Volume 8, No. 1, Art. 16 – Januar 2007
Der Topos der Zeit als argumentative Ressource in Konfliktgesprächen
Cordula Schwarze
Zusammenfassung: Anhand konfliktärer Gespräche im familialen Rahmen werden mittels eines gesprächslinguistischen Zugriffs die Form- und Funktionsbeziehungen des Topos der Zeit als einer argumentativen Ressource aufgezeigt. Der Fokus dieser linguistisch basierten Mikroanalysen liegt insbesondere auf der Interaktivität und Prozessualität der Herstellung sowie der funktionalen Zuordnung der Toposverwendung zu rhetorischen Verfahren. Im Artikel wird eine "kleine Phänomenologie der Zahlen" in konfliktären Gesprächen zwischen Müttern und ihren adoleszenten Töchtern vorgestellt. Es kann gezeigt werden, dass die an der sprachlichen Oberfläche analysierbare Verwendung von Zahlen Ausdruck einer spezifischen Konzeptualisierung von Zeit ist. Zahlen in der konkreten und lokalen Ausfüllung des Topos der Zeit lassen somit Rückschlüsse auf eine Alltagskonzeptualisierung von Zeit zu, und auf diese Weise wird die Kategorie Zeit sichtbar an der Gesprächsoberfläche.
Keywords: Gesprächsforschung, Konfliktgespräche, Argumentation, Topos, Topos der Zeit, Zahlen
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Verortung
2.1 Methodologischer Rahmen der gesprächsrhetorischen Argumentationsanalyse
2.2 Zum Toposbegriff
3. Empirische Bearbeitung
3.1 Das Korpus
3.2 Methodisches Vorgehen
3.3 Formen und Funktionen des Topos der Zeit
3.3.1 Zeitpunkt und Dauer
3.3.2 Zeitpunkt und Anzahl
4. Zusammenfassung und Diskussion
Der Ausgangspunkt der vorliegenden Analysen ist eine Beobachtung aus einem Konfliktgespräch zwischen Mutter und Tochter, die zunächst zum Lachen bringt, weil sie durch (vermeintliche) Absurdität auffällt. Es handelt sich hierbei um Zahlenangaben, die von den Interaktionspartnerinnen argumentativ hart umkämpft werden. Die an die Daten gestellte konversationsanalytische Frage "Why that now?" zeigte, dass mit diesen Zahlenangaben zeitliche Angaben markiert werden. Das Besondere besteht nicht darin, dass überhaupt zeitliche Bezüge verhandelt werden – die Zeit ist eine der Grundbedingungen unserer Existenz, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass zeitliche Aspekte und ihre Folgen im Konflikt eine Rolle spielen. Das Besondere ist das große Gefälle auf der lexiko-semantischen Ebene, welches zwischen der (sprachlichen) Vagheit der Äußerungen einerseits und der Anschaulichkeit sowie Präzision beanspruchenden Angabe von Zahlen andererseits besteht. Auch ist nach dem Zusammenhang zwischen Zahlen und Zeit zu fragen. Zahlen sind die Voraussetzung für Uhren oder Kalender. Sie werden symbolisch verwendet, da sie als Zahlen auf dem Zifferblatt durch die Ablesbarkeit der Bewegung des Zeigers ein Bezugsmuster liefern, welches die Uhr zum "Zeitbestimmer" (ELIAS 1988, S.XXII) und damit zu einer sozial relevanten Größe werden lässt. Diese nicht zwangsläufige Entwicklung beschreibt ELIAS so:
"Diesen Charakter als Zeitbestimmer gewinnt ein physikalischer Ablauf erst dadurch, dass er im Zusammenhang mit den physikalischen Aspekten auch den Charakter eines beweglichen sozialen Symbols besitzt und als solches, sei es informierend, sei es regulierend, in den Kommunikationskreislauf menschlicher Gesellschaften eingeschaltet ist" (ebd., S.XXII). [1]
Zahlen sind demzufolge Ausdruck einer Messung und ermöglichen die Erfahrung des Ablaufens der Zeit. Resultate dieser Messung sind (Uhr-) Zeitangaben und Kalender. Diese Kulturtechniken sind nicht so unveränderlich, wie sie scheinen, auch wenn sie tief in das alltägliche Leben eingesunken sind (vgl. MACHO 2003; WENDORFF 1993). [2]
Im Artikel werden typische Stellen für das Vorkommen des Topos der Zeit in den Daten präsentiert. Es erfolgt dann die sequenzielle Einordnung der Zahlen in die Sequenzschritte des Argumentierens, der sich eine Formbeschreibung der Zahlen bzw. Zeitangaben sowie die Herausarbeitung ihrer interaktiven Funktionen anschließt. [3]
2.1 Methodologischer Rahmen der gesprächsrhetorischen Argumentationsanalyse
Der methodologisch-methodische Hintergrund der qualitativen Untersuchung ist die linguistische Gesprächsanalyse in konversationsanalytisch-ethnomethodologischer Prägung (vgl. DEPPERMANN 1999; KALLMEYER & SCHÜTZE 1976). Erweitert wird der Ansatz um eine gesprächsrhetorische Perspektive sowie Betrachtungsweisen der klassischen Rhetorik. [4]
Entsprechend der grundlegenden Auffassung der Gesprächsanalyse, dass soziale Ordnung lokal und unter der Bedingung der Ko-Präsenz von Menschen hergestellt wird, kann Miteinandersprechen als geordnete soziale Aktivität bezeichnet werden. Zur Bewältigung dieser Aktivität stehen den Menschen Ethnomethoden bzw. routinisierte Gesprächspraktiken (vgl. DEPPERMANN 1999, S.9) zur Verfügung. Ein Gespräch ist durch die Merkmale Konstitutivität, Prozessualität, Interaktivität, Methodizität und Pragmatizität gekennzeichnet (vgl. DEPPERMANN 1999, S.8). Die Grundannahme der Pragmatizität akzentuiert, dass Teilnehmerinnen eigene Ziele und Zwecke im Gespräch verfolgen. Dort setzt die gesprächsrhetorische Perspektive an und fokussiert in der Analyse die "Einbettung des individuellen Handelns in den Interaktionsprozess und die Auswirkung von dessen Eigenschaften wiederum auf die rhetorischen Verfahren der Interaktionsbeteiligten" (KALLMEYER 1996, S.9). Dabei fasst sie rhetorische Verfahren nicht als statisch im Sinne eines aktualisierten Musters, sondern als prozessual entwickelt auf. [5]
Das methodische Vorgehen sowohl der Gesprächsanalyse als auch der Konversationsanalyse, auf der sie basiert, ist dadurch gekennzeichnet, dass Forschungsfragen und Kategorien als Teilnehmerkategorien materialgestützt entwickelt sowie die Konstitutionseigenschaften von Gesprächen gleichzeitig analytisch genutzt werden (vgl. u.a. DEPPERMANN 1999; HUTCHBY & WOOFFITT 1998). In Bezug auf den Forschungsgegenstand "Argumentieren" zeigen sich folgenreiche Unterschiede. Beispielsweise werden in Arbeiten der Konversationsanalyse Phänomene des Argumentierens zwar festgestellt, aber nicht in argumentationstheoretischer Terminologie diskutiert (vgl. DEPPERMANN 2003, S.3). Diese Phänomene werden häufig mit dem Begriff des accounts (zum Begriff vgl. BERGMANN 1988, S.44) erfasst, ebenso besteht strukturelle Ähnlichkeit zum Konzept der Reparatur (vgl. SELTING 1987). In strikter Auslegung der Konversationsanalyse soll ausschließlich unmittelbar Beobachtbares der Daten analysiert werden, deshalb wird Kontextwissen ausgeschlossen. Das wiederum ist als ein externer, theoriebasierter Bezugspunkt für die Analyse des Argumentierens unerlässlich, denn es handelt sich um eine tradierte, techné-basierte Gesprächspraktik, deren Abläufe und Muster erlernt sind. Den Begriff Argumentation als analytische Kategorie zu nutzen, lässt die Gesprächsanalyse zu. Methodisch kontrolliert wird dieses Vorgehen durch ein "spiralförmiges Verhältnis von Gegenstandskonstitution und Gegenstandsanalyse" (DEPPERMANN 1999, S.20) während des gesprächsanalytischen Forschungsprozesses. Mittels der gesprächsanalytischen Methodologie kann auch gezeigt werden, wie kompetent die Teilnehmer(innen) argumentieren. Diese Würdigung steht im Widerspruch zur Perspektive der klassischen Rhetorik:
"Anders als in der römischen Gerichtsrede wird in der >normalen< Alltagsargumentation diese quaestio – worum geht es in der Argumentation? – oftmals nicht genügend herausgearbeitet oder häufig von ihr abgewichen. Das ist übrigens der Hauptgrund dafür, warum die Alltagsargumentationen sich meist unstrukturiert und sprunghaft fortbewegen und häufig auch zu keinem befriedigendem Ergebnis kommen" (OTTMERS 1996, S.67). [6]
Nach dieser Auffassung handelt es sich bei Argumentieren im Gespräch um eine schlechte Musterrealisation, zudem wird die empirisch vorzufindende Argumentation als notwendigerweise defizitär bewertet. Doch ist es fragwürdig, Alltagsargumentation an den Prinzipien der römischen Gerichtsrede zu messen, denn besonders in Alltagsgesprächen wird die komplexe und gesellschaftlich relevante Handlung des Argumentierens lebenspraktisch. Deshalb wurde das zugrunde liegende Korpus von Konfliktgespräche gewählt. Konflikte werden hier nicht nach ihrer Entstehung oder den möglichen Ursachen betrachtet, sondern es stehen die interne Struktur sowie die Prozesshaftigkeit der konfliktären Episode im Mittelpunkt (vgl. MESSMER 2003). Die interne Struktur eines Konfliktes wird gestaltet und begrenzt durch das rhetorische Verfahren des Argumentierens. [7]
Gesprächsrhetorik rückt, neben anderen Phänomenen, auch Argumentieren in den Fokus und fragt nach den funktionalen Potenzialen, die sich für "zielorientiertes, persuasives Handeln" (KALLMEYER 1996, S. 13) der Teilnehmer(innen) im Gespräch ergeben. Eines dieser Potenziale ist das "interaktive Klärungsverfahren" (SPRANZ-FOGASY 2002, S.13) Argumentieren, welches auf der Ebene der Handlungsorganisation bzw. Sachverhaltsdarstellung anzusiedeln ist (zum Ebenenkonzept in der Interaktion vgl. KALLMEYER & SCHÜTZE 1976). Mittels dieses rhetorischen Verfahrens können Interaktant(inn)en im und durch das Gespräch eigene Standpunkte durchsetzen, gemeinsame Handlungsziele erreichen oder andere Perspektiven blockieren. Der Ausgangspunkt des Argumentierens ist "ein Darstellungsdefizit, das die Bearbeitung laufender übergeordneter Handlungsaufgaben blockiert, […] kurz: die praktische Gültigkeit einer Darstellung ist gesprächslokal in Frage gestellt und muss her- bzw. wieder hergestellt werden" (SPRANZ-FOGASY 2002, S.13). Um das zu erreichen, erläutern und begründen die Teilnehmer(innen) ihre Positionen und erst danach erfolgt eine Rückkehr zur übergeordneten Handlungsaufgabe (vgl. ebd.). Im Material kann das Verfahren Argumentation einer idealtypischen Sequenzstruktur nahe nachgewiesen werden. Es umfasst fünf aufeinander folgende Handlungsschritte, die auch verdichtet oder expandiert auftreten können. Elemente dieser Sequenzstruktur sind die Auslösehandlung, die Dissensmarkierung (bzw. Problematisierungshandlung), die Darlegungshandlung, die Sequenz der Akzeptanz einer Position sowie die Ratifikation der Akzeptanz (vgl. SPRANZ-FOGASY 2002, S.14; 2003). Die Benennung der einzelnen Strukturelemente entspricht ihrer Funktion innerhalb des Argumentierens. Der Zusammenhang zwischen der Dissensmarkierung und der Positionendarlegung ist als Zugzwang im Sinne einer konditionellen Relevanz zu verstehen. Das sind lokale Erwartungsstrukturen, die einen sequenziellen Kontext errichten, der bestimmte Folgeäußerungen erwartbar, sogar erforderlich macht (vgl. KALLMEYER & SCHÜTZE 1976). Aufgrund dieser konditionellen Relevanz eignet sich die Dissensmarkierung als analytischer Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des Argumentierens. Sie zeigt das Darstellungsdefizit auf und enthält somit einen Verweis auf die Basiskategorie des Argumentierens, die Strittigkeit. Welche Aspekte strittig gesetzt werden, ist sowohl an der formseitigen Ausfüllung der Dissensmarkierung als auch an der nachfolgenden Äußerung, der Darlegungshandlung, zu erkennen. [8]
Die Toposanalyse erfolgt eingebettet in die Analyse der Argumentationssequenz. Dissensmarkierung und Darlegungshandlung bilden die topische Kernsequenz, deren interne Struktur rekonstruiert wird. Topoi innerhalb einer argumentativen Sequenz haben zwei Funktionen. In ihrer materialen Eigenschaft sichern sie die thematische Kohärenz, in ihrer formalen Eigenschaft den Zusammenhang von Prämissen und Konklusion (die Unterscheidung materialer und formaler Topoi geht zurück auf KOPPERSCHMIDT 1991). Topoi werden prozessual und interaktiv entwickelt und sind somit Ressourcen, die von den Teilnehmer(inne)n flexibel genutzt werden. Um die interaktive Entwicklung der Topoi zu beschreiben, sind die zur Kernsequenz führenden Vor- und Nachläufe zu bestimmen, die wiederum Rückschlüsse auf die Funktion des Topos zulassen. Im Vorlauf können Anbahnungen oder Elizitationen des Topos nachgewiesen werden. Im Nachlauf wird häufig die argumentative Sequenz in Form von kollaborativen Turnbeendigungen, Lachen sowie anderen typischen Beendigungsaktivitäten gemeinsam nachbereitet. [9]
In die aristotelische Konzeptualisierung eines Topos werden die im Material gefundenen Topoi zurückgeführt. Deshalb steht der Topos der Zeit als Referenz auf Zeit im Fokus. Dieser Topos wird im folgenden Kapitel dargestellt. [10]
Die Perspektive auf die Topik ist hier zunächst die der klassischen Rhetorik. Sie stellt eine ausgefeilte Theorie "guten" Argumentierens zur Verfügung, die, wie KINDT (2001) fordert und am Material zeigt (ebd., S.173), für Analysen realer Gespräche fruchtbar gemacht werden kann. Sie bietet einerseits die Möglichkeit, Argumente und Schlusstypen zu kategorisieren. Des Weiteren erlaubt der Toposbegriff eine theoretische Rahmung, um die Interaktivität und Prozessualität des Argumentierens zu zeigen. [11]
Die von ARISTOTELES entwickelte Topik ist ein zentraler Gegenstand der antiken Rhetoriklehre. Die Topik wird als "Findekunst" bestimmt, als eine Methode im Sinne einer antiken techné, diese ist Kunstlehre und Kunstfertigkeit zugleich. Der Anspruch der Topik ist, "eine Methode zu finden, nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst in Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten" (ARISTOTELES 1995, 1., 1). Der Redner bzw. die Rednerin muss "das bei jedem Gegenstand Glaubenerweckende erkennen" (ARISTOTELES 1993, I, 2.,1) können. Argumentation ist nach ihm gebunden an Kommunikationssituationen sowie auf die Überzeugung des Gegenübers gerichtet. Dazu "steht dem Redner ein eigenes System von Suchkategorien, die Topik, zur Verfügung, die problem- oder personenbezogen alle möglichen Fundorte für Argumente, Belege oder Beweise erschließen lässt" (UEDING & STEINBRINK 1994, S.234). Das Finden von Beweisen als inventorischer Schritt zielt auf eine Heuristik möglicher Argumente. Der Topos hat zunächst die Funktion einer Suchformel, denn Beweise zu ermöglichen bedeutet, Beweise solcherart zu finden, die in einer Stützungsrelation die Schlüssigkeit des Zusammenhanges zwischen den Teilsätzen sichern und damit auch deren Überzeugungskraft. Topos und Argument hängen auf eine spezifische Weise zusammen, denn "[d]urch die dargestellten Topoi (loci) wird zu jedem Argument, das es zu finden gilt, gleichsam anhand erster Grundbegriffe (bereits) ein deutlicher Fingerzeig geboten" (CICERO 1993, §25). Ein Topos strukturiert die Argumentationssequenz vor, da er "als funktioneller Orientierungspunkt oder gedanklicher Leitfaden verstanden werden [kann], der seine Wirkung erst im Konkreten entfalten und seine Tauglichkeit unter Beweis stellen kann" (OTTMERS 1996, S.89). Zu den weiteren Eigenschaften eines Topos gehören seine Neutralität und die Pro-Contra-Potenz. Demzufolge kann er zur Stützung verschiedener, auch gegensätzlicher Positionen genutzt werden, dem Prinzip des in-utramque-partem-Redens entsprechend. Gegenwärtig ist der Topos-Begriff ein in vielen Disziplinen in einem sehr offenen Verständnis verwendeter Begriff. Er wird oft gleichgesetzt mit Begriffen wie Stereotyp, Gemeinplatz, Klischee oder Thema. Zudem haben sich verschiedene Sondertopiken mit je fachspezifischen Schwerpunktsetzungen entwickelt (u.a. für die Literaturwissenschaft: CURTIUS 1949; BORNSCHEUER 1976 oder für die Rechtswissenschaft: VIEHWEG 1953; STRUCK 1971), deren Gemeinsamkeit der Bezug auf die antiken Wurzeln ist. Gemeinsam ist ihnen aber auch ein Klage-Topos, der das Fehlen eines einheitlichen Begriffs beinhaltet – "Was ist überhaupt >Topik<?" fragt SCHIRREN und zeichnet die Geschichte der Unschärfe des Begriffes nach (SCHIRREN 2000, S.XIII). [12]
Der Topos der Zeit, der im Mittelpunkt der vorliegenden Analysen steht, beinhaltet ein Zeitverständnis mit der Unterscheidung in quantitative und qualitative Eigenschaften. Die quantitativen Eigenschaften können als chronos-Zeit, die qualitativen Eigenschaften als kairós-Zeit bezeichnet werden. Die Unterscheidung der Zeitlichkeit in kairós und chronos-Zeit geht auf die griechischen Dichter HOMER und HESIOD zurück, die mit dem kairós eine durch die Gunst der Natur oder der Götter ausgezeichnete Stelle in Raum und Zeit meinten, deren Erkenntnis und Nutzung dem menschlichen Handeln Gelingen und Glück versprach. Durch die Sophist(inn)en, insbesondere GORGIAS, erfuhr der Begriff des kairós eine Veränderung hin zu einer Richtschnur rhetorischen Handelns und wurde zur Norm einer auf das Interesse des Augenblicks gerichteten Überredungstechnik (vgl. KINNEARY & ESKIN 1992). Das ursprüngliche Konzept des kairós wurde später zur Gottheit. Bekannt ist seine Darstellung in der Kunstgeschichte als athletischer, schöner Jüngling, weil alles Rechtzeitige als schön galt. Diese Rechtzeitigkeit wird sichtbar gemacht durch die kurzen Haare am Hinterkopf und die Locke auf der Stirn. Aus dieser Darstellung ging der deutsche Phraseologismus eine Gelegenheit beim Schopfe packen hervor (vgl. GÖTZE 2001, S.289). Dagegen wird der Urgott chronos, der Weltenschöpfer und die Personifikation der Lebenszeit, mit seinen Insignien Sichel und Stundenglas dargestellt. Er steht für das Ordnungsprinzip, welches die Erscheinungen des Lebens in eine Reihenfolge zwingt und somit auch zu einem Ende. [13]
ARISTOTELES bestimmt den kairós als den rechten Zeitpunkt oder das rechte Maß des Handelns und verknüpft ihn mit der Vorstellung, eine wichtige Entscheidung zu treffen. Es wird ein besonderer Moment ausgezeichnet, der nur mit Erfahrung erkannt werden kann. Worauf sich dieser Moment bezieht und wie dessen Gelingensbedingungen auszusehen haben, handeln die Interaktant(inn)en der Gespräche miteinander aus. Die aktive empirische Feststellbarkeit des kairós ist ein wichtiger Punkt für die individuelle Konzeption von Zeitlichkeit. Das wird in den folgenden Daten beispielsweise im Ausschnitt "der zwanzikschte" deutlich (vgl. Abschnitt 3.3.2). Dort ist zwischen Tochter und Mutter strittig, wann der rechte kairós ist, um bei einem Freund zu schlafen. Die Tochter insistiert darauf, wenn sie auf der Notwendigkeit eigener Erfahrungen besteht, die ihr wiederum ermöglichen würden den Zeitpunkt zu erkennen, zu dem sie ihr Verhalten ändert oder nicht. [14]
Die hier vorgestellten Analysen nutzen Material aus dem Korpus Mütter-Töchter-Konfliktkommunikation, welches Anfang der 1990er Jahre in dem psychologisch und linguistisch orientierten Projekt "Argumente in Konfliktgesprächen zwischen Eltern und Jugendlichen" (Leitung: Manfred HOFER) der Universitäten Heidelberg und Mannheim sowie des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim entstanden ist. In der damaligen Bearbeitung wurde das Korpus hypothesengeleitet quantitativ ausgewertet. Ein Ergebnis war die Entwicklung von MAKS, des Mannheimer ArgumentationsKategorienSystems (vgl. SPRANZ-FOGASY, HOFER & PIKOWSKY 1992). Ausgewählt wurden die Probandinnen im Schneeballsystem sowie im Rahmen einer Zufallsstichprobe. Die Aufnahmen fanden im häuslichen Umfeld der Teilnehmerinnen statt und die Mutter-Tochter-Paare wurden gebeten, über ein für sie auch in ihrem Alltag aktuelles, konfliktives Thema zu reden. Das Korpus umfasst 140 Gespräche, die als digitalisierte Audio-Aufnahmen und als Transkript in Partiturschreibweise vorliegen. Die Transkriptionskonventionen sind den jeweiligen Erkenntnisinteressen der Forscher(innen) angepasst worden. In den vorliegenden Beispielen wurde nach den Konventionen des IDS Mannheim (vgl. DIDA) und BOSE (2003) transkribiert. Erweitert wurden die IDS-Konventionen um die Beschreibungsebene der phonetischen Realisation, welche durch die Modifikation der Notation der prosodischen Ebene Stimmqualitäten sowie segmentübergreifende Sprechausdrucksqualitäten adäquat wiedergeben kann (vgl. BOSE 2003). Die phonetische Beschreibung ist aus Gründen der Lesbarkeit aus den vorliegenden Beispieltranskripten herausgenommen worden. [15]
Ausgangspunkt der Analysen waren die in den Gesprächen vorkommenden Zahlen. Diese Stellen wurden segmentiert, wobei zunächst die Einbettung der Zahlen in den lokalen, sequenziellen Kontext im Fokus stand sowie deren Verankerung in der argumentativen Sequenz. Nach der formseitigen Beschreibung der Zahlenangaben und der Analyse der Modalität von Zeitlichkeit dieser Zahlen erfolgte die Beschreibung ihrer Funktion im lokalen Kontext. Anschließend wurde untersucht, mit welchen weiteren sprachlichen Mitteln die Gesprächsteilnehmerinnen Zahlen und Zeit relevant setzen. Zu diesen Mitteln zählen beispielsweise Elemente räumlicher Deixis sowie Tempusmarkierungen. Dass Tempus und Zeit nicht gleichzusetzen sind, betonen MÜLLER (2000, S.212) sowie GÖTZE (1999). GÖTZE (1999, 2001) begründet die unzutreffende Gleichsetzung damit, dass Zeitsinn und Zeiterfahrung kulturspezifisch und historisch nachweisbaren Veränderungen unterworfen sind. Dagegen sind Tempussysteme Beschreibungskategorien formaler Art, denen im Nachhinein zeitliche Bedeutung zugewiesen wird, denn in der konkreten Realisation der Tempora, wie beispielsweise eines Futur II, werden eher Aspekte der Modalität ausgedrückt (GÖTZE 2001, S.292). Er fordert, dass in funktional-kommunikativer Perspektive zeitliche Angaben unter Verwendung aller Mittel zur Markierung des Zeitlichen genutzt werden sollten (GÖTZE 1999, S.228). Nach RADDEN (1997) lässt Zeit sich nur mit Hilfe konkreter Ereignisse wahrnehmen und beschreiben. Diese Ereignisse bilden "mentale Referenzpunkte für unsere zeitliche Orientierung" (ebd., S.427). Als Beispiel dient der Satz "Wir heiraten zu Ostern", der auf den Zeitpunkt und nicht auf das Fest selbst verweist. Diese Verknüpfung von Zeit und Ereignis lässt erwarten, dass Ereignisse bei der Versprachlichung von Zeit-Konzepten eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn RADDEN dies nicht explizit ausführt, kann hier ein Bezug zum Konzept des kairós hergestellt werden. Dieser bezeichnet nichts anderes als ein Ereignis, welches für eine konkrete zeitliche Angabe relevant ist, wobei die Gegenwart, also das Sprecher-Jetzt, als Referenzpunkt dient. Zeit und Ereignis müssen durch die präzise Beschreibung der zwischen ihnen bestehenden Relationen miteinander in Beziehung gesetzt werden, und das ermöglichen Raumkonzepte. RADDEN (1997) beschreibt das Vorkommen von zwei konzeptuellen Metaphern zur Zeiterfahrung: Zeit als Raum und Zeit als Bewegung. Da Zeit also häufig als Raum metaphorisiert und auf diese Weise zugänglich gemacht wird, könnten auch Elemente der räumlichen Deixis auf der lexikalischen Ebene Zeitangaben anzeigen. RADDENs Unterscheidung der Zeitmetaphern in "Zeit als Raum" und "Zeit als Bewegung" bedeutet für das Vorgehen in der Analyse, dass es sich um zwei Ausformungen des Topos der Zeit handelt: zum einen die durch Zahlen aktivierte Ausformung, die den Aspekt der Messbarkeit in den Vordergrund stellt und somit auf "Zeit als Bewegung" verweist; zum anderen die durch Raumdeixis aktivierte, bei der der Aspekt der Wahrnehmung und der Vorstellbarkeit von Zeit betont wird. Das akzentuiert auch MÜLLER (2000), indem sie nachweist, dass Bewegung im Raum die Grundlage für die Konzeption von Zeitlichkeit ist. Sie zeigt empirisch, wie der Bewegungsverlauf redebegleitender Gesten den zeitlichen Verlauf darstellt und somit Rückschlüsse auf die jeweilige zeitliche Dimension zulässt. [16]
In den folgenden Analysen habe ich mich zunächst auf den ersten Aspekt einer Form- und Funktionsanalyse der verwendeten Zahlen beschränkt. [17]
3.3 Formen und Funktionen des Topos der Zeit
Bei den für die Verwendung von Zahlen in diesem Material prototypischen Belegen handelt es sich um Ausschnitte aus verschiedenen Gesprächen. Gemeinsam ist ihnen, dass in auffälliger Weise Zahlen verwendet werden, meist zwei Zahlen hintereinander in enger interaktiver Verschränkung. Innerhalb der Argumentationssequenz treten die Zahlen in den Handlungsschritten Dissensmarkierung oder Darlegungshandlung auf. Aus den Ergebnissen kann eine Klassifikation erstellt werden, die drei verschiedene Modi der Verwendung von Zahlen als Topos der Zeit umfasst. Voneinander zu unterscheiden sind Angaben zum (richtigen) Zeitpunkt, zur zeitlichen Dauer von etwas und zur Anzahl, wobei die übergeordnete Kategorie die Angaben zum (richtigen) Zeitpunkt enthält, also qualitative Aspekte der Zeit. Die Relevantsetzungen des Zeitpunktes werden entweder mit Angaben zur Dauer oder Angaben zur Anzahl assoziiert, also quantitativen Aspekten der Zeit. Die Kategorie der Anzahl umfasst Angaben zur Zählbarkeit von Dingen oder Ereignissen. Deutlich wird daran, dass die Unterscheidung in chronos-Zeit und kairós-Zeit von den Gesprächsteilnehmerinnen zwar getroffen wird, aber beide "Zeiten" immer gekoppelt auftreten. Der Zeitpunkt – zu denken als rechter kairós – wird gekennzeichnet durch das Erreichen einer bestimmten Anzahl oder den Ablauf einer bestimmten Dauer. Auf diese Weise werden chronos-Aspekte zum Hilfsmittel bei der Skalierung von Zeit. Die Gesprächsteilnehmerinnen zeigen sich also durch die Verwendung von Zahlen eine Orientierung am Thema Zeit auf. Hervorzuheben ist, dass in den Gesprächen die Erfahrung von Zeit in ihrem linearen Ablauf von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft keine Rolle spielt, hingegen die Unterscheidung der Zeit in ihre quantitativen und qualitativen Momente wesentlich ist. Deshalb können diese drei Modalitäten des Gebrauchs auf die Konzepte des chronos und kairós zurückgeführt werden. [18]
Zu den qualitativen Angaben gehören Markierungen des Zeitpunktes. Sie können unterschieden werden als Erreichen des richtigen Moments sowie Verpassen oder Vorzeitigkeit des richtigen Moments. Die folgenden Beispiele zeigen die enge Kopplung von Zeitpunkt und Dauer. Es handelt es sich um faktische Zahlen im Modus der Dauer, die wiederum einen bestimmten Punkt markiert, der mehr beinhaltet, als nur die Bestimmung von Anfang und Ende eines Abschnittes. [19]
Das erste Beispiel "drei oder vier Wochen" ist prototypisch sowohl in Bezug auf die Argumentationssequenzgestalt als auch auf den Nachweis der interaktiven Realisation von Zahlen.
Beispiel 11) [20]
Das Thema "Zeit" zieht sich in Variationen durch das gesamte Gespräch und wird von den Teilnehmerinnen immer wieder relevant gesetzt. Das Gespräch initiiert die Tochter, indem sie ankündigt, dass sie in der kommenden Nacht bei ihrem Freund schlafen wird. Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden Fragen der Selbstbestimmtheit und moralische Aspekte gelebter Sexualität bearbeitet. Der spezifische Zuschnitt, den die Interaktantinnen wählen, um diese beiden bedeutenden Themen alltagspraktisch zu bearbeiten, ist das Thema Zeitlichkeit. Die Tochter ratifiziert das von der Mutter gesetzte Thema Zeit, indem sie am Anfang des Ausschnittes auf die mütterliche Eröffnung, sie kenne ihren Freund erst drei oder vier Wochen, mit einer Korrektur reagiert. Das ist der Ausgangspunkt für Fragen der Zeit. Das Datum ist das Ereignis, welches das Ablaufen der Zeit anzeigt und gleichzeitig jener Zeitpunkt, der eine qualitative Änderung bringt. Es ist nicht irgendein Tag, sondern genau der Zeitpunkt, an dem etwas Neues, etwas Anderes möglich wird. Gestützt wird eben dieses Umschlagen mit der Zeit selbst – die Zeit als Dauer begründet den guten Zeitpunkt. [21]
Der Ausschnitt zeigt eine interaktiv entwickelte und abgeschlossene Argumentationsgestalt. Die Äußerung der Mutter in den Zeilen 9-11 wird zur Auslösehandlung für die Tochter. Der Dissens, mithin als konstatierte Strittigkeit die Eröffnung der Argumentation, wird in Zeile 12 (/wie viel/) markiert als erstaunte Nachfrage. Die Mutter behält ihr Rederecht, konzediert eine Verschiebung auf die größere Zahl und führt selbstreferentiell weiter. Dadurch folgt eine interaktive Schleife, die Tochter wiederholt die Dissensmarkierung im expliziten Widerspruchsformat (Zeile 14) und schließt ihre Darlegungshandlung an. Die Mutter ratifiziert durch Kompetenzzuschreibung an die Tochter, die wiederum ihre Darlegung fortführt, welche von der Mutter durch die Wiederholung ratifiziert wird. Es folgt die Akzeptanz der Ratifikation per /ja/ durch die Tochter und somit ist die Argumentationssequenz geschlossen. Die verwendeten rhetorischen Verfahren sind "Faktizität bestreiten" seitens der Mutter und "Faktizität demonstrieren" seitens der Tochter mittels des Kalenders. Die Zahlen charakterisieren das Verfahren. Argumentiert wird hier nach allen Regeln der Kunst, denn es werden verschiedene Beweismittel verwendet. Die Tochter schlägt die Dauer ihrer Beziehung im Kalender nach. Das ist am hörbaren Rascheln und Umblättern (Zeile 18) sowie an der sprecherischen Gestaltung ablesbar, die sich durch Flüstern sowie typische Verzögerungssignale empraktischen Sprechens auszeichnet. Mit dem Kalender verwendet sie ein "inartifizielles Überzeugungsmittel" (ARISTOTELES 1993, I., 2., 2.). Gute Argumente sind nach ARISTOTELES artifizielle Überzeugungsmittel, da sie auf der Anwendung der rhetorischen oder dialektischen Theorie beruhen. Dagegen müssen inartifizielle Überzeugungsmittel, wie z.B. Zeugenaussagen oder Beweismittel, "nur" vom Argumentierenden gefunden werden, denn sie beruhen nicht auf der klugen Anwendung der Theorie. Der Kalender in seiner sozialen Funktion ermöglicht das Überprüfen der herangezogenen Fakten, denn "dieses Zeugnis gilt einem kontingenten Ereignis, keinem metaphysischen Begriff von der Zeit" (MACHO 2003, S.188). Das argumentative Potenzial der Kalenderprüfung hinsichtlich seiner Stichhaltigkeit in Bezug auf den Dissens wird in Zeile 16 /kann=s dir genau sagen/ in Anschlag gebracht. Der Kalender, obgleich ein kulturell erschaffenes Instrument, wobei das Bewusstsein für seine Gemachtheit längst verschwunden ist (vgl. ELIAS, 1988, S.181), garantiert die notwendige Punktgenauigkeit und Präzision. Die Verwendung des Kalenders ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Interaktantinnen auch nicht-sprachliche Mittel nutzen, um die jeweilige Referenz auf Zeitlichkeit herzustellen. Damit kann GÖTZEs Forderung empirisch unterstützt werden (siehe Abschnitt 3.2). [22]
Das zweite Beispiel "Wann bügeln" zeigt wieder die Relevantsetzung von Zeit durch Angaben zu Zeitpunkt und Dauer. Hervorzuheben ist in diesem Beispiel die Kopplung mit einem elocutionellen Stilmittel, der Hyperbel, und somit wird eine andere Funktion der Zahlenverwendung erfüllt, die der Herstellung von Anschaulichkeit. Im Gespräch wird die Art der töchterlichen Mithilfe im Haushalt thematisiert.
Beispiel 2 [23]
Die in diesem Ausschnitt vorzufindenden Zahlen werden interaktiv anders entwickelt. Der Dissens ist nicht konfrontativ, denn die Strittigkeit der Forderung wird zwar anerkannt, die Schlussfolgerung daraus aber nicht. Entscheidend ist die Frage des Zeitpunktes, die hier verhandelt wird. Das Thema Zeit wird von der Mutter in Zeile 31-35 explizit als Dauer (chronos-Zeit) relevant gesetzt. Sie fordert, dass in diese Dauer verschiedene Dinge untergebracht werden müssen, wie beispielsweise das Bügeln. Die Mutter markiert den Dissens per /ja aber/ und schließt ihre Darlegung an, welche auch die Zahl enthält (/acht tag/). Lexiko-semantisch handelt es sich bei der Formulierung /acht tag/ um eine feste Fügung, die synonym für die Dauer einer Woche steht. Diese feste Fügung fungiert als Mittel der Illustration und Übertreibung. Als argumentativ relevant setzt die Mutter hier wieder den zeitlichen Aspekt, aber in einer anderen Modalität, der des Zeitpunktes. Es wird der Wechsel von chronos zu kairós vollzogen, der damit begründet wird, dass nach acht Tagen der kairós des guten Bügelns überschritten sei. Die Tochter weist die Ausfüllung der gesetzten zeitlichen Aspekte zurück und postuliert, genau dann zu bügeln, wenn sie es bräuchte. Sie nutzt ebenso Angaben zum Zeitpunkt, dies aber zielorientiert in ihrer eigenen Perspektive, denn sie spezifiziert diesen Moment anlassgebunden und nutzt gleichzeitig eine Zahl im Modus des Zeitpunktes zur Verstärkung. Durch die Verwendung dieser Zahl kommt eine extreme Hochstufung durch die Übertreibung (wenn nötig, bügelt sie sogar im Morgengrauen!) zum Ausdruck. Das Kriterium der Tochter ist nicht die Zeit als Dauer, also kein allgemeingültiges, externes Kriterium, sondern das Setzen eines Zeitpunktes entsprechend der persönlichen Notwendigkeit als einem internen Kriterium. Der kairós richtigen Bügelns ist hier doppelt markiert. Gleichzeitig ist das ein Beispiel für die Pro-Contra-Potenz eines Topos. Dieser wird von beiden Interaktantinnen genutzt, in je eigener Perspektive deutlich markiert und somit für die eigenen Zwecke zielorientiert eingesetzt. [24]
In diesen Ausschnitten wird Zeitlichkeit durch die Kopplung von Angaben zum Zeitpunkt und zur Anzahl relevant gesetzt. Angaben zur Anzahl stützen den Zeitpunkt, denn es geht um die Auszeichnung des richtigen Momentes. [25]
Im Beispiel "der zwanzikschte" fällt in der Äußerung der Tochter die Verwendung der Zahl 20 in Verbindung mit dem Freund auf. Das meint die Anzahl von zukünftig zu habenden Freunden, die gleichzeitig einen besonderen Zeitpunkt markiert.
Beispiel 3 [26]
Diese Zahl wird von der Tochter systematisch vorbereitet. Der besondere Zeitpunkt, nämlich jener, an dem die Tochter dann "richtigerweise" bei einem Freund übernachtet, wird durch die Verwendung dieser Zahl charakterisiert. Argumentationssequenziell ist die Zahl in der Darlegungshandlung verortet. Die Tochter führt nach der Dissensmarkierung per Zurückweisung der mütterlichen Ansicht als einer nicht geteilten Ansicht eine im Widerspruchsformat gerahmte Darlegung ein, die mit einer Bewertung beginnt. In ihrer Darlegungshandlung wird ein linear zu denkender Zeitstrahl aufgemacht. Im Präsens äußert die Tochter ihre Bewertung (/ich sieh des net als was schlimmes an/) und eröffnet die mögliche Dauer ihrer Einstellung durch den Gebrauch von /so lang/, eines Adverbs zur Dauer und der Gradpartikel /noch/. Diese Gradpartikel, deren Bezugselement das nachfolgende /nicht/ ist, markiert den Einschnitt in diese Dauer und verstärkt so die Betonung des möglichen Zeitpunktes. Der mögliche Zeitpunkt der Einstellungsänderung wird im Folgenden (/vielleicht kapier ich=s erscht beim/) weiter spezifiziert, aber in seiner Gültigkeit und Auftretenssicherheit eingeschränkt. Durch die Verwendung der Gradpartikel /erst/ als einem temporal deiktischen Ausdruck wird die Dauer skaliert und gleichzeitig ein möglicher zukünftiger Einstellungsänderungszeitpunkt projiziert. Auf diese Weise vorbereitet, benennt sie den Zeitpunkt mit einer Zahl "zwanzikschte freund" und wechselt dabei den zeitlichen Modus: Sie bindet den möglichen Zeitpunkt der Einstellungsänderung an eine bestimmte Anzahl von Freunden (die man ja auch in drei Tagen haben könnte) und bleibt bei der Markierung als Möglichkeit. Hier markiert die Zahl den richtigen Moment, also den Zeitpunkt. Bezogen auf die lexikalisch-stilistische Ebene handelt es sich bei der Verwendung "der zwanzikschte freund" um das rhetorische Stilmittel der Hyperbel (vgl. UEDING & STEINBRINK 1994, S.293; OTTMERS 1996, S.180). QUINTILIAN schreibt über die Hyperbel, sie bestünde "in einer schicklichen Übersteigerung der Wahrheit; ihre Leistung liegt in gleichem Maße auf den entgegengesetzten Gebieten des Steigerns und des Verkleinerns. [...] sie sagt mehr, als geschehen ist" (QUINTILIAN 1995, S.67). Im Beispiel wird diese Diskrepanz zwischen Faktizität und situativer Verwendung deutlich. Durch die systematische Vorbereitung der Hyperbel zeigt sich die Einbettung in eine amplificatio der Sprecherin (zum Konzept der amplificatio als einem rhetorischen Mittel zur Steigerung und Affekterregung vgl. UEDING & STEINBRINK 1994, S.271ff.), die auch ihre Wirkung, nämlich die Erwartungen der Mutter betreffs des töchterlichen Verhaltens zu karikieren, nicht verfehlt. Das ist ablesbar an der echohaften Reaktion der Mutter. In diesem Ausschnitt wird auch die enge Verknüpfung der Handlungsebene mit der lexiko-semantischen Ebene sowie den rhetorischen Verfahren deutlich. [27]
Im folgenden Beispiel "alle jahr" steht die Opposition zwischen einem einmaligen Zeitpunkt und einer wiederkehrenden Anzahl im Mittelpunkt.
Beispiel 4 [28]
Im Kontext dieses Ausschnittes geht es um die Entscheidung der Tochter, der Teilnahme an einer Konfirmation den Vorzug vor der Teilnahme am mütterlichen Geburtstag zu geben, der am selben Tag stattfand. Durch sokratische Fragetechnik vorbereitet, ist die Zahl innerhalb der Argumentationssequenz in die Darlegung eingebettet. Das verwendete rhetorische Verfahren ist "Faktizität demonstrieren", welches der Rahmung des Folgenden dient. Die Mutter kündigt ein fiktives Szenario an, wozu sie eine Wenn-dann-Konstruktion eröffnet, die auf den Topos der Konsequenz verweist. In diesem Gespräch finden sich mehrere Zahlen in unterschiedlicher Verwendung. Die Opposition im Modus der Anzahl (einmal ↔ jedes Jahr) tritt hochfrequent im gesamten Gespräch auf. Das gestellte Problem ist ein "zeitliches" insofern, als ein einmaliger (faktischer) Zeitpunkt gegen die (ebenso faktische) alljährliche Wiederholung des Ereignisses gesetzt wird, wobei die Wiederholung offensichtlich das Ereignis entwertet. Hier wird das Urbild der chronos-Zeit in Anschlag gebracht, das Lebensalter. [29]
Im Beispiel "sechzehn mal – achtzehn mal" werden die Zahlen zur Angabe einer Anzahl genutzt. Der Ausschnitt ist der direkte Anschluss an das vorhergehende Beispiel, in dem die interaktive Entwicklung des Topos der Zeit fortgesetzt und die Argumentationssequenz geschlossen wird.
Beispiel 5 [30]
Die Tochter beginnt in Zeile 48 die Darlegungshandlung, die verwendete Zahl zur Bezeichnung einer zeitlichen Wiederholung (/sechzehn mal/) wird zudem qualifiziert durch /mindestens/, was bedeutet, es könne auch öfter gewesen sein. Interessant ist hier die Referenz. Es ist eine faktische Zahl, die auf das Lebensalter der Tochter verweist – das müssten Mutter und Tochter eigentlich sicher wissen. Prosodisch ist diese Sequenz vor allem im Hinblick auf stimmliche Kriterien sehr auffällig. Die Tochter verlässt die Indifferenzlage und wechselt mit deutlicher faukaler Enge ins Kopfregister. Diese stimmlichen Merkmale kontextualisieren die Kategorie "Kind" und zeigen gleichzeitig eine hohe emotionale Beteiligung an (vgl. die Beschreibung des "kindertümelnden Sprechausdrucksmusters" bei BOSE 2003, S.230). Von der Mutter wird diese Zahl wiederholt, sie übernimmt auch die Akzentuierung. Die sprecherische Gestaltung klingt wie ein Echo, dessen prosodische Kennzeichen eine geringere Artikulationsspannung, abnehmende Lautstärke sowie zunehmende Sprechgeschwindigkeit sind. [31]
Die Zahlen im Modus der Anzahl markieren in diesem Beispiel nur quantitative Aspekte. Wie diese qualifiziert werden können, wird im nächsten Beispiel gezeigt. Dieses letzte Beispiel "kleines Kind" fokussiert den Zeitpunkt, an dem ein bestimmtes Alter eine qualitative Änderung erfährt, somit ein bestimmter kairós das Ablaufen der Jahre voneinander unterscheidet. Gekoppelt wird dieser Moment an die zählbare Anzahl der Anwesenheit.
Beispiel 6 [32]
Es wird deutlich, dass die Mutter die töchterlichen Zahlenangaben, wie oft diese schon beim Geburtstag anwesend war (siehe vorangegangenes Beispiel) als Altersangabe auffasst und den relevanten Zeitpunkt in die Vergangenheit verlegt. Argumentationssequenziell ist es in der Darlegungshandlung verortet. Es wird die nachprüfbare Anzahl der Anwesenheit gegen eine eher unscharfe Angabe gesetzt sowie eine Änderung in die ernste Modalität vollzogen. Es findet hier seitens der Mutter eine lokale Bedeutungsverschiebung des Referenzrahmens der Zahlen statt. Sie verschiebt ausgehend von der faktischen Anzahl der Anwesenheit, einem quantitativen Kriterium, hin zu einem qualitativen Kriterium von Anwesenheit im Sinne von Zurechnungsfähigkeit bzw. des bewussten /mitkriegens/ eines Ereignisses. Es geht darum, nicht nur anwesend zu sein, sondern in bestimmter Weise anwesend zu sein. Die Tochter greift es auf und bindet die Kategorie Kleinkind wieder an ein qualitatives Kriterium im Sinne eines Zeitpunktes, nämlich den des Sich-erinnern-könnens, und weist damit die einfache Altersangabe als nicht stichhaltig zurück. [33]
4. Zusammenfassung und Diskussion
Der Topos der Zeit, an der sprachlichen Oberfläche in diesen Gesprächen häufig realisiert als Verwendung von Zahlen und anderen Temporalbestimmungen auf der lexikalischen Ebene, hat im vorliegenden Material verschiedene Funktionen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ähnliche Gesprächssituationen übertragen lassen. Innerhalb der Argumentationssequenz treten die verwendeten Zahlen als Auslöser von Dissens auf und haben somit die Funktion, Strittigkeit präzise zu markieren. Des Weiteren werden sie für die Darlegung der eigenen Position genutzt und garantieren wiederum Präzision, aber auch Anschaulichkeit. Diese Zahlen repräsentieren zeitliche Angaben, wobei einerseits quantitative, andererseits qualitative Aspekte von Zeit relevant gesetzt werden. [34]
Der Topos der Zeit hat, wie den Topoi immanent, Pro-Contra-Potenz und ist polyvalent auslegbar. Das wird im vorliegenden Material deutlich an der interaktiven Bearbeitung des eingeführten Zeit-Themas. In den vorliegenden Daten wird dieser Topos von der Gesprächspartnerin nie zurückgewiesen. Vielmehr entwickelt sich immer eine gemeinsame Bearbeitung, die am Auftreten der direkten Zahlenpaare, die teils in Opposition zueinander gesetzt werden, sichtbar wird. Die Verwendung einer Zahl zieht also eine nächste Zahl nach sich. [35]
Zahlen treten in Kookkurrenz mit gemeinsamen Modalitätswechseln auf. Wenn die Modalität etabliert ist, hat der Topos der Zeit eine hohe interaktive Bindung. Entsprechend der etablierten Modalität im Gespräch nutzen die Teilnehmerinnen imaginäre und faktische Zahlen. Diese statischen Kategorienbezeichnungen dienen nur einer ersten Ordnung, denn sie repräsentieren das Prozessuale im gemeinsamen Herstellungsprozess nicht ausreichend. Beide Arten haben unterschiedliche Funktionen. So sind faktische Zahlen wie beispielsweise in "drei oder vier Wochen" als eine Referenz auf die reale Lebenswelt der Teilnehmerinnen zu werten, während imaginäre Zahlen wie beispielsweise in "wann bügeln" oder "der zwanzikschte" ein rhetorisch-elocutionelles Stilmittel darstellen. Diese Zahlen fungieren als Hyperbel, denn die Vagheit ist funktional, wenn die Teilnehmerinnen damit die spezifischen Anforderungen des Redens über ein tabuisiertes Thema bewältigen (zu sprachlichen Verfahren des Tabu-Diskurses vgl. GÜNTHER 1992). Das liegt in den Beispielen "drei oder vier Wochen" oder "der zwanzikschte" vor. Imaginäre Zahlen, formseitig als formelhafte Zeitangaben geäußert, sind oft Teil von Redewendungen. Funktional tragen sie nicht zur Zuspitzung des Konflikts bei, was im Gegensatz zu jenen Zahlen steht, denen keine Redewendung zugeordnet werden kann, denn diese forcieren den Konflikt. [36]
Argumentieren mit Zahlen dient als ein Mittel zur Herstellung von Faktizität. Es können solche rhetorische Verfahren nachgewiesen werden, die auf der interaktionskonstitutionellen Ebene der Modalitäten anzusiedeln sind. Dazu gehören Verfahren, die das Beanspruchen, Demonstrieren oder Anzweifeln von Faktizität, Subjektivität und Normativität ermöglichen. Das Aushandeln von Faktizität ist oft verknüpft mit Kompetenzbeanspruchung. Diese Funktion hat die Zahlenverwendung im Beispiel "drei oder vier Wochen": Die Tochter beansprucht Kompetenz in Bezug auf das Wissen über die Dauer der eigenen Beziehung, während die Mutter Kompetenz als eine moralische Instanz beansprucht. Wenn mit Zahlen argumentiert wird, wird aber "scheinbare" Faktizität gezeigt, denn Zahlen "lügen" nicht, sie sind eindeutiger als viele Worte und lassen keine verschiedenen Interpretationen zu. Die Gesprächsteilnehmerinnen zeigen sich die Orientierung an der empirischen Realität auf und offerieren sich gleichzeitig die Möglichkeit der Nachprüfbarkeit. Dass diese Möglichkeit auch genutzt wird, zeigt die Kalenderprüfung im Beispiel "drei oder vier Wochen". [37]
Auch wenn die Struktur des vorliegenden Textes Darstellungskonventionen geschuldet ist und dadurch möglicherweise die Anwendung eines bestehenden Begriffsapparates suggeriert, soll betont werden, dass die Rückbezüge auf die antike Auslegung des Topos der Zeit erst nach einem Materialdurchgang möglich waren. Dieser Rückbezug ist ausgesprochen spannend, denn es konnten Spuren der von ELIAS (1988, S.9) betonten koordinierenden und integrierenden Funktion der "Beziehungsform" Zeit, die an Institutionen und gesellschaftliche Abläufe angepasst wird, in den Alltagsgesprächen nachgewiesen werden. Diese soziale Zeit muss von der physikalischen Zeit, also jenem Begriff, der auf GALILEIs Messungen zurückgeht, unterschieden werden. So kann das Konzept des kairós auch als "soziale Zeit" (vgl. MÜNCH 1996) beschrieben werden, bei der es um die Beantwortung sozial relevanter Wann-Fragen geht. Der Bezugsrahmen ist dabei punktartig und nicht kontinuierlich wie bei Vorstellungen zur linearen Zeit. Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Zeit nicht immer nur in ihrer linearen Abfolge konzeptualisiert wird. Der "Fluss der Zeit" wird skaliert und die stichhaltige argumentative Ressource sind die qualitativen Aspekte, eben die besonderen Momente. Mag dieser qualitative Aspekt der Zeit auf den ersten Blick zum konventionellen, quantitativ orientierten Verständnis von Zeit nicht recht zugehörig erscheinen, so drängt er sich aber beim Nachdenken über das Handeln der Gesprächsteilnehmerinnen, spannende und besondere Zeitpunkte in Tagen oder Wochen messbar zu machen, auf. Es lassen sich somit Reflexe auf diese alte Unterscheidung der Zeit in qualitative und quantitative Aspekte finden. [38]
Die Nutzung von faktischen Zahlen als Referenz auf die reale Lebenswelt der Teilnehmerinnen hat in diesem Material auch eine globale Funktion, die von den Analysen des lokalen Kontextes abstrahiert. Diese Gespräche sind in den lebensweltlichen Kontext von Erziehung einzuordnen und somit ist die Themati-sierung von Alter und den dazugehörigen Handlungszuschreibungen charakteristisch für das Material, weil dieses Thema Bestandteil von Erziehung ist. Es ist in einem Diskurs angesiedelt, in dem "noch Kind sein" versus "schon erwachsen sein" sowie die Spannung zwischen "alt genug sein für verschiedene Pflichten" versus "alt genug sein, um bestimmte Rechte zu haben" ständig zwischen Müttern und Töchtern verhandelt wird. Aus den vorliegenden Befunden leitet sich daher eine nächste Forschungsfrage ab. Es ist zu untersuchen, auf welche Weise und mit welcher Funktion die Kategorie "Alter" mitsamt ihren Implikationen als argumentative Ressource von den Gesprächspartnerinnen eingesetzt wird. "Alter" ist dabei als zeitliche Kategorie zu verstehen, die die eigene Lebenszeit in der Verknüpfung mit der Zeit der anderen umfasst. Die auf den Zahlen fußenden Auswertungen zeigen bisher, dass in diesen Gesprächen nicht definiert wird, was "Alter" ist, sondern die Handlungsimplikationen sowie die Selbst- und Fremdzuschreibungen altersadäquaten Verhaltens argumentativ genutzt und interaktiv hergestellt werden, wobei Mütter und Töchter die Kategorie "Alter" in diesen Gesprächen in unterschiedlicher Weise behandeln. "Alter" wird von den Müttern häufiger argumentativ genutzt, um Verhaltensnormen abzuleiten und Restriktionen des töchterlichen Verhaltens zu begründen, während die Töchter mit dem gleichen Topos neue Rechte für sich zu erstreiten versuchen. [39]
Andere weiterführende Fragestellungen ergeben sich aus den Themen, die in der vorliegenden Analyse aus der Betrachtung ausgeschlossen wurden. Das sind Phänomene bestimmter gesprächsorganisatorischer oder sprachlicher Verfahren, die in besonderer Weise mit der ablaufenden Zeit zu tun haben, wie beispielsweise das Timing in Gesprächen, einschließlich der Sprecherwechselorganisation als einer großen Synchronisationsleistung (vgl. u.a. DEPPERMANN 1999; DEPPERMANN & SPRANZ-FOGASY 1998; O'CONNEL & KOWAL 1996). Zum anderen zählt dazu der Rhythmus, für dessen Definition ein bestimmter Ablauf in der Zeit sowie die Zeitmessung als Festlegung von Dauer und Intervallen konstitutiv ist (vgl. dazu STOCK & VELIČKOVA 2002; AUER & COUPER-KUHLEN 1996). Das sind zeitliche Phänomene, die in Beziehung gesetzt werden müssen zu den hier beschriebenen Referenzen auf Zeitlichkeit. Es kann erwartet werden, dass enge Verknüpfungen auftreten. Ähnlich wie es BOSE und GUTENBERG (2006) für das enge Zusammenspiel von prosodischer Markierung und genutzter argumentativer Figur, des Enthymems, gezeigt haben, ist zu erwarten, dass beispielsweise prosodische Markierungen des Rhythmus auf den Modus des Zeitlichen verweisen. [40]
Abschließend ist zu bekräftigen, dass es sich lohnt, dem unauffälligen und scheinbar unproblematischen Phänomen von Zahlen in der Argumentation nachzugehen, da es auf das komplexe und schwer zugängliche soziale Konstrukt "Zeit" verweist. Denn: "Wer die Zeit erforschen will, muss die Kalender und Sterne, Chronologien und Uhren, Historien, Statistiken und Institutionen studieren – nicht die Geschichte der Metaphysik" (MACHO 2003, S.190). MACHOs programmatische Spezifizierung der Zeit als Untersuchungsgegenstand sollte jedoch um einen wichtigen Aspekt erweitert werden: das Argumentieren mit Zahlen in Alltagsgesprächen. [41]
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Cordula SCHWARZE, Dipl.-Sprechwiss., Forschungsinteressen: Rhetorik, Topik, Argumentationsanalyse, Gesprächsanalyse, Prosodie
Kontakt:
Cordula Schwarze
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
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