
Die Inhaltsanalyse mittels Extraktion beginnt mit einem Satz an theoriegeleitet entwickelten und für eine Rekonstruktion von Kausalzusammenhängen besonders geeigneten Kategorien. Diese Kategorien leiten die folgende Auswertung und können zwar induktiv ergänzt, selbst aber nicht weiter verändert werden, um den Vergleich zwischen Theorie und Datenmaterial zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Rasters findet nun eine Extraktion von Informationen aus dem Material statt. Information wird zusammengefasst, verdichtet und innerhalb des theoretischen Rasters von Dimensionen und Variablen verortet bzw. zur Ergänzung des Rasters verwendet. Im Prozess der Extraktion entsteht eine zweite, verdichtete Textbasis, die mit dem Ausgangsmaterial lediglich durch den Verweis auf die Ursprungsstelle der Extraktion verbunden ist. Im nächsten Schritt wird eine Aufbereitung der Extraktion vorgenommen, beispielsweise durch Zusammenfassung vergleichbarer Information, Identifikation und Beseitigung von Fehlern und tabellarische Darstellungen von Dimensionen, Variablen und deren Ausprägungen. In diesem dritten Schritt wie auch bei der anschließenden Interpretation wird in der Regel nur noch mit den Extraktionen gearbeitet, nicht mehr mit dem Ausgangsmaterial. Jochen GLÄSER und Grit LAUDEL veranschaulichen ihr Vorgehen detailliert anhand zweier Beispieluntersuchungen zu den Themen SportlerInnenbiografien sowie Arbeiten in Sonderforschungsbereichen. [45]
Das Verfahren der Extraktion, das im Mittelpunkt dieser Variante qualitativer Inhaltsanalyse steht, erinnert in manchen Hinsichten an das Vorgehen bei der zusammenfassenden Inhaltsanalyse in der Beschreibung von Philipp MAYRING. Der Ablauf der qualitativen Inhaltsanalyse durch Extraktion unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten grundsätzlich vom Ablauf der anderen Varianten struktureller und zusammenfassender Inhaltsanalyse. Dies betrifft insbesondere die Fundierung der Analyse durch einen Satz an theoriegeleitet erstellten Kategorien mit dem Ziel der Rekonstruktion von Kausalzusammenhängen. Dies betrifft ebenfalls die sukzessive Erstellung von Kategorien durch Verdichtung des Textmaterials, ohne dass die Güte des Kategoriensystems in einem separaten Schritt der Probekodierung geprüft wird. Und dies betrifft schließlich auch den Fokus bei der Interpretation auf der verdichteten, extrahierten Textbasis, nicht dem Ausgangsmaterial. Zugleich leistet die qualitative Inhaltsanalyse durch Extraktion eine systematische Beschreibung und Erschließung von Bedeutung: Sie tut dies – durch die permanente Modifikation der Kategorien am Material – in einer Weise, die dem Gegenstand gerecht wird, und erzielt eine Reduktion des Materials. Die Definitionsmerkmale der qualitativen Inhaltsanalyse, wie sie eingangs dargestellt wurden, treffen also auf das Verfahren zu. Jochen GLÄSER und Grit LAUDEL haben mit der qualitativen Inhaltsanalyse durch Extraktion somit eine weitere Variante des Verfahrens entwickelt und vorgelegt. [46]
3. Zusammenfassung und Ausblick
In Abschnitt 2 wurden verschiedene Verfahren genauer beschrieben und miteinander verglichen, die in der Literatur als Varianten qualitativer Inhaltsanalyse bezeichnet werden. Wie diese verschiedenen Verfahren sich zueinander verhalten, soll nun noch einmal kurz zusammengefasst werden. Anschließend wird eine alternative Sichtweise auf Varianten qualitativer Inhaltsanalyse beschrieben: das Werkzeugkasten-Modell. [47]
Qualitative Inhaltsanalyse wurde eingangs als ein gleichermaßen systematisches und valides Verfahren mit dem Ziel einer zusammenfassenden Beschreibung des Materials definiert. Diese Beschreibung erfolgt, indem relevante Bedeutungsaspekte als Kategorien eines Kategoriensystems expliziert und relevante Teile des Materials den Kategorien dieses Kategoriensystems zugeordnet werden. Wenn man diese Definition zugrunde legt, lassen sich auf generellster Ebene zwei Varianten des Verfahrens unterscheiden. Die eine Variante entspricht der strukturierenden Inhaltsanalyse nach MAYRING (2010), die andere der qualitativen Inhaltsanalyse durch Extraktion nach GLÄSER und LAUDEL (2009). Die strukturierende Inhaltsanalyse stellt eine qualitative Modifikation und Ausarbeitung des inhaltsanalytischen Verfahrens dar, wie es zunächst im Rahmen der quantitativen Inhaltsanalyse entwickelt wurde (vgl. FRÜH 2011; KRIPPENDORFF 2013; MERTEN 1995; NEUENDORF 2002). Sie lässt sich als Basisvariante verstehen, die von anderen Autorinnen und Autoren generisch als qualitative Inhaltsanalyse (SCHREIER 2012; bei RUSTEMEYER 1992: "komplexe Inhaltsanalyse") bezeichnet wird. Charakteristisch für diese strukturierend-generische Variante qualitativer Inhaltsanalyse ist ein iteratives Vorgehen, bei dem ein Kategoriensystem entwickelt, im Rahmen einer Probekodierung sukzessive modifiziert und schließlich in seiner Gesamtheit auf das Material angewandt wird; im Idealfall sollte zwecks Qualitätssicherung ein Teil des Materials doppelt kodiert werden. Die Inhaltsanalyse durch Extraktion nach GLÄSER und LAUDEL ist dagegen neueren Datums und grenzt sich explizit gegenüber dem Vorgehen der strukturierenden Inhaltsanalyse ab. Charakterisierend ist hier die sukzessive Bildung von Kategorien, ausgehend von einem Satz an theoriegeleitet entwickelten Kategorien, durch extrahierende Zusammenfassung und Verdichtung, wobei quasi ein Paralleltext entsteht. Probe- oder Doppelkodierung entfallen. [48]
Innerhalb der strukturierenden Inhaltsanalyse lassen sich weiterhin verschiedene Unterformen unterscheiden, und zwar in erster Linie in Abhängigkeit davon, was durch die Kategorien genau erfasst wird. Die bekannteste Variante ist hier die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse (KUCKARTZ 2012; MAYRING 2010; SCHREIER 2012), die der Erfassung verschiedenster Inhalte dient, vor allem im Sinne der Erfassung von Themen (daher auch die Bezeichnung "thematische Analyse" bzw. "thematisches Kodieren": BOYATZIS 1998; SALDANA 2009, S.139ff.). Eine spezielle Variante von Inhalten steht bei der evaluativen (KUCKARTZ 2012: auch "skalierende Inhaltsanalyse") im Mittelpunkt, nämlich die Beschreibung der Ausprägung eines bestimmten inhaltlichen Merkmals. Eine dritte Variante strukturierender qualitativer Inhaltsanalyse stellt die formale Inhaltsanalyse dar, mit der sich Form- und Strukturmerkmale des Materials erfassen lassen. [49]
Inwieweit es hier tatsächlich angemessen ist, von drei verschiedenen Varianten qualitativer Inhaltsanalyse zu sprechen, soll an dieser Stelle offenbleiben. Einerseits ließe sich argumentieren, dass das grundsätzliche Vorgehen bei allen drei Varianten des Verfahrens vergleichbar ist, die Verfahren sich also in erster Linie darin unterscheiden, welche Aspekte am Material identifiziert und in Form inhaltsanalytischer Kategorien genauer beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund wäre es vielleicht angemessener, generell von strukturierender Inhaltsanalyse zu sprechen und im Folgenden – neben anderen Aspekten der Vorgehensweise – zu spezifizieren, welche Art von Kategorien verwendet wird. Dies scheint auch insofern naheliegend, als die drei Arten von Kategorien durchaus auch in Kombination verwendet werden. Andererseits lässt sich argumentieren, dass die Art der Kategorien sich auch auf andere Aspekte der Vorgehensweise auswirkt, wie beispielsweise die Erstellung der Kategorien oder die Art der Kodiereinheit, sodass es sich zwar um miteinander kombinierbare, aber durchaus distinkte Varianten der strukturierend-qualitativen Inhaltsanalyse handelt. [50]
Die zusammenfassende und die explikative Inhaltsanalyse nach MAYRING (2010) werden hier dagegen nicht als eigenständige inhaltsanalytische Verfahren gesehen, sondern jeweils als Schritte innerhalb des Gesamtprozesses einer qualitativen Inhaltsanalyse rekonstruiert. Die Zusammenfassung stellt eine mögliche Strategie der Kategorienentwicklung dar, neben anderen Strategien wie etwa der Subsumtion, dem offenen Kodieren oder der Kontrastierung (KUCKARTZ 2012; MAYRING 2010; SCHREIER 2012; speziell zur Kontrastierung: BOYATZIS 1998). Eingebettet in eine andere Vorgehensweise findet sich die Zusammenfassung im Übrigen auch in der qualitativen Inhaltsanalyse durch Extraktion wieder (s. oben Abschnitt 2.8); die Zusammenfassung ist in ihrer Anwendung also nicht auf die strukturierende Inhaltsanalyse begrenzt. Die Explikation bezieht sich auf einen weiteren Abschnitt des inhaltsanalytischen Vorgehens, nämlich die Einheitenfestlegung. Die Explikation lässt sich – in ihrer engen und weiten Variante – als Festlegung der Kontexteinheit rekonstruieren. [51]
Zur typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse (KUCKARTZ 2012; MAYRING 2010) wurde oben herausgearbeitet (Abschnitt 2.5), dass es sich dabei weniger um ein spezifisches inhaltsanalytisches Verfahren handelt als vielmehr um eine Kombination einer beliebigen Variante qualitativer Inhaltsanalyse mit einem spezifischen Auswertungsverfahren, eben der Typenbildung. Allerdings ergänzen sich die beiden Methoden sehr gut durch ihre Kombination variablen- und fallorientierten Vorgehens. Auch hat sich die Bezeichnung in der Literatur inzwischen etabliert. Dennoch sollte man bei der Anwendung der typenbildenden Inhaltsanalyse nicht aus den Augen verlieren, dass diese Kombination offen ist für unterschiedliche inhaltsanalytische Vorgehensweisen. Die Anwendung der typenbildenden Inhaltsanalyse beinhaltet also noch keine Festlegung dahin gehend, ob inhaltliche, evaluative oder auch formale Kategorien im Mittelpunkt der Analyse stehen (oder eine Kombination verschiedener Kategorien). Auch sollte der Begriff der typenbildenden Inhaltsanalyse nicht den Blick dafür verstellen, dass die qualitative Inhaltsanalyse bei der Auswertung auch mit anderen Verfahren kombinierbar ist. [52]
Die summative qualitative Inhaltsanalyse schließlich (nach HSIEH & SHANNON, 2005) hat zwar ein vertieftes Verständnis der Verwendung von Schlüsselbegriffen zum Ziel, bedient sich dabei aber ausschließlich quantitativer Verfahren. Die Bezeichnung als qualitative Variante der Inhaltsanalyse erscheint daher nicht gerechtfertigt. [53]
3.2 Ausblick: Das Werkzeugkasten-Modell der qualitativen Inhaltsanalyse
Im vorausgehenden Abschnitt wurde noch einmal zusammengefasst, dass strukturierende Inhaltsanalyse und Inhaltsanalyse durch Extraktion in der Tat Varianten qualitativer Inhaltsanalyse darstellen. Für alle übrigen Varianten, die in der Literatur genannt werden, gilt jedoch, dass sie nicht notwendig als eigenständige Verfahren gelten können, sondern an einer bestimmten Stelle von der generischen Variante qualitativ-strukturierender Inhaltsanalyse abweichen bzw. diese in einer bestimmten Weise spezifizieren. Mit der inhaltlichen, der evaluativen und der formalen strukturierenden Inhaltsanalyse findet jeweils eine Festlegung auf eine bestimmte Art von Kategorien statt; die zusammenfassende Inhaltsanalyse fokussiert eine bestimmte Art der Kategorienbildung und bei der typenbildenden Inhaltsanalyse wird die qualitative Inhaltsanalyse mit einem bestimmten Auswertungsverfahren kombiniert. [54]
Diese Varianten qualitativer Inhaltsanalyse sind jedoch willkürlich und keineswegs erschöpfend. Denn erstens lassen sich auch an anderen Stellen des Vorgehens bei der strukturierenden Inhaltsanalyse entsprechende Variationen und Spezifikationen vornehmen. Im Hinblick auf den Ausgangspunkt bei der Kategorienbildung ließe sich beispielsweise zwischen deduktiver, induktiver und gemischt deduktiv-induktiver qualitativer Inhaltsanalyse unterscheiden. Diese Unterscheidung wird in der Tat partiell von HSIEH und SHANNON getroffen, wenn sie zwischen konventioneller (d.h. induktiver) und direktionaler (d.h. deduktiver) qualitativer Inhaltsanalyse differenzieren. Weitere Varianten des Verfahrens könnten sich in Abhängigkeit davon ergeben, welcher Prozentsatz des Materials bei einem induktiven Vorgehen für die Erstellung des Kategoriensystems genutzt wird, ob die Doppelkodierung von einer Person zu verschiedenen Zeitpunkten oder von zwei Personen unabhängig voneinander vorgenommen wird, ob Unterschiede zwischen zwei Personen bei der Doppelkodierung quantifiziert werden usw. [55]
Zweitens sind die Varianten qualitativer Inhaltsanalyse, die in der Literatur genannt werden, keineswegs erschöpfend. Wenn man beispielsweise die Arten des Kategorienbezugs variiert, so lassen sich insbesondere die inhaltlichen und die formalen Bezüge noch weiter ausdifferenzieren. In Anlehnung an Johnny SALDANA (2009), der einen Überblick über verschiedene Varianten des Kodierens gibt, wären beispielsweise eine prozessuale, eine affektive, eine dramaturgische, eine motivische oder eine narrative Variante qualitativer Inhaltsanalyse denkbar – um nur einige Möglichkeiten aufzuführen, bei der jeweils bestimmte Inhalte durch das Kategoriensystem erfasst und abgebildet werden. Beim prozessualen Kodieren wären dies Handlungen (S.77f.), beim affektiven Kodieren Emotionen und Werte (S.86ff.), und mittels des motivischen und des narrativen Kodierens ließen sich verschiedene Elemente von Erzählungen erfassen (S.105ff.). Wenn man in Abhängigkeit von der Strategie der Kategorienbildung am Material verschiedene Varianten der Inhaltsanalyse differenzieren will, so wären neben der zusammenfassenden auch die subsumierende, die offene und die kontrastierende qualitative Inhaltsanalyse zu nennen (zu den Strategien der Kategorienbildung s. SCHREIER 2012, Kap. 6). Will man die Kombination mit Auswertungsverfahren zur Differenzierung von Varianten des Verfahrens heranziehen, so lassen sich neben der typenbildenden beispielsweise die einzelfallorientierte, die kategorienorientierte, die zusammenhangsorientierte oder die Matrizenform der qualitativen Inhaltsanalyse unterscheiden (zu Auswertungs- und Interpretationsverfahren, die an die qualitative Inhaltsanalyse anschließen, vgl. KUCKARTZ 2012, Kap. 4.4.4.; SCHREIER 2012, Kap. 11). Die "einzelfallorientierte Inhaltsanalyse" würde eine Kombination der Inhaltsanalyse mit einer anschließenden vertiefenden Fallanalyse oder auch Einzelfallrekonstruktion beinhalten (vgl. z.B. SCHNEIDER 1992). Bei der "kategorienorientierten Inhaltsanalyse" würde der Schwerpunkt bei der Ergebnisdarstellung ganz auf der Erläuterung des Kategoriensystems liegen. Bei der "zusammenhangsorientierten Inhaltsanalyse" wäre die inhaltsanalytische Kodierung der Ausgangspunkt für eine anschließende Suche nach Mustern und Zusammenhängen zwischen verschiedenen Kategorien oder auch zwischen Kategorien und Variablen (s. etwa das "pattern coding" bei SALDANA 2009, S.152), und bei der "Matrizenform" der qualitativen Inhaltsanalyse würde sich an die Kodierung eine Darstellung der Kodierungen für einzelne Personen oder Personengruppen in Texttabellen anschließen (vgl. MILES, HUBERMAN & SALDANA 2013). [56]
Kurz: Einerseits stellen die Varianten qualitativer Inhaltsanalyse, die bisher in der Literatur beschrieben sind, nur einen kleinen Ausschnitt möglicher Varianten des Verfahrens dar. Andererseits würde es angesichts der Vielzahl möglicher Variationen, von denen einige in den letzten beiden Abschnitten benannt wurden, eine Begriffsinflation bedeuten, bei jeder Variation gleich von einer neuen und distinkten Form qualitativer Inhaltsanalyse zu sprechen. Dies gilt noch einmal umso mehr, als die verschiedenen Varianten – die sich ja auf unterschiedliche Stadien des Ablaufs beziehen – durchaus miteinander kombinierbar sind. [57]
Statt einer Unterscheidung verschiedener Varianten qualitativer Inhaltsanalyse erscheint das Konzept des Werkzeugkastens angemessener. Mit der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ist ein Basisablauf gegeben. An den verschiedenen Stellen bzw. Stufen, die bei der Anwendung des Verfahrens zu durchlaufen sind, stehen jeweils verschiedene Optionen zur Verfügung, unter denen konkret eine Auswahl zu treffen ist. Diese Optionen stellen eine Art Werkzeugkasten dar, aus dem Forschende bei der Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse diejenigen Werkzeuge auswählen können, die zu der jeweiligen Forschungsfrage und dem jeweiligen Material am besten passen (s. den Überblick in Tabelle 3).
Schritte der Inhaltsanalyse |
"Werkzeuge" / Optionen |
Festlegen der Forschungsfrage |
|
Auswahl des Materials |
Welches Material? Visuell, verbal, Hypertextstruktur, Dokumente, Interviews, Fokusgruppen, Webseiten usw. |
|
Welche Auswahlstrategie? Absichtsvoll, Zufallsverfahren, Ad hoc-Auswahl |
Erstellen des Kategoriensystems |
Welche Basisstrategie? Deduktiv, induktiv, deduktiv-induktiv |
|
Wenn induktiv: Welche Strategie? Subsumtion, Zusammenfassung, offenes Kodieren, Kontrastierung |
|
Welche Aspekte des Materials? Inhalte allgemein, Handlungen, Emotionen, Werte, Formaspekte allgemein, Elemente von Erzählungen usw. |
|
Wie viele Personen? ForscherIn alleine, gemeinsam mit anderen |
|
Wie viel Material wird einbezogen? Spektrum von wenigen Prozent bis 100% |
|
Abbruchkriterium? Vorher festgelegt, Sättigung |
Unterteilung des Materials in Einheiten |
Welche Einheiten? Kodiereinheiten, Kontexteinheiten |
|
Wie systematisch? Explizites Markieren, Markieren und Kodieren in einem Schritt |
|
Wie viele Personen? ForscherIn alleine, zwei Personen gemeinsam, zwei Personen unabhängig voneinander |
|
Wie groß ist die Kodiereinheit? Spektrum von einzelnen Wörtern bis hin zum gesamten Text |
Probekodierung |
Durchführung einer Probekodierung? Ja / nein |
|
Wenn ja: Wie viele Personen? ForscherIn alleine, zwei Personen gemeinsam, zwei Personen unabhängig voneinander |
Evaluation und Modifikation des Kategoriensystems |
Art des Kodiervergleichs? Kodierbesprechung, Berechnung eines Interrater-Koeffizienten (welcher?), beides |
Hauptkodierung |
Wie viele Personen? ForscherIn alleine, zwei Personen gemeinsam, zwei Personen unabhängig voneinander |
|
Wenn zwei Personen: Aufteilung des Materials? Beide kodieren alles, beide kodieren unterschiedliche Teile und einen kleineren gemeinsamen Teil |
|
Wenn zwei Personen: Umgang mit unterschiedlichen Kodierungen bei unterschiedlichem Textverständnis: Auslassen der betroffenen Kodiereinheiten, Rücksprache mit dritter Person |
|
Wenn zwei Personen: Berechnung eines (weiteren) Interrater-Koeffizienten? |
Weitere Auswertung und Ergebnisdarstellung |
Was geschieht mit den Kodierungen? Anfertigen von Fallbeschreibungen, Beschreibende Darstellung des Kategoriensystems, Kombination mit Typenbildung, Kombination mit der Herausarbeitung von Zusammenhängen, Kombination mit Einzelfallanalyse usw. |
Tabelle 3: Werkzeugkastenmodell der Inhaltsanalyse [58]
Dieser Auswahlprozess generiert nicht jeweils eine neue Variante der qualitativen Inhaltsanalyse, sondern spezifiziert das Verfahren lediglich in relevanten Hinsichten. Nach dieser Auffassung lässt qualitative Inhaltsanalyse sich auf ganz unterschiedliche Weise konkret realisieren. Charakteristisch für qualitative Inhaltsanalyse ist somit gerade die Kombination vorab spezifizierter Schritte einerseits mit deren vielfältigen Realisationsmöglichkeiten andererseits: Das Durchlaufen einer festgelegten Abfolge von Schritten gewährleistet die Systematik, während die unterschiedlichen Möglichkeiten, diese Schritte konkret zu realisieren, die Gegenstandsangemessenheit des Verfahrens sichern. Genau diese Kombination von Systematik und Gegenstandsangemessenheit macht das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse aus. [59]
1) Bei dem Beitrag handelt es sich um eine erweiterte Fassung eines Vortrags zum Thema "Qualitative Content Analysis" während der MAXQDA-Anwendertagung vom 6.-9.3.2013 in Marburg. Ich danke Udo KUCKARTZ und Anne KUCKARTZ für ihre Einladung zum Vortrag, ihnen und anderen DiskussionsteilnehmerInnen für ihre Anregungen in der Diskussion sowie den GutachterInnen für ihre Überarbeitungsvorschläge zur Erstfassung dieses Beitrags. <zurück>
2) Der Begriff der (konversationellen) Implikatur stammt von Paul GRICE (1975). GRICE geht davon aus, dass wir uns beim Sprechen an bestimmte allgemeingültige Prinzipien halten, die sog. Konversationsmaximen – beispielsweise nicht mehr zu sagen, als dies in der jeweiligen Situation erforderlich ist. Wenn eine Äußerung diesen Prinzipien zuwiderläuft, ist dies ein Anzeichen dafür, dass der Sprecher/die Sprecherin vermutlich (noch) etwas anderes meint als das, was explizit in der Äußerung zum Ausdruck kommt. Den Schluss von dem ausdrücklich Gesagten auf das implizit Gemeinte bezeichnet GRICE als konversationelle Implikatur. <zurück>
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Margrit SCHREIER ist Professorin für Empirische Methoden in den Geistes- und Sozialwissenschaften an der Jacobs University Bremen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Medienpsychologie und Gesundheitsforschung, qualitative Inhaltsanalyse, Fallauswahl in der qualitativen Forschung und Mixed Methods.
Kontakt:
Margrit Schreier
School of Humanities and Social Sciences
Jacobs University Bremen
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Tel.: +49 (0)421 200-3406
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E-Mail: m.schreier@jacobs-university.de
URL: https://www.jacobs-university.de/directory/mschreier
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