Volume 15, No. 1, Art. 20 – Januar 2014

Die Sozioanalyse literarischer Texte als Methode der qualitativen Sozialforschung oder: Welche Wirklichkeit enthält Fiktion?

Maja Suderland

Review Essay:

Norbert Christian Wolf (2011). Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar: Böhlau; 1216 Seiten; ISBN 978-3-20578740-2; 98,00€; http://www.boehlau-verlag.com/download/162727/978-3-205-78740-2_OpenAccess.pdf (Open Access)

Zusammenfassung: Mit seiner gut 1.200 Seiten umfassenden Studie zu Robert MUSILs Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" hat Norbert Christian WOLF ein Buch vorgelegt, das von vielen vermutlich allein wegen seines enormen Umfangs für "unlesbar" gehalten werden mag. Und da es ein literaturwissenschaftliches Werk ist, läuft es allemal Gefahr, in den Sozialwissenschaften kaum zur Kenntnis genommen zu werden. Aus methodologischer Perspektive gibt es allerdings gute Gründe, sich mit diesem Buch zu beschäftigen, denn es enthält nicht nur eine konzise theoretische Begründung und methodologische Beschreibung der Sozioanalyse literarischer Texte nach Pierre BOURDIEU, sondern führt diese Methode auch detailliert am Großteil der fiktiven Figuren aus MUSILs Roman vor. Literaturwissenschaftlich kann WOLFs Buch daher als eine Art Enzyklopädie zu MUSILs Werk gesehen werden; soziologisch stellt es eine differenzierte Sozioanalyse der "Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts" dar. Bevor in diesem Review Essay die methodologischen und methodischen Aspekte von WOLFs Studie betrachtet werden, sollen zunächst einführende Überlegungen zur Verwendung literarischer Werke in den Sozialwissenschaften sowie einige kursorische Hinweise auf ausgewählte Arbeiten, die in diese Methode einführen oder sich derselben bedienen, vorangestellt werden.

Keywords: Sozioanalyse; Literatur; Bourdieu; Musil; 20. Jahrhundert

Inhaltsverzeichnis

1. Fiktionale Literatur als empirisches Material sozialwissenschaftlicher Forschung?

2. Eine unvollständige Bestandsaufnahme: Methodologische und forschungspraktische Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Literaturanalyse

3. Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert MUSILs Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

4. Das Buch und seine Methode oder: Was haben wir davon?

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Fiktionale Literatur als empirisches Material sozialwissenschaftlicher Forschung?

Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte, so wird deutlich, dass Literatur und Wissenschaft nicht immer schon so weit voneinander entfernt waren, wie es gegenwärtig den Anschein haben mag. Vielmehr können historisch sogar die "Ursprünge soziologischen Denkens" im "Überschneidungsbereich" von Wissenschaft und Literatur ausgemacht werden (EGGER, PFEUFFER & SCHULTHEIS 2000, S.137). Zu der Zeit, als Psychoanalyse und Soziologie als selbstständige Wissenschaften zu entstehen begannen, war die Literatur schon längst um eine nuancierte hermeneutische Analyse des Sozialen bemüht (ALKEMEYER 2007, S.16f.; s.a. KUZMICS & MOZETIČ 2003, S.9ff.). EGGER et al. sehen in dieser Zeitspanne der Entstehung verschiedener neuer Wissenschaften den Ursprung eines "zweifachen Abgrenzungskampf[es]" der Soziologie, der eine "epistemologische Frontstellung" sowohl gegen die anderen "Wissenschaften vom Menschen" wie etwa die Biologie oder Psychologie als auch gegen "'literarische' Deutungen menschlichen Handelns" erfordert habe (2000, S.137).1) [1]

Dieser Verweis auf Abgrenzungsstrategien innerhalb des wissenschaftlichen Feldes2) scheint mir im Kontext der Diskussion um methodologische Fragen durchaus auch heute noch von erheblichem Belang zu sein, denn für das "Standing" innerhalb der scientific community eines Faches gilt die Beherrschung und Verwendung der "richtigen", d.h. anerkannten Theorien oder Methoden nach wie vor als spezifisches Kapital und daher entscheidende Ressource für Erfolg. Sich in den Grenzbereich zweier oder mehrerer Disziplinen vorzuwagen wird heute zwar gerne – vor allem von Drittmittelgebern – als Interdisziplinarität gelobt. Diese nicht nur als oberflächliches Label zu benutzen, sondern sich tatsächlich in der wissenschaftlichen Arbeit theoretisch und methodisch zwischen die Disziplinen zu begeben (und nichts anderes heißt Interdisziplinarität), bedeutet aber immer, sich nicht nur vom inhaltlichen Kern und dem einflussreichen Zentrum einer wissenschaftlichen Disziplin wegzubewegen, sondern damit auch ein Terrain an den Rändern oder gar außerhalb des "Kraftfelds" (BOURDIEU 1998b, S.65) der Disziplin zu betreten, auf dem man mit großer Wahrscheinlichkeit zugleich von den Wettkämpfen um einflussreiche Positionen ausgeschlossen ist. Und im Falle der Verwendung von Literatur als empirischem Material für die Sozialwissenschaften bedeutet es eine Rückbesinnung auf etwas, das als längst überholt gilt und im Vergleich zu den an den "exakten" Wissenschaften orientierten sozialwissenschaftlichen Methoden als wenig zielführend angesehen wird. [2]

Seitdem sich die Soziologie massiv am Vorbild der naturwissenschaftlichen Methoden ausrichtet und die Facetten der sozialen Welt überwiegend in quantitativen Maßzahlen und mathematisch berechenbaren Zusammenhängen erfassen will, haftet der Verwendung fiktionaler Literatur als empirisches Material der Makel mangelnder faktischer Realität an. Als Ergebnis dieser Entwicklung kann festgehalten werden, dass sich eine derartige Soziologie eigentlich auch nur solchen Forschungsgegenständen zuwenden kann, die sich – wie auch immer – messbar machen lassen. Das heißt zugleich, dass die "schweigsamen Dimensionen des Sozialen" (ALKEMEYER 2007, S.11; s.a. HIRSCHAUER 2001) in den Sozialwissenschaften nur schwerlich thematisierbar sind. Oder aber die Soziologie muss sich zumindest technischer (und nur scheinbar objektiver) Aufzeichnungsmethoden bedienen, um den Realitätsgehalt ihrer Empirie beweisen zu können, indem sie Sichtbares und Hörbares technisch "überprüfbar" dokumentiert. Ebenso wie die ethnografische Beschreibung bringt jedoch Literatur Aspekte zur Sprache, die selbst nichtsprachlich sind (HIRSCHAUER 2001, S.430; s.a. KUZMICS & MOZETIČ 2003, S.80ff.) und sich nicht auf das von außen durch Dritte Erfassbare beschränken. Denn Literatur arbeitet auch mit den Mitteln der Introspektion. Gelten heute Beobachtungsprotokolle – verglichen mit technisch aufgezeichneten Daten – als "zweite Wahl" (vgl. HIRSCHAUER 2001, S.430), so gilt das für fiktionale Literatur allemal. Zudem zählen die interpretativen, hermeneutischen Verfahren, für die eine Analyse fiktionaler Literatur möglicherweise in Betracht käme, heute keineswegs zum sozialwissenschaftlichen Mainstream und haben in der öffentlichen Wahrnehmung innerhalb und außerhalb der scientific community immer noch einen schwereren Stand als jene Zweige der Sozialwissenschaften, die mit scheinbar "handfesten" und quantifizierten Ergebnissen aufwarten können. 3) [3]

Gleichwohl ist es keineswegs neu, dass es immer schon einzelne Sozialwissenschaftler/innen gab, die jenseits dieses Mainstreams in der Sozialforschung gelegentlich literarische Quellen nutzten und damit auf Fiktionen zurückgriffen, um ihre gesellschaftlichen Befunde anschaulich darzulegen und zu erläutern – um nur zwei zu nennen, sei hier auf Erving GOFFMAN und Norbert ELIAS verwiesen.4) [4]

In dem Bereich der Soziologie, der sich explizit mit der Literatur befasst – der Literatursoziologie (vgl. FÜGEN 1989) – wird dagegen Literatur als soziales Phänomen betrachtet, das von der jeweiligen Gesellschaft beeinflusst wird und durch ihre Wirkungen wiederum Gesellschaft beeinflussen kann: Autor/innen und ihre Werke, Verlagswesen und Buchmarkt, Publikum sowie gesellschaftliche Einflüsse auf Produktion und Rezeption von Literatur gehören hier zum Gegenstandsbereich. In der Literatur selbst und in der Literaturkritik werden zuweilen zwar allgemeine gesellschaftliche Symptome erkannt, aber die soziologischen Analysen bleiben weitgehend auf die soziale Welt der Literatur bezogen. [5]

Anders ist dies bei der Feldanalyse Pierre BOURDIEUs (1987a, 1999 [1992], 2011 [1984]): Er entzaubert das nur scheinbar autonome Feld der Literatur und kann zeigen, dass es ebenso funktioniert wie andere Felder auch, indem er Strukturen, (Macht-)Relationen und spezifische Kapitalsorten identifiziert, die nicht nur die Literatur selbst prägen, sondern auch den Wettkampf um Einfluss und gute Positionen innerhalb des Feldes bestimmen. BOURDIEU (1999 [1992]) verlangt in diesem Kontext explizit die Anwendung der Methode der Sozioanalyse von Literatur, um so die soziale Position der schaffenden Literaten im konkurrenzgeprägten Feld der literarischen Produktion verorten zu können. Diese Methode lässt sich theoretisch mit BOURDIEUs Habitus-Konzept begründen (ausführlich s. SUDERLAND 2013, S.329-334), denn so wird sowohl plausibel, warum die literarischen Werke als "Stellungnahmen" im Feld der Literatur angesehen werden müssen (BOURDIEU 1998b, S.62), als auch inwiefern die Strukturen dieses agonalen Feldes in den Habitus der Literat/innen erkennbare Spuren hinterlassen, die ihrerseits den literarischen Werken einen jeweils eigenen Stempel aufdrücken. Die Sozioanalyse der Literatur verschafft daher nicht nur einen Einblick in die "Dispositionen" der Literat/innen und einen Überblick über den jeweiligen historischen Zustand des Feldes der literarischen Produktion, sondern auch über diverse "Positionen" wie "Positionierungen" innerhalb dieses Feldes und über die spezifische "Position" bestimmter Autor/innen (BOURDIEU 1999 [1992], S.365-371 und passim). In der sozialwissenschaftlichen Rezeption bleibt die Wahrnehmung der Methode der Sozioanalyse von Literatur deshalb meist eng mit BOURDIEUs Feld-Konzept verbunden. [6]

Dass sich diese Methode jedoch über die Feldanalyse hinaus auch generell als "literarische Habitusanalyse" eignet (SUDERLAND 2010, S.40), hat BOURDIEU selbst demonstriert, indem er in verschiedenen Schriften immer wieder analytische Hinweise auf Passagen fiktionaler Literatur einstreute, um seine diversen theoretischen Konzepte verständlich zu machen – häufig, um auf verborgene Machtverhältnisse und deren habituelle Verankerung hinzuweisen. So bezieht er sich etwa in den "Meditationen" im Kontext von "Zeit und Macht" auf Franz KAFKAs Roman "Der Prozess" (1925; s. BOURDIEU 2001, S.294f.), oder er analysiert eingehend im Zusammenhang mit Rassismus Passagen aus einem bekannten literarischen Essay James BALDWINs (1963; s. BOURDIEU 2001, S.217f.). Noch wesentlich ausführlicher sind seine literarischen Analysen im Zusammenhang mit der "Männlichen Herrschaft" (BOURDIEU 1997 [1990], 2005 [1998]), wo er detailliert auf einige Passagen aus Virginia WOOLFs Roman "Die Fahrt zum Leuchtturm" (1979 [1927]) eingeht, um zu verdeutlichen, wie sehr symbolische Herrschaftsverhältnisse in den Habitus der sozialen Akteur/innen verwurzelt sind, und zwar sowohl bei den "Beherrschten" wie auch bei den "Herrschenden", die gewissermaßen von "ihrer eigenen Herrschaft beherrscht" sind (BOURDIEU 1997 [1990], S.190; siehe dazu ausführlich auch SUDERLAND 2013, S.334-341). Er verwendet diese Methode also dann, wenn es um die "schweigsamen Dimensionen des Sozialen" geht (ALKEMEYER 2007, S.11) oder, um es mit BOURDIEU zu formulieren, um "verschleierte" Machtkonstellationen und symbolische Gewalt (BOURDIEU & PASSERON 1973 [1970], S.12). [7]

In seinem Buch "Die Regeln der Kunst" (BOURDIEU 1999 [1992]), in dem er sich vor allem mit einem Werk Gustave FLAUBERTs (1869) und dem literarischen Feld seiner Zeit beschäftigt, äußert sich BOURDIEU an verschiedenen Stellen auch zu den grundsätzlichen Qualitäten von Literatur:

"Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die gesamte Komplexität einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten" (1999 [1992], S.53). [8]

Wenn BOURDIEU also fiktionale Literatur als empirisches Material verwendet, geht es ihm darum, die komplexe Darstellungsweise literarischer Sprache und ihre damit verbundene Erklärungskraft zu nutzen, um das Zusammenwirken von objektiven gesellschaftlichen Bedingungen und der Verinnerlichung dieser äußeren Gegebenheiten in ihrer habituell-mentalen Komplexität zu verdeutlichen und für deren Dekonstruktion wie Rekonstruktion zu nutzen (S.14). [9]

Aber er verlangt zugleich nach der soziologischen Analyse, denn

"[d]ie soziologische Lektüre bricht den Zauber. Indem sie das geheime Einverständnis aufhebt, das Autor und Leser in der gleichen Beziehung der Verleugnung der durch den Text zum Ausdruck gebrachten Realität vereint, offenbart sie die Wahrheit, die der Text zwar äußert, aber auf eine sie wieder nicht äußernde Weise; zudem bringt sie a contrario die Wahrheit des Textes selbst zum Vorschein, dessen Besonderheit sich gerade dadurch auszeichnet, daß er das, was er sagt, nicht so sagt wie die soziologische Lektüre" (S.67). [10]

Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle also festhalten, dass es durchaus einige sozialwissenschaftliche Arbeiten gibt, die literarische Werke einbeziehen. Jedoch kann mitnichten davon die Rede sein, dass es sich bei einem solchen Rekurs auf fiktionale Literatur um eine allseits etablierte Methode oder gar einen methodischen Standard in den Sozialwissenschaften handelt. Im Gegenteil, denn die wissenschaftliche Zulässigkeit der Verwendung literarischer Quellen als Empirie ist nach wie vor strittig und "[a]n Warnungen vor einem gutgläubigen empiristischen Gebrauch von Literatur in der Soziologie ist kein Mangel" (KUZMICS & MOZETIČ 2003, S.62f.).5) Auch in einführenden sozialwissenschaftlichen Methodenbüchern sucht man meines Wissens die Methode der Literaturanalyse vergebens. [11]

Einige neuere Arbeiten bedienen sich zwar des Verfahrens (z.B. WEIHRICH & VOSS 2003 oder die Beiträge in KRON & SCHIMANK 2004) und analysieren "mit einem Zwinkern im Auge [...] den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft" (SCHLICH 2005, s.p.), indem sie die Darstellungen in literarischen Werken mit diversen soziologischen Theorieinstrumenten beleuchten. Sie tun dies allerdings zumeist, ohne ihr Vorgehen tiefer gehend methodologisch zu reflektieren, sondern untersuchen verschiedene Romane und Texte "soziologisch bezüglich ihrer gegenwartsdiagnostischen Leistungen" (KRON & SCHIMANK 2004, Klappentext). [12]

Außerdem gibt es einige Arbeiten, die ganz ohne ein "Augenzwinkern" auskommen und sehr ernsthaft auf fiktionale Literatur zurückgreifen, um grundsätzliche gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen zu behandeln (z.B. die Analysen in KUZMICS & MOZETIČ 2003, Beiträge in KOLLER & RIEGER-LADICH 2005, 2009 und 2013 oder in LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie). [13]

In den letzten Jahren hat es auch durchaus vereinzelte methodologische Vorstöße gegeben, die sich darum bemühen, das Verfahren bekannt(er) zu machen, theoretisch zu begründen, seine Anwendung zu erläutern und auf dessen besonderen Nutzen hinzuweisen (ALKEMEYER 2007; KOLLER, MAROTZKI & RIEGER-LADICH 2007a; KUZMICS & MOZETIČ 2003; SUDERLAND 2013). Auch wenn auffällt, dass hier als theoretischer Kontext immer der Habitus-Begriff eine bedeutende Rolle spielt – sei es nun der Habitus im ELIASschen oder im BOURDIEUschen Sinne (z.B. ELIAS 1989, 1991; BOURDIEU 1974 [1967] und passim) – so wird die Methode selbst unter sehr verschiedenen Bezeichnungen geführt, wodurch die Wahrnehmung erschwert wird, dass hier tatsächlich jedes Mal für dasselbe geworben wird. [14]

Mit diesem Review Essay verfolge ich zweierlei Ziele: Da die Literaturanalyse als Methode der empirischen Sozialforschung allgemein wenig beachtet wird, möchte ich zum einen die Aufmerksamkeit der Leser/innen auf diese Methode lenken und sie damit dem in FQS diskutierten Methodenspektrum hinzufügen. Zum anderen möchte ich auf ein in mehrerlei Hinsicht beachtliches Buch hinweisen, das diese Methode gleichermaßen kenntnis- wie erkenntnisreich anwendet, allerdings innerhalb der Sozialwissenschaften vermutlich wenig wahrgenommen wird, da es sich um ein literaturwissenschaftliches Werk handelt. [15]

Im Folgenden werde ich daher – ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit – zunächst einen kursorischen Blick sowohl auf solch einführende Arbeiten werfen, die sich systematisch mit der Methode der Literaturanalyse in den Sozialwissenschaften beschäftigen, als auch einige soziologische Beiträge erwähnen, die unter einer übergeordneten soziologischen Fragestellung auf Literatur rekurrieren (Abschnitt 2). Anschließend werde ich mich dem Werk des Literaturwissenschaftlers Norbert Christian WOLF (2011) zuwenden, in dessen Zentrum die Anwendung der Methode der Sozioanalyse bei der Untersuchung der "Gesellschaftskonstruktion" in Robert MUSILs Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" steht (1987 [1930-1952]) und worin die Methode detailliert dargestellt und reflektiert wird (Abschnitt 3). [16]

2. Eine unvollständige Bestandsaufnahme: Methodologische und forschungspraktische Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Literaturanalyse

Mit dem im Jahr 2003 erschienenen und von Helmut KUZMICS und Gerald MOZETIČ verfassten Buch "Literatur als Soziologie" ist es den beiden in Graz wirkenden Soziologen gelungen, die Aufmerksamkeit für die Methode der Literaturanalyse in den Sozialwissenschaften (erneut) zu wecken und wissenschaftstheoretische und methodologische Überlegungen zum Umgang mit Literatur als Illustration, Quelle6) und Kommentar zu bündeln (S.26-35). Nach einem soziologiehistorischen Rückblick auf solche Vertreter/innen der Disziplin, die regelmäßig auf Literatur rekurrieren, sowie einer Analyse der kritischen Stimmen, die den Realitätsgehalt fiktionaler Literatur infrage stellen, verneinen die beiden Autoren die Frage, ob Literatur ihrerseits Soziologie betreibe: "Wie realistisch die Ambitionen von Literatur auch immer sein mögen, es fehlt ihr das Merkmal der Überprüfbarkeit. Festzustellen, inwiefern sie Soziales korrekt erfaßt und ausdrückt, bleibt der Soziologie vorbehalten" (S.109). Wenn man allerdings "Realismus nicht [...] auf materialistische Dogmen verpflichte [...]", sondern stattdessen auf die intersubjektiv überprüfbare Beschreibung, biete fiktionale Literatur Material, das dem "konstruktivistischen Charakter jeder Beobachtung" (S.110) – und damit auch der wissenschaftlichen Beobachtung – sehr nahe komme und damit gesellschaftswissenschaftlich-analytische Qualitäten habe, die soziologisch genutzt werden können. [17]

Sie bescheinigen fiktionaler Literatur damit ausdrücklich Eigenschaften, die sich nicht auf das simple "Abbilden" (S.109) beschränken, sondern tiefen Einblick in "habitualisierte Ordnungsmuster" (S.116) sowie "Denkweisen und Gefühlslagen" gewähren (S.288), die für die Soziologie fruchtbar gemacht werden können und nach Ansicht der beiden Autoren auch sollten: "[D]er scharfe Blick auf die soziale Welt und die reflexive Kompetenz [sind] kein Monopol der Soziologie" (S.34). KUZMICS und MOZETIČ betonen "die Chancen, die eine holistische, synthetisierende Interpretation von literarischen Werken hat, wenn diese sich mit dem Typischen in der Gesellschaft in ähnlicher Weise befassen wie die Soziologie selbst" (S.297). Voraussetzung dafür sei allerdings die Vermeidung "naiv-realistische[r] Deutungen" (S.289) und dass diese Literatur "kontextuell interpretiert und Zusammenhänge mit anderen Quellen, Daten und Deutungen hergestellt" würden (S.293). Den immerhin insgesamt etwa 120 Seiten umfassenden, einführenden Kapiteln mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen folgen im Band konkrete Analysen einiger literarischer Werke, die gut geeignet sind zu veranschaulichen, worin der Gewinn der Verwendung fiktionaler Literatur bestehen kann.7) In einem Schlusskapitel (S.288ff.) formulieren die beiden Autoren die "Quintessenz" ihrer Überlegungen und lenken die besondere Aufmerksamkeit auf das Werk von Nobert ELIAS (S.297ff.) und damit auf einen Soziologen, der sich (ebenso wie BOURDIEU) für Formen der Verinnerlichung und hiermit verbundene internalisierte Machtkonstellationen interessiert, die er mal unter dem Habitusbegriff (ELIAS 1989), mal als Entwicklungsprozess "vom Fremdzwang zum Selbstzwang" (1997) behandelt und innerhalb bestimmter sozialer "Figurationen" situiert (a.a.O.; s.a. SCHUMACHER 2013). [18]

KUZMICS' und MOZETIČs Buch "Literatur als Soziologie" (2003) kann gleichermaßen als kritisch-reflektierendes wie leidenschaftliches Plädoyer für die Verwendung literarischer Texte in der Soziologie verstanden werden, das sowohl abstrakt wissenschaftstheoretisch-methodologisch argumentiert als auch forschungspraktisch überzeugend vorführt, was die Methode leisten kann und wo ihre Grenzen liegen. Aber das Buch wird kaum diejenigen überzeugen können, die einen anderen Realitätsbegriff als die beiden Autoren vertreten oder ohnehin dem quantitativen Forschungsparadigma nahe stehen. [19]

Auch in der Pädagogik gibt es Bemühungen um die Methode, die mit einem klar identifizierbaren und relativ überschaubaren Personenkreis verbunden sind: Hans-Christoph KOLLER und Markus RIEGER-LADICH sind Herausgeber einer beim Transcript-Verlag erscheinenden Reihe "Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane", in der bereits drei Themenbände erschienen sind (KOLLER & RIEGER-LADICH 2005, 2009, 2013). In diesen Sammelbänden finden sich Analysen zeitgenössischer Romane im Hinblick auf konkrete erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. Wenngleich auch hier in einigen Aufsätzen systematische und grundsätzliche Überlegungen zur Methode zu finden sind,8) mag der lediglich im Reihentitel auftretende Begriff "pädagogische Lektüren" davon ablenken, dass es neben den jeweils konkreten fachlichen Perspektiven auf bestimmte soziale Erscheinungen tatsächlich zentral um die Anwendung einer besonderen Methode geht. [20]

Eine weitere in diesem Kontext interessante Publikation der letzten Jahre, die sich sowohl wissenschaftstheoretisch-methodologisch als auch praktisch mit der Nutzung literarischer Schriften zur Beantwortung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen gewidmet hat, ist ein Themenheft der Zeitschrift für Qualitative Forschung. Unter dem Titel "Symbolische Gewalt. Zur literarischen Ethnographie von Bildungsräumen" (KOLLER et al. 2007b) legt der Band ebenfalls seinen Schwerpunkt auf das Thema Bildung, und mit dem Begriff "literarische Ethnographie" gibt er nicht ohne Weiteres gleich zu erkennen, dass es auch hier darum geht, für die Methode der Literaturanalyse die Lanze zu brechen. Insbesondere der Haupttitel des Bandes wird vermutlich einen Adressat/innenkreis ansprechen, der sich für das Besondere der symbolischen Gewalt und möglicherweise weniger für die spezifische Methode interessiert. [21]

Allerdings leistet vor allem der darin enthaltene Beitrag von Thomas ALKEMEYER (2007) eine konzise systematische und erkenntnistheoretische Argumentation für die Verwendung von fiktionaler Literatur insbesondere im Zusammenhang mit der Beleuchtung der vielfältigen Facetten symbolischer Gewalt und spitzt damit auch methodologisch stärker auf spezifische Fragestellungen zu als das Buch von KUZMICS und MOZETIČ (2003). ALKEMEYER interessiert sich für Literatur "weniger als Quelle oder bloße Illustration für anderweitig gewonnene Forschungsergebnisse, sondern durchaus in ihren eigenen analytischen Dimensionen, ihren spezifischen erkenntnistheoretischen Potentialen und ästhetisch affektiven Eigenschaften [...]" (2007, S.15), um den "möglichen Beitrag literarischer Darstellungsformen zu einer gleichsam erlebnisgesättigten, mimetischen Erkenntnis des Wirkens symbolischer Gewalt" herauszuarbeiten (S.13). Sehen KUZMICS und MOZETIČ (2003) die besondere Qualität fiktionaler Literatur in der Darstellung "habitualisierte[r] Ordnungsmuster" (S.116) und "Denkweisen und Gefühlslagen" (S.288), so nimmt ALKEMEYER stärker die literarischen Repräsentationen des Körperlichen und Sinnlichen einschließlich deren Wirkung auf die Leser/innen in den Blick (2007, S.12, 23ff.). Dieser Fokus auf Aspekte der Körperlichkeit ergibt sich vor allem im Zusammenhang mit symbolischer Gewalt, da diese das "Ergebnis von 'Einverleibungspraktiken'" sei (S.13), deren forschungspraktische Analyse ALKEMEYER besonders interessiert. Deshalb versteht er seinen Beitrag als Plädoyer für eine Öffnung der Soziologie gegenüber literarischen Darstellungsformen, um dem bereits von HIRSCHAUER (2001, S.430) formulierten Problem, auch Nichtsprachliches zur Sprache bringen zu können, erkenntnistheoretisch wie methodisch "besser zu Leibe zu rücken zu vermögen" (ALKEMEYER 2007, S.15). Nach BOURDIEU liege die Spezifität literarischer Darstellungen darin, "dass sie in ihren pragmatischen Dimensionen die Körperlichkeit der Leser berühren und organisieren" (S.19), und man könne "das spezifische Erkenntnispotential von Literatur u.a. darin sehen, in [...] die Mechanismen symbolischer Gewalt gleichsam dadurch einzuführen, dass diese Mechanismen im Medium der Literatur nicht nur rational zugänglich gemacht, sondern auch in actu verwirklicht bzw. exemplifiziert werden" (S.20). Sie präsentierten damit sowohl die "prozessualen Logiken" als auch die performativen Aspekte des Sozialen (a.a.O.). [22]

Nach einer exemplarischen Analyse zweier Passagen aus Heinrich MANNs Roman "Der Untertan" (S.20f.) fasst ALKEMEYER die erkenntnistheoretischen Vorzüge der Verwendung fiktionaler Literatur in zwei Punkten zusammen: Erstens ermögliche "die Plastizität der Beschreibungen [...] eine imaginäre Teilhabe des Lesers an der dargestellten Welt, so dass die Entstehung psychischer Dynamiken und körperlich-mentaler Haltungen im Akt des Lesens nach-, ja mitvollziehbar" werde (S.21; Hervorhebungen M.S.). Auch trete "[i]n der gleichsam lebenswarmen Beschreibung des Sichtbaren [...] der unartikulierte Sinn der sozialen Praxis an die Oberfläche" (a.a.O.). Zweitens werde durch bestimmte literarische Stilmittel wie Parodie oder Übertreibung "das Selbstverständliche der eigenen Kultur [...] aktiv befremdet" (a.a.O.) und könne daher auch den soziologischen Blick schärfen. [23]

Die "literarische[n] Potentiale des Zeigens, Exemplifizierens und Fühlbarmachens" möchte ALKEMEYER daher "im Sinne wissenschaftlichen Landgewinns fruchtbar machen" (S.23) und weist explizit nochmals auf die "Verstehensfähigkeiten des sozialisierten Körpers" hin (a.a.O.). Auf diese zu verzichten, bedeute Erkenntnisverluste hinsichtlich der "stummen Dimensionen des Sozialen" (a.a.O.). Nicht nur die literarische Darstellung verweise auf die Körperlichkeit des Sozialen, sondern auch "der Körper des Lesers [werde] als Erkenntnismedium ins Spiel gebracht" (S.24). Der "Klang der Worte" vermittele die sinnliche Erfahrbarkeit der Eindrücke oftmals besser als scheinbar objektive Verfahren wie Fotografie oder Videoaufzeichnung, denn Literatur leiste die Übersetzung des Nichtsprachlichen in Sprache (a.a.O.). ALKEMEYERs Aufsatz verstehe ich daher nicht allein als Ausführung zu "Literatur als Ethnografie", sondern als einen erkenntnistheoretischen wie methodologischen Beitrag zur Körpersoziologie, der ausdrücklich die Körper der Sozialwissenschaftler/innen mit ins Spiel bringt, indem diese bei der analytischen Lektüre und Verwendung fiktionaler Literatur ihre eigenen "Verstehensfähigkeiten des sozialisierten Körpers" (S.23) als Forschungsinstrument bei der Dekonstruktion und Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse einsetzen sollen. Damit geht ALKEMEYERs Beitrag meines Erachtens weit über die sonst übliche Argumentation für die empirische Nutzung fiktionaler Literatur hinaus und betritt ein Terrain, auf das ihm der sozialwissenschaftliche Mainstream wohl kaum folgen wird. [24]

Abschließend sei im Kontext von Habitus und Literatur an dieser Stelle noch auf LiTheS (Literatur- und Theatersoziologie) hingewiesen, einen interdisziplinären und interfakultären Forschungs-, Lehr- und Dokumentationsschwerpunkt am Institut für Germanistik der Universität Graz, wo unter der Leitung der Literaturwissenschaftlerin Beatrix MÜLLER-KAMPEL an einer "tragfähigen transdisziplinären Neu- und Wiederbesinnung auf die methodischen Gemeinsamkeiten der historischen, philologischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen" gearbeitet wird.9) Hier arbeiten Soziolog/innen und Literaturwissenschaftler/innen wie auch Vertreter/innen anderer Disziplinen zusammen, wobei die disziplinären Zugehörigkeiten der betreffenden Wissenschaftler/innen ganz im Sinne einer transdisziplinären Zusammenarbeit selten expliziert werden. In der gleichnamigen, von Beatrix MÜLLER-KAMPEL zusammen mit ihrem Kollegen Helmut KUZMICS vom Institut für Soziologie der Universität Graz (digital) herausgegebenen Zeitschrift LiTheS finden sich zahlreiche interessante und thematisch breit gefächerte Aufsätze. Hierbei fällt auf, dass sich diese Beiträge und Forschungen theoretisch und methodologisch zumeist auf die Konzepte BOURDIEUs oder auf den Habitusbegriff Norbert ELIAS' stützen und die literarischen Texte im Kontext einer übergeordneten soziologischen Betrachtung heranziehen.10) [25]

3. Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert MUSILs Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

Meine bisherigen Ausführungen sollten zeigen, dass es nur wenige Arbeiten gibt, die sich der Methode bedienen und sie reflektieren. Eine sozialwissenschaftliche Literaturanalyse besitzt daher immer noch eher Seltenheitswert. Das hier besprochene Buch des österreichischen Literaturwissenschaftlers Norbert Christian WOLF (2011) ist daher im Hinblick auf die Intensität der Anwendung der Sozioanalyse literarischer Texte nach BOURDIEU tatsächlich ein herausragendes Werk und kann im besten Sinne als interdisziplinär bezeichnet werden. Seine literaturwissenschaftlichen Qualitäten kann ich als Soziologin "naturgemäß" nicht bewerten und werde dies deshalb auch hier nicht tun.11) Dieser Review Essay beschränkt sich daher weitgehend auf eine Betrachtung methodologischer und methodischer Aspekte des Buches, d.h. auf die Darstellung und praktische Anwendung der Methode in WOLFs Werk sowie auf seine Argumentation für den Realitätsgehalt von literarischen Texten im Allgemeinen und MUSILs Roman im Besonderen. [26]

Mit einem Gesamtumfang von gut 1.200 Seiten ist das Buch "Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts" nicht nur in seiner Quantität beeindruckend, sondern sucht auch Seinesgleichen durch seine ausgesprochen kenntnisreiche Anwendung des BOURDIEUschen Instrumentariums12) und die Sozioanalyse des fiktiven Personals in MUSILs Roman.13) WOLF betrachtet die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gewissermaßen durch das "Fenster" des Romans und leuchtet dazu dessen Setting sowie die "erfundenen" Figuren und deren Beziehungen zueinander mit den BOURDIEUschen Denkwerkzeugen aus. Durch seine kenntnisreich eingeflochtenen Kontextinformationen ist das Buch nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern ebenso geschichts- und politikwissenschaftlich wie soziologisch höchst fundiert. Vergleichbare methodologische Überlegungen zu den wesentlichen Aspekten und Hintergründen der Sozioanalyse als "textanalytischem Ansatz" (WOLF, S.43) lassen sich auch in der Soziologie bislang nur schwerlich finden (s.o.). [27]

Den Kern des Buches bildet die insgesamt gut 800 Seiten umfassende Sozioanalyse des MUSIL-Romans, in der uns Norbert Christian WOLF unter Hinzuziehung diverser anderer Schriften MUSILs (so bspw. auch Briefe und Tagebücher) eine penible Analyse und Beschreibung des sozialen Raums zum betreffenden historischen Zeitpunkt bietet (S.261-327). Unter der Überschrift "Zeitfiguren" erhalten wir dann eine detailreiche Systematisierung der Protagonist/innen des Romans (S.328-767). Diese "Zeitfiguren" werden, dem BOURDIEUschen Konzept der "Logik der Praxis" folgend (BOURDIEU 1987b, S.147ff.), beispielsweise als "Erben und Enterbte", "Aufsteiger und Gebremste" oder "Angepasste und Dissidenten" typisiert und die mit diesen Aspekten systematisch zusammenhängenden Habitusfacetten werden erläutert. In einem weiteren Kapitel wird die Analyse von "Konstellationen und Interaktionen" dargeboten (WOLF, S.768-1095), wobei die zwischen den Protagonist/innen bestehenden Beziehungen nicht nur Geschlechterverhältnisse betreffen, sondern auch andere Ungleichheitskonstellationen und damit verbundene Kämpfe. Mit der Betrachtung der "Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors" bekommen wir am Ende des Buches – gewissermaßen als Zugabe – noch eine Analyse der Position und Positionierungen Robert MUSILs im literarischen Feld seiner Zeit (WOLF, S.1099-1168). [28]

Im Folgenden möchte ich nun WOLFs "Grundlegung" seiner Arbeit (S.43-257) einer näheren Betrachtung unterziehen, in der nicht nur BOURDIEUs Methode vorgestellt und reflektiert, sondern auch eine Begründung dafür erarbeitet wird, warum ausgerechnet ein Roman, der die Eigenschaftslosigkeit im Titel führt, Rückschlüsse auf die Habitus seiner Protagonist/innen und zugleich auf die realen Menschen seiner Zeit zulässt. Im Zentrum meiner Überlegungen steht also nicht der Kern des Buches mit seinen komplexen Analysen, und ich werde lediglich sehr knapp am Schluss meiner Betrachtungen zeigen, wie der Autor bei seinen Analysen vorgeht und ob dabei auch etwas sozialwissenschaftlich Relevantes "herauskommt". [29]

An WOLFs Methodenkapitel (S.43-63) fällt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zunächst einmal auf, dass er sich als Literaturwissenschaftler nicht in einem (wie auch immer gearteten) Begründungszwang sieht, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass er fiktionale Literatur analysiert. Ich finde das insofern erfrischend, weil im Kontrast dazu die sozialwissenschaftlichen Methodentexte mit wortreichen Argumentationen aufwarten müssen, um innerhalb ihrer Disziplin überhaupt Gehör zu finden, damit ihr Anliegen, fiktionale Texte analysieren zu wollen, nicht als lediglich vergnügliches Treiben abgetan wird.14) WOLF dagegen muss in seinem Buch einem literaturwissenschaftlich interessierten Publikum erläutern, warum ausgerechnet eine soziologische Methode hier zur Anwendung kommen soll15) und landet damit schließlich ebenso wie die Sozialwissenschaftler/innen bei der Frage nach dem Realitätsgehalt fiktionaler Literatur. Sein im eigentlichen Wortsinne interdisziplinäres Vorgehen ist nicht zuletzt auch deshalb heikel, weil die ausgewählte Methode von einem Soziologen entwickelt wurde, der innerhalb der Literaturwissenschaft mehr als umstritten ist: Dass BOURDIEU die Autonomie des Feldes der Literatur in Zweifel zog, künstlerisch-ästhetische Äußerungen in ihren außerliterarischen, sozialen Aspekten beleuchtete und damit zu trivialisieren scheint, wurde innerhalb der Literaturwissenschaft gelegentlich als narzisstische Kränkung erlebt (vgl. z.B. BOURDIEU 1999 [1992], S.12; zur literaturwissenschaftlichen Rezeption des Feldkonzeptes s.a. SUDERLAND 2013, S.327f.) [30]

Es liegt in der "Natur" der Sache, dass WOLF von seiner Fachdisziplin herkommend die Schriften BOURDIEUs mit eigenen Prioritäten liest. Daher ist er in der Lage festzustellen, dass die Methode der Sozioanalyse literarischer Texte innerhalb BOURDIEUs allgemeinem theoretischen Feldkonzept eine Sonderstellung einnimmt, weil hier ein eigenes Analyseverfahren für ein spezifisches Feld zur Verfügung gestellt wird (WOLF, S.43). Nach BOURDIEU gehört nämlich zur Untersuchung des literarischen Feldes ein zweistufiges Verfahren, das zunächst die Sozioanalyse des literarischen Textes verlangt, um anschließend die im ersten Schritt gewonnen Erkenntnisse auf den Autor/die Autorin und das Feld der literarischen Produktion zu beziehen. [31]

Zu Recht moniert WOLF, dass dieser erste Teil des Verfahrens bislang weder im deutschsprachigen noch im internationalen Bereich eingehend diskutiert oder angewendet wurde16) – und ich möchte hinzufügen, dass offenbar auch in weiten Teilen noch nicht einmal realisiert wurde, dass dieser erste Forschungsschritt der Sozioanalyse des Textes zwar die notwendige Voraussetzung für eine Analyse der Position innerhalb des literarischen Feldes liefert, selbst aber noch gar keine Feldanalyse darstellt. Da BOURDIEU (1987b, 1999 [1992]) die Methode der Sozioanalyse zwar an FLAUBERTs (1869) Roman "L'Éducation sentimale. Histoire d'un jeune homme" vorgeführt und erläutert, jedoch nirgendwo eine systematische methodologische Grundlegung seiner Methode hinterlassen habe und eine solche auch anderweitig nicht existiere, wendet WOLF sich an dieser Stelle den Voraussetzungen und dem Vorgehen der Methode zu und erörtert sie am Beispiel von BOURDIEUs FLAUBERT-Studie:

"In einem ersten Analyseschritt liest Bourdieu die Èducation sentimentale mit seinem soziologischen Instrumentarium scheinbar analog zu der Weise, wie er Phänomene der realen Gesellschaft analysiert. Daraus ergibt sich für ihn notwendig das Problem des literarischen Realitätsbezugs [...] im literarischen Diskurs" (WOLF, S.44). [32]

Was WOLF hier so lapidar formuliert – Analyse des literarischen Textes mit BOURDIEUs soziologischem Instrumentarium – ist allerdings ausgesprochen voraussetzungsvoll, denn BOURDIEU hat nicht nur seine Methode nirgendwo systematisch erklärt, sondern auch seine theoretischen Konzepte an keiner Stelle gebündelt vorgestellt und erläutert. WOLF vertieft diesen Aspekt nicht, belegt jedoch mit seiner umfassenden Werkanalyse eindrucksvoll, dass die Methode der Sozioanalyse tatsächlich erst dann Erkenntnis bringend zur Anwendung kommen kann, wenn man eine umfassende Lektüre der Schriften BOURDIEUs bereits hinter sich hat und dessen verschiedene und jeweils aufeinander bezogene theoretische Konzepte auf die soziale Welt analytisch anwenden kann.17) [33]

Wir sehen an diesem einleitenden Satz zur Methode der Sozioanalyse außerdem, dass innerhalb der Literaturwissenschaft der "Realitätsbezug" ebenfalls einer genaueren Erläuterung bedarf, die WOLF auf den folgenden Seiten zunächst auf Basis der BOURDIEUschen Argumentation detailreich rekonstruiert, und die er so zusammenfasst:

"Das bewusste oder unbewusste Weltwissen des Autors setzt ihn nämlich in die Lage, Figuren und Konstellationen zu entwerfen, deren Handlungen und Aussagen einer gewissen 'Wahrscheinlichkeit' bzw. einer inneren Plausibilität entsprechen, weil sie der nichtdiskursiven 'Logik der Praxis' entspringen und solcherart bei der Lektüre einen Evidenz- und Wiedererkennungseffekt auslösen. Die einzelnen Romanfiguren sind demnach ähnlich wie 'reale' Menschen durch einen sie hervorbringenden individuellen Habitus definiert, mit anderen Worten: durch eine Art 'generativer Formel', die man sich als 'strukturierte und strukturierende Struktur' vorzustellen hat [...]" (WOLF, S.45; Hervorhebungen M.S.). [34]

Diese Passage und ihr Hinweis auf die "gewisse 'Wahrscheinlichkeit'" wird MUSIL-Kenner/innen an den im "Mann ohne Eigenschaften" vorgestellten "Wirklichkeitssinn" und "Möglichkeitssinn" denken lassen18) (MUSIL 1987 [1930-1952], S.16), wogegen BOURDIEU-Kenner/innen vermutlich an den "Raum des Möglichen" erinnert sein werden19) (BOURDIEU 1999, S.371). Die "generative Formel" (S.35) nun umreißt die dabei real (also realistisch) vorhandenen Spielräume der Akteur/innen – seien selbige nun "wirklich" oder fiktiv, aber eben doch "lebenswarm" (ALKEMEYER 2007, S.21) – und bezieht sich auf die objektiven Grenzen und die innerhalb dieser Grenzen liegende "Vielzahl akzeptabler Lösungen" (BOURDIEU 1999 [1992], S.374) und Spielarten sozialen Handelns. Die "generative Formel" beschreibt die Balance zwischen Determiniertheit und Freiheit also nicht als schmalen Grat, sondern als variationsreichen Möglichkeitsraum, bei dessen Ausschöpfung jener MUSILsche "Möglichkeitssinn" in Aktion tritt, den BOURDIEU auch mit seinem Habituskonzept zu fassen versucht. [35]

Die Sozioanalyse versuche, so WOLF (S.46), diese "nicht-diskursive 'Logik der Praxis'" und ihre "generative Formel" zu entschlüsseln und dabei in einer "Art soziologischer Korrespondenzanalyse" die vorbewussten Dimensionen der Figuren und ihrer Handlungen zu rekonstruieren. Der Erzähler bzw. die Erzählerin stehe dabei "in einer strukturellen Analogie zum objektivierenden Wissenschaftler" und verfüge über die Möglichkeit, mittels seiner/ihrer literarischen Schöpfung wechselweise unterschiedliche Einzelperspektiven mit Leben zu füllen (a.a.O.), dabei aber durch stilistische Mittel Distanz zu den von ihm/ihr geschaffenen Figuren aufrechtzuerhalten und sich niemals völlig mit ihnen zu identifizieren (S.47). "Die Reproduktion der sozialen Welt im literarischen Text ist [daher; M.S.] nicht im Sinne einer passiven Widerspiegelung, sondern einer aktiven Konstruktionsarbeit zu verstehen" (a.a.O.). [36]

Erst der zweite Analyseschritt beziehe die im ersten Arbeitsschritt der Sozioanalyse gewonnenen Erkenntnisse systematisch auf den Autor/die Autorin, wie WOLF im Nachfolgenden erklärt, und zwar nicht in einer unreflektierten, "naiven" Biografisierung und Gleichsetzung des fiktiven Personals mit dem Autor/der Autorin, sondern in der Analyse der "Wahrnehmungs- und Deutungspositionen" (S.49), die dem Werk inhärent sind. Ebenso wie in der sozialwissenschaftlichen Beobachtung das Beobachtete in der Darstellung durch die Wahrnehmung und Deutung der Beobachter/innen gefiltert und geprägt sei, so werde das Geschriebene von der Position und dem Habitus der Literat/innen gewissermaßen eingefärbt (S.48) und stelle daher eine Konstruktionsarbeit dar. [37]

BOURDIEU gehe es bei seinem Feldkonzept keineswegs darum, "den Schaffenden [...] und das Werk auf das bloße Produkt eines Milieus zu reduzieren" (WOLF, S.49; Zitat aus BOURDIEU 1999 [1992], S.173). Vielmehr könne mitunter bei einer derartigen Analyse identifiziert werden, wie und mit welchen Mitteln Literat/innen sich zuweilen sogar über "das Universum der gesellschaftlichen Festlegungen" hinwegzusetzen versuchten und damit in einem doppelten Sinne schöpferisch seien, indem sie künstlerisch und gleichermaßen kunstvoll verschleiert Strukturen überwänden (vgl. a.a.O.), damit neue Möglichkeiten eröffneten, den "Raum des Möglichen" erweiterten (BOURDIEU 1999 [1992], S.371) und die Leser/innen dies sehen und nachempfinden ließen (WOLF, S.51). Das Schöpferische bestehe in der Konstruktion von Habitus durch das literarische Schreiben, denen allerdings ebenso wie bei realen Menschen eine "generative Formel" zugrunde liegen müsse, wenn sie überzeugen wollen (S.52). Seinen eigenen Beitrag sieht WOLF vor allem darin, die Anschlussfähigkeit der soziologischen Methode BOURDIEUs an etablierte literaturwissenschaftliche Verfahrenstechniken zu zeigen. [38]

Bevor WOLF nun auf Einwände und Kritik an BOURDIEUs Methode zu sprechen kommt, die sich hauptsächlich an den gemeinhin angenommenen und zu BOURDIEUs Interpretation konträr erscheinenden Absichten des Literaten FLAUBERT entzündet, schließt er seine Erläuterung der Sozioanalyse mit folgendem Gedanken, dessen "Selbstverständlichkeit" meines Erachtens durchaus gelegentlich expliziert werden sollte:

"Eine undogmatisch und offen verfahrende Sozioanalyse literarischer Texte, die diesen auch ihre gesellschaftliche Relevanz zurückerstattet, scheint der Tatsache entgegen zu kommen, dass Literatur in erster Linie nicht für die Literaturwissenschaft geschrieben und wohl auch nicht in erster Linie wegen ihres selbstreferenziellen Potenzials gelesen wird" (WOLF, S.58). [39]

WOLFs Hinweis darauf, dass Literatur weder hauptsächlich für die wissenschaftliche Analyse geschaffen, noch wegen der Existenz eines von der Realität unabhängigen und autonomen literarischen Kosmos gelesen werde, finde ich sehr wichtig, weil er auf die "Logik der Praxis" sowohl im sozialen Feld der literarischen Produktion als auch innerhalb des sozialen Raums seiner Zeit zurückverweist. Die Bemerkung scheint mir aber auch deshalb nützlich, weil wir in den Sozialwissenschaften gleichfalls leider häufig verwechseln, dass der analytische Blick, den wir auf unsere Gegenstände richten, nicht identisch mit der Perspektive der sozialen Akteur/innen ist, die jene Dinge tun, die wir schließlich analysieren und in denen wir Strukturen und Regeln zu erkennen glauben, deren "Kenntnis" im Moment des Handelns oder Entscheidens den Akteur/innen selbst kognitiv jedoch gar nicht zur Verfügung steht.20) Ebenso wenig handeln die Protagonist/innen im Roman, um einer literaturwissenschaftlichen Analyse standzuhalten, sondern um ihre fiktiven Angelegenheiten im Rahmen einer fiktionalen Handlung erfolgreich (und glaubhaft) zu bewältigen. Sie tun dies vor dem Hintergrund eines sozialen Raums und mit den durch ihren Habitus zur Verfügung stehenden gedanklichen Entwürfen und Handlungsoptionen, die gleichermaßen auf den "Möglichkeitssinn" wie auf die ästhetischen Ausdrucksmittel der Literat/innen angewiesen sind, die dadurch ihrerseits eine plausible soziale Welt kunstvoll erschaffen.

"Die textuellen Konstellationen [...] sind es, die die Struktur des literarischen Textes ausmachen, und sie haben – da es darin in der Regel um Menschen [...] geht – nicht allein eine textuelle, sondern auch eine soziale Dimension (wenngleich eben im Medium des Textes)" (WOLF, S.61). [40]

Zentral für die Sozioanalyse sei daher die dargestellte

"körperliche Hexis und Gestik des Romanpersonals, [...] die inkorporierten Eigenschaften wie das Auftreten und die persönlichen Umgangsformen der Figuren, ihre unbewussten sozialen Verhaltensweisen, ihre Herzensangelegenheiten und Liebesbeziehungen, ihre Selbstwahrnehmung, ihr ästhetischer und kulinarischer Geschmack, ihre Vorliebe für bestimmte Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder ihre charakteristischen Idiosynkrasien, kurz: ihr habitueller Stil in seiner Gesamtheit" (a.a.O.). [41]

WOLF verweist damit ebenso wie ALKEMEYER nachdrücklich auf die "eigenen analytischen Dimensionen" von Literatur mit ihren "spezifischen erkenntnistheoretischen Potentialen und ästhetisch affektiven Eigenschaften" (ALKEMEYER 2007, S.15). [42]

Im folgenden Teil seiner "Grundlegung" (WOLF, S.64-164) nun befasst sich WOLF eingehend mit der Poetik MUSILs und argumentiert, warum dessen "Gestaltlosigkeitstheorem" (S.65 und passim) und das Moment der "Eigenschaftslosigkeit" keineswegs gegen eine Sozioanalyse spreche, da diese Ausdruck der "negativen Anthropologie" MUSILs seien (S.64). Wie WOLF an verschiedenen Schriften MUSILs belegen kann, ist mit dieser "negativen Anthropologie" ein Menschenbild gemeint, das die einzige anthropologische Konstante darin sehe, dass "das 'Wesen' der Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen [...] als solches 'ebensoleicht [...] fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft'" sei (S.73 unter Verwendung von MUSIL-Zitaten). MUSIL betone ausdrücklich, dass weniger die genetische Ausstattung als vielmehr die sozialen Einflüsse Menschen zu dem machen würden, was sie schließlich seien – und hier ist für WOLF der Anknüpfungspunkt zu BOURDIEUs Habituskonzept perspektivisch naheliegend: "Die vom Autor [i.e. MUSIL; M.S.] ausdrücklich hervorgehobene 'erziehungs- und umstandsmäßige Bedingtheit' der 'moralischen Verhaltensweisen' des Romanpersonals lässt eine Interpretation geboten erscheinen, die [...] den Romantext programmatisch als (selbst wiederum sozial bedingte) Gesellschaftskonstruktion behandelt" (WOLF, S.81). [43]

Die "Grundlegung" seiner Studie schließt WOLF mit der Behandlung der "Grundbegriffe des Romankonzepts" (S.165-257) ab, wo u.a. die Eigenschaftslosigkeit und der Möglichkeitssinn "in ihren unmittelbaren diachronen und synchronen diskursiven Kontext [gestellt] und ihnen somit ihre historische Sprengkraft [zurückerstattet werden soll]" (S.165). [44]

Bevor WOLF sich der umfänglichen Analyse der "Zeitfiguren" von MUSILs Roman zuwendet, erarbeitet er den Zusammenhang von "Chronotopos und soziale[m] Raum" (S.261-327), d.h. er analysiert die raumzeitlichen Bedingungen der Romanhandlung und konfrontiert diese mit dem realen sozialen Raum der historischen Zeitspanne, um zu identifizieren, aus welcher sozialen Perspektive der im Roman dargestellte soziale Raum konstruiert wurde. Damit wird auch klar, dass

"die Romanhandlung keine 'wirklich' soziologische Repräsentativität für die gesamte dargestellte Zeit und Gesellschaft beanspruchen kann, zumal proletarische und subproletarische Gesellschaftsschichten aus der Darstellung weitgehend ausgeschlossen bleiben. [...] Der Erzähler selbst thematisiert die soziale Exzentrizität und mithin Relativität der intellektuellen Verschiebungen, die ihn interessieren, am Beispiel des geistigen Umsturzes der Jahrhundertwende" (S.326). [45]

Ebenso wie WOLFs Werk mit seinem immensen Umfang die üblichen Vorstellungen von einem "lesbaren" Buch sprengt, würde auch ich den üblichen Rahmen eines Review Essays überschreiten, wenn ich nun noch näher auf WOLFs tatsächlich sehr spannende Analysen des MUSILschen Romanpersonals einginge. Um jedoch am Schluss meines Essays diese klaffende Lücke ein wenig zu schmälern, seien abschließend einige lediglich sehr kursorische Bemerkungen zu einem wichtigen Aspekt angefügt. [46]

Die oberste Ordnungsebene, nach der WOLF seine Analysen gliedert, folgt der sozialen Logik der Geschlechterordnung, wie BOURDIEU (1997 [1990], 2005 [1998]) sie beispielsweise in "Die männliche Herrschaft" dargelegt hat: Nicht nur wird zunächst das männliche vor dem weiblichen Personal vorgestellt und damit das Geschlechterverhältnis im Roman wie der sozialen Wirklichkeit reproduziert. Auch werden die beiden Genusgruppen in ihren grundlegenden sozialen Eigenschaften zunächst einführend charakterisiert (WOLF: "Männer", S.334-344; "Frauen", S.635-643) und Irritationen (oder "Krisen") der zeitgenössischen Geschlechtervorstellungen und -erscheinungen diskutiert, um anschließend am Romanpersonal und dessen Konstellationen auszubuchstabieren, welche diskursiven und performativen Ausdrucksformen diese Zeiterscheinungen in MUSILs Roman finden. [47]

Überzeugend ist aus meiner Sicht, wie WOLF die in den Romanfiguren aufscheinenden, verschiedenen und miteinander konfligierenden Auffassungen vom Geschlechterverhältnis soziologisch mit BOURDIEU thematisiert und sie damit in den Kontext "überindividuelle[r] soziale[r] Macht- und Kräfteverhältnisse" stellt (WOLF, S.1129). Das zeigt sich beispielsweise auch daran, wie WOLF über das BOURDIEUsche Konzept der männlichen Herrschaft hinausweist, indem er den zeitgenössischen Antisemitismus mit dem Antifeminismus in Beziehung setzt (S.337f.), mithin phänomenologisch verschiedene Erscheinungen in ihren strukturellen Parallelen symbolischer Herrschaft erkennt und damit sowohl die historischen Entwicklungen als auch die des Romansettings in einem aufschlussreichen Licht erscheinen lässt. Nicht nur die "diskursivierte Krise" der Männlichkeit (S.336) und der aufkommende Feminismus stellen in dieser Zeit schwerwiegende gesellschaftliche Irritationen dar, sondern auch der massiv hochkochende Antisemitismus zeige eine deutliche Abwehr gegen die vermeintliche Infragestellung geläufiger Männlichkeitsvorstellungen: "Die Konstruktion des traditionellen jüdischen Habitus in den Ländern Mitteleuropas Ende des 19. Jahrhunderts stellt sich als die vollkommene Umkehrung des Konstruktionsprozesses des männlichen Habitus [...] dar" (BOURDIEU 2005 [1998], S.94; Anm. 80; zit. bei WOLF, S.338). Die explizite Zurückweisung eines "Gewaltdiskurses, selbst in seinen ritualisierten Formen, wie dem Duell oder dem Sport" (BOURDIEU a.a.O.; WOLF a.a.O.) bedeute, so WOLF, mit ihrer

"Umkehrung der Vorzeichen im mitteleuropäischen Judentum eine veritable Bedrohung des geltenden hegemonialen Männlichkeitsmodells bzw. wird sie mit gewisser Wahrscheinlichkeit als solche empfunden. [...] Insofern befinden sich die strukturell defensiv agierenden Vertreter des Antifeminismus wie des Antisemitismus in einem beständigen Wettbewerb um größtmögliche Härte und Gewaltbereitschaft, der schließlich im ungebremsten 'Ausbruch des Männlichkeitswahns im Sommer 1914' gipfeln sollte, auf den ja das Narrativ des Mann ohne Eigenschaften ausgerichtet ist. Musil analysiert diese Dialektik am Beispiel von Hans Sepp und Meingast, während er den 'schwachen' und wehrlosen (un)männlichen Juden in der Figur Leo Fischels porträtiert. Seinen sportlich-athletischen Protagonisten Ulrich hingegen zeichnet er insofern als zeittypischen Mann [...]" (WOLF, S.229).21) [48]

Gerade solche Passagen kennzeichnen die Stärke von WOLFs Analysen als Syntheseleistung, die den Roman und dessen zahlreiche und keineswegs zusammenhängend präsentierten Einzelbestandteile zunächst auseinandernimmt, um diese anschließend zu zeithistorisch plausiblen und "lebenswarmen" (ALKEMEYER 2007, S.21) Zeitfiguren zu rekonstruieren und uns diese "Versuchsstation des Weltuntergangs" (WOLF, S.261) der Zeit kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges historisch noch klarer "sehen und nachempfinden" zu lassen (BOURDIEU 1999 [1992], S.51). [49]

WOLF endet seine Analysen mit der Erkenntnis, dass es MUSIL mit "seiner (thematisch und formal innovativen) romanesken Konstruktion der kakanischen Gesellschaft und ihrer konstitutiven Spannungen" gelinge, sich "gleichsam als Soziologe" zu zeigen (S.1126). Die im Roman verkörperten Figuren veranschaulichten gewissermaßen, was BOURDIEU seinerseits viele Jahre später mit seinen theoretischen Konzepten zwar empirisch basiert, jedoch abstrakt formuliert habe (WOLF, S.1127). MUSIL gelinge es, "nicht nur einzelne Interaktionen zwischen Figuren, sondern auch deren Verankerung in überindividuellen sozialen Macht- und Kräfteverhältnissen nachvollziehbar darzustellen" (WOLF, S.1129). [50]

Wie andere, die sich der Methode der Sozioanalyse literarischer Texte bedienen (bspw. ALKEMEYER 2007; RIEGER-LADICH 2011), betont also auch WOLF deren besondere Eignung für die "schweigsamen Dimensionen" (ALKEMEYER 2007, S.11) gesellschaftlicher Macht- oder Kräftekonstellationen, die eher verkörpert als explizit thematisiert werden. [51]

4. Das Buch und seine Methode oder: Was haben wir davon?

BOURDIEU hat seine Aufgabe einmal folgendermaßen beschrieben: "Wenn man als Soziologe überhaupt etwas zu geben hat, dann eher Rüstzeug als Lektionen" (1993, S.91; Hervorhebung M.S.). WOLF nun demonstriert mit dem hier besprochenen Werk erstens sehr eindrucksvoll, wie eine solche soziologische Ausrüstung aussehen kann und zweitens, dass man damit tatsächlich weiter kommt als ohne selbige. "Verfahrenstechnisch" haben wir es mit einer gleichermaßen fokussierten wie parallelisierten Lektüre des MUSIL-Romans und anderer MUSIL-Schriften wie auch unzähliger Texte aus BOURDIEUs Feder zu tun. Dies gelingt WOLF, indem er häufig ausführlich zitiert – sowohl BOURDIEU und MUSIL wie auch andere (zeitgenössische) Texte, Werkinterpretationen oder was WOLF sonst gerade braucht, um seinen Gegenstand auszuleuchten. Mag für manche dieser häufige Wechsel zwischen Zitaten und WOLFs Deutungsangeboten sowie sein In-Beziehung-Setzen der unterschiedlichen Fundstellen anstrengend erscheinen, so erhöht dieser Schreibstil jedoch die Plausibilität seiner Argumentation, indem er sie nachvollziehbar und mithin auch für solche Leser/innen geeignet macht, die MUSIL und/oder BOURDIEU (bislang) nicht extensiv rezipiert haben. Durch den enzyklopädischen Charakter des Buches, der sich an den Zeitfiguren und deren Konstellationen orientiert, müssen wir keineswegs WOLFs Buch vollständig lesen, und es bedarf auch nicht zwingend einer vorherigen Lektüre von MUSILs Mann ohne Eigenschaften, um methodischen und methodologischen Nutzen daraus zu ziehen. [52]

WOLFs Kakanien-Buch ist aus meiner Sicht deshalb nicht nur eine literaturwissenschaftliche MUSIL-Enzyklopädie und eine soziologisch-historische Analyse "der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts" (Backcover), sondern kann methodisch geradezu als Lehrstück für eine Sozioanalyse literarischer Texte gelten, das uns Sozialwissenschaftler/innen umfassendes Rüstzeug anbietet. Will man selbst mit dieser Methode arbeiten, so kann man hier en détail sehen, wie es geht, und bekommt einen Vorgeschmack auf die Qualität des daraus zu erwartenden "Gewinns". [53]

Insbesondere bei der soziologischen Beleuchtung von symbolischen Machtverhältnissen verspricht die Analyse fiktionaler Literatur Erkenntnisse, die weit über das hinausgehen können, was mittels direkter Erhebungsmethoden möglich scheint, da bei symbolischer Macht immer die Mitwirkung in Form einer "(erpreßten) Billigung des Opfers" und das "geheime Einverständnis [d]er Dispositionen" (BOURDIEU 2001, S.297) derer thematisiert werden muss, über die solche Macht ausgeübt wird. Diese verschleierte Wirkung symbolischer Macht lässt sich daher weder durch einen standardisierten Fragebogen erfassen und in Korrelationen berechnen, noch in narrativen Interviews direkt erzählen, da ihr weitgehend die "empirische Gegenständlichkeit" fehlt und an deren Stelle "symbolische Sinnhaftigkeit" rückt (PETER 2011, S.26). Die Sozioanalyse literarischer Texte bietet hierbei die Möglichkeit, dem "unterirdischen Einverständnis" (BOURDIEU 2001, S.217) mit den Machtverhältnissen auf die Spur zu kommen (s.a. SUDERLAND 2013, S.333). [54]

Wenn wir uns außerdem den Zeitraum vergegenwärtigen, den MUSILs Roman behandelt, so wird die Stärke der Methode der Sozioanalyse literarischer Texte in Bezug auf historische Zeiträume kenntlich – Zeitphasen, für die uns fraglos viele historische Quellen zur Verfügung stehen, zu denen uns die literarische Verarbeitung jedoch einen nochmals anderen, neuen Zugang gestattet, der die Quellen ergänzt und uns Einblicke ganz eigener Qualität gewähren kann (vgl. auch ALKEMEYER 2007). Dies wird freilich für die Sozialwissenschaften nur dann relevant sein, wenn sie historische Zeiträume tatsächlich in ihrer Zuständigkeit sieht. Die Meinungen hierüber gehen bislang auseinander: Sehen die einen die Analyse historischer Ereignisse oder Prozesse zwar durchaus im Möglichkeitsbereich der Soziologie, aber keinesfalls als zwingend an, so erkennen die anderen in dieser Haltung die "Geschichtsvergessenheit als Gegenwartsproblem" der Soziologie (DEISSLER 2013), die über der Hinwendung zu gegenwärtigen und zukünftigen Problemen übersehe, dass die Analyse der Vergangenheit notwendige Voraussetzung zum Verständnis von Gegenwart und Zukunft sei. Die methodologischen und methodischen Aspekte dieser hier nur knapp angerissenen Differenz finden ihr Pendant in unterschiedlich geeigneten theoretischen Paradigmen, die mal besser und mal weniger gut das prozessuale Geworden-Sein alles Sozialen zu fassen in der Lage sind. Der soziologische Mainstream jedenfalls bevorzugt – neben dem quantitativen Leitbild – mit seiner Vorliebe für die Spielarten der Rational-Choice-Konzepte solche Theorien, die die zeitliche Dimension des Sozialen nicht oder kaum berücksichtigen (können). Dies zu vertiefen, würde allerdings Material für einen anderen – neuen – Aufsatz bieten. [55]

Die Debatte zeigt jedoch, wie sehr Methodenfragen mit theoretischen Aspekten verknüpft sind und wie stark diese Auseinandersetzungen wiederum die "Kämpfe" innerhalb des wissenschaftlichen Feldes prägen (BOURDIEU 1998a, S.20). Am Ende meiner Betrachtungen zur Sozioanalyse literarischer Texte bin ich also schließlich wieder bei den Kontroversen in den wissenschaftlichen Feldern angekommen, mit denen ich meinen Essay begonnen hatte – Kontroversen, bei denen innerhalb der verschiedenen Disziplinen darum gekämpft wird, was zulässig und was von Bedeutung ist. Derzeit scheint es so, als würden die wissenschaftlichen Arbeiten, die sich der BOURDIEUschen Sozioanalyse literarischer Texte bedienen, sowohl in der Soziologie als auch in den Nachbardisziplinen eher als "exotisch" betrachtet. Ob WOLFs Buch einen Beitrag dazu leisten kann, die Literaturwissenschaft von der BOURDIEUschen Methode zu überzeugen, bleibt abzuwarten. Meine hier dargelegten Ausführungen über sein Buch und die Sozioanalyse literarischer Texte im Allgemeinen verstehe ich daher nicht zuletzt als (m)eine "Stellungnahme" (BOURDIEU 1998b, S.62 ), die sich für eine Methode starkmacht, die derzeit bestenfalls in der Peripherie unserer Disziplinen Platz hat. Da diese bei der Bearbeitung relevanter sozialwissenschaftlicher Forschungsfragen die "Wahrheit" der fiktionalen Literatur nutzt (BOURDIEU 1999 [1992], S.67) und nicht ausschließlich dem blinden Vertrauen auf Zahlen folgt – denn auch fiktionale Literatur "weiß" vieles (ROSSBACHER 2008) – scheint sie mir zumindest eine beachtenswerte Methode zu sein, die eine Diskussion verdient hat. [56]

Anmerkungen

1) Zur historischen Entwicklung der Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft siehe auch LEPENIES (1985). <zurück>

2) Zum Konzept des wissenschaftlichen Feldes siehe bspw. BOURDIEU (1998a). <zurück>

3) Auch wenn die qualitativen Methoden inzwischen zweifellos einen festen Platz innerhalb der Soziologie beanspruchen können, sollte das meiner Ansicht nach nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie, anders als die quantitativen Verfahren, diesen immer noch behaupten müssen. Eine Evaluation der Methodenlehre in den sozialwissenschaftlichen BA-Studiengängen (EIFLER, HOFFMEYER-ZLOTNIK & KREBS 2011) ergab beispielsweise, dass qualitative Verfahren in der Lehre zwar regelmäßig vorgesehen sind, der Schwerpunkt allerdings bei quantitativen Erhebungs- und vor allem bei statistischen Analyseverfahren liegt; gefordert wird in der Studie indes keine Vertiefung der Lehre von qualitativen Verfahren, sondern eine Ausweitung des Themas Fragebogenkonstruktion (S.464). Zudem liegt die Methodenlehre an vielen Hochschulen in Händen von Lehrenden, die selbst dem quantitativen Paradigma verbunden sind und die qualitativen Methoden, wenngleich vermutlich mit besten Absichten, so doch nur nach Programm des Modulhandbuchs und nicht aufgrund eigener Forschungserfahrungen vermitteln können. Es werden zwar gelegentlich Professuren für qualitative Methoden neu geschaffen und häufig mit anderen Lehrinhalten kombiniert, damit nehmen sie aber einen Sonderstatus im Methodenbereich ein. Eine Analyse der in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) und der Zeitschrift für Soziologie (ZfS) zwischen 1970 und 2010 erschienenen Beiträge ergab ein Übergewicht empirischer Arbeiten mit quantitativen Verfahren in diesen hochrenommierten Fachjournalen (KOPP, SCHNEIDER & TIMMLER 2012). Auch eine Auswertung der mit dem Preis der Fritz Thyssen Stiftung ausgezeichneten Aufsätze ergab eine steigende Dominanz empirischer Studien mit quantitativen Verfahren (ALBER & FLIEGNER 2010). Eine Folgestudie (JANSEN 2012) weist nach, dass die Kriterien der Thyssen Stiftung mit denen anderer wissenschaftlicher Leistungsbemessungsverfahren weitgehend korrelieren, sodass sich insgesamt eine Überlegenheit quantitativer Studien im Hinblick auf wissenschaftliche Reputation innerhalb der Soziologie ableiten lässt. Den Nachweis von Publikationen in referierten Zeitschriften, der in jüngerer Zeit sowohl bei der Einwerbung von Drittmitteln als auch bei Berufungsverfahren zu einem zentralen Bewertungskriterium geworden ist, können folglich am wahrscheinlichsten diejenigen erbringen, die quantitativ empirisch forschen. Auch wenn die qualitative Sozialforschung inzwischen tatsächlich einen Ort im Feld der Soziologie besetzt und ein eigenes Subfeld konstituiert hat – mit eigenen Institutionen, "wichtigen Leuten" und durchaus eigener Logik – sollten wir uns vorerst über dessen Status und Einfluss nicht täuschen lassen, denn diese Stellung scheint keine wirklich aussichtsreiche Ausgangslage bei den internen Wettkämpfen um wichtige Positionen im soziologischen Feld zu sein. <zurück>

4) Zur Erläuterung dieser und weiterer Beispiele aus der Soziologie siehe bspw. KUZMICS und MOZETIČ (2003, S.26-35). <zurück>

5) Für eine ausführliche Darstellung der Kritik aus unterschiedlichen soziologischen Perspektiven siehe KUZMICS und MOZETIČ (2003, S.58-100). <zurück>

6) In der Quellenfunktion bspw. als Beleg dafür, inwieweit und in welcher Weise das Gesellschaftliche ins Private eindringt (vgl. KUZMICS & MOZETIČ 2003, S.29ff.) oder als Dokumentation für die lebensweltlichen Auswirkungen und Bedeutungen historischer Ereignisse (S.121). <zurück>

7) So gibt es neben weiteren Beispielanalysen die soziologische Untersuchung von Heinrich MANNs Roman "Der Untertan" (Kap. 6) und im Anschluss daran einen Brückenschlag zu den sozialpsychologischen Studien zum autoritären Charakter der Frankfurter Schule (Kap.7), der nochmals die Stärken von MANNs Romandarstellung herausarbeitet. Auch Robert MUSILs "Mann ohne Eigenschaften" ist ein Kapitel gewidmet (Kap. 9). <zurück>

8) So etwa in den Beiträgen von Rita CASALE (2005), Andrea LIESNER (2005) oder Nobert RICKEN (2005). <zurück>

9) Siehe http://lithes.uni-graz.at/profil.html [Zugriff: 23.11.2013]. Beatrix MÜLLER-KAMPEL ist selbst eine hervorragende Kennerin der theoretischen Konzepte BOURDIEUs und hat u.a. eine mit dessen Feldkonzept arbeitende "biographische Collage" zu Jakob WASSERMANN vorgelegt, einem Erfolgsschriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts (MÜLLER-KAMPEL 2007). <zurück>

10) Siehe unter Bezug auf Norbert ELIAS z.B. zum Offiziershabitus KUZMICS (2010) und zum amerikanischen Habitus MENELL (2010) sowie zum nationalen Habitus zur Zeit des Ersten Weltkriegs an den Textbüchern von Puppenspielen herausgearbeitet von ZECHNER (2010, 2011); unter Bezug auf Pierre BOURDIEU etwa die Beiträge von HARING (2010) zur Konstruktion des "Neuen Menschen" im Sowjetkommunismus und den dabei auftretenden Habitusträgheiten und zur sozialen Welt der nationalsozialistischen Konzentrationslager SUDERLAND (2010); zu den Figuren in MUSILs "Mann ohne Eigenschaften" WOLF (2010) und zu "Lachen und Gesellschaft" in französischer Literatur JURT (2012; wenngleich in JURTs Text nicht mit explizitem Bezug auf BOURDIEU, so als BOURDIEU-Experte und Literaturwissenschaftler doch in dessen Geiste argumentierend); als methodologische Texte etwa MOZETIČ (2010) oder ROSSBACHER (2008). Um den Rahmen dieses Review Essays nicht zu überstrapazieren, sehe ich an dieser Stelle von weiteren Literatur-Verweisen ab. <zurück>

11) Inzwischen liegen zum Buch einige literaturwissenschaftliche Rezensionen vor, die zum Teil auch online verfügbar sind. Um hier nur auf einige deutschsprachige Rezensionen hinzuweisen: online siehe z.B. BÜCKER (2012), MÜLLER-FUNK (2013), STROBEL (2012) und ZELLER (2013); Print siehe AMANN (2013) oder KURIANOWICZ (2012); als sehr interessante soziologische Besprechung siehe MÜLLER (2013). <zurück>

12) Für Leser/innen, die mit den BOURDIEUschen Konzepten nicht vertraut sind, empfiehlt sich als Einstieg in die BOURDIEU-Lektüre JURT (2008) oder das gezielte Nachschlagen in FRÖHLICH und REHBEIN (2009). <zurück>

13) Für diejenigen, die am Thema und dessen Bearbeitung durch WOLF interessiert sind und nicht über die zeitlichen Kapazitäten für die Lektüre dieses umfänglichen Werkes verfügen, sei auf einige kürzere Publikationen desselben Autors verwiesen: Neben dem online und digital verfügbaren Text "Ein trojanisches Pferd des Militärs" (WOLF 2010) sind hier bspw. die Beiträge "Robert Musil als Analytiker Robert Musils" (WOLF 2005) oder "Verkünder des Terrors, Propheten der Erlösung" (WOLF 2009) zu nennen. Derzeit ist sogar das komplette Buch (WOLF 2011) als open access beim Böhlau-Verlag unter http://www.boehlau-verlag.com/download/162727/978-3-205-78740-2_OpenAccess.pdf oder unter https://fedora.e-book.fwf.ac.at/fedora/get/o:43/bdef:Content/get digital verfügbar [Zugriff: 17.7.2013]. <zurück>

14) Auf diesen mit fiktionaler Literatur verbundenen, soziologischen Unterhaltungswert deutet zumindest die Pressemeldung der FernUniversität Hagen hin, die das Erscheinen des Buches von KRON und SCHIMANK (2004) mitteilt: "Was sagt Literatur über die Gegenwart aus? Welche Konflikte werden behandelt? Finden wir in Romanen zuweilen tiefere Einsichten über die Gesellschaft als in langen soziologischen Abhandlungen? Vielleicht können Soziologen nicht anders, als über solche Fragen selbst beim Lesen nachzudenken. Jedenfalls bekundeten [etliche; M.S.] Wissenschaftler ihr Interesse, einen literarischen Text einer (nicht ganz ernst gemeinten) soziologischen Analyse zu unterziehen. Der Gedanke, den Lieblingsroman unter das sozialwissenschaftliche Messer zu legen, lag offenbar nicht sehr fern. [...] Die Autoren der Aufsätze wollen weder literaturwissenschaftlich dilettieren, noch nehmen sie den soziologischen Blick auf die Kunst allzu ernst. Mit einem Zwinkern im Auge analysieren sie den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft – die klassische Frage der Soziologie eben" (SCHLICH 2005, s.p.). <zurück>

15) Und da dies seine Habilitationsschrift ist (von der FU Berlin 2009 angenommen), muss er vor allem seine wissenschaftlichen Gutachter/innen davon überzeugen und diesen Schritt für Literaturwissenschaftler/innen plausibel begründen. <zurück>

16) In der Kritik zu WOLFs Buch wird das zwar bestritten (vgl. MÜLLER-FUNK 2013), aber ich vermute, dass dies daran liegt, dass hier Feldanalyse und Sozioanalyse fälschlich gleichgesetzt werden. Meines Wissens leisten die meisten der bislang vorgelegten Analysen des literarischen Feldes tatsächlich keine intensiven Sozioanalysen literarischer Texte, sondern befassen sich mit dem jeweiligen Zustand des literarischen Feldes an sich. Die wenigen vorliegenden Sozioanalysen literarischer Texte hingegen leisten meist keine Feldanalysen, sondern befassen sich mit anderen soziologischen Fragen. Es ist daher immer noch die Ausnahme, wenn tatsächlich Sozioanalysen literarischer Texte den Analysen des literarischen Feldes vorausgehen. <zurück>

17) WOLFs Literaturverzeichnis enthält immerhin 32 Texte von BOURDIEU, darunter sowohl etliche seiner "großen" Werke wie auch an verschiedensten Orten erschienene und spezialisierte kleinere Texte (WOLF, S.1178f.). Ob sich die Anwendung des BOURDIEUschen Instrumentariums lohnt, darüber wird freilich innerhalb des soziologischen Feldes trefflich gestritten; für mich dagegen steht dies außer Frage – aber das ist nicht Gegenstand des vorliegenden Essays und kann an anderen Stellen nachgelesen werden (z.B. SUDERLAND 2009). Zur Kritik am gelegentlich unreflektierten "Export" der BOURDIEUschen Denkwerkzeuge siehe auch SUDERLAND (2014). <zurück>

18) "Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz [...] ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber einen Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann" (MUSIL 1987 [1930-1952], S.16; Hervorhebung M.S.). "Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen" (S.17). <zurück>

19) "Der Raum des Möglichen deckt die vorhandenen Dispositionen auf" (BOURDIEU 1999 [1992], S.371). "Dieser Raum des Möglichen [...] nötigt [...] ein System (sozialer) Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien auf, gesellschaftlicher Bedingungen der Möglichkeit und Legitimität, das [...] das Universum des Denkbaren wie des Undenkbaren definiert und begrenzt, das heißt das endliche Universum der zum gegebenen Zeitpunkt denk- und durchführbaren Möglichkeiten – Freiheit –, und zugleich das System der Zwänge, innerhalb deren sich entscheidet, was zu tun und zu denken ist – Notwendigkeit" (S.373; Hervorhebungen M.S.). <zurück>

20) BOURDIEU (1998b, S.201ff.) verweist in diesem Zusammenhang häufig auf die "scholastische Sicht". <zurück>

21) Anzumerken ist hier der Vollständigkeit halber, dass dieser "traditionelle jüdische Habitus" nicht nur in assimilierten jüdischen Kreisen, sondern auch innerhalb der zionistischen Bewegung eine Veränderung erfuhr, denn als eine Vorbereitung auf die Aufgaben in Erez Israel standen hier Praktiken der Körperertüchtigung und vor allem auch Sport zunehmend auf der Agenda. Das zionistische Ideal näherte sich damit dem weithin geltenden Männlichkeitsideal stark an und befand sich, wenngleich aus anderen Gründen als in assimilierten Kreisen, in einer Absetzbewegung zum "traditionellen Judentum", was bspw. zur Gründung jüdischer Sportvereine beitrug (vgl. NORDAU 1900 und SUDERLAND 2009, S.291f.). <zurück>

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Zur Autorin

Maja SUDERLAND vertritt eine Professur für Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Sie lehrt dort gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen der Sozialen Arbeit sowie Methoden der empirischen Sozialforschung. Ihre Forschungs- und Arbeitsgebiete sind: Praktiken und Strategien sozialer Differenzierung; Bildung und soziale Ungleichheit; gesellschaftliche Facetten von Gewalt; die Bedeutung zeitlicher Aspekte in der sozialen Welt; Sozioanalyse fiktionaler Literatur als Methode der Soziologie; soziologische Theorien, insbesondere die Soziologie Pierre BOURDIEUs sowie Nationalsozialismus, Holocaust und Verfolgung.

Kontakt:

Maja Suderland

Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
und Soziale Arbeit
Hochschule Darmstadt
– University of Applied Sciences
Adelungstr. 51
D-64283 Darmstadt

Tel.: ++49 (0)6151 16 7711

E-Mail: maja.suderland@h-da.de
URL: http://sozarb.h-da.de/service/personen/lehrende/maja-suderland

Zitation

Suderland, Maja (2013). Review Essay: Die Sozioanalyse literarischer Texte als Methode der qualitativen Sozialforschung oder: Welche Wirklichkeit enthält Fiktion? [56 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 15(1), Art. 20,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1401205.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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