Volume 8, No. 1, Art. 27 – Januar 2007
Loriot als Symbolischer Interaktionist. Oder: Warum man selbst in der Badewanne gelegentlich soziale Ordnung aushandeln muss
Dirk Koob
Zusammenfassung: Der folgende Essay bietet eine studentenorientierte Einführung in die Grundzüge des Symbolischen Interaktionismus. Anhand eines satirischen Beispiels wird inhaltlich die Bedeutung von Normen für die Etablierung sozialer Ordnung diskutiert. Gleichsam "wie nebenbei" kann sich der Leser und die Leserin mit zentralen Begrifflichkeiten der Theorie sowie der rekonstruktiven Vorgehensweise der Methodologie des Symbolischen Interaktionismus vertraut machen.
Keywords: Symbolischer Interaktionismus, soziale Ordnung, soziale Normen, sozialer Sinn und Bedeutung, rekonstruktives Vorgehen
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rekonstruktionsbeispiel
2.1 Der Beginn
2.2 Wasser einlassen
2.3 Badetemperatur
2.4 Ente ins Wasser
2.5 Wer bestimmt hier eigentlich?
2.6 Wer kann länger?
3. Zwischenbilanz
4. Zum Stellenwert von Normen im SI
4.1 Role-Taking und Bedeutungszuschreibung als anthropologischer Imperativ
4.2 Normen in vermeintlich unstrukturierten Situationen
4.3 Zusammenhang von Normen und Sinn
4.4 Sprache und Sozialisation als Vorgaben
4.5 Vermeintliche Kontingenz des Handelns
5. Schluss
Menschliches Zusammenleben bedarf allgemein akzeptierter Spielregeln, die als soziale Ordnungen Gemeinschaften auf allen Ebenen charakterisieren. Im Folgenden möchte ich eine prominente Handlungstheorie über die Entstehung solcher Ordnungen skizzieren, die insbesondere bei qualitativen Sozialforscher(inne)n – aber keineswegs nur bei diesen – verstärkt seit den 1950/60er Jahren großen Anklang gefunden hat. Die Rede ist vom Symbolischen Interaktionismus (im Folgenden "SI" abgekürzt); einer Betrachtungsweise menschlicher Interaktion als über Symbole vermittelt, die auf den amerikanischen Pragmatismus (u.a. John Dewey) zurückgeht und vor allem von der Chicago School of Sociology (u.a. William I. THOMAS) etabliert wurde. Urvater des SI ist der Sozialphilosoph und Sozialpsychologe George Herbert MEAD. Dessen Schüler Herbert BLUMER hat den Begriff "Symbolischer Interaktionismus" Ende der 1930er Jahre geprägt sowie den Ansatz weiterentwickelt und popularisiert. [1]
Der SI hat viele Gesichter. In der Literatur wird er u.a. als Handlungs-, Identitäts-, Sozialisations-, Symbol- oder Gesellschaftstheorie interpretiert (vgl. JOAS & KNÖBL 2004). Besonders bedeutend sind auch seine methodologischen Implikationen, die ganz entscheidend die qualitative Sozialforschung geprägt, man darf wohl sogar sagen angeleitet haben. Der Untertitel dieses Essays: "Warum man selbst in der Badewanne gelegentlich soziale Ordnung aushandeln muss", verdeutlicht freilich, dass es in diesem Beitrag vorwiegend um das handlungstheoretische Gesicht gehen soll. Genauer: um die Frage, wie Handlungen im SI modelliert werden und welche Bedeutung hierbei (nicht nur sozialen) Normen zukommt. In gewissem Sinne bewerte ich damit die Handlungstheorie als zentralen Gesichtspunkt des SI, zumal Gesellschaft für den SI kein Wesen sui generis, sondern "nur" eine strukturierte Anordnung von Interaktionen ist, und die daher über Handlungskategorien erfasst werden muss. [2]
Soziologische Handlungstheorien fragen danach, a) wie wir Handeln begreifen können (etwa als instinkthaften Automatismus oder als kreativ-reflektierenden Prozess), b) wie Menschen über ihr Handeln bzw. genauer über ihr wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln, also ihre Interaktionen, soziale Ordnung herstellen (und welchen Einfluss Letztere wiederum auf das Handeln hat) sowie schließlich c) auf welche Weise bzw. warum sich soziale Ordnung über Handlungen verändert bzw. wandelt. All diese zentralen soziologischen Probleme lassen sich paradigmatisch anhand des SI nachvollziehen, womit entlang der folgenden Diskussion auch ganz grundlegende Probleme der Soziologie bearbeiten werden können. [3]
Folgen wir der Einschätzung Thomas P. WILSONS (1973), dann dürfen wir den SI gerade auch als Gegenentwurf zu sog. strukturfunktionalistischen Ansätzen (besonders in der Version Talcott PARSONS [vgl. etwa 1964]) verstehen. Bei diesen Ansätzen wird davon ausgegangen, dass die sozialen Strukturen – etwa Rollenanforderungen, kulturelle Vorschriften, Normen, Werte und Sanktionsinstrumente – uns gleichsam Handlungen aufzwingen, welche funktional zum Erhalt der vorhandenen Strukturen beitragen. So tanzen wir bspw. in einem soziologischen Universitätsseminar i.d.R. nicht auf den Tischen herum, weil das in diesem Kontext normativ einfach nicht vorgesehen ist (inhaltlich fielen mir freilich gleich eine ganze Menge soziologischer Gründe für ein solches Procedere ein ...). Im SI hingegen wird ein subjektiv-bewusster Vermittlungsprozess betont, d.h. man propagiert eine doch relativ weitreichende Freiheit des Menschen, sich interpretativ-bewertend mit der Umwelt bzw. den Vorgaben der sozialen Strukturen auseinander zu setzen und dabei Handlungsentwürfe immer aus dem konkreten Interaktionsgeschehen heraus abzuleiten bzw. zu entwickeln. [4]
WILSON (1973, S.55ff.) sprach daher von einem "normativen Paradigma" (Strukturfunktionalismus) und einem "interpretativen Paradigma" (SI). Mit dem Hinweis auf das interpretative Paradigma ist heute zumeist weniger eine handlungstheoretische als vielmehr eine methodologische Orientierung gemeint. Beide Orientierungen sind gleichwohl eng miteinander verknüpft, denn wer über die Handlungstheorie des SI nachdenken will, kann – wie auch anhand des gleich zu betrachtenden Illustrationsbeispiels noch deutlich werden wird – methodologische Implikationen nur schwer unberücksichtigt lassen. Ich möchte im Folgenden u.a. zeigen, dass die von WILSON gebrauchte und in zahlreichen soziologischen Lehrbüchern übernommene Sprechweise (also "normativ" versus "interpretativ") sowie die damit verbundene Rede von einem "astructural bias" des SI (vgl. hierzu etwa MUSOLF 1992) zu Irritationen führt, denn auch im Handlungsverständnis des SI kommt Normen eine ganz große Bedeutung zu – obgleich dies mit Herbert Blumer ausgerechnet der Hauptvertreter des SI augenscheinlich so nicht erkannt haben mag. [5]
M.E. lassen sich handlungstheoretische Konzepte am Besten über konkrete Interaktionssituationen vermitteln. Ich werde mich deshalb zunächst gerade nicht mit den theoretischen Grundlagen des SI befassen, sondern diese entfalten, indem ich eine Face-to-face-Interaktionssituation analysiere bzw. – genauer gesagt – eine Interaktionssituation mit Hilfe der Begrifflichkeiten des SI rekonstruiere, diese gewissermaßen mit dem analytischen Handwerkszeug des SI "zerlege". Um die Ausführungen anschaulich zu gestalten, wähle ich ein allseits bekanntes Beispiel. [6]
"Herren im Bad" (von Loriot [von BÜLOW 2003]) (Zwei schon etwas ältere Herren sitzen sich in einer Badewanne gegenüber) M-L: Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich wäre jetzt ganz gerne allein. Dr.K.: Wer sind Sie denn überhaupt? M-L: Mein Name ist Müller-Lüdenscheidt. Dr.K.:Klöbner, Doktor Klöbner. M-L: Angenehm. Dr.K.: Angenehm. M-L: Können Sir mir sagen, warum Sie in meiner Badewanne sitzen? Dr.K.: Ich kam vom Ping-Pong-Keller und hatte mich in der Zimmernummer geirrt. Das Hotel ist etwas unübersichtlich. M-L: Aber jetzt wissen Sie, dass Sie in einer Fremdwanne sitzen und baden trotzdem weiter! Dr.K.: Von Baden kann nicht die Rede sein, es ist ja kein Wasser in der Wanne. M-L: Als ich das Bad betrat, saßen Sie im warmen Wasser. Dr.K.:Aber Sie haben es ja wieder abgelassen. M-L: Weil Sie es eingelassen haben, Herr Doktor Klöbner. In meiner Wanne pflege ich das Badewasser selbst einzulassen. Dr.K.:Na, dann lassen Sie's doch jetzt ein! M-L: Mein Badewasser lasse ich mir ein, wenn ich es für richtig halte. Dr.K.:Gewiss, natürlich. (Dr. K. pfeift verlegen) Dr.K.: Es sitzt sich recht kühl, einfach so in der Wanne. M-L: Ich sitze gern mal ohne Wasser in der Wanne. Dr.K.: Ach. M-L: Was heisst "ach"? Dr.K.: Ach. Sie sagten, dass Sie gerne ohne Wasser in der Wanne sitzen und ich meinte "ach". M-L: Aha. Dr.K.: Ich hätte auch "aha" sagen können, aber ich wollte meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass Sie es vorziehen, ohne Wasser in der Wanne zu sitzen. M-L: Herr Doktor Klöbner, ich leite eines der bedeutendsten Unternehmen der Schwerindustrie und bin Ihnen in meiner Badewanne keine Rechenschaft schuldig. Dr.K.: Nein, nein. M-L: Ich entscheide persönlich, ob ich mit Wasser bade oder ohne. Dr.K.: Ja, ja. M-L: Im übrigen sagte ich nur ... Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt ... M-L: Bitte lassen Sie mich ausreden. Ich sagte, dass ich, wenn es die Situation erfordert, durchaus in der Lage wäre, auch mal ein Wannenbad ohne Wasser zu nehmen. Dr.K.: Ja, ja. M-L: Und die Entscheidung darüber, ob ich mein Wannenbad mit oder ohne Wasser zu nehmen habe, lasse ich mir von niemandem aufdrängen. Dr.K.: Nein, nein. M-L: Auch von Ihnen nicht, Herr Doktor Klöbner. Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt, es wäre ja immerhin denkbar, dass es gewisse Argumente gäbe, die dafür sprächen, das Wasser jetzt einlaufen zu lassen. M-L: Wie wollen Sie das beurteilen? Dr.K.: Mein Gott, ich bade ja auch nicht zum ersten Mal! M-L: So? Dr.K.: Und nach meiner Erfahrung ist eben ein warmes Wannenbad mit Wasser zweckmäßiger als ohne. M-L: Das ist Ihre ganz persönliche Meinung, Herr Doktor Klöbner. Aber man darf ja wohl noch anderer Ansicht sein. Dr.K.: Ach, was. M-L: Sie können Sich in meiner Wanne eine eigene Meinung überhaupt nicht leisten. Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt! M-L: Herr Doktor Klöbner! Ich lasse jetzt das Wasser ein, wenn Sie mich höflich darum bitten. Dr.K.: Bitte. M-L: Höflich. Dr.K.: Höflich. M-L: Na, also. Dr.K.: Was machen Sie da? M-L: Ich lasse etwas kühleres Wasser ein. Dr.K.: Das ist sehr aufmerksam, aber ich hätte doch gerne noch eine Kleinigkeit von dem Heißen. M-L: Wenn ich jetzt einen Schuss von dem Kalten dazunehmen könnte. Dr.K.: Das war eine Idee zu viel. M-L: Ach. Dr.K.: Ich glaube, noch ein paar Tropfen Heißes und man könnte sich einigen. Geht es so? Dr.K.: Oh, bitte sehr. M-L: Die Ente bleibt draußen. Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt! M-L: Die Ente bleibt draußen! Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt, ich bade immer mit dieser Ente. M-L: Nicht mit mir. Dr.K.: Ich kenne Sie ja erst seit heute. M-L: Wenn Sie die Ente hereinlassen, lasse ich das Wasser heraus. Dr.K.: Das sind wohl die Erpressermethoden Ihrer Gangsterfirma. M-L: Herr Doktor Klöbner! Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt! M-L: Akademiker wollen Sie sein? Ha. Dr.K.: Also, was ist jetzt? M-L: Ich lasse das Wasser heraus, wenn Sie die Ente hereinlassen. Dr.K.: Ich nehme meine Ente herein. M-L: Wo ist der Stöpsel? Dr.K.: Sie sitzen drauf. Wissen Sie eigentlich, dass viele Menschen überhaupt kein Bad besitzen? M-L: Ach, Sozi sind Sie wohl auch noch? Dr.K.: Herr Müller-Lüdenscheidt! M-L: Herr Doktor Klöbner! Also lassen Sie die Ente in Gottes Namen herein. Dr.K.: Nein, mit Ihnen teilt meine Ente das Wasser nicht. M-L: Sie lassen sofort die Ente zu Wasser! Dr.K.: Ich denke nicht daran. M-L: Dann tauche ich jetzt so lange, bis Sie die Ente zu Wasser lassen. Dr.K.: Bittesehr ... M-L: Es ist mir ernst! Ich zähle bis drei. Eins, zwei, drei ... Hmmmmm ... Dr.K.: Da sind Sie ja schon wieder. M-L: Jawohl. Dr.K.: Passen Sie mal auf! M-L: Herr Doktor Klöbner? Hören Sie? Wenn Sie nicht sofort auftauchen, verlasse ich die Wanne. Die Luft anhalten kann jeder. Dr.K.: Was sagen Sie nun? M-L: Sie langweilen mich. Dr.K.: Aber ich kann länger als Sie. M-L: Es gibt Wichtigeres im Leben. Dr.K.: Was denn? M-L: Ehrlichkeit, Toleranz ... Dr.K.: Ja ... M-L: Mut, Anstand ... Dr.K.: Ja ... Ja ... M-L: Hilfsbereitschaft ... Dr.K.: Ja ... M-L: Tüchtigkeit, Zähigkeit ... Dr.K.: Ja ... M-L: Sauberkeit ... Dr.K.: Aber ich kann länger als Sie. M-L: Es kommt auf den Charakter an. Dr.K.: Aber ich kann länger als Sie. M-L: Und das glaube ich Ihnen nicht. Dr.K.: Dann tauchen wir jetzt gleichzeitig. M-L: Wie Sie wünschen. Dr.K.: Dann werden wir's ja sehen. M-L: Das werden wir sehen. Dr.K.: Ich habe schon ganz verschrumpelte Finger. M-L: Ich auch. Dr.K.: Also. Eins, zwei ... M-L: Drei ... Hmmmmm ... Ist hier jemand? Hallo? Entschuldigen Sie, ist das hier Zimmer 107? [7] |
Ich möchte den Leser und die Leserin zunächst einladen, einfach so zu tun, als handele es sich hier um eine reale Interaktionssituation. Es geht jetzt vorrangig darum, die handlungstheoretische Denkweise des SI nachzuvollziehen – und dabei ist es auf dieser Stufe (noch) nicht entscheidend, ob es sich um eine reale oder um eine fiktive Situation handelt. Weder eine Überprüfung noch eine Widerlegung des SI, sondern lediglich eine analytische "Nacherzählung" einer Interaktionssituation mit Hilfe eines bestimmten begrifflichen Rüstzeugs ist hier beabsichtigt. Im Übrigen bedient sich bspw. auch Ralph H. TURNER – einer der Hauptvertreter des SI – bei seinen Illustrationen vielfach keiner echten bzw. zumindest fingierter Daten (vgl. TURNER 1970). Wir befinden uns also in guter Gesellschaft. [8]
Loriots "Herren im Bad" ist deshalb im vorliegenden Zusammenhang als Beispiel so gut geeignet, weil sich gerade in der Überzeichnung theoretische Argumentationen einführend und erläuternd besonders pointiert herausarbeiten lassen. D.h. man kann anhand des Sketches schön zeigen, wie Menschen in minimalen, d.h. gering strukturierten, problematischen, konflikthaften Situationen handeln. Es wird deutlich, wie Interaktionsverläufe das Handeln steuern und wo Normen relevant werden, um letztlich eine für die Beteiligten akzeptable Lösung für problematische Situationen zu entwickeln, in denen die erprobten Alltagsroutinen fragwürdig oder unpassend erscheinen. Ein weiterer Grund für die Auswahl dieses Beispiel ist freilich, dass Soziologie auch Spaß machen darf. [9]
Schauen wir uns zuerst einmal den situativen Kontext so vorbehaltlos wie möglich an. Hier finden wir zwei schon etwas ältere Herren, lassen Sie uns von Akteuren sprechen, die sich nicht kennen und in einem Hotel gemeinsam in einer Badewanne sitzen. Wir wissen, dass dies eigentlich eine unmögliche Situation – ein absolutes Don't – darstellt: Man teilt (jedenfalls in den meisten Fällen) nicht mit wildfremden Menschen die Badewanne. [10]
Also: Nun sitzen unsere beiden Protagonisten aber gemeinsam in der Wanne und daraus resultiert für sie ein Handlungs- bzw. Interaktionsproblem (die zentralen Terminologien des SI werden im Folgenden kursiv gesetzt). Sie stehen vor der Frage, was sie jetzt miteinander machen, wie sie gemeinsam mit dieser ungewöhnlichen Lage, in die sie eher ungewollt hineingeschlittert sind, umgehen können. Augenscheinlich bedarf es der Herstellung irgendeines ordnenden Sinns, und unser Blick wird darauf gelenkt, wie die beteiligten Akteure nun versuchen, diesen auszuhandeln. Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner müssen folglich die Situation interpretieren, ihr also eine Bedeutung zuweisen und sie hierüber bestimmen bzw. definieren, um zu einer Beendigung der Ungewissheit zu gelangen. Sie müssen für eine ziemlich uneindeutige, ja ausgesprochen merkwürdige Situation, für die es zunächst einmal keine allgemein anerkannten Regelungsverfahren gibt, eine Lösung finden. [11]
Nun ließe sich freilich einwenden, unsere Freunde hätten ja schon gegen die grundlegende soziale Norm bzw. kulturelle Vorschrift verstoßen, weil man eben nicht mit wildfremden Männern gemeinsam in Hotelwannen badet; so uneindeutig sei die Situation doch gar nicht. Und in der Tat will Müller-Lüdenscheidt auch genau darauf hinaus. Er versucht Dr. Klöbner davon zu überzeugen, dass dieser eine Norm missachtet habe, denn er habe das Hausrecht gebrochen und müsse deshalb wieder gehen. So definiert Müller-Lüdenscheidt die Situation als eine Art Hausfriedensbruch und zeigt dies Dr. Klöbner auch kommunikativ an ("Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich wäre jetzt ganz gerne allein." "Können Sir mir sagen, warum Sie in meiner Badewanne sitzen?" "Jetzt wissen Sie, dass Sie in einer Fremdwanne sitzen und baden trotzdem weiter!"). [12]
An dieser Stelle stoßen wir auf die erste Prämisse des SI. Der SI geht von drei grundlegenden Prämissen aus, die sein Menschenbild und sein Handlungsverständnis charakterisieren. Diese erste Prämisse des SI lautet:
Menschen handeln Dingen gegenüber auf der Grundlage von Bedeutungen, |
Müller-Lüdenscheidt sieht etwa die Situation – darauf lassen seine Bemerkungen ziemlich unzweideutig schließen – als eine Art Hausfriedensbruch an und gibt Dr. Klöbner zu erkennen, was das für Konsequenzen für diesen haben sollte. Frei nach Anselm STRAUSS (1968) – einem weiteren wichtigen Symbolischen Interaktionisten – können wir sagen, dass die Definition der Situation in gewisser Weise eine Richtlinie für das Handeln liefert; ganz so, als spreche die Situation nun zu Müller-Lüdenscheidt: "Du sagst, ich bin eine Art Hausfriedensbruch, also behandle mich auch so: Schmeiß den Kerl in deiner Wanne gefälligst raus!" [13]
Möchte Müller-Lüdenscheidt nun Dr. Klöbner zu verstehen geben, was dieser zu tun hat, dann geht dem unweigerlich eine Perspektivenübernahme, ein Role-Taking voraus, also eine Antizipation dessen, wie sich Dr. Klöbner in der Situation wohl positioniert (das ist ganz ähnlich wie beim Schachspiel, wo wir unsere Züge ja auch immer an den möglichen Antworten des Gegners ausrichten). Müller-Lüdenscheidt muss im Bezugsrahmen von Dr. Klöbner seine eigenen Handlungen sehen: Der zwar dezente, etwas verklausulierte, aber doch kaum misszuverstehende Hinweis auf das gebrochene Hausrecht macht nur dann Sinn, wenn Müller-Lüdenscheidt davon ausgeht, dass Dr. Klöbner weiß, was seine (also Müller-Lüdenscheidts) Bemerkungen bedeuten und daraufhin entsprechende, normativ-gebotene Handlungen ausführt. [14]
Nun gibt Dr. Klöbner zu erkennen, dass er der Einschätzung Müller-Lüdenscheidts prinzipiell zustimmt ("Ich kam vom Ping-Pong-Keller und hatte mich in der Zimmernummer geirrt"). Insofern können wir davon ausgehen, dass beide Akteure sich nicht nur erfolgreich in die Lage des anderen versetzt bzw. Role-Taking praktiziert haben, sondern dass sie ihre eigene Rolle und die des anderen auch in weitgehend einmütiger wie komplementärer Weise festgelegt haben. Damit antworten sie gewissermaßen auf die Frage: "Wer bin ich und wer ist der andere in dieser Situation?" Ralph H. TURNER (1970) spricht von einem Role-Making: Für Dr. Klöbner wurde die Rolle eines "unerlaubten Fremdbaders" bzw. eines "Eindringlings" bestimmt, was die komplementäre Rolle des "legitimen Hausbaders" bzw. des "Hausherren" impliziert. Alfred SCHÜTZ (1993) würde an dieser Stelle von einem Verweisungszusammenhang reden: Wenn es sich bei der Situation um eine Art Hausfriedensbruch handelt, dann benötigen wir auch einen Hausherren und einen Eindringling. [15]
Insgesamt haben die Akteure nun eine Einigung erzielt. Ihre Verhandlungen haben ein konsensuales Ergebnis eingebracht und eine erste soziale Ordnung – in diesem Falle nebenbei bemerkt auch eine Machtasymmetrie – etabliert. Mit Anselm STRAUSS (1988) wollen wir hier von einer Negotiated Order sprechen (denn auch die Face-to-face-Situation etabliert natürlich eine soziale Ebene und damit soziale Ordnung; also Strukturen, die Resultat abgestimmten Handelns sind und Orientierung wie Vorhersehbarkeit für die beteiligten Akteure ermöglichen): Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner haben sich darauf geeinigt, mit welch einem Situationstyp sie konfrontiert sind und wie sie beide zueinander stehen. [16]
Der Interaktionsverlauf lässt sich bis hierhin wie folgt graphisch zusammenfassen:
Abbildung 1: Erste Interaktionssequenz [17]
Insofern also die Interaktionssituation den beteiligten Akteuren bestimmte Interpretationen mehr oder weniger nahelegt, stoßen wir an dieser Stelle auch schon auf die zweite Prämisse des SI:
Bedeutung entsteht in der sozialen Interaktion bzw. wird aus dieser abgeleitet. |
Nun ließe sich einwenden, die vorliegende Situationstypik sowie die komplementären Rollen der Akteure könnten auch von einer objektiven Warte aus bestimmt werden (immerhin scheint Dr. Klöbner doch eindeutig einen Normverstoß begangen zu haben). Dennoch aber müssen die Akteure soziale Normen zunächst einmal in die Situation buchstäblich hineinholen, womit die entsprechenden Bedeutungen eben aus der Interaktion abgeleitet werden. (Außerdem werden wir gleich sehen, dass auch ganz andere Bedeutungen möglich sind.) [18]
Die erzielte Negotiated Order weist darauf hin, was in der Situation sinnvoll und geboten erscheinen sollte – im vorliegenden Fall also, dass Dr. Klöbner jetzt doch bitte zügig aus der Wanne steigen möge. Dr. Klöbner scheint das jedoch mitnichten in Erwägung zu ziehen, d.h. er misst seinem Normverstoß keine Bedeutung zu, welche geeignet wäre, die Situation zu bereinigen oder aufzulösen. Er verhält sich deviant, schlüpft damit eben nicht in die sozial erwünschte und erwartbare Rolle des – wie man im SI unter Rekurs auf MEAD (1968) sagt – Mich, d.h. des Teils seines Selbst, welcher die Normen, Werte und Erwartungen der abstrakten Gemeinschaft (des generalisierten Anderen) über sein Handeln einlöst. Vielmehr distanziert er sich davon, betont stattdessen seine ganz persönliche Identität, sein spontanes, impulsives, innovatives Ich, macht seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse geltend und bleibt in der Wanne sitzen (das Ich ist hier in gewissem Sinne dem trotzigen Kind vergleichbar, das immer wieder ausruft: "Nein, ich esse meine Suppe nicht!"). [19]
Das "verlegene Pfeifen" kann hier als ein sog. signifikantes Symbol – ein Symbol welches bei Ego und Alter das Gleiche auslöst – gewertet werden. Dr. Klöbner gibt damit Müller-Lüdenscheidt zu erkennen: "O.K., Sie haben ja recht, aber ich werde hier sitzenbleiben und es wäre am Sinnvollsten, wenn wir jetzt versuchen würden, eine für uns beide akzeptable Lösung zu finden." Nach MEAD (1968) zeigt das signifikante Symbol an, a) was die Person, an die es gerichtet ist, tun soll ("gib es auf, mich hier rauskriegen zu wollen"), b) was die Person, die es setzt, zu tun beabsichtigt ("ich bleibe in der Wanne sitzen") und c) welche gemeinsame Handlung schließlich folgen soll ("lass’ uns doch einfach in Ruhe baden"). Das kurz darauf folgende "ach" Dr. Klöbners ist ein Symbol, dessen Bedeutung für Müller-Lüdenscheidt unklar ("Was heißt ‚ach’?") und deshalb erläuterungsbedürftig ist ("ich wollte meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, ..."). Es stellt insofern in der Situation kein signifikantes Symbol dar, weswegen auch eine Metakommunikation inszeniert wird, um so die Bedeutung von "ach" kontextspezifisch zu klären. [20]
Dr. Klöbner versucht nun, seine Sichtweise der Dinge Müller-Lüdenscheidt nahezulegen, indem er (wie wir annehmen dürfen durchaus strategisch) die Verhandlung auf eine inhaltliche Ebene verlagert und auf das fehlende Wasser in der Wanne aufmerksam macht. Es kommt damit zu einer Problemverschiebung und zu einer sich anschließenden Handlungsepisode bzw. einer – mit Thomas P. WILSON (1973) gesprochen – neuen Ereignisstelle der Interaktion. Damit ist aber die Situation für Dr. Klöbner nun eine andere geworden: Es geht für ihn nicht mehr darum, ob man überhaupt zusammen badet, sondern wie man das sinnvollerweise tun sollte. Er hat damit der Situation eine neue Bedeutung zugewiesen und sie redefiniert als "wie badet man am Zweckmäßigsten". [21]
Zunächst weigert sich Müller-Lüdenscheidt noch, diese Definition zu akzeptieren und der von Dr. Klöbner eingeschlagenen Handlungslinie zu folgen. Er sieht sich als Hausherr, der sich von niemandem etwas vorschreiben lassen braucht. Aber der Bezug auf sein Hausrecht – so weiß er aus der bisherigen Interaktionsgeschichte – führt nicht weiter. So versucht Müller-Lüdenscheidt die Situation durch den Hinweis auf seinen gesellschaftlichen Status bzw. seine Gruppenzugehörigkeit zu strukturieren: Er sei ein wichtiger Unternehmer der Schwerindustrie und könne baden wie er wolle. [22]
Schnell wird jedoch klar, dass der Rekurs auf den gesellschaftlichen Status in dieser Situation die Interaktion ganz und gar nicht anzuleiten vermag. Dr. Klöbner erkennt dessen Relevanz situationsspezifisch einfach nicht an (soziale Anerkennung) und setzt sachliche Argumente dagegen. Diesen Argumenten kann und will sich Müller-Lüdenscheidt schließlich nicht entziehen, womit er die Situationsdefinition von Dr. Klöbner (also dessen Sicht der Dinge) – "wie badet man am Zweckmäßigsten" – nicht nur anerkennt, sondern den Einwänden Dr. Klöbners sogar folgt und die Situation nun seinerseits eben mit anderen Augen sieht. Dr. Klöbner wird nun von einem "unerlaubten" zu einem "erlaubten Fremdbader", mithin vielleicht sogar von einem "Eindringling" zu einer Art "ungebetenem Gast", aber immerhin doch zu einem "Gast". Müller-Lüdenscheidt macht sich freilich auch selbst zum Objekt seiner Bedeutungszuweisungen bzw. Typisierungen und firmiert nun als "Gastgeber wider Willen" (wir können von einem erneuten Role-Making sprechen, das Dr. Klöbner dank seiner Hartnäckigkeit erreicht hat). [23]
Diese Bedeutungsveränderung geschieht im vorliegenden Fall jedoch nicht ohne einen Preis: Dr. Klöbner muss höflich "Bitte" sagen. Müller-Lüdenscheidt ist ganz augenscheinlich um Gesichtswahrung bemüht, wenn er für sein Zugeständnis einen Preis fordert. Er tauscht Gastfreundschaft gegen Höflichkeit ein. Allgemein können wir auch von einem Insistieren auf der Einhaltung einer Reziprozitätsnorm sprechen. Letztlich versucht Müller-Lüdenscheidt wohl damit auch sein Selbst (das sich im SI aus den beiden oben schon genannten Komponenten Ich und Mich zusammensetzt) zu stabilisieren. [24]
Zusammenfassend heißt dies nun: Nachdem die beiden Protagonisten sich abgetastet, d.h. Rollen- und Situationsdefinitionen erkundet, ausprobiert, dem anderen nahegelegt und schließlich fixiert haben, haben sie es geschafft, eine relativ stabil erscheinende Negotiated Order zu etablieren. Das fundamentale Interaktionsproblem wird gelöst, indem Müller-Lüdenscheidt nun Wasser einlässt. Wir stoßen damit auf die dritte Prämisse des SI:
Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess gehandhabt und abgeändert. |
Erneut soll der bisherige Verlauf der Diskussion graphisch illustriert werden:
Abbildung 2: Zweite Interaktionssequenz [25]
Menschliches Zusammenleben ist – wie BLUMER (1973) sagt – ein unermesslicher, vielfach dramatischer Prozess, in dessen Verlauf Menschen immer wieder ihre jeweiligen Handlungslinien aufeinander abstimmen müssen. Soziale Ordnung ist eben immer nur relativ stabil, weil Menschen unterschiedliche Interessen verfolgen und dies Abstimmung bzw. Regulierung notwendig macht. Daher steht auch unseren beiden Akteuren schon das nächste Interaktionsproblem ins Haus: Wie warm soll das Wasser denn bitteschön sein? Hier einigt man sich sehr schnell. Die Kooperation aus der unmittelbar vorangegangenen Sequenz wird bei diesem Problem beibehalten. Die Interaktionsgeschichte – so dürfen wir wohl annehmen – wird normativ wirksam bzw. instrumentell genutzt (BLUMER [ebd., S.101] spricht allgemein auch von einer "vertikalen Verkettung" gemeinsamen Handelns, d.h. einmal etablierte Strukturen wirken auf das Handeln ein). [26]
Nun möchte Dr. Klöbner seine Ente zu Wasser lassen. Müller-Lüdenscheidt wehrt sich vehement dagegen. Es kommt zum Austausch von Drohungen ("Wenn sie die Ente hereinlassen, lasse ich das Wasser heraus"), Beleidigungen ("Erpressermethoden ihrer Gangsterfirma", "Sie sind ein Sozi", "Akademiker wollen Sie sein"), d.h. gesellschaftliche Strukturen in der Form gängiger Vorurteile werden in die Situation hineingeholt. Der Konflikt wird in gewissem Sinne verschoben, indem unsere Protagonisten ihre Rollen tauschen (plötzlich verlangt Müller-Lüdenscheidt von Dr. Klöbner, die Ente ins Wasser zu lassen) sowie das Problem generalisieren. [27]
2.5 Wer bestimmt hier eigentlich?
Durch den Rollentausch und die Problemgeneralisierung ist die alte Situation also aufgelöst worden, ohne wirklich gelöst zu sein (was sicherlich nicht untypisch für menschliche Interaktionen ist). Die ausgehandelte Ordnung ist somit eine neue geteilte Situationsdefinition namens: "Wer-bestimmt-hier-eigentlich" (markiert durch Äußerungen wie: "Sie lassen sofort die Ente zu Wasser"; "Ich denke nicht daran"; "Dann tauche ich jetzt"). [28]
Konflikte des Typus "Wer-bestimmt-hier-eigentlich" sind in Folge ihrer Grundsätzlichkeit nur schwer zu bearbeiten. Insofern wird – instrumentell über eine Regression auf ein infantiles Entwicklungsstadium – von den Akteuren erneut eine Problemverschiebung inszeniert. Die neue Situation lautet: "Wer-kann-länger-unter-Wasser-tauchen". Müller-Lüdenscheidt spricht dieser Frage zunächst jegliche Relevanz ab ("Sie langweilen mich") und verweist auf weit wichtigere Werte (womit er mutmaßlich auch versucht, Dr. Klöbner moralisch abzuwerten). Dr. Klöbner insistiert jedoch auf einer Klärung. Schon bald schließt sich Müller-Lüdenscheidt an, übernimmt zum wiederholten Male die Situationsdefinition seines Gegenübers und willigt in einen Wettbewerb ein. Die Negotiated Order ist der kooperative Wettbewerb, den wir auch als kollektives Handeln interpretieren können. [29]
In gewissem Sinne firmieren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner zum Schluss als kollektiver Akteur: Eine dritte Person schaut ins Badezimmer herein und unsere beiden Protagonisten stehen dieser Person nun auch sachlich als Einheit gegenüber, werden sie doch nun gemeinsam adressiert und besetzen sie schon einen Raum, auf den ein anderer möglicherweise (das wissen wir allerdings nicht so genau) im Folgenden Anspruch erheben wird. Die Geschichte bricht an dieser Stelle aus satirischen Gründen ab. [30]
Auch die abschließende Interaktionssequenz soll nochmals graphisch veranschaulicht werden (Müller-Lüdenscheidt befindet sich weiterhin auf der vom Leser/der Leserin aus gesehenen linken, Dr. Klöbner entsprechend auf der rechten Seite):
Abbildung 3: Dritte Interaktionssequenz [31]
Bis hierhin haben wir uns mit den zentralen Terminologien des SI sowie mit dessen Handlungsverständnis hinsichtlich der Entstehung und des Wandels sozialer Ordnung vertraut gemacht. Auch die drei grundlegenden Prämissen des SI sind nun bekannt. Insgesamt verfügen wir somit in jedem Falle schon einmal über die notwendige Ausstattung, um ähnlich strukturierte, dyadische Interaktionsformen analysieren zu können. In der Art einer knappen Zwischenbilanz möchte ich nachfolgend das Handlungsverständnis des SI nochmals in etwas theoretischerer Form als bislang in sieben Punkten zusammenfassen, um im Anschluss dann fragen zu können, inwiefern Normen auch im SI als handlungsrelevant gedacht werden.
Handeln heißt nicht, dass man vorgegebene Rollen und Normen blind ausführt; Handeln ist etwas anderes als Verhalten – der Rekurs auf einen einfachen (behavioristischen) Reiz-Reaktion-Mechanismus ist zur Beschreibung menschlichen Handelns unbrauchbar.
Handelnde sind aktive, problemlösende Akteure, die bewusst und kreativ auf ihre Um- bzw. Mitwelt (und d.h. insbesondere auf andere Akteure) einwirken.
Dieses bewusste Einwirken setzt Selbstreflexion voraus: Das Selbst ist in der Lage, sich zum Objekt seiner eigenen Überlegungen und Handlungen zu machen. Dies ist Voraussetzung für eine interpretativ zu leistende Rollenübernahme, denn dahinter verbirgt sich die Frage: Wie wird der andere jetzt auf meine Einlassungen reagieren?
Gemeinsame Situationsdefinitionen schaffen eine gemeinsame Sinn- und Handlungswelt (eine soziale Ordnung) qua kollektiver Anerkennung; d.h. die Suche nach gemeinsam geteilten (bzw. komplementären) Bedeutungen ermöglicht Handlungskoordination.
Kollektives Handeln ist ein Aushandlungsprozess, ein aufeinander Abstimmen von individuellen Handlungslinien, bei dem die Akteure ihre jeweiligen Deutungen aneinander orientieren und eine gemeinsame Zielstellung anvisieren.
Handlung wird nur in Interaktionssituationen möglich. Damit ist der analytische Ausgangspunkt nicht das einzelne Subjekt oder der individuelle Handlungsakt, sondern die wechselseitige Bezugnahme von Akteuren, das gemeinsame – auch konflikthafte – Suchen nach Problemlösungen.
Gesellschaft ist lediglich eine strukturierte Anordnung von Interaktionen bzw. die Summe der Anderen. [32]
4. Zum Stellenwert von Normen im SI
Wenn Gesellschaft nun aber keinen unabhängigen (Seins-) Status besitzt, kein Wesen sui generis darstellt, dann kann sie auch nicht deterministisch auf das Handeln der Akteure einwirken. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Warum des So-und-nicht-anders-Handelns natürlich auch im SI. Meines Erachtens greift es einfach zu kurz, würde man hier immer nur auf die interpretatorischen Fähigkeiten des Menschen verweisen. Vielmehr ist das Handeln auch im SI normativ geleitet – aber eben in einer etwas anderen Art und Weise als bspw. im Strukturfunktionalismus. Dies führt nun zu der Sinnhaftigkeit der eingangs erwähnten, von WILSON geprägten Unterscheidung zwischen normativem und interpretativem Paradigma. [33]
Sicherlich lässt sich mit BLUMER gegen den Strukturfunktionalismus gewendet sagen, abstrakte soziale Normen bestimmten das Handeln keineswegs im Sinne eines Reiz-Reaktions-Mechanismus. Ständig entstehen neue Situationen, für welche die bestehenden Regeln nicht hinreichen. Allenfalls beeinflussen Normen das Handeln, so dürfen wir annehmen, in hochverregelten, entpersonalisierten Kontexten in weitgehend invarianter Weise – etwa, wenn man auf einer Behörde einen Antrag stellt. Aber selbst dann wissen wir sicherlich alle aus eigener Erfahrung, dass auch in solchen Situationen die individuellen Idiosynkrasien, die personalen Identitäten (Ich), die Beziehungsebenen (wie Paul WATZLAWICK [2000] oder Fritz SCHULZ VON THUN [1981] wohl sagen würden) den Verlauf und den Ausgang von Interaktionen beeinflussen. Im Übrigen wäre ansonsten auch Korruption (also deviantes Verhalten) gar nicht erklärbar. [34]
Im Folgenden möchte ich einige ausgewählte Aspekte skizzieren, die zeigen, wie sehr Normen und Regeln auch im Handlungsverständnis des SI von zentraler Relevanz sind. [35]
4.1 Role-Taking und Bedeutungszuschreibung als anthropologischer Imperativ
BLUMER (1973, S.89) sieht die Rollenübernahme als zwingend an, um anderen anzuzeigen, was diese zu tun haben. "Um dem Opfer zu befehlen, die Hände hochzunehmen, muss der Räuber diese Antwort im Bezugsrahmen des Opfers sehen, das diese Reaktion vornimmt. Entsprechend hat das Opfer den Befehl vom Standpunkt des Räubers aus zu sehen, der den Befehl gibt." Dann ist Rollenübernahme intellektuell wie normativ geboten, will man im Sinne des SI handeln. Damit ist aber auch klar, dass man, um zu handeln, nicht nur wissen bzw. eine Vermutung darüber anstellen muss, wie der/die andere handeln wird (etwa die Hände hochnehmen), sondern dass man außerdem vorhersehen muss, wie der/die andere meint, dass man selbst handeln wird (etwa von der Schusswaffe tatsächlich Gebrauch machen). Die Erwartungen müssen also aufeinander abgestimmt werden, damit es zu einer erfolgreichen Interaktion kommen kann. [36]
Dass der Mensch in Folge einer ihn vom Tier unterscheidenden Instinktunsicherheit – d.h. einer fehlenden automatisierten "Programmsteuerung", die ihm gleichsam unvermittelt auferlegt, was er zu tun hat – überhaupt wählen, d.h. Bedeutungen zuschreiben oder die Position des/der anderen einnehmen muss, kann als eine Art anthropologischer Imperativ betrachtet werden. Bei Jean-Paul SARTRE (2000) heißt es in diesem Sinne, der Mensch sei verdammt dazu, frei zu sein. Es ist die Janusköpfigkeit des Menschen – einerseits natürlich-leiblicher Organismus und andererseits geistig-geschichtliches Wesen – die dazu führt, dass das, was der Mensch ist, ihm als Problem aufgegeben und nur in Interaktion mit anderen zu realisieren ist. Auch wenn dies keine Norm darstellt, so ist es doch eine conditio sine qua non, hinter die niemand zurück kann und die insofern auch im Rahmen einer Reflexion über den Freiraum menschlicher Interpretationsleistungen ganz grundlegend anzuführen ist. Uns Menschen ist diese Komplexität jedoch i.d.R. nicht bewusst: Wir erleben unsere Verbindung zu anderen als unmittelbar, d.h. wir blenden den Bedeutungsprozess gleichsam aus. Der Anthropologe Helmuth PLESSNER (1975) spricht in vergleichbarem Zusammenhang deshalb von der "vermittelten Unmittelbarkeit" des menschlichen Miteinanders. [37]
Die Instinktunsicherheit des Menschen bedingt jedoch nicht nur diese "vermittelte Unmittelbarkeit", sondern auch, dass Menschen sich Regeln und Normen geben müssen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Man stelle sich einmal vor, alle Straßenverkehrsregeln würden ab heute nicht mehr gelten. Dies würde zunächst zu chaotischen, möglicherweise wild-west-artigen Szenen auf unseren Straßen führen. Schon bald würden die Verkehrsteilnehmer(innen) jedoch versuchen, Regelungen zu treffen (und sei es auch in einem hierarchisch dominierten Prozess), um zumindest eine minimale Regelungsstruktur herzustellen, die allein ein Miteinander ermöglicht. Dieses Erfordernis nach Aushandlung sozialer Ordnung deutet insofern den Stellenwert an, den Normen im SI einnehmen. [38]
4.2 Normen in vermeintlich unstrukturierten Situationen
Jenseits dieser anthropologischen Aspekte müssen Handelnde aber ebenso eine Menge sozialer Parameter beachten, die dann auch in zunächst gänzlich unbekannt erscheinende Situationen mit eingehen. Wenn man einem Interaktionspartner oder einer Interaktionspartnerin anzeigen möchte, was er/sie zu tun hat, dann gründet dies auf allgemeinen Vorstellungen darüber, wie man sich in "solchen" Situationen typischerweise verhält. Wir orientieren uns auch in vermeintlich völlig fremden bzw. befremdenden Settings an vertrauten Normen und Regeln, d.h. wir greifen interpretativ auf kognitiv verfestigte Handlungsskripts, auf mentale Modelle über "typische" Situationen zurück (auch, weil wir vielfach gar keine Zeit zu langen Überlegungen haben). Aaron CICOUREL (1973) spricht in diesem Zusammenhang von "Basisregeln", die Handelnde dazu befähigen, allgemeine normative Vorgaben mit sich gerade ereignenden Interaktionsprozessen zu verbinden. [39]
Loriots "Herren im Bad" illustriert in humoresker Form, dass dann, wenn soziale Normen kaum vorhanden oder nur schwer anwendbar erscheinen, die Akteure dennoch versuchen, Normen irgendwie von außen an die Situation heranzutragen bzw. eigene Normen zu bilden, um so der Situation Sinn und Struktur zu verleihen (etwa: "Was bedeutet es für uns beide in dieser Situation, wenn ich Hausrecht habe?" "Was bedeutet es für uns beide in dieser Situation, wenn ich ein erfolgreicher Unternehmer bin?" "Was bedeutet es für uns beide in dieser Situation, wenn wir in dezidiert höflichem Ton miteinander umgehen?"). Somit wird ein passendes "Drehbuch" für das Miteinander erstellt, wobei die Akteure immer schon ihre diesbezüglichen Entwürfe mitbringen und sie dann wechselseitig aufeinander abstimmen. Ein präskriptiver Einfluss auf die zukünftigen Interaktionen geht auch von der Interaktionsgeschichte aus. Diese strukturiert die Situation und damit den Interaktionsprozess (etwa wenn sich Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner schnell hinsichtlich der Badetemperatur einigen, weil sie zuvor auf Kooperation gesetzt hatten). Jede ausgehandelte Ordnung firmiert als Constraint, als kontextuelle Rahmung für das weitere Interaktionsgeschehen; vielfach gibt es hinter einmal vereinbarten Ordnungen dann nur noch schwer ein Zurück. [40]
4.3 Zusammenhang von Normen und Sinn
Sinnhaftes Handeln braucht Ausgangs- wie Orientierungspunkte, von denen her bzw. auf die hin es entworfen wird. Es wäre wohl reichlich sinnlos, wenn ich den Leser oder die Leserin jetzt darum bäte, nun doch einmal möglichst lange den Atem anzuhalten; sinnlos deshalb, weil dies weder thematisch (Ausgangspunkt) noch normativ oder funktional (Orientierungspunkt) einen Sinn ergäbe, es sei denn, ein Link zum Thema dieses Essays – und damit eben ein Ausgangs- oder Orientierungspunkt – wäre zuvor hergestellt worden. [41]
Eine Norm kann sowohl Ausgangs- wie Orientierungspunkt sein; kausal wie funktional: Ein Student besucht seine Großeltern zu Weihnachten, weil dies normativ geboten erscheint – d.h. weil die Großeltern dies in Gesellschaften wie der unsrigen i.a.R. erwarten – und um den Erwartungen gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es vernünftig und kostengünstig (sozusagen in doppelter Hinsicht rational), normativ geboten zu handeln. Insofern wäre es ein grundlegender Irrtum, wollte man Interpretation oder Bedeutung resp. Sinn auf der einen Seite, Normen und Regeln auf der anderen Seite gegenüberstellen. Vielfach ist Handeln bloß sinnvoll, wenn es vor einem normativen Horizont verortbar ist. Das entscheidet aber eben nicht nur eine abstrakte soziale Struktur, sondern ebenso die konkrete Interaktionssituation mitsamt den sich aus sozialer Struktur, situativen Merkmalen und Ich-Identitäten ergebenden Interaktionsverläufen. Erneut werden wir an Basisregeln erinnert: Den Bedeutungen, die wir in Situationen zuweisen, gehen Interpretationen voraus, die selbst Folge und Produkt der gesellschaftlichen Interaktion sind und insofern mit Informationen über sozial angemessenes Verhalten durchtränkt sind. [42]
4.4 Sprache und Sozialisation als Vorgaben
Wenn menschliche Interaktion symbolvermittelt verläuft, Symbole – vor allem das Zeichensystem Sprache – und ihre Interpretation aber Vereinbarungen über gesellschaftliche Perspektiven darstellen (man weiß z.B., was es bedeutet, wenn jemand "Hilfe" ruft), dann ist symbolvermittelte Interaktion ungemein normativ. Sprache ist gewissermaßen ein Behältnis, in dem die Normen und Werte einer Gesellschaft angesammelt und zum immer wiederkehrenden Gebrauch bereitgestellt werden. Ganz gleich, ob wir unsere Argumentation an dieser Stelle mit der Analytischen Philosophie (vgl. etwa WITTGENSTEIN 1977) oder mit sozialpsychologischen Kognitionstheorien (vgl. etwa BRAUNER 1994) führen wollten: Über die Sprache gibt es für uns Menschen kein Hinaus. [43]
Wenn Handeln eine Interaktion mit sich selbst vorausgeht bzw. diese Interaktion schon ein Teil des Handelns ist, eine Interpretation aber nur sozial(isiert) gedacht werden kann, dann sind Bedeutungszuweisungen immer eine Auswahl aus erlernten, sozial mehr oder weniger stark kodifizierten Möglichkeiten und damit keineswegs nicht-normativ. Im Laufe der Sozialisation werden wir – freilich kultur- und sozialmilieuspezifisch – mit den denkbaren Bedeutungen der Objekte vertraut gemacht. Eine Bedeutungszuweisung ist dann de facto lediglich eine Bedeutungsauswahl aus einem sozial bereitgestellten Bedeutungsuniversum. Dies wird eben insbesondere deutlich, wenn man von interpretativen bzw. Basisregeln spricht. Diese fallen ja nicht einfach so vom Himmel, sondern sind sozial erworben und fußen auf sozialer Übereinkunft. Wenn also ein Individuum auf "Sets von Bedeutungen und ... Interpretationsentwürfen" (BLUMER 1973, S.100) zurückgreift, um sie vor dem Hintergrund bestimmter, situativer Erfahrungsdaten zu aktualisieren, dann greift es – insofern es die Sprache der Gemeinschaft, in der es lebt, korrekt verwendet – auf sozial-kodifizierte Verknüpfungsregeln zurück. In diesem Rahmen bewegt sich die interpretatorische Kreativität der Sprachvermögenden. Sprache ist das Bedeutungssystem, in dem Sinn – wie Thomas LUCKMANN (2002, S.209) sagt – "vor-konstruiert" ist, d.h. Sprache bestimmt "den Rahmen des Sinns subjektiver Erfahrung" (ebd.). [44]
4.5 Vermeintliche Kontingenz des Handelns
Sicherlich wird durch den Prozess der Interpretation symbolischer Ausdrücke ein Element von Kontingenz, von Zufälligkeit, von "es-könnte-so-und-auch-ganz-anders-laufen", in eine soziale Ordnung gebracht, die einer strukturalistischen Deutung eher fremd ist. Dies impliziert nun aber keineswegs, dass Normen nicht relevant wären; sie werden lediglich zunächst kognitiv ver- bzw. bearbeitet. Und dies geschieht in weit weniger kontingentem Maße als dies von einigen Symbolischen Interaktionisten behauptet wird; sinnhaftes Handeln ist im SI sehr wohl kausal konzipiert und erklärbar. Lesen wir BLUMER (1973, S.95) einmal genau:
"Im wesentlichen besteht das Handeln eines Menschen darin, dass er verschiedene Dinge, die er wahrnimmt, in Betracht zieht und auf der Grundlage der Interpretation dieser Dinge eine Handlungslinie entwickelt. Die berücksichtigten Dinge erstrecken sich auf solche Sachen wie seine Wünsche und Bedürfnisse, seine Ziele, die verfügbaren Mittel zu ihrer Erreichung, die Handlungen und die antizipierten Handlungen anderer, sein Selbstbild und das wahrscheinliche Ergebnis einer bestimmten Handlungslinie. Sein Verhalten wird durch solch einen Prozess des Anzeigens und der Interpretation geformt und gesteuert." [45]
BLUMER liefert damit nun aber gerade keine antikausale Argumentation, sondern spezifiziert u.a. das, was etwa in rationalen Handlungstheorien als "nomologische Komponente", d.h. als jener Aspekt der Realität ausgewiesen wird, der gesetzesartige Aussagen erlaubt. Kennen wir die Wünsche und Bedürfnisse, die Ziele, die verfügbaren Mittel zu ihrer Erreichung etc., dann können wir sehr wohl das Handeln von Akteuren exakt vorhersagen. Was eine solche Vorhersage in der Sozialforschung freilich so schwer macht, ist eben nicht eine tatsächliche Unberechenbarkeit der situativen und kognitiven Prozesse, sondern deren ungeheure Komplexität und die grundsätzliche Nicht-Sichtbarkeit bzw. Beobachtungsunzugänglichkeit von Kognitionen. Eine kausale Perspektive bleibt davon aber unberührt: Bedeutungszuweisungen sind im SI Funktionen von Interpretationen bzw. inneren Dialogen. Innere Dialoge wiederum sind Funktionen von gesellschaftlichen Strukturen, situativen Aspekten und persönlichen Präferenzsystemen. Kausaler kann man Handeln soziologisch kaum konzeptualisieren. [46]
Ziel des vorliegenden Essays war es, vor allem Studierende mit den handlungstheoretischen Grundlagen und dem Ordnungsverständnis des Symbolischen Interaktionismus vertraut zu machen. Dabei wurde besonderes Augenmerk auf die Frage gerichtet, welcher Stellenwert Normen diesbezüglich zukommt. Dieser Stellenwert wird uns auch gerade dann bewusst, wenn wir uns fragen, warum wir "Zwei Herren im Bad" von Loriot überhaupt komisch finden. Betrachten wir die Interaktion zwischen Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, dann lassen wir in unseren Köpfen automatisch die Realität mit ihren Normen als Referenzpunkt mitlaufen. Man könnte auch argumentieren, dass Loriot zwar einerseits gewissermaßen darauf aufmerksam macht, wie wenig soziale Normen es vermögen, deterministisch Handlungen und Interaktionen zu bestimmen (und dass keine Norm stark genug sein kann, um nicht von Dr. Klöbner gebrochen zu werden). Andererseits finden wir die Geschichte ja nur deswegen so komisch, weil darin zwischen sozialen Normen und dem Bruch derselben in so eklatanter Weise oszilliert wird. M.a.W.: Wären soziale Normen in der Realität nicht so stark handlungsleitend, würden wir über Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner gar nicht lachen. Dabei bedient sich Loriot zweier augenscheinlich inkompatibler Sinnwelten. Er projiziert – mit Erving GOFFMAN (2001) gesprochen - eine Vorder- auf eine Hinterbühne, d.h. er lässt mit distinguierten Höflichkeitsformen ganz grundlegende, institutionalisierte, normativ gebotene gesellschaftliche Verhaltensweisen und Rollenspiele ("konventionelle Maskierung des Denkens und Fühlens" [STRAUSS 1968]) auf einer der hintersten Hinterbühnen – genauer: im Bereich menschlicher Intimität – erscheinen. [47]
Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich des Stellenwertes von Normen im SI festhalten:
Die gesellschaftlichen Normen bzw. Oberflächenregeln sind weniger statisch als im Strukturfunktionalismus behauptet. Sie sind mehr oder minder starke Spielregeln.
In neuen, noch kaum strukturierten Situationen müssen diese Spielregeln angepasst werden, was einen Aushandlungsprozess und insofern Bedeutungszuschreibungen bedingt. Normen sind vielfach zu abstrakt oder widersprüchlich, um eine konkrete Interaktion eindeutig anzuleiten. Häufig müssen daher Normen situationsspezifisch ausgehandelt werden (was freilich schon einen minimalen Konsens über vorhandene Normen voraussetzt, da sonst auch eine Aushandlung nicht möglich wäre).
Die genannten Bedeutungszuschreibungen sitzen auf Interpretationen auf, die freilich auch bestimmten Regeln folgen und immer übergreifende gesellschaftliche Normen mitlaufen lassen.
Damit ist der Stellenwert von Normen im SI aber nicht geringer als etwa im Strukturfunktionalismus; gleichwohl finden wir Normen auf unterschiedlichen Ebenen, was eine dynamische Betrachtung notwendig macht. Die Einbettung von Normen im SI ist damit komplexer als im Strukturfunktionalismus, denn Normen sind keine statischen, abstrakten, deterministisch wirkenden Vorgaben, sondern Dinge, die in konkreten Interaktionssituationen aktualisiert, interpretiert, modifiziert und gegebenenfalls sogar erst eingeführt werden müssen. Würden sich Menschen nicht an Normen und Werten orientieren bzw. diese kreieren, dann wäre menschliches Miteinander – auf welcher Ebene auch immer – unmöglich. [48]
Kurzum: Wer sich mit der theoretischen und methodologischen Ausstattung des Symbolischen Interaktionismus auf seine Reisen durch soziale Milieus begibt, der wird erstaunt sein, wieviel soziale Ordnung sich noch in den merkwürdigsten Interaktionssituationen auffinden lässt. [49]
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Dirk Koob ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Georg August-Universität in Göttingen
Kontakt:
Dr. Dirk Koob
Methodenzentrum Sozialwissenschaften
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E-Mail: dirk_koob@web.de
Koob, Dirk (2007). Loriot als Symbolischer Interaktionist. Oder: Warum man selbst in der Badewanne gelegentlich soziale Ordnung aushandeln muss [49 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(1), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0701279.