Volume 15, No. 2, Art. 13 – Mai 2014
Rezension:
Georg F. Simet
Susanne Martin (2013). Denken im Widerspruch. Theorie und Praxis nonkonformistischer Intellektueller. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot; 262 Seiten; ISBN 978-3-89691-927-946-5; 29,90 €
Zusammenfassung: In der überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation stellt die Autorin, wie im Untertitel des Buchs angekündigt, "Theorie und Praxis nonkonformistischer Intellektueller" im Rahmen ihrer Arbeit weitgehend überzeugend dar. Zum Untersuchungsgegenstand wählte sie drei, die Bundesrepublik Deutschland im letzten Jahrhundert maßgeblich prägende Intellektuelle: Theodor W. ADORNO, Jean AMÉRY und Günther ANDERS. Diese drei aus ihrer Sicht nonkonformistisch denkenden und handelnden Intellektuellen kontrastierte sie zur "Gegenprobe" mit Paul F. LAZARSFELD und Helmut SCHELSKY. Doch so treffend die Einzelanalysen auch sind, sie können das gesamte Spektrum an Nonkonformismus nur näherungsweise abbilden. Zudem wirkt die Gegenüberstellung von Nonkonformismus und Konformismus zu schematisch. Die Betrachtung der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft von heute ist insofern auch nur in den zusätzlich aufgezeigten Beispielen andeutungsweise überzeugend. Gleichwohl ist der von MARTIN gewählte Ansatz für weiterführende Untersuchungen sehr anregend.
Keywords: Adorno; Améry; Anders; Nonkonformismus; kritische Theorie; Medienintellektueller; Freiheit; NSA
Inhaltsverzeichnis
1. Aufbau des Buchs
2. Theoretische Fundierung: traditionelle versus kritische Theorie
3. Bestimmung nonkonformistischer Intellektualität
3.1 Akademischer Nonkonformismus (ADORNO)
3.2 Nicht-akademischer Nonkonformismus (AMÉRY und ANDERS)
3.3 Nonkonformismus versus Konformismus (LAZARSFELD und SCHELSKY)
3.4 Desiderate der Fundierung
4. Intellektualität in der heutigen Wissensgesellschaft
4.1 Herausforderungen an die politische Ökonomie: Unterwegs zur Industrie 4.0
4.2 Repräsentative, zeitgenössische Medienintellektualität
4.3 Fortführung der Aufklärung
4.4 Exkurs: Wider den Überwachungsstaat
5. Fazit
MARTIN gliedert ihr Buch in sieben, stringent aufeinander aufbauende Hauptkapitel. In der Einleitung geht sie zunächst auf den Begriff Intellektuelle/r ein, um den Unterschied zwischen heutiger, auf "Erfolg und Prominenz" (S.12) gerichteter Sicht und der nonkonformistischen Spielart zu skizzieren. Im zweiten Hauptkapitel weitet sie die Perspektivik, indem sie nun die beiden "klassischen" Bestimmungen von Intellektuellen erörtert und zwischen "freischwebenden Intellektuellen" (S.25) und "organischen Intellektuellen" (S.31) differenziert. Erst mit dem dritten Hauptkapitel beginnt die eigentliche Arbeit, nämlich die Auseinandersetzung mit "Theorie und Praxis der nonkonformistischen Intellektuellen" (S.37). Hierzu werden nacheinander ADORNO, AMÉRY und ANDERS als Paradigmata nonkonformistischer Intellektueller eingehend besprochen. Im vierten Hauptkapitel wird dann in Folge der Darstellung der drei Protagonisten das "Denken im Widerspruch" (S.115) als Charakteristikum nonkonformistischer Intellektualität verallgemeinert und entfaltet. Im fünften Hauptkapitel setzt MARTIN zur "Gegenprobe" an, um anhand von LAZARSFELD und SCHELSKY "alternative seinerzeitige Haltungen und (Selbst-)Verständnisse" vorzuführen und so "die Bestimmung des nonkonformistischen Intellektuellen in der vergleichenden Analyse weiterzuführen" (S.136). Im sechsten Hauptkapitel beschäftigt sich die Autorin sodann mit den Intellektuellen "in der gegenwärtigen sogenannten Wissensgesellschaft" (S.172), um die in der Einleitung vorskizzierte Differenz zwischen heutigen, "zeitgenössischen Intellektuellen" (S.181) und nonkonformistischen Intellektuellen nunmehr detailliert aufzuzeigen. Im die Arbeit abschließenden siebten Hauptkapitel, "Zur Denkform der Reflexivität" (S.243), plädiert MARTIN dafür, sich des nonkonformistischen Ansatzes zu erinnern und die "gesellschaftskritische Arbeit" in unserer gegenwärtigen Wissensgesellschaft fortzuführen, nicht um "den besseren Zustand auszumalen, sondern zu zeigen, was ihn verhindert" (S.245). [1]
Nachfolgend werden einige besonders wichtige Passagen des für die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Intellektuellen und Gesellschaft höchst anregenden Buchs von MARTIN eingehender besprochen. [2]
2. Theoretische Fundierung: traditionelle versus kritische Theorie
Ziel von MARTINs Untersuchung ist es, "eine spezifische Form von Intellektualität, nämlich nonkonformistische Intellektualität historisch konkret zu beschreiben" (S.14). Dabei bezieht sich die Autorin auf Alex DEMIROWIĆ, insofern er in seinem Buch "Der nonkonformistische Intellektuelle" (1999) die "Figur des nonkonformistischen Intellektuellen [...] anhand der Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule begrifflich akzentuiert und ausführlich dargestellt" habe (MARTIN, S.15). Aus dieser Perspektive erscheint es folgerichtig, die Analyse mit einem der Hauptvertreter der kritischen Theorie/Frankfurter Schule, nämlich Theodor W. ADORNO zu beginnen, um an ihm das, was nonkonformistische Intellektualität ausmacht, exemplarisch herauszuarbeiten. Gleichwohl ist dieses Verfahren nicht unproblematisch, da die Perspektive, von der aus die Deskription erfolgt, selbst nicht problematisiert wird. Die Autorin verhält sich ihrer eigenen Vorgehensweise gegenüber unkritisch; sie nimmt insofern die Haltung der traditionellen Theorie ein. [3]
Um aber zu verstehen, was kritische Theorie überhaupt meint, ist zunächst ihr Selbstverständnis zu rekapitulieren. Dieses speist sich vornehmlich durch Abgrenzung, durch Widerstand gegen alle sonstige, herkömmliche, mit dem Begriff "traditionell" etikettierte Auffassung von Theorie. In Max HORKHEIMERs Aufsatz "Traditionelle und kritische Theorie" (1988a [1937]) ist dieses Anliegen paradigmatisch ausgeführt. Daher soll die Grundposition der kritischen Theorie zunächst von diesem Text aus bestimmt werden. (Eine sehr detaillierte, weitergehende Darstellung zur Entwicklung der kritischen Theorie HORKHEIMERs bis in die 1940er Jahre bietet ASBACH 1997.) [4]
Kritische Theorie ist als ein Gegenentwurf konzipiert. Daher bestimmt HORKHEIMER zunächst den Begriff der traditionellen Theorie, um die kritische Theorie gegen die traditionelle überhaupt abgrenzen zu können. Der für beide Arten grundlegende Begriff der Theorie ist für HORKHEIMER "aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert" und daher funktionaler Natur (1988a [1937], S.171). Durch ihn, den Wissenschaftsbetrieb, "werden [... einerseits] die Tatsachen für das Wissen fruchtbar gemacht [... und] andererseits das vorhandene Wissen auf die Tatsachen angewandt" (S.168). Aufgrund des vorab unterstellten "Dualismus von Denken und Sein, Verstand und Wahrnehmung" in der Grundlegung durch René DESCARTES (HORKHEIMER, 1988a [1937], S.171) wird dabei das "Tatsachenmaterial, der Stoff [... als] von außen geliefert" aufgefasst (S.170). Die "Aufgabe der Wissenschaft" als Wissenschaftsbetrieb ist ihren Betreiber/innen, den "Positivisten und Pragmatisten" nach dabei utilitaristisch durch "die Voraussicht und Brauchbarkeit der Resultate" bestimmt (S.170). Aus der zugrunde liegenden Perspektive des Wissenschaftsbetriebs ist Theorie "das aufgestapelte Wissen in einer Form, die es zur möglichst eingehenden Kennzeichnung von Tatsachen brauchbar macht" (S.162). [5]
Gegen dieses traditionelle Verständnis von Theorie setzt HORKHEIMER sodann das kritische ab. Das kritische Moment liege darin, dass die Tatsachen nicht nur als etwas "Vorhandenes" aufgefasst werden, das der oder die Einzelne "aufnehmen muß und berücksichtigt [...] in der Gestalt, wie es da ist und fortbesteht, [sondern dass sie] ebenso sehr Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis" seien (S.173). Alles positiv, empirisch (Vor-) Gegebene sei paradoxer, dialektischer Natur: Es sei sowohl gegebene (statische) als auch gewordene (dynamische) vergesellschaftete Faktizität. Diese Ambivalenz umgeht HORKHEIMER insofern, als er das Subjekt zunächst dualistisch in zwei in sich abgeschlossene Bereiche ausdifferenziert: in das passive individuelle (transzendentale) Erkenntnissubjekt und das aktive gesellschaftliche Subjekt, das sich "aus Individuen zusammensetzt" (S.174). Diese Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft als Gemeinschaft von Individuen ist für HORKHEIMER "Ausdruck der Zerspaltenheit, die den geschichtlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens bisher eigen war" (a.a.O.). Hieraus ergäben sich zwei Fragen: Die Erste ziele auf die "Vermittlung des Tatsächlichen durch die gesellschaftliche Praxis" (S.175) und damit auf die metaphysische Annahme "eine[r] tiefere[n] Einheit" jenseits der Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft, "hinter der Diskrepanz zwischen Tatsache und Theorie" (S.177); die Zweite ziele auf die Aufhebung der Selbstentfremdung, die in Anschluss an MARX und ENGELS ökonomisch, genauer als Selbst-"Widerspruch" der "Welt [...] des Kapitals" gefasst wird (HORKHEIMER, 1988a [1937], S.181). Dieser Selbstwiderspruch könne jedoch durch "Emanzipation" (S.189) überwunden werden: "das kritische Denken [ist] heute durch den Versuch motiviert, über die Spannung real hinauszugelangen, den Gegensatz der im Individuum angelegten Zielbewußtheit, Spontaneität, Vernünftigkeit und der für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses aufzuheben" (S.183). Es ist daher festzuhalten, dass der Begriff und das Programm der Emanzipation Ergebnis der Grundlegung der kritischen Theorie HORKHEIMERs sind. [6]
Kritische Theoretiker/innen müssten, um dies leisten zu können, sowohl "gegenüber den bewußten Apologeten des Bestehenden [... als auch den] ablenkenden, konformistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen" "aggressiv" sein (S.190). Allein die Vernunft, geleitet durch die "Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist" (S.191), dürfe den "oppositionelle[n] Theoretiker" leiten (S.190). Unter Freiheit firmiert hierbei die Idee der "Assoziation freier Menschen, bei der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich zu entfalten" (S.193). Die nonkonformistische Haltung ist demnach kritischen Theoretiker/innen eigen, als sie sich zur Aufgabe machen, sich und die Gesellschaft von den Selbstwidersprüchen der Welt des Kapitals zu emanzipieren und zu befreien. [7]
Durch diese kurze Rekapitulation der Grundzüge der kritischen Theorie, die ihrem Wesen entsprechend die "kritische Theorie der Gesellschaft" sei (HORKHEIMER 1988b [1937], S.217), wird klar, dass sie als ein Gegenentwurf konzipiert wurde, der sich gegen das traditionelle Verständnis von Theorie richtete. Die Differenz gründet letztlich in der von Immanuel KANT in der "Kritik der reinen Vernunft" (1956 [1781]) herausgearbeiteten Differenz von Verstand und Vernunft. Die Erkenntnis werde zwar durch den Verstand transzendental schematisch, passiv vollzogen und sei demnach eine Erkenntnis von Tatsachen; doch der Mensch sei nicht nur Verstandes-, sondern auch Vernunftwesen. Er greife aktiv in die Welt ein und gestalte sie. Dabei handele er vornehmlich als ökonomisches Subjekt. Dies ist der zweite wesentliche Unterschied zur traditionellen Theorie mit ihrem naturwissenschaftlich geprägten Grundverständnis korrekter und vollständiger Beschreibung der Realität (EINSTEIN, PODOLSKY & ROSEN 1935, S.777). Die kritische Theorie versteht die Welt in Anschluss an Karl MARX als ökonomisch verfasste und durch Klassengegensätze charakterisierte. Die Aufgabe der kritischen Theorie ist aber nicht so sehr, dies zu beschreiben, sondern vielmehr sich von dieser Ausgangslage zu emanzipieren, um eine vernünftige Welt Wirklichkeit werden zu lassen. [8]
Was MARTIN in ihrer Arbeit nicht berücksichtigt und ausblendet, ist die von der kritischen Theorie selbst nicht weiter hinterfragte Grundauffassung einer ökonomisch ausgerichteten, marxistisch interpretierten Struktur von Welt. Die kritische Theorie verhält sich insofern unkritisch in Bezug auf ihr eigenes Fundament und ist deshalb selbst traditionelle Theorie. Es ist daher zu fragen, inwiefern nonkonformistische Theorie und Praxis ökonomi(sti)sch im Allgemeinen und marxistisch im Besonderen orientiert sein müssen, d.h. inwiefern und auf welcher Basis sie eine Kritik der Ökonomie zu leisten haben und welchen Stellenwert eine solche haben sollte. [9]
3. Bestimmung nonkonformistischer Intellektualität
Ohne es eigens zu benennen, betrachtet MARTIN aus ihrer "intellektuellensoziologische[n] Perspektive" (S.14) nur eine Spielart des/der Intellektuellen, den/die öffentliche/n, public intellectual. Dieser Typ lasse sich dualistisch ausdifferenzieren, je nach "Distanz gegenüber der Nähe zu spezifischen Interessen und Gruppen" (S.24; siehe auch S.35). Erstere Position sieht sie in MANNHEIMs "Konzeption der freischwebenden Intellektuellen" verkörpert (MARTIN, S.25); Letztere in GRAMSCIs Begriff des "organischen" Intellektuellen, verstanden als "aus einer Klasse oder sozialen Gruppe hervor[gehend], mit deren Interessen er verbunden ist" (MARTIN, S.29). Eine dialektische Vermittlung zwischen beiden Positionen, zwischen "Unabhängigkeit [... und] Parteilichkeit der Intellektuellen" (S.36) versucht MARTIN nicht. [10]
HORKHEIMER hingegen kritisierte bereits in "Traditionelle und kritische Theorie" die (von ihm als sozialpsychologisch bezeichnete) Grundhaltung des/der organischen Intellektuellen: Dass sich das Denken des/der organischen Intellektuellen
"völlig der jeweiligen psychologischen Lage der Klasse unterordnet, die an sich die Kraft zur Veränderung darstellt, führt jenen Intellektuellen zum beglückenden Gefühl, mit einer ungeheuren Macht verbunden zu sein, und in einen professionellen Optimismus. Wird dieser in Perioden schwerster Niederlagen erschüttert, so gerät mancher Intellektuelle in Gefahr, in ebenso bodenlosen sozialen Pessimismus und in Nihilismus zu verfallen, wie sein Optimismus übertrieben war" (1988a [1937], S.188). [11]
Das "Schweben über den Klassen [müsse] zum Wesensmerkmal der Intelligenz" werden (S.196). Dies sei jedoch nur bedingt möglich, denn: "Der Geist ist liberal", insofern er "keinen äußeren Zwang, keine Anpassung seiner Ergebnisse an den Willen irgendeiner Macht" "verträgt" und "nicht liberal", insofern er nichts "ohne Interesse [...] zu erkennen vermag" (S.197). Allen Erkenntnisinteressen übergeordnet solle dabei stets das "Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts" sein (S.216). Kritische Theorie verfolgt daher ein gesamtgesellschaftliches Interesse. Sie hat "das Glück aller Individuen zum Ziel" (HORKHEIMER 1988b [1937], S.221). [12]
Obwohl der Begriff des Nonkonformismus für ihre Arbeit zentral ist, erörtert MARTIN ihn nicht. In ihren einleitenden Sätzen zu ADORNO gibt sie lediglich einen Hinweis, eine Richtung an: Die "Analyse der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer kritischen intellektuellen Praxis" sei eine – oder die? – "spezifische Form des Nonkonformismus" (MARTIN, S.38). Welches Ziel diese Analyse verfolgen solle, wird von MARTIN dabei zunächst offen gelassen. [13]
Statt die nonkonformistische Grundhaltung insgesamt näher zu bestimmen, differenziert die Autorin im weiteren Fortgang den Begriff wiederum dualistisch aus, indem sie zwischen akademischem und nicht-akademischem Nonkonformismus unterscheidet. Für erstere Spielart steht für sie exemplarisch ADORNO, für Letztere stehen AMÉRY und ANDERS. Eine solche Trennung fällt zum einen leicht und ist zum andern sinnvoll, um zu sehen, ob sich "klassen"-spezifische, aber auch persönlichkeitsbedingte Unterschiede in nonkonformistischen Einstellungen in Theorie und Praxis zeigen (lassen). [14]
3.1 Akademischer Nonkonformismus (ADORNO)
Als maßgeblich für ADORNOs Leben als Intellektueller sieht MARTIN seine Tätigkeit als "akademischer Lehrer" im Nach-Hitlerdeutschland (S.43). Als organischer Intellektueller sei sein Tun auf den akademischen Betrieb und "die genuin theoretische Produktion" ausgerichtet gewesen (S.43). In diesem Sinne sei seine Praxis eine "Praxis der Theorie" gewesen (S.44). Doch diese Praxis war nicht per se nonkonformistisch, wie MARTIN unterstellt. Als Hochschullehrer agierte ADORNO wie alle Hochschullehrer/innen im akademischen Umfeld. Seine Denkhaltung wurde zu einer nonkonformistischen erst durch Distanzierung, Reflexion, Entwicklung eines (Gegen-) Verständnisses von Theorie als kritischer Theorie und dementsprechendem Handeln. [15]
Den ersten Schritt zur Ausbildung einer nonkonformistischen Position bei ADORNO sieht MARTIN in der (noch) mit HORKHEIMER zusammen verfassten "Dialektik der Aufklärung" (HORKHEIMER & ADORNO 1987 [1944]). In diesem Werk trete "die emanzipatorische Kraft der Vernunft" besonders deutlich in den Fokus (MARTIN, S.46). Aufklärung sei kein abgeschlossenes Projekt, sondern müsse "fortgesetzt werden, aber nicht in Form einer ungezügelten Naturbeherrschung, sondern durch kritische Reflexion auf Vernunft" (a.a.O.). Eine nonkonformistische Grundposition zeichne sich infolgedessen durch das (fortwährende) Eintreten "für die emanzipatorischen Ziele der Aufklärung" aus (S.47). Diese Haltung führe ADORNO in den "Minima Moralia" (1951) "beispielhaft vor" (MARTIN, S.47), indem er "die Diskrepanz zwischen der herrschenden Wirklichkeit und dem, was möglich wäre, aufscheinen" lasse (S.50f.). Ihrem Inhalt nach bleibe die Kritik dabei, wie HORKHEIMER bereits in "Traditionelle und kritische Theorie" vorgab, durch "eine fundamentale Kritik der kapitalistischen Vergesellschaftung" vorbestimmt (MARTIN, S.52). In diesem Sinne habe ADORNO HORKHEIMERs Konzept der kritischen Theorie fortgeführt. [16]
Inwiefern ADORNOs Position von der HORKEIMERs abweicht, wird von MARTIN nicht erörtert. Ihr geht es nicht um die Herausarbeitung von Unterschieden (innerhalb der kritischen Theorie), sondern um (möglichst) allgemeine Bestimmungen der "Praxis" nonkonformistischer Intellektualität (S.14). [17]
3.2 Nicht-akademischer Nonkonformismus (AMÉRY und ANDERS)
MARTINs "Ausgangsthese" lautet, "dass es seinerzeit auch jenseits des universitären Arbeitsbereichs nonkonformistische Theorie und Praxis gab" (S.16). Um dies nachzuweisen, unternimmt die Autorin eine "vergleichende Untersuchung" (S.16) und kontrastiert ADORNO als Vertreter "des universitären Arbeitsbereichs" mit dem Journalisten AMÉRY und dem Schriftsteller ANDERS als Stellvertretern der nicht-universitären Spielart nonkonformistischer Intellektualität (S.16). [18]
Für MARTIN markiert die nonkonformistische Position zunächst eine intellektuelle Grundhaltung einer bestimmten Epoche. Für nonkonformistische Intellektuelle prägend sei die "gescheiterte Revolution" von 1918/19 gewesen, insofern sie "eine wichtige gesellschaftliche Erfahrung aller drei bzw. vier [Intellektuellen (ohne bzw. mit Einbezug HORKHEIMERs)] darstellt" (S.64). Für den weiteren Lebensweg seien zudem bei allen drei/vier untersuchten Intellektuellen die persönlichen Erfahrungen während des Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg eminent bedeutsam gewesen. Inwiefern jedoch die vollzogene Verallgemeinerung von den exemplarisch untersuchten Personen auf alle nonkonformistischen Intellektuellen statthaft ist/sein könnte, wird von der Autorin nicht erörtert. [19]
Unter Bezug auf kritische versus traditionelle Theorie ist den untersuchten Personen MARTIN zufolge zudem die Kritik am Positivismus und die Ausprägung einer kritischen Position gemeinsam. Betrachtete AMÉRY in den 1930er Jahren den "Positivismus [noch] als Gegengewicht zu den aufstrebenden kleriko-faschistischen Kräften" (MARTIN, S.62), so wendete er sich, wie MARTIN weiter ausführt, nach dem Zweiten Weltkrieg vom Positivismus ab, der ihm "retrospektiv [...] als ein naiv-szientifisches Trugbild erscheint" (S.63). Auch bei ANDERS lasse sich eine Kritik am Positivismus ausmachen. ANDERS zufolge sind, wie MARTIN zitiert, "die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit ausgetauscht. Frei sind die Dinge: unfrei ist der Mensch" (ANDERS 2010 [1956], S. 33, nach MARTIN, S.101). Die konsequente angewandte Fortführung des Positivismus durch Technisierung habe zu einer Umwertung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt geführt, die aus Sicht des Subjekts von ANDERS als seine eigne, nicht-aufhebbare Verdinglichung und in letzter Konsequenz Zerstörung interpretiert worden sei. Nach Auffassung von ANDERS leben wir, die Menschheit, im Vorlauf in den Atomtod oder – wie MARTIN (S.109) im Anschluss an ANDERS formuliert: "Hiroshima [stelle] den Beginn der Endzeit dar". [20]
Aus der Perspektive ihrer Kritik an der positivistischen Grundeinstellung des traditionellen Theorieverständnisses erkannten also ADORNO, AMÉRY und ANDERS, so MARTIN, die "Diskrepanz zwischen dem, was möglich und dem, was wirklich ist" (S.122), sie hätten aber aus ihrer "kritischen Reflexion von Erfahrung" (S.123), vor allem "von Herrschaft" (S.131), unterschiedliche Schlüsse in Bezug auf ihr Handeln, ihre "praktischen Interventionen" gezogen (S.124). In ADORNOs "Theoriearbeit" (MARTIN, S.129) sieht die Autorin dabei den an "nonkonformistische Praxis [gestellten ...] Anspruch, eine Zwischenposition zu realisieren", "die weder in der Politik irgendeiner gesellschaftlichen Bewegung noch in einem [...] konkreten und euphorischen Rückbezug auf die aufklärerisch-humanistische Rolle aufgeht", paradigmatisch eingelöst (S.124). AMÉRY und ANDERS hingegen ließen sich ihrer "Haltung" (MARTIN, S.163) entsprechend "einordnen, indem sie sich einmal mehr, einmal weniger den beiden Polen von allgemeiner und partikularer Repräsentation annähern" (S.124). Dies treffe insofern zu, als sich AMÉRY an ZOLA "als Vorbild" orientiert (MARTIN, S.126) und "entsprechend der aufklärerisch-humanistischen Ideale intellektuell zu wirken" beabsichtigt habe (S.127). ANDERS ergreife Partei, nehme "zeitweise sogar die Rolle eines Bewegungsintellektuellen wahr" (MARTIN, S.110) und habe sich u.a. in der Anti-Atom-Bewegung engagiert. [21]
MARTIN übernimmt damit ADORNOs Kritik der "invarianten Reaktion": Ohne Bezug auf AMÉRY und ANDERS charakterisierte er in "Negative Dialektik" (1982 [1966]) diese Position wie folgt: "Die invarianten Gerüste sind nach dem Ebenbild des allgegenwärtigen Schreckens geschaffen, des Schwindels einer vom totalen Untergang bedrohten Gesellschaft. Verschwände die Drohung, so verschwände wohl mit ihr auch ihre positive Umkehrung, selbst nichts anderes als ihr abstraktes Negat" (S.100). [22]
Die Frage, die hieran anknüpfend gestellt werden muss, ist, ob eine stets variante Reaktion als Grundposition von im Elfenbeinturm der Universitäten beheimateten "Berufsphilosophen" (ANDERS 2010 [1956], S.13) überhaupt (noch) die Möglichkeit zur Einflussnahme auf bzw. in gesellschaftliche Prozesse eröffnet. Dieser Frage geht MARTIN erst unter Bezug auf Intellektualität in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft nach. Die Wirkung der kritischen Theorie auf konkrete gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderung wird zudem gar nicht thematisiert. [23]
3.3 Nonkonformismus versus Konformismus (LAZARSFELD und SCHELSKY)
Lediglich zur Gegenprobe zieht MARTIN kurz zwei weitere Intellektuelle heran: Paul F. LAZARSFELD, mit dem ADORNO im Exil in den USA zusammenarbeitete, und Helmut SCHELSKY. Insbesondere Letzterer offenbare ein antagonistisches "Verständnis des Intellektuellen, das diesen als Herrschaftsdiener konzipiert" (MARTIN, S.169). Damit scheinen die nonkonformistischen, herrschaftskritischen von den konformistischen, herrschaftsdienenden Intellektuellen eindeutig abgrenzbar. Eine weitere Diskussion des Verhältnisses von konformistischen und nonkonformistischen Haltungen wird von MARTIN folglich nicht thematisiert. [24]
Wie bereits erwähnt, fußt die kritische Theorie auf den marxistischen Grundannahmen der Verfasstheit gesellschaftlichen Seins, eines "dialektischen Materialismus" (ADORNO 1982 [1966], S.347). Der Begriff Dialektik wird dabei von ADORNO als "das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität" interpretiert (S.17) und in eine "negative Dialektik" transformiert. Der Produkt- und Warenbegriff, der für MARX bereits von zentraler Bedeutung war und als Warenfetischismus gebrandmarkt wurde, avanciert bei ADORNO zum Herrschaftsinstrument par exellence: "Der Warencharakter aber, vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen, fixiert die Subjekte in ihrer Unmündigkeit" (S.101). In Abgrenzung gegen den traditionellen Theoriebegriff sei dabei "das stärkste Motiv der Marxschen Theorie überhaupt" besonders hervorzuheben, nämlich das Motiv der "Abschaffung" (S.348) des "in ein Naturgesetz mystifizierte[n] Gesetz[es] der kapitalistischen Akkumulation" (MARX 1962 [1867], S.649; zitiert nach ADORNO 1982 [1966], S.347). ADORNOs Hauptkritikpunkt an der "szietifische[n] Invariantenlehre", wonach alle Vorgänge der realen Welt als determiniert behauptet werden, ist damit die Verabsolutierung der/aller Naturgesetze als a priori, uneingeschränkt gültig (S.348). Denn dies verkenne deren Bedingtheit: "Wo das Reich der Freiheit begönne, gälten sie nicht mehr" (a.a.O.). [25]
Das Reich der Freiheit bildet daher die Gegenfolie gegen die damit als Reich der Unfreiheit aufgefassten gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zeit der Abfassung der "Negativen Dialektik". Ohnehin scheint HEGELs Diktum "Was vernünftig ist, das ist wirklich; [/] und was wirklich ist, das ist vernünftig" (1970 [1820], S.20) Grundlage der "Horkheimerschen Formulierung 'kritischer Theorie'" gewesen zu sein (ADORNO 1982 [1966], S.197), nur dass die Einlösung dieses Satzes nicht als bereits vollzogen, sondern als auf Zukunft vertagt, als Ziel aus Vernunft ausgegeben wird: Dialektik hat "ein Ende in der Versöhnung" (S.18), die nur, wie nachfolgend ausgeführt wird, durch die "Sonderanstrengung der Vernunft" zu erreichen sei (S.329). [26]
Indem MARTIN diese Programmatik der kritischen Theorie ausblendet und kaum auf die "Negative Dialektik" Bezug nimmt, bleibt die theoretische Fundierung ADORNOs sowie die der beiden anderen exemplarisch untersuchten Intellektuellen, die als nicht-akademische Varianten nonkonformistischer (Theorie und) Praxis inauguriert werden, unaufgeklärt, vage. [27]
4. Intellektualität in der heutigen Wissensgesellschaft
Um nach der Einzeldarstellung der drei nonkonformistischen (ADORNO, AMÉRY und ANDERS) und zwei konformistischen Intellektuellen (LAZARSFELD und SCHELSKY) herausarbeiten zu können, vor welche Herausforderungen nonkonformistische Intellektualität heute gestellt ist, versucht MARTIN zunächst den Begriff der "Wissensgesellschaft", der von ihr für die Zeit, in der wir leben, als maßgeblich aufgefasst wird zu charakterisieren. In historischer Perspektive konstatiert sie zunächst einen "seit den 1980er Jahren" sich vollziehenden "Übergang der Produktionsweise vom Fordismus zum Neoliberalismus" (S.177). Im Anschluss an Christine RESCH, die in "Berater-Kapitalismus oder Wissensgesellschaft?" (2005), so MARTIN, dafür plädiere, "den gegenwärtigen Neoliberalismus als Berater-Kapitalismus zu begreifen" (S.178), sieht MARTIN Wissen als "(endgültig) zur Ware" geworden an (a.a.O.). Wissen solle "vor allem nützlich und verwertbar sein" und werde "daher in konsumierbarer Form, in der Regel als Information oder Unterhaltung angeboten" (S.179). [28]
RESCHs und damit auch MARTINs Auffassung von Berater/innen, die als Sachkundige, peers, ihr Wissen als Dienstleistung und damit als Ware feilbieten, stehen Konzepte entgegen, die den "Gedanke[n] einer einseitigen Informationsübertragung vom Berater in die dafür zahlende Firma" als "falsch" erachten (STAUTE 1996, S.122). Jörg STAUTE zufolge ist es eher so, dass "die Consultants im Klientensystem den Informationsaustausch an[kurbeln] und [...] damit den Informationsverarbeitungsprozeß [...] beschleunigen" (a.a.O.): Consultants "verkaufen" nicht "ihr Wissen einem Unternehmen [...], dem dieses Wissen fehlt. Vielmehr aktivieren sie den Wissensprozeß innerhalb einer Firma" (a.a.O.). Dieser Auffassung zufolge ist die Wissensgesellschaft nicht so sehr durch den (das eigene Unternehmen transzendierenden, interaktiven) Waren-, sondern weit mehr durch den (systemimmanenten, intraaktiven) Prozesscharakter von Wissen bestimmt. Dementsprechend wäre Wissen als systemrelevant für alle Bereiche der Gesellschaft zu erachten und zu fundieren. [29]
4.1 Herausforderungen an die politische Ökonomie: Unterwegs zur Industrie 4.0
Obwohl, wie gezeigt, die kritische Theorie von ihrem Ansatz her von der politischen Ökonomie im Anschluss an MARX stark beeinflusst ist, blendet MARTIN in ihrer Arbeit ökonomische Aspekte vollständig aus. (Allein kulturindustrielle Bezüge werden unter Rekurs auf ADORNO erörtert.) Nachfolgend soll daher zumindest angedeutet werden, inwiefern Intellektuelle der Gegenwart von aktuellen Entwicklungen der Wirtschaft und Wirtschaftspolitik betroffen und herausgefordert sind, Position zu beziehen. [30]
Zunächst ist der auch von MARTIN zur Bestimmung der gegenwärtigen Gesellschaft verwendete Begriff der Wissensgesellschaft zumindest interpretationsbedürftig. Wissen war bis in die Neuzeit eine Angelegenheit eines/einer einzelnen Denkenden. Im Laufe der Zeit wurde der Wissensbegriff dann auf Organisationen übertragen. In diesem Zusammenhang sprach/spricht man von lernenden Organisationen. Diese können kleinere Einheiten, Unternehmen, oder größere Einheiten, Gesellschaften auf nationaler wie internationaler Ebene sein. So ist nach Auffassung des EUROPÄISCHEN RATs (2000) die EU eine Wissensgesellschaft. Doch nicht nur menschliche Gebilde, Körperschaften, sondern auch technische, gemachte Gebilde können Wissen erwerben und dementsprechend systemisch, vernetzt interagieren. In der u.a. von Kai RIEGER als "Industrie 4.0" bezeichneten vierten industriellen Revolution könnte dies verwirklicht werden. In Anschluss an die dritte, "digitale Revolution", die durch computergesteuerte Maschinen" charakterisiert sei, die "genauer, schneller und zuverlässiger als Menschen [arbeiteten], wenn man sie richtig einstellt", soll die "Industrie 4.0 [...] diese Maschinen nun miteinander verbinden. Dies mache die gesamte Fabrik [und letztlich das gesamte Wirtschaftssystem] zu einem cyber-physischen System" (2013, S.V4). [31]
In dieser Hinsicht scheint sich der Primat in der Dualität von positiver und rationaler Welt zugunsten der gedanklichen zu verschieben. Im Gegensatz zum sogenannten EPR Paper, einem der meist zitierten Aufsätze nicht nur der Quantenphysik, sondern der Wissenschaftsgeschichte überhaupt, benannt nach seinen Verfassern Albert EINSTEIN, Boris PODOLSKY und Nathan ROSEN, ist nicht "physical reality" maßgeblich für "physical theory" (1935, S.777), vielmehr werden, worauf Iestyn HARTBRICH hinweist, die physischen Produktionssysteme selbst mehr und mehr zu "cyberphysische[n] Systeme[n]", die sich weitgehend selbst organisiert steuern (sollen): "Bislang werden Fabriken noch zentral gesteuert. [...] Künftig hingegen könnten Maschinen und Werkstücke selbst die Produktion organisieren" (2014, S.31). Als einen der wesentlichen Effekte dieser Art von Produktion sieht HARTBRICH die Außerkraftsetzung des Dogmas der "sehr hohen Losgrößen" der quantitativ dominierten Massenfertigung (S.32): Industrie 4.0 ermögliche wieder "individuelle Fertigung, eins zu eins nach Kundenwunsch" wie in den "Manufakturen des vorindustriellen Zeitalters" (S.32). Diese von Don TAPSCOTT als "Transformationsprozess" bezeichnete Fortentwicklung bedeute zugleich die Chance zur Aufhebung der Selbstentfremdung des Subjekts: "Aus Konsumenten werden Produzenten oder Prosumer" (TAPSCOTT 2014, S.18), die selbstbestimmt agieren (können) – wenn die Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet sind. Die gerade entstehende Industrie 4.0-Welt bietet insofern auch eine Chance zur Emanzipation und Befreiung. [32]
Dem entgegen begreifen politische Akteur/innen die Wissensgesellschaft nach wie vor, wie auch MARTIN, vor allem in waren-, d.h. objektbezogener Perspektive als brisant. So wurden die "Herausforderungen" der "Informationsgesellschaft für alle" vom EUROPÄISCHEN RAT (2000, o.P.) in der Lissabon-Strategie im "Übergang zu einer digitalen, wissensbasierten Wirtschaft, der von neuen Gütern und Dienstleistungen [her] ausgelöst wird", gesehen. Unter dieser Annahme ist MARTIN zuzustimmen, wenn sie unkritisch wie die Politik Wissen auf seinen Warencharakter restringiert. Systemrelevant scheinen für die den wirtschaftlich-technischen Entwicklungen meist hinterher hinkenden Politiker/innen ohnehin nur Großbanken und Großunternehmen zu sein. Während die EU seit 2010 versucht, in einer neuen Strategie die schon 2000 ausgegebenen Lissabon-Ziele (endlich) zu erreichen, bewegt sich unsere Gesellschaft jedoch bereits auf eine voll-vernetzte "Industrie 4.0"-Welt zu. [33]
Unternehmen wie Google versuchen dies für sich zu nutzen und bieten durch Zukauf entsprechender Unternehmen die Vernetzung von diversen Systemen mit deren Umwelten als weitere Dienste an (SCHMIDT et al. 2014, insbes. S.72f.). Der Preis, den wir User dafür zahlen müssten, wäre die immer weiter gehende Preisgabe der Privatsphäre. Evgeny MOROZOV warnt denn auch: "Daten sind die neue Währung, und Google ist die Zentralbank. Wir zahlen mit unserer Privatheit" (2014, S.78). [34]
Kurz gefasst: Angesichts der rasanten Beschleunigung der technischen Entwicklung scheint Politik heute kaum mehr fähig, rechtzeitig zu agieren, sondern nur mehr (zu) spät zu reagieren. Dies wird auch bei MARTIN angedeutet. In ihrem Kapitel über Ex-Bundeskanzler Helmut SCHMIDT kommt sie auf Politikberatung kurz zu sprechen. "Politikberatung" sei "eine weitere Dimension seiner [SCHMIDTs] intellektuellen Rolle", als er in Reaktion auf aktuelle politische Themen "mögliche Handlungsoptionen vorschlägt" (MARTIN, S.212). [35]
4.2 Repräsentative, zeitgenössische Medienintellektualität
Im Abschnitt über "Zeitgenössische Intellektuelle" widmet sich MARTIN (S.181) sodann, nach den Ausführungen zur Wissensgesellschaft im Allgemeinen, der Frage nach Macht und Ohnmacht von Intellektuellen als Akteur/innen. Im Gegensatz zum Aufweis von Nonkonformismus anhand einzelner Personen gibt MARTIN hier "empirische Beispiele" (a.a.O.) anhand von (Vermarktungs-) Aktionen in Presse und Fernsehen. Denn ihrer Ansicht nach gilt eine Person in der Wissensgesellschaft nur dann als intellektuell, wenn sie als solche von anderen (medial) inszeniert und vom Publikum entsprechend auch wahrgenommen wird. Zu "Medienintellektuellen" (S.186) mutierte Intellektuelle sind in dieser Hinsicht nicht selbst-, sondern fremdbestimmt. Sie sind Teil, Ware, Objekte der auf Konsum ausgerichteten Unterhaltung der Massen. Einschaltquoten würden über ihr Schicksal, ihre Bedeutung als öffentliche Personen, als öffentliche Intellektuelle bestimmen. Konsequenterweise vergleicht MARTIN daher nicht Personen in ihrer "Jemeinigkeit" (HEIDEGGER 1979 [1927], §12, S.53), sondern in ihrer Gebundenheit in/an einzelne Sende- und Publikationsformate. Als Beispiele hierfür dienen ihr zunächst "eine Sendung aus dem Jahr 1968 über Samuel Beckett sowie eine Folge des Philosophischen Quartett vom April 2008" (MARTIN, S.187). Während in der Sendung über BECKETT von den eingeladenen Gästen "verschiedene Interpretationen entwickelt" worden seien, um den Zuschauer/innen eine Hilfestellung für das Verstehen von BECKETTs Werken zu ermöglichen (MARTIN, S.189), sei es in der anderen Sendung darum gegangen, "dass gegensätzliche Positionen ausgetauscht werden" (S.190). Anstatt ein "Problem gemeinsam zu bearbeiten", sei im Philosophischen Quartett "ein Disput ausgetragen" (a.a.O.) worden. [36]
Was es für die Gesellschaft bedeutet, dass in den heutigen Sendeformaten nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende betont wird, führt MARTIN nicht weiter aus. Sie beschränkt sich auf die Kontrastierung von (vor allem) ADORNO als Nonkonformist mit den heutigen Medienintellektuellen (wofür u.a. Rüdiger SAFRANSKI und Peter SLOTERDIJK stehen), die ihr – so ist zu unterstellen – allesamt korrumpiert (zumindest) scheinen, als sie in ihrer "Rolle [...] als Unterhalter" (MARTIN, S.197) um die Gunst des Publikums buhlen. [37]
Der Figur des Medienintellektuellen setzt MARTIN die des "klassischen Intellektuellen" entgegen, "der ja als Repräsentant des Allgemeinen apostrophiert wird" (S.199) und "für allgemeine Werte und Interessen zuständig sei" (S.202). Dies trifft laut MARTIN insbesondere auf Jürgen HABERMAS zu, den sie darüber hinaus zu einem "Großintellektuellen" stilisiert, da es in Deutschland derzeit "niemanden [gebe], der diese Zuschreibung häufiger erfährt" als er (S.199). Ausschlaggebend für diese Wertung von HABERMAS seien "drei inhaltliche Schwerpunkte[...]: erstens die wissenschaftlich-philosophische Leistung, zweitens die nationale und internationale Rezeption [bzw. "nationaler und internationaler Erfolg" (S.206)] und drittens das öffentliche Engagement" (S.200), sofern es als solches entsprechend "Anerkennung und Akzeptanz" finde (S.206). Diese Kriterien würden im Übrigen "auch für Schriftsteller" gelten, nur dass in deren Fall deren Leistung eine schriftstellerische, keine wissenschaftlich-philosophische sei (a.a.O.). In "Abgrenzung zum Medienintellektuellen" äußere HABERMAS sich (prinzipiell) zudem "nur zu relevanten Themen", während Medienintellektuelle sich "bei allem anderen zu Wort melden" (S.202). Zugleich zeichne sich HABERMAS "in einer Abgrenzung zum (partei-)politischen Intellektuellen" durch "politische Unabhängigkeit" aus (a.a.O.). Wichtig für die Wertung von HABERMAS sei zudem "die Retrospektive" (S.203): Seine Bedeutung resultiere auch aus seiner "Arbeit" und seinem "Wirken [...] in der Vergangenheit" als "schlaue Eminenz der 68-er Revolte" (a.a.O.). Hierin zeigt sich für MARTIN die Entwertung des einstigen Großintellektuellen zum nur mehr klassischen Intellektuellen. Denn "die Ernennung zum Klassiker" erfolge, wenn jemand als zwar "wirkmächtig", aber "letztlich als 'unzeitgemäß'" erscheine (S.204). [38]
Unter Bezug auf Ex-Bundeskanzler SCHMIDT führt MARTIN sodann aus, dass man auch "zum Intellektuellen gemacht" werden könne (S.207). Diese Funktion sei ambivalent. In Abgrenzung zum Medienintellektuellen zeichne SCHMIDT einerseits sein "einzigartiges Urteilsvermögen" als "ein weiteres Merkmal" aus, das darin gründe, dass er – wie ein klassischer Intellektueller – "historisch erfahren" sei (S.208). Zudem sei er für seine "Rolle als politischer Intellektueller" durch "seine Unabhängigkeit" "legitimiert" (S.211): In "Abgrenzung zum (populistischen) Medienintellektuellen" sage er nicht, "was das Publikum hören will" (S.212). Andererseits jedoch fungiere er auch und vor allem "als intellektueller Unterhalter", der "die potentielle Neugier der Leser bedienen" soll (S.213). [39]
Im Anschluss an die Sendung über BECKETT und das Philosophische Quartett analysiert MARTIN, ihre Untersuchung über Nonkonformismus abschließend, "das neue (Selbst-) Verständnis von akademischen Intellektuellen" (S.215). Hierzu wählt sie "exemplarisch" "drei Fotografien" (a.a.O.) "eine[r] Serie des Spiegel, in der anlässlich des Jahres der Geisteswissenschaften 2007 sechzehn sogenannte Geistesgrößen portraitiert wurden" (S.214). In der "Inszenierung" der Porträtierten (S.218) gehe es "darum, selbstbewusste und erfolgreiche Wissenschaftler bzw. Intellektuelle vorzuführen" (S.217), um den "Nutzen" von deren "geisteswissenschaftlicher und intellektueller Arbeit" (S.218) aufzuzeigen. Einen Widerspruch der "Exzellenzrhetorik" (S.229) der gesamten Serie sieht MARTIN dabei darin, dass die Porträtierten zwar "als realitätsnah, einen gesellschaftlichen Zweck erfüllend dargestellt" würden (S.227), dass sie aber aufgrund der "Einengung auf Nützlichkeit und Verwertbarkeit" ihrer Arbeit (S.233) "gerade nicht die Regel, sondern die Ausnahme der akademischen Wirklichkeit repräsentieren" (S.228). Zumindest als Geisteswissenschaftler/in erlange man, so folgert MARTIN, "unter den gegenwärtigen kulturindustriellen Bedingungen" Medienbedeutung zudem nur aufgrund "einer professionellen Präsentation durch Fachleute" (S.229). Diese ersetze "die (amateurhafte) Selbstdarstellung von Intellektuellen" (a.a.O.). Nicht das Individuum selbst, sondern die Medien definieren, wer Intellektuelle/r sei und wer nicht. Wie weit Zuschreibungen aber über die Medien (überhaupt) vermittelt werden (können), wird nicht thematisiert. [40]
4.3 Fortführung der Aufklärung
Aus ihren Ausführungen über Medienintellektuelle, Großintellektuelle und klassische Intellektuelle der Jetztzeit zieht MARTIN den Schluss, dass es kaum noch jemanden gebe, "der sich durch eine gesellschaftliche Arbeit auszeichnet oder auszeichnen müsste" (S.243). In Opposition hierzu skizziert sie, wie nonkonformistische Intellektualität ihrer Meinung nach fortgeführt werden müsse: Als "Denken im Widerspruch", "in der Auseinandersetzung mit der eigenen intellektuellen Existenz und Rolle" (S.244). Zu reflektieren sei "die herrschaftliche Privilegierung wie die Kritik dieser Herrschaft gleichermaßen" (S.244). Dabei komme es nicht darauf an, "den besseren [in Gegensatz zum "falschen"] Zustand auszumalen, sondern zu zeigen, was ihn verhindert" (S.235). Dementsprechend sei "eine Analyse von Kulturindustrie und deren Veränderungen" zu leisten, die das "Wissen" der Analyst/innen einschließe, "als Intellektuelle kulturindustriell vereinnahmt zu sein und zu werden" (S.247). Auf diese Weise könne "eine befreiungstheoretisch orientierte Praxis und damit letztlich [...] das Versprechen einer emanzipierten Gesellschaft [...] zumindest als Anspruch" bewahrt werden (S.248). [41]
4.4 Exkurs: Wider den Überwachungsstaat
Die Grunderfahrung der Intellektuellen von heute ist materielle Sicherheit. Kaum einer von ihnen lebt in prekären Verhältnissen wie seinerzeit AMÉRY und ANDERS. Friede und weitgehende Freiheit scheinen in Europa (durch das Projekt EU) erreicht. Der einst real existente Nationalsozialismus der Hitlerzeit muss in Erzählungen eigens erinnert und zur Mahnung wach gehalten werden. Insofern hat MARTIN recht: Uns prägen andere Erfahrungen und Herausforderungen als die Generation der nonkonformistischen Intellektuellen der jungen Bundesrepublik Deutschland. Doch dies heißt nicht, dass die Protestkultur obsolet wurde oder werden wird: Sie ändert sich nur. [42]
In den 1980er Jahren wurde das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit anders thematisiert als heute. Damals baute sich "aus Furcht vor Überwachungsstaat und gläsernem Bürger eine breite Bewegung gegen die Volkszählung auf [...] mit Tausenden Bürgerinitiativen, Zehntausenden Demonstranten, hunderttausendfach verkauften Protestschriften" (LOBO 2013, o.P.). Heute hingegen geben Menschen in sozialen Netzwerken viel über sich freiwillig preis. Für Netzaktivist Sascha LOBO ist das "schwer zu ertragen, denn die dazugehörige These lautet: [...] Das Netz selbst desensibilisiert seine Nutzer in Fragen persönlicher Daten". Staatliche Organe und privatwirtschaftlich handelnde Gesellschaften nutzen diese Unbekümmertheit, das "'Privacy Paradox', den Widerspruch zwischen der theoretischen Wertschätzung und der gelebten Achtlosigkeit im Umgang mit der eigenen Privatsphäre" der Bürger/innen (BOJARYN 2013, S.V1), um sie – z.B. aus Gründen der allgemeinen Sicherheit, des Kampfs gegen den Terror – zu überwachen. Seit Edward SNOWDEN im Juni 2013 die Ausspähaktionen der National Security Agency (NSA) der USA offenlegte – wofür ihm die Universität Rostock dieses Jahr gar die Ehrendoktorwürde verleihen möchte – (LÜHMANN 2014, S.27) scheint sich das Bewusstsein der Bevölkerung und auch der Politik, wenn auch langsam zu verändern. Dem Protest gegen die NSA schlossen sich auch Intellektuelle an. So initiierten Juli ZEH und Ilija TROJANOW, die den "Angriff auf die Freiheit" (2011 [2010]) im gleichnamigen Buch konstatierten, nun den Aufruf "Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter", der am 10. Dezember 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und den fünf Nobelpreisträger und 560 Schriftsteller/innen unterzeichneten (ZEH & TROJANOW 2013a). Zur Begründung führte ZEH an: "Ein Aufruf wirkt in die breite Öffentlichkeit. [...] Wir brauchen einen Mentalitätswechsel. Einen Bewusstseinswandel" (ZEH & TROJANOW 2013b, S.29). [43]
Die Behauptung von MARTIN, dass Intellektuelle heute weitgehend konformistisch dächten und handelten, ist also falsch. Gerade in befreiungstheoretischer Perspektive sind Intellektuelle wie Öffentlichkeit zunehmend sensibilisiert. Allerdings muss sich noch zeigen, inwiefern die geäußerte Kritik der eigenen Position gegenüber kritisch, variant und nicht rein organisch, einer Bewegung verbunden bleibt. Zudem ist noch nicht abzusehen, inwiefern Intellektuelle den Versuchungen einer Vernetzung ihrer Welt, wie z.B. Google sie künftig offerieren möchte, widerstehen wollen/werden. [44]
MARTIN legt in ihrem Buch eine sehr detaillierte Studie zur nonkonformistischen Theorie und Praxis ausgewählter Intellektueller, insbesondere von ADORNO, AMÉRY und ANDERS vor. Die untersuchten Personen betreffend kann sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in deren nonkonformistischem Denken und Handeln aufweisen. Allerdings wird nicht klar, inwiefern die nonkonformistische Grundhaltung der exemplarisch untersuchten Personen auf kritischer Theorie basiert (sein muss). [45]
Im Abschnitt über die Kritik an der Wissensgesellschaft von heute wird zudem nicht deutlich, inwiefern die genannten Akteure eine nonkonformistische Grundhaltung einnehmen (könnten). Die Ausführungen zur Fortsetzung einer nonkonformistischen Kritik der Gesellschaft bleiben appellativ. Rahmenbedingungen und Ausrichtung einer solchen Haltung in der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Situation sind unzureichend fundiert und vorbereitet. [46]
Gleichwohl zeigen die Reflexionen zu Industrie 4.0 und zur gegenwärtigen Diskussion der Relation von Freiheit und Sicherheit den, wie ADORNO treffend formulierte, "Doppelcharakter des Fortschritts, der stets zugleich das Potential der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung entwickelte" (1951, S.85). Kritik und Protest, die sich heute gegen vereinseitigende und vereinnahmende Ausrichtung wenden, sind zudem Zeugnis für die Fortsetzung des Projekts nonkonformistischer Theorie und Praxis als philosophia perennis. [47]
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Georg Friedrich SIMET ist Vizepräsident für Lehre an der Hochschule Neuss für Internationale Wirtschaft und Professor für Wissenschaftstheorie und -propädeutik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Wissenschaftstheorie, Neoontologie sowie internationale Politik, Gesellschaft und Wirtschaft mit den Schwerpunkten Türkei und EU.
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Prof. Dr. Georg F. Simet
Vizepräsident für Lehre
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Simet, Georg F. (2014). Rezension: Susanne Martin (2013). Denken im Widerspruch. Theorie und Praxis nonkonformistischer Intellektueller
[47 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 15(2), Art. 13,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1402131.