Volume 15, No. 1, Art. 22 – Januar 2014
Rezension:
Axel Philipps
Gerald Beck (2013). Sichtbare Soziologie. Visualisierung und soziologische Wissenschaftskommunikation in der Zweiten Moderne. Bielefeld: Transcript (Sozialtheorie); 226 Seiten; ISBN: 978-3-8376-2507-3; 29,80€
Zusammenfassung: Visualisierungen von Wissen hatten und haben im Kern des Faches Soziologie einen schweren Stand. Gerald BECK nimmt sich daher in seinem Buch "Sichtbare Soziologie" der Thematik an, um die Stellung von Visualisierungen in der Soziologie zu verstehen, damit verbundene Problemfelder zu identifizieren und für visuelle Umsetzungen zu sensibilisieren. Er setzt dazu beim Übergang zur Zweiten Moderne an und betrachtet anhand von neun Fallbeispielen gelungene und weniger gelungene Visualisierungen. Durch die verkürzte Aufarbeitung des Verhältnisses der Soziologie zum Bild bleiben jedoch wichtige Einsichten unberücksichtigt, sodass BECKs Empfehlungen, die Zahl der Visualisierungen und die visuelle Kompetenz zu erhöhen, kaum geeignet sind, die Skepsis in der Soziologie gegenüber Visualisierungen zu überwinden.
Keywords: Wissenschaftsforschung; Wissenschaftssoziologie; Soziologie; Visualisierung; Bildanalyse
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Von der praxisorientierten Wissensproduktion zur Visualisierungen in der Soziologie
3. Die Fallbeispiele
4. Die lange Geschichte der Visualisierungen in der Soziologie
5. Visualisierungen in mode-1 und mode-2
6. Fazit
Bilder und Visualisierung in den Wissenschaften werden im wachsenden Maße zum Gegenstand der Forschung. Vor allem in den Science & Technology Studies finden sich verschiedene Untersuchungen zur Produktion, Verwendung und Rezeption von Visualisierungen in den Naturwissenschaften. Kaum berücksichtigt sind hingegen visuelle Darstellungen in den Sozialwissenschaften. Folglich sind Analysen, die zur Schließung der Forschungslücke beitragen, besonders relevant und zu begrüßen. Einen solchen Beitrag verspricht das Buch von Gerald BECK (2013), da es die Rolle von Visualisierungen in der soziologischen Wissensproduktion und -kommunikation, deren Binnenwirkung auf die Disziplin sowie die Wahrnehmung und Verwendung außerhalb der Soziologie zum Inhalt hat. Die empirische Grundlage bilden neun Fallbeispiele von visuellen Darstellungen soziologischen Wissens und deren Nutzung. [1]
2. Von der praxisorientierten Wissensproduktion zur Visualisierungen in der Soziologie
BECK beginnt sein Buch mit zwei Feststellungen: Einerseits sei die Soziologie in der Öffentlichkeit kaum sichtbar und andererseits verwende sie kaum visuelle Darstellungen. Das Fach hege sogar, so seine weiter gehende Diagnose, eine Abneigung gegenüber Bildern. Den Grund dafür sieht er in der Eigenheit von Forschungsgegenständen der Soziologie. Diese seien in der Regel unsichtbar. Die Folge der sogenannten Bilderfeindlichkeit sei schließlich, dass in der Soziologie Bilder fehlten und damit eine Möglichkeit, anhand von Visualisierungen soziologisches Wissen über die Disziplingrenzen hinaus zu kommunizieren. Er begrüßt daher eine Zunahme an soziologischen Verbildlichungen in jüngster Zeit. Aber es fehle noch eine Auseinandersetzung mit solchen Visualisierungen: "Die Wissenschaft, ja sogar die textverliebte Soziologie, hat sich also darauf eingelassen, zu visualisieren. Welche Folgen hat das in der Wissenschaftskommunikation und für das Verhältnis zur Öffentlichkeit?" (BECK, S.47) [2]
Die von ihm beobachtete "neue Bildlichkeit in der Soziologie" (S.17) führt er auf den Prozess reflexiver Verwissenschaftlichung zurück. Die Wissenschaften hätten ihre unhinterfragte Autorität verloren. In der "Zweiten Moderne" (BECK 1986) kämen die Folgen der Modernisierung in den Blick, wodurch auch der Glaube an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Funktionalität der disziplinären Eigenlogik in der Erkenntnisproduktion schwinde. Die Wissenschaften seien vermehrt konfrontiert mit neuen Erwartungen wie erhöhte Rechenschaftspflicht, die Einbindung weiterer Disziplinen und nicht-wissenschaftlicher Akteur_innen in die Wissenserzeugung sowie eine stärkere Anwendungsorientierung (BECK 1986; GIBBONS, SCOTT & NOWOTNEY 1994; NOWOTNY, SCOTT & GIBBONS 2004). Mit dem Übergang von einer autoritativen Wissenschaft zu einer Ratgeberin unter Bedingungen von Ungewissheit würden schließlich auch die Visualisierungen an Bedeutung gewinnen. BECK erklärt also die Zunahme von Verbildlichungen in der Soziologie mit einer veränderten Form der wissenschaftlichen Wissensproduktion. Visualisierungen würden dabei eingesetzt, "um sowohl wissenschaftsintern (und hier immer häufiger transdisziplinär) als auch an der Schnittstelle zur Gesellschaft ihre Arbeit zu (re)präsentieren und damit zur Diskussion zu stellen" (S.35). Folglich verändere sich mit den Visualisierungen nicht nur die Art der Wissensproduktion und -kommunikation, sie eröffneten zugleich die Chance, mit der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit in einen Dialog zu treten. Gerade vor diesem Hintergrund und der Feststellung, dass die Soziologie mit Visualisierungen "Neuland" (S.192) betrete, sei es wichtig, diese selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen und die "visuelle Kompetenz" (Vertrautheit mit Gütekriterien für Visualisierungen) unter Soziologinnen und Soziologen zu stärken. [3]
BECK unterscheidet auf der Basis eigener empirischer Beobachtungen zwischen drei Formen von Visualisierungen in der Soziologie. Es gebe erstens jene visuellen Darstellungen, die noch wenig reflexiv seien, aber "aufklären" (sichtbar machen) wollen. Zweitens seien davon Visualisierungen zu differenzieren, die Aufklärung mit der Erzeugung von "dichtem Wissen" verknüpfen, d.h., sie fügen neue Bedeutungsschichten zu Texten hinzu. Schließlich gebe es drittens Bildlichkeiten, die neben Aufklärung und dichtem Wissen "interaktiv" (von den Produzent_innen sowie von den Nutzer_innen) gestaltbar seien. [4]
Er wählt für diese Visualisierungstypen Fallbeispiele aus und unterzieht sie einer semiotisch-bildhermeneutischen Analyse. Mithilfe der Semiotik will BECK die Zeichenhaftigkeit der Visualisierungen herausarbeiten und in einen Zusammenhang mit kulturellen Schemata bringen. Darüber hinaus verbindet er mit seiner Untersuchung, die kontextbezogene Rezeption und Verwendung sowie die Wirkung der Bilder auf Betrachterinnen und Betrachter zu thematisieren. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet er auf den Umgang mit Ambivalenz bzw. Ungewissheit in den Visualisierungen. [5]
Analysiert werden schließlich jeweils zwei Fallbeispiele pro Kategorie. Die Fälle werden hinsichtlich ihrer Funktion, der damit verknüpften Intention sowie in ihrer Wirkung untersucht. Innerhalb der Kategorien sind die Fälle kontrastiv gewählt. Es gibt jeweils mindestens ein Beispiel für eine gelungene bzw. für eine problematische visuelle Umsetzung. [6]
Exemplarisch für eine gelungene Aufklärung ist für BECK das "Zwiebel-Modell" von Karl-Martin BOLTE, KAPPE und NEIDHARDT (1966). Das Modell mache mehr als Fakten sichtbar und lege zugleich Ungewissheiten offen. Problematisch sei hingegen eine Grafik zum demografischen Wandel der Bundesanstalt für politische Bildung. Diese Visualisierung sei einseitig negativ und vermeide die Darstellung von Ambivalenzen. So bleibe das Bild nahe an der zahlenmäßigen Repräsentation und es fehle eine visuelle Markierung der Differenz zwischen faktischen und prognostischen Ergebnissen. [7]
Gelungene Visualisierungen, die dichtes Wissen erzeugten, seien ergänzende Fotografien zu Interviews zum Thema Individualisierung (BECK, VOSSENKUHL & ZIEGLER 1997). Das Zusammenspiel von Erzählung und Bild verdichte und konkretisiere lebensweltlich den abstrakten Begriff Individualisierung. Weniger gelungen sei hingegen die Verbindung von soziologischer Beschreibung und Fotografie im Sammelband "ÜberLeben im Umbruch" (BUDE, MEDICUS & WILLISCH 2011): Der Anspruch, mit künstlerischen Fotos wissenschaftliche Ergebnisse sichtbar zu machen, könne kaum eingeholt werden, weil die Beziehung zwischen den Bildern und Textinhalten disparat bliebe. Vor allem würden die Fotos die Vielschichtigkeit der soziologischen Analysen negativ vereinseitigen, da sie nur Verfall und Agonie thematisierten. (Diese Lesart ist stark von den Reaktionen auf die Bilder geprägt und dürfte kontrovers aufgenommen werden.) Als ein weiteres Beispiel für unangemessene und zu stark marktorientierte Visualisierungen in der Soziologie führt BECK zudem PowerPoint-Präsentationen an. Sie würden häufig Nichtwissen verschleiern, anstatt es sichtbar zu machen. [8]
Ein besonders gelungenes Beispiel für Visualisierungen in der Soziologie stellt BECK aus einem eigenen Arbeitszusammenhang vor. Im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Kartierungen von Risikokontroversen sei eine Kartierung entstanden, die erstens solche Kontroversen sichtbar mache, zweitens über die Visualisierung weitere Bedeutungsschichten hinzufüge, drittens die umstrittenen Sachverhalte abbilde und viertens schließlich, Nutzer_innen aktiv einbeziehe. Dadurch könnten solche Kontroversen diskutiert und in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Die Kartierung sei also multiperspektivisch, unhierarchisch und dialogisch (S.165). Der Controversy Space Explorer, eine andere visuelle Umsetzung von Kontroversen, sei hingegen schlecht erfassbar und nur wenig bediener_innenfreundlich. [9]
Aus diesen eher anwendungsbezogenen Bewertungen zieht BECK mehr oder weniger zwei Schlussfolgerungen. Erstens sei die Soziologie auf dem richtigen Weg, sich mehr mit Visualisierungen soziologischen Wissens auseinanderzusetzen und solche anzufertigen. Das Fach könne damit nicht nur seine Anschlussfähigkeit außerhalb der eigenen Disziplin demonstrieren, sondern zugleich seine gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen. Zweitens müsse dazu aber noch die "visuelle Kompetenz" unter Soziologen und Soziologinnen gesteigert werden. Im Anschluss an Luc PAUWELS (2008) nennt BECK eine Reihe von Erfordernissen, denen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Soziologie stellen müssten. Schlüsselwege zu einem besseren Umgang seien die Vermittlung der Herstellungsregeln von Visualisierungen in der Ausbildung, Kooperationen mit Kunstschaffenden und Gestaltenden sowie mehr Forschung zu solchen Themen. [10]
4. Die lange Geschichte der Visualisierungen in der Soziologie
BECK rückt völlig zu Recht soziologische Visualisierungen und Bildlichkeiten als Forschungsdesiderat in den Vordergrund. Während Disziplinen der Natur- und Lebenswissenschaften vermehrt visuelle Darstellungen zur Kommunikation von Wissen nutzen, ist in der Soziologie weiterhin ein Ikonoklasmus tonangebend. Innerhalb des Faches überwiegt (noch immer) die Skepsis gegenüber visuellen Daten wie Bildern, Filmen oder Visualisierungen von soziologischem Wissen. Überzeugende Studien zu Visualisierungen in der Soziologie können folglich helfen, das Fach für dieses Thema zu öffnen und damit auch die analytischen und vermittelnden Möglichkeiten zu erweitern. [11]
Den Zugang zum Thema wählt BECK über die Wissenschaftskommunikation. Er betrachtet jedoch nur solche Visualisierungen, die innerhalb der Soziologie produziert werden, um soziologisches Wissen über die Disziplingrenzen hinaus zu vermitteln. Die Auswahl begründet er mit der Ausgangsthese seines Buches, dass die Soziologie mit dem veränderten Anspruch an die Wissenschaften, "kontextualisiertes" Wissen (NOWOTNY et al. 2004, S.149) bereitzustellen, die Visualisierungen entdeckt habe, ihr aber häufig noch die Kompetenz im Umgang damit fehle. [12]
Mit dieser Vorannahme ist verständlich, dass BECK unterschiedliche Visualisierungen danach beurteilt, wie gut ihnen eine Vermittlung soziologischen Wissens unter den Bedingungen von Ungewissheit gelingt. Er vergibt aber dadurch zugleich die Chance, das historische Verhältnis der Soziologie zum Bildlichen aufzurollen und seine Überlegungen darin einzubetten. Hier fällt besonders schwer ins Gewicht, dass BECK relevante Vorarbeiten zu visuellen Darstellungen in der Soziologie unberücksichtigt lässt. Aufschlussreich sind beispielsweise die Arbeiten von BARLÖSIUS (2005, 2007, 2012) und KELLER (2006, 2012) zur sogenannten Bilderfeindlichkeit des Faches und zu Formen und Entwicklungen von Repräsentationen soziologischen Wissens. Aber auch das anfänglich enge Verhältnis von Soziologie und Fotografie in der Sozialdokumentation (HARPER 1993, 2012; SCHELSKE 2005; SCHNETTLER 2013; STUMBERGER 2007, 2010) oder die wegweisenden Verknüpfungen von soziologischen Analysen mit Bildern in BOURDIEUs Werk (z.B. 1987; siehe auch BOURDIEU et al. 2006) und in seiner Zeitschrift ACTES bleiben völlig unerwähnt. Erst durch die Ignoranz des historisch gewachsenen Verhältnisses zwischen Bildlichkeit und Soziologie kann BECK überhaupt die Behauptung aufstellen, die Soziologie betrete mit den Visualisierungen "Neuland" (S.192). Es ist vielmehr umgekehrt der Fall, dass das Fach sich erst im Verlauf der Zeit von visuellen Darstellungen distanzierte. Die Abkehr ist dabei eng mit der heteronomen Verfasstheit der Soziologie (BOURDIEU 1998, 2004) verbunden, da sie nur schwer ihren Gegenstand der Betrachtung von anderen Akteur_innen (z.B. Medien, Politik) abgrenzen kann. Autonomie gelingt ihr vor allem über eine an naturwissenschaftlichen Standards orientierte empirische Forschung. In diesem Zusammenhang haben Zahlen und Tabellen den Vorzug und mehrdeutige Bilder keinen Platz. In der Folge konnten sich selbst populäre Visualisierungen der Netzwerkforschung in zentralen Publikationsorganen des Faches bisher nicht durchsetzen (KELLER 2012). [13]
Das beschriebene lange Verhältnis zwischen Soziologie und Visualisierung hat weitgehende Konsequenzen für die Argumentation und Schlussfolgerungen bei BECK. So sind weder Bildlichkeiten für das Fach neu, noch kann das Spannungsverhältnis durch eine Steigerung der "visuellen Kompetenz" aufgelöst werden. Der Ikonoklasmus ist eine Reaktion auf die heteronome Verfasstheit der Soziologie und folglich durch einen Aufruf, mehr Visualisierungen zu wagen, nicht überwindbar. Vielmehr müssen sich erst Theorien und Methoden zur Analyse von Bildlichkeit in der Soziologie durchsetzen und etablieren, damit Vorbehalte gegenüber Visualisierungen abgebaut werden können. Einen wichtigen Beitrag dazu leisten in erster Linie methodologische und methodische Überlegungen zur Bildinterpretation in den Sozialwissenschaften (z.B. BOHNSACK 2011; BRECKNER 2010; KNOBLAUCH, BAER, LAURIER, PETSCHKE & SCHNETTLER 2008; KRESS & LEUWEEN 1996; RAAB 2008). [14]
5. Visualisierungen in mode-1 und mode-2
Des Weiteren entstand durch die eigene Mitarbeit des Buchautors in einem Forschungsprojekt zur Visualisierung von Risikokontroversen bei mir der Eindruck, dass die Auswahl der Fallbeispiele nicht von einer empirischen Typisierung von Visualisierungen in der Soziologie herrührt. Die Auswahl scheint vielmehr von der als besonders gelungen vorgestellten Kartierung auszugehen. Von der gewählten Ausgangsthese (reflexive Verwissenschaftlichung und damit verbundene zunehmende Bedeutung von Visualisierungen) hätte ich erwartet, dass beispielsweise Bildlichkeiten der autoritativ, selbstreferenziellen Wissenschaften (mode-1) mit jenen der dialogischen, praxisorientierten Wissensproduktion (mode-2) verglichen werden. Für die selbstreferenzielle Wissensproduktion in der Soziologie wäre besonders aufschlussreich die Visualisierung von empirischen Ergebnissen in Zahlenwerten und Tabellen. Beispielsweise besteht bei Regressionsanalysen die Möglichkeit, diese auch bildlich als Punktwolken darzustellen. Solchen Visualisierungen begegnet man jedoch nur in der soziologischen Lehre; die visuelle Darstellung in der fachinternen Kommunikation erfolgt über Regressionskoeffizienten und Signifikanzniveaus. Die mit Zahlen vermittelte Genauigkeit lässt sich in Punktwolken weniger eindeutig kommunizieren. Davon abgegrenzt sind die gewählten Beispiele im Buch alle das Ergebnis einer dialogisch-praxisorientierten Wissensproduktion. Sie sollen jeweils Anschlüsse über die eigene Disziplingrenze ermöglichen. [15]
Für eine Binnensicht zum Gebrauch von Bildern in der Soziologie wäre aus meiner Sicht ebenfalls lohnenswert gewesen, die Kopplung von soziologischen Analysen in Textform und Fotografien zur Erkenntnisgewinnung in den Werken von Pierre BOURDIEU zu analysieren (z.B. WUGGENIG 2008). Die Bilder erfüllen zwei der von BECK angeführten Kriterien. In dem Buch "Die feinen Unterschiede" (BOURDIEU 1987) machen Bilder zum einen den lebensweltlichen Kontext sichtbar (im Sinne BECKs "Aufklärung") und fügen zum anderen den Beschreibungen im Begleittext weitere Bedeutungsschichten hinzu ("dichtes Wissen"). Darüber hinaus arbeitet BOURDIEU anhand von Fotografien spezifische Praktiken sozialer Klassen heraus (BOURDIEU et al. 2006). Über die Gestaltung und den Umgang mit Fotografien zeigt er, was für die Abbildenden und die Abgebildeten von Bedeutung ist. Das Potenzial solcher analytischen Zugänge für die Soziologie bleibt bei BECK jedoch völlig unerwähnt. [16]
Schließlich ist auch die Auswahl der BOLTE-Zwiebel für die Untersuchungen von Visualisierungen soziologischen Wissens symptomatisch für die Verkürzungen im Buch. BECK begründet die Betrachtung des bildlichen Sozialstrukturmodells damit, dass es erstens die Debatte von Visualisierungen für Sozialstrukturanalysen in der (deutschen) Soziologie eröffnet habe (S.116). Dadurch sei die BOLTE-Zwiebel zweitens die bekannteste visuelle Darstellung und habe drittens die Soziologie über lange Zeit geprägt. Ein erster Versuch einer Visualisierung von Sozialstruktur wird jedoch entgegen der Behauptung von BECK mit dem Schichtmodell von Theodor GEIGER (1949) verknüpft. Die flächige Darstellung von differenten sozialen Schichten und damit verbundenen Mentalitäten ebenso wie die gestalterische Betonung der mittleren Schicht haben die Gestaltung der BOLTE-Zwiebel ebenso wie das DAHRENDORF-Haus (DAHRENDORF 1965) oder die "Kartoffeln" der SINUS-Milieus (NOWAK & BECKER 1985) beeinflusst. Die breiteste Rezeption innerhalb der Soziologie und in der Außenwahrnehmung des Faches sehe ich beim DAHRENDORF-Haus: Während die BOLTE-Zwiebel als historisches Beispiel in den Lehrbüchern zur sozialen Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse fortlebt, ist das DAHRENDORF-Haus in aktualisierter Darstellung noch heute z.B. bei Rainer GEIßLER (2008) aktuell. Insgesamt halte ich in diesem Zusammenhang die vorgenommenen Beurteilungen bei BECK, ob die visuellen Darstellungen gelungen seien oder nicht, für weniger relevant: An den Visualisierungen der Sozialstruktur können Soziologinnen und Soziologen aber den kritischen Umgang mit visuellen Darstellungen erlernen. Was passiert in den Übersetzungen soziologischer Annahmen und Theorien in Bilder? Was geht verloren? Welche Mehrdeutigkeiten sind mit den Verbildlichungen verbunden? Welche Konsequenzen hat dies für die Rezeption? [17]
Das Buch von BECK rückt das wichtige Thema der visuellen Wissensproduktion und -kommunikation in der Soziologie in den Mittelpunkt. Visuelle Darstellungen soziologischen Wissens finden noch zu wenig Berücksichtigung in wissenschaftssoziologischen Untersuchungen. Die als explorativ ausgewiesene Studie kann für dieses Forschungsfeld daher einen interessanten Beitrag liefern. Zugleich bleiben in der Problematisierung des Verhältnisses von Visualisierungen und Soziologie wichtige Aspekte unberücksichtigt. Schwierig ist vor allem die Konzentration auf den Übergang zur reflexiven Verwissenschaftlichung. Einerseits sind Bilder in der Soziologie nicht nur für die Kommunikation soziologischen Wissens über die Disziplin hinaus von Bedeutung. Andererseits hängt die sogenannte Bildfeindlichkeit der Soziologie eng mit der Geschichte und der heteronomen Verfasstheit des Faches zusammen. Die Schlussfolgerungen von BECK, die Zahl an Visualisierungen und die visuelle Kompetenz zu erhöhen, greifen daher zu kurz. Insgesamt hat das Buch aber das Potenzial, die Debatte zum Umgang mit Bildlichkeiten in der Soziologie voranzutreiben. Vor allem für die Wissenschaftsforschung liefert es Beispiele soziologischer Wissensproduktion und -kommunikation durch Visualisierungen. [18]
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Axel PHILIPPS ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. Er promovierte 2007 zum Thema "Alltäglicher Umgang mit Lebensmittelskandalen" an der Universität Leipzig und arbeitet seitdem zu den Schwerpunktthemen Wissenschaftssoziologie, visuelle Soziologie und Protestforschung. Für FQS rezensierte er Die Disziplin der Neugierde. Der professionalisierte Habitus in den Erfahrungswissenschaften (FRANZMANN 2012).
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Axel Philipps
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Philipps, Axel (2014). Rezension: Gerald Beck (2013). Sichtbare Soziologie. Visualisierung und soziologische Wissenschaftskommunikation
in der Zweiten Moderne [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 15(1), Art. 22,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1401228.