Volume 8, No. 1 – Januar 2007
Was ist qualitative Forschung? – Eine studentische Lernerfahrung
Diskussionsbeitrag zur FQS-Debatte "Lehren und Lernen der Methoden qualitativer Sozialforschung"
Barbara Dieris
1. Anliegen
Meine Perspektive, aus der ich etwas zu dieser Debatte beitragen möchte, ist die der Lernenden. Im Folgenden werde ich in erster Linie nicht versuchen, allgemein-abstrakt etwas über die Lernenden oder das Lernen qualitativer Forschung zu sagen, sondern – exemplarisch – von meiner persönlichen, individuellen, bisherigen Lerngeschichte erzählen. Vielleicht ergeben sich daraus auch Ideen, was über meinen Fall hinaus für das Lernen und Lehren qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden wichtig sein könnte. Die im Titel stehende Frage "Was ist qualitative Forschung?" scheint mir grundlegend für meinen Lernprozess, darauf komme ich am Ende noch einmal zurück. [1]
2. "Initialzündung"
Bis nach meinem Vordiplom in Psychologie hatte ich zwar den Begriff "qualitative Methoden" schon gehört, wusste aber nicht, was ich mir darunter konkret vorzustellen hatte. Als dann ein Forschungsseminar angeboten wurde, in dem qualitativ gearbeitet werden sollte, war für mich klar, das zu machen, um einen Eindruck zu bekommen. Dazu kann ich sagen, dass ich eigentlich nicht besonders begeistert von meinem Studienfach war: Ich hatte immer das Gefühl, Informationen aufzunehmen und auch wiedergeben zu können, aber es hat mich nicht "gepackt", nur selten hatte ich das Gefühl, mich wirklich zu interessieren, mich vertieft auseinanderzusetzen. Diese Erfahrung, von einer Sache, einer Idee, einem Gedankengang fasziniert zu sein, kannte ich allerdings aus meinem Nebenstudiengang der Literaturwissenschaften. Was mich dann – als eine meiner ersten Erfahrungen in diesem qualitativen Psychologie-Seminar – "gepackt" hat, war das Angebot der Dozent(inn)en, auch literarische Texte zum Thema (es ging um Lebens- und Wohnsituationen im höheren Lebensalter) einzubringen. Damit war ich sofort "im Boot", interessiert, motiviert für qualitative Sozialforschung. [2]
3. Zentrale Lernerfahrungen
Einen qualitativen Forschungsprozess von der Festlegung einer Fragestellung, eines thematischen Fokus’, über das Sammeln von Interviewdaten und die Auswertung dieser Daten bis zum Verfassen eines Abschlussberichts erlebte ich dann "am eigenen Leib" im Rahmen des Forschungsseminars.1) In der Rückschau scheinen mir dabei, jenseits der oben beschriebenen "Initialzündung" bzw. teilweise auch eng daran anknüpfend, die folgenden Lernerfahrungen für mich persönlich wichtig:
Die Annährung an das Forschungsthema über persönliche Bezüge und literarische Texte: Zunächst stand ich dem Forschungsthema des Seminars "Wohnen im Alter" eher neutral gegenüber; ich fand es weder völlig uninteressant noch richtig spannend. Die reflexive Beschäftigung mit meinen eigenen familiären Erfahrungen, meinen persönlichen Alternsbildern und der Austausch darüber mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen, das Vergleichen unserer Erfahrungen und Vorstellungen, weckte mein Interesse mehr und mehr. Ebenso brachten mir das Lesen und der Vergleich verschiedener literarischer Altersdarstellungen das Thema näher. Aus einem vorgegebenen Thema wurde mehr und mehr ein persönliches, an das sich schließlich sogar meine Diplomarbeit und meine Dissertation anschlossen bzw. anschließen.
Interdisziplinäre Berührungspunkte der Methodologie/Methodik (Psychologie und Literaturwissenschaft): Mein Wissen aus dem geistes- bzw. literaturwissenschaftlichen Zusammenhang und mein Interesse daran bot und bietet mir noch immer hilfreiche Anknüpfungspunkte im praktischen und theoretischen Aneignungsprozess einer qualitativen Herangehensweise. So gab es eine gewisse Vertrautheit mit der Auswertung von Texten oder mit hermeneutischen und konstruktivistischen Denkhaltungen. Relativ schnell hatte ich das Gefühl, dass mir das qualitative Denken nahe liegt, vertraut ist, Spaß macht – obwohl ich immer noch nicht so richtig wusste, was genau qualitative Forschung macht, wie das geht und was dabei heraus kommen soll. Über diesen lernpsychologischen Nutzen hinaus, war die Wahrnehmung dieser interdisziplinären Verbindungen für mich motivationssteigernd: Ein Zusammenführen meines Wunschstudienganges Literaturwissenschaft und meines Zweckstudienganges Psychologie, den ich eher aus berufspragmatischen Gründen gewählt habe, hatte ich mir immer gewünscht, erschien mir aber lange Zeit ziemlich utopisch.
Multiperspektivität: Eine ganz wichtige, neue Erfahrung für mich war, auch in einem psychologisch-wissenschaftlichen Kontext verschiedene Herangehens- und Sichtweisen, sowohl thematisch-inhaltliche, als auch methodische, zulassen zu dürfen. Das fand ich nicht nur einleuchtend, sondern auch erleichternd: Es hat den Druck verringert, etwas grundlegend falsch zu machen und stattdessen Ressourcen freigesetzt und sensibel gemacht, gerade aus der Wahrnehmung und Reflektion verschiedener Perspektiven etwas zu erfahren. Konkrete Beispiele, bei denen mir verschiedene Blickpunkte sehr bewusst wurden, waren etwa der Umgang und das Sprechen mit verschiedenen Forschungs- bzw. Interviewpartner(inne)n2), die verschiedenen Geschichten und Aspekte, die sie bezüglich des Seminarthemas erzählt haben, die Wahrnehmungen und Herangehensweisen der verschiedenen Interviewer(innen) und die verschiedenen Fokussierungen und Schwerpunktsetzungen, die bei der gemeinsamen Auswertung in der Seminargruppe möglich waren.
Schreiben: Im Psychologiestudium, so wie ich es kenne, schreibt man so gut wie keine Texte, d.h. zumindest keine Texte, in denen eigene Überlegungen entwickelt und dargestellt werden. Während meiner ersten qualitativen Seminarerfahrung war ich deshalb – trotz der Hinweise und Ermutigungen durch die Lehrenden – noch etwas zurückhaltend und eher schreibfaul. Das Spannende und Weiterbringende am Formulieren und Schreiben, am schreibenden Denken habe ich erst in meinem weiteren Lernprozess, etwa in Zusammenhang mit meiner Diplomarbeit, erfahren und zu nutzen gelernt. Das wurde für mich zu einer spannenden und wichtigen Erfahrung.
"Entdeckungen machen": Die beschriebenen Aspekte, vor allem die Anschlussfähigkeit an alltagsweltliche und persönliche Themen und Gedanken, brachten die – zumindest in der Psychologie – für mich neue Erfahrung mit sich, bestimmte forschungsrelevante Fragen, ab und zu auch jenseits des Seminarkontextes, nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen. Von Zeit zu Zeit ergab/ergibt sich, wenn auch häufig leider nur für kurze Zeit, das spannende Gefühl, etwas Neuem auf der Spur zu sein, etwas entdecken zu können. [3]
4. Rolle des/der Lehrenden
Die Darstellung dessen, was ich als meine lernerischen Schlüsselerfahrungen wahrnehme, mag den Anschein erwecken, als sei für das Lernen einer qualitativen Forschungsmethodik hauptsächlich meine Person der Lernerin bedeutsam (gewesen). So war/ist es sicher nicht! Obwohl ich manchmal den Eindruck habe, der qualitative Forschungsstil entwickele sich "aus mir heraus", war und ist für diesen Eindruck die "didaktisierte", "gestaltete" Lernumgebung ganz entscheidend, die solche Lernerfahrungen überhaupt möglich macht. Wiederum aus meiner persönlichen Erfahrung, scheint mir dabei bezogen auf die Rolle der Dozentin bzw. des Dozenten Folgendes wichtig gewesen zu sein:
Das Stellen von Fragen "zur richtigen Zeit" hat mir im Forschungsprozess häufig neue Anknüpfungspunkte, Denkrichtungen, zuvor übersehene "Probleme", aber auch "Lösungen" geboten.
Vertrauensvorschuss: Das Gefühl, dass die Lehrenden Vertrauen in mich hatten, dass ich als Lernende schaffe, qualitativ zu forschen, dass sie mich ernst nahmen, scheint mir eine grundlegende Voraussetzung gewesen zu sein, um Vertrauen in mein eigenes Tun zu entwickeln und die Unsicherheiten und Zweifel während eines qualitativen Forschungsprozesses auszuhalten.
Lernen am Modell: Häufiger ergab sich im Seminar die Möglichkeit "abzugucken", wie qualitativ geforscht werden kann, zum Beispiel, indem die Lehrenden uns ihre Gedanken, Überlegungen zum Vorgehen oder zu Auswertungsaspekten mitteilten. [4]
Häufig hatte ich im Seminar den Eindruck, dass im Vordergrund nicht eine Lehrer(innen)- und Schüler(innen)-Situation stand, sondern dass es sich um einen gemeinsamen Entdeckungs- und Lernprozess handelt(e), bei dem die Auseinandersetzung mit dem Forschungsthema im Vordergrund stand und nicht (nur) die Vermittlung einer bestimmten Methode oder bestimmter Wissensinhalte. [5]
5. Fazit
Wie zu Beginn gesagt, scheint mir das Lernen von qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschungsmethodik mit der persönlichen Beantwortung der Frage "Was ist qualitative Sozialforschung?" zusammenzuhängen, mit dem eigenen "Erkennen", was qualitative Sozialforschung ist/sein kann. In diesem Diskussionsbeitrag habe ich versucht, die für mich wichtigen Aspekte und Erfahrungen deutlich zu machen – jenseits eines Abarbeitens von Lehrbuchaufzählungen bzw. jenseits eines den Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Überblicks über Charakteristika qualitativer Forschungsmethodiken. Das Lernen von qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschungsmethodik, so wie ich es kennengelernt habe, bedeutet nicht das Erlernen eines bestimmten Prozederes/einer "Rezeptur", sondern das Lernen einer Haltung, das Lernen bestimmter, flexibel und kreativ einsetzbarer Heuristiken. Die für mich wichtigen Lern-Aspekte sind glaube ich vor allem wichtig, weil sie dafür sorg(t)en, die Unsicherheiten im Forschungsprozess, die wahrscheinlich immer bleiben und vielleicht dazu führen, dass man immer ein "Lerner", eine "Lernerin" des qualitativen Forschungsstils bleibt (so mein momentaner Eindruck), auszuhalten und weiter zu machen, weiter lernen zu wollen. [6]
1) Das Seminar verfügte in zeitlicher und personeller Hinsicht über vergleichsweise luxuriöse Rahmenbedingungen: Die Veranstaltung dauerte zwei Semester mit jeweils vier Semesterwochenstunden. Den elf Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern, allesamt Psychologie-Studierende im Hauptstudium, standen während des gesamten Zeitraumes zwei Lehrende, eine Dozentin und ein Dozent, zur Verfügung. <zurück>
2) Im Rahmen des Forschungsseminars haben wir Seminarteilnehmer(innen) in Zweierteams jeweils zwei Interviews geführt. Dabei haben wir mit ganz verschiedenen Personen gesprochen, die von ihren Erfahrungen mit unserem Forschungsthema erzählt haben: mit älteren Menschen, mit ihren Angehörigen, mit Professionellen (z.B. aus dem Bereich Wohn- und Pflegeberatung). <zurück>
Zitation
Dieris, Barbara (2007). Was ist qualitative Forschung? – Eine studentische Lernerfahrung. Diskussionsbeitrag zur FQS-Debatte "Lehren und Lernen der Methoden qualitativer Sozialforschung". Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(1), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0701D4Di2.